Benni haut ab - Renate Baum - E-Book

Benni haut ab E-Book

Renate Baum

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Beschreibung

Alle Kinder wollen zum Zirkus. Das Zirkuskind Benni will weg. Ihm stinkt das ständige Herumreisen und das Trainieren mit dem strengen Vater gewaltig. Er träumt vom Leben an einem festen Ort, vor allem von festen Freunden. Als der Zirkus in Berlin gastiert, fährt er heimlich nach Hamburg, zum einzigen Freund, den er hat. In Hamburg trifft er den Obdachlosen Paul, der ihn zu seinem Freund Maxi begleitet. Aber dort kann Benni nicht bleiben. Paul, der sieht, wie sehr Benni sich eine Veränderung wünscht, setzt alles daran, eine Lösung zu finden. Wird es für Benni ein Leben jenseits des Zirkus geben?

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Inhaltsverzeichnis

Benni muss trainieren

Ricardo bereitet sich auf die Vorstellung vor

Ricardos Auftritt

Benni und Marietta besuchen die Löwen und bekommen ein Eis

Benni und Marietta reden

Benni besucht Ricardo

Carlo bringt den neuesten Klatsch

Benni denkt nach

Benni schreit

Benni haut ab

Benni am Hauptbahnhof

Benni wird gesucht

Benni fährt ICE

Benni trifft Paul

Benni und Paul unterhalten sich

Benni und Paul unterhalten sich immer noch

Cornelia kann nicht schlafen

Benni und Paul frühstücken und reden schon wieder

Cornelia geht zur Polizei

Benni und Paul reden schon wieder

Cornelia und Carlo streiten sich

Benni und Paul fahren Richtung Blankenese

Paul erzählt von der Schifffahrt und von sich selbst

Der Zirkus nimmt Anteil

Maxi ist nicht zuhause

Benni ist endlich bei Maxi

Marietta und Cornelia unterhalten sich

Benni stellt seinen Plan vor

Cornelia spricht mit der Polizei

Cornelia und Carlo reden miteinander

Benni meldet sich

Cornelia und Carlo beraten

Paul gibt Auskunft über sich selbst

Carlo erhält von Alfredo eine Abfuhr

Frau Martensen spricht mit ihrem Mann

Cornelia und Carlo beraten erneut

Marietta befragt ihre Mutter

Cornelia und Frau Martensen lernen sich kennen

Benni ist bei Maxi in der Schule

Carlo beklagt sich

Paul findet eine Wohnung

Cornelia und Benni sehen sich wieder

Carlo stürzt ab

Paul stellt seinen Plan vor

Cornelia und Benni fahren zurück nach Berlin

Benni und Cornelia besuchen Carlo im Krankenhaus

Benni ruft Paul an

Paul lernt Frau Zimmermann kennen

Paul erscheint in Berlin

Nicoletta versöhnt sich mit Ricardo

Paul und Carlo begegnen sich

Benni und Marietta streiten sich

Paul arbeitet an der Durchsetzung seines Plans

Benni wird ungeduldig

Carlo entscheidet sich

1 Benni muss trainieren

„Weiter, Junge, weiter! Jetzt mit fünf Bällen!“ Der Vater ist wieder ungehalten.

„Kann ich nicht mal ’ne Pause machen, Papa?“, fragt Benni, und man hört seiner Stimme an, dass er gar nicht mit der Zustimmung des Vaters rechnet.

„Wann das Training zu Ende ist, bestimme ich. Ohne Training kein Erfolg, das weißt du sehr gut. Guck dich in der Manege um, auf dem ganzen Platz. Überall wird trainiert. Selbst berühmte Artisten kommen da nicht drum rum. Wenn du das Training nicht ernst nimmst, wird nie was aus dir.“

Muss er mich immer so triezen? Das Jonglieren werde ich sowieso nie lernen. Verzweifelt nimmt Benni die fünf Bälle in die Hände, wirft den ersten hoch, lässt den zweiten folgen, nun den dritten, als er den vierten werfen will, kommt der erste bereits zurück und landet auf dem Boden. Den fünften braucht er gar nicht erst loszuschicken.

„Was machst du denn da, Junge?“, brüllt der Vater, „zum Teufel, was bist du ungeschickt! Die Bälle höher! Du musst die Bälle höher werfen. Nicht so verkrampft. Hundert Mal hab ich es dir gezeigt. Aber du begreifst es einfach nicht, stupido1!“

Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf steht Benni vor dem Vater. Tränen steigen ihm in die Augen. Aber die sieht der Vater nicht.

„Und vergiss nicht deine Übungen am Trapez! Noch ist nicht raus, was du mal machen wirst in der Manege. Also, nimm dich zusammen! Streng dich gefälligst an!“ Der Vater wendet sich zum Gehen.

Ich werde überhaupt nichts in der Manege machen. Vorher bin ich weg! Trotzig wischt sich Benni die Tränen aus dem Gesicht.

„Hallo, Bennilein“, flötet Nicoletta, die Schlangenfrau. Ihre künstlich erröteten Haare leuchten meilenweit. Jetzt, am Vormittag, hat sie noch ihr Trainings-Trikot an, gelb mit schwarzen Punkten. „Na, bist du fleißig am Üben? Ja, ja, wer ein großer Star werden will, muss hart arbeiten. Da wird einem nichts geschenkt.“ Und husch, husch, ist sie in ihrem Wohnwagen verschwunden.

Blöde Kuh! Ich will gar kein Star werden. Benni lässt erst die Bälle und dann sich selbst ins Gras fallen. Warum nur musste er in einen Zirkus hineingeboren werden? Konnte er nicht stinknormale Eltern haben wie die meisten Kinder auf der Welt? Immer von Ort zu Ort ziehen. Nirgends bleiben. Auch wenn’s da schön ist. Elf lange Jahre macht er das jetzt schon. Fast zwölf. Und ein Ende ist nicht abzusehen. Ich will überhaupt nicht in der Manege stehen. Ich will nicht, dass Hunderte von Augen mich durchbohren. Die Leute lauern doch nur drauf, dass ich was falsch mache. Dass was passiert. Dass Bälle fallen. Dass ich vom Trapez in die Tiefe stürze.

Benni legt die Hände unter den Kopf mit den roten Wuschellocken und träumt in den Himmel, den ziehenden Wolken hinterher.

„Na, Benni, solltest du nicht lieber trainieren?“, ermahnt ihn Peppino, der Clown, mit strenger Stimme und rennt gleich weiter.

„Ja, ja“, ruft Benni. Lass mich in Ruhe! Du Heuchler und Betrüger! Tust so, als ob du Wunder wie lustig wärst. In Wirklichkeit bist du nie fröhlich, immer todernst. Und langweilig. Zum Gähnen langweilig. Aber in der Manege, da spielst du den großen Spaßmacher. Mit mir hast du noch nie einen Spaß gemacht. Ich hab dich noch nie lachen sehen. Jedenfalls nicht außerhalb der Manege.

Marietta tänzelt heran, acht Jahre alt, schwarze Augen, schwarze Locken, hellblaues Tutu. Vor Benni bleibt sie stehen, breitbeinig, Hände in die Hüften gestemmt.

„Hi, Benni!“ Sie blinzelt zu Benni hinunter. Der richtet sich auf, zieht die Beine an und legt die Arme auf den Knien ab. Er sieht zu Marietta hoch und lächelt.

„Hi, Mari“, begrüßt er die einzige Freundin, die er auf dem Platz hat. „Wo willst du hin? Musst du trainieren?“

„Ja, eigentlich müsste ich trainieren.“ Marietta lässt sich graziös neben ihm ins Gras gleiten. „Aber ich hab keine Lust mehr. Heute früh hab ich schon eine Stunde geprobt. Wollen wir was zusammen machen?“

„Keine schlechte Idee. Ich hab auch keine Lust auf Training. Mein Vater hat mich mal wieder zusammengefaltet. Was wollen wir machen?"

„Weiß nicht. Schlag du was vor.“

„Hmm. Viel Auswahl haben wir ja nicht. Ich könnte meine Karten holen. Hinter den Wagen mit den Tieren sieht uns keiner. Da können wir in Ruhe spielen.“

„Ja, ist mir recht“, sagt Marietta.

„Warte hier einen Moment. Ich laufe rüber zu unserem Wagen. Hoffentlich ist niemand da. Wenn mein Vater mitkriegt, dass ich nicht trainiere, ist nämlich die Hölle los.“

„Beeil dich. Mich darf hier auch niemand sehen.“

1 Blödmann

2 Ricardo bereitet sich auf die Vorstellung vor

Ricardo legt die blendend weiße, mit schwarzen, roten und goldenen Ornamenten bestickte Kostümjacke an. Er hat ein wenig Mühe, die Knöpfe zu schließen. Auch die weiße Hose spannt leicht über Bauch und Po. Hat er zugenommen? Seit er mit Nicoletta zusammen ist, wächst sein Appetit gewaltig. Nicoletta kocht einfach zu gut.

So eingeklemmt in sein Kostüm fühlt er sich gar nicht wohl. Aber jetzt ist es zu spät, jetzt ist nichts mehr zu ändern. Die Vorstellung beginnt in einer halben Stunde. Vielleicht dehnt sich der Stoff ja noch etwas durch die Körperwärme.

Vor jedem Auftritt sieht Ricardo noch einmal nach seinen fünf Löwen. Werden die Tiere spüren, dass er heute in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist?

Cora, die älteste der drei Löwinnen, empfängt ihn unruhiger als sonst. Geht es ihr nicht gut? Wird sie krank? Gibt es einen Konflikt mit den beiden Töchtern? Beruhigend spricht Ricardo auf Cora ein. Aber die schreitet weiter ruhelos die kurze Distanz hinter dem Gitter von Wagenwand zu Wagenwand ab. Hin und her und her und hin.

Die beiden männlichen Tiere dagegen liegen friedlich in ihren Käfigen und dösen vor sich hin. Sie werden Ricardo keine Probleme bereiten. So viel ist sicher. Auch Coras Töchter geben keinen Anlass zur Sorge. Entspannt liegen sie auf dem – wie Ricardo zufrieden feststellt - bereits gereinigten Holzboden und verfolgen interessiert jede Bewegung ihres Dompteurs.

Trotzdem steigt leichte Unruhe in Ricardo auf, als er zu seinem Wagen geht. Er hat noch Zeit. Sein Auftritt beginnt erst in einer Stunde. Aber die Voraussetzungen für einen reibungslosen Ablauf sind heute nicht besonders günstig – er eingezwängt in ein zu enges Kostüm und Cora, sein „Alpha-Tier“, das die Gruppe dominiert, nervös.

3 Ricardos Auftritt

Wie während jeder Vorstellung treibt sich Benni auch heute in der Nähe des Zelteingangs herum. Am Eingang für die Artisten natürlich, nicht am Eingang fürs Publikum. Dann kann er jederzeit zuschauen. Nicht jede Nummer interessiert ihn. Aber wenn Ricardo seine Löwen präsentiert und wenn Malvinia, die Mutter von Marietta, mit Carlo, seinem Vater, durch die Luft fliegt, dann schlüpft Benni durch den schweren Vorhang und bezieht irgendwo Stellung, wo er gut sehen kann, aber möglichst nicht gesehen wird. Diese Höhepunkte lässt er sich nicht entgehen. Die ganze Zeit über kribbelt es dabei in seinem Rücken.

Benni ist – im Gegensatz zu Marietta – noch nie aufgetreten. Dafür hat seine Mutter Cornelia gesorgt, die keine Artistin ist. Sie hat sich vor Jahren Hals über Kopf in Carlo verliebt (und er sich in sie), als sie eine Vorstellung des Zirkus besuchte. Sie ist dann einfach mitgefahren in Carlos Wagen, und irgendwann haben die beiden irgendwo geheiratet, als Benni sich ankündigte. Cornelia versorgt nicht nur ihre kleine Familie, sie näht auch die Kostüme für fast die gesamte Truppe. Sie ist gelernte Schneiderin, und ihre Phantasie kennt keine Grenzen, wenn es darum geht, neue Kostümmodelle zu entwerfen.

Bis jetzt hat Cornelia verhindern können, dass Benni in der Manege auftritt. Sie kennt seine Ängste und hält ihn für zu zart und zaghaft für ein Artistenleben. Jedes Mal, wenn Carlo Bennis ersten Auftritt vorbereiten wollte, hat sie ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Kurzentschlossen hat sie ihren Sohn ins Bett gesteckt und versichert, er sei krank. Jedes Mal ist Carlo darauf hereingefallen. Oder ist er selber unsicher? Einmal hat er zu ihr gesagt: „Benni ist ein Schisser. Er taugt nicht für die Manege.“ Und ein anderes Mal hat er gestöhnt: „Mit Benni wird das nie was. Der Junge hat keinen Ehrgeiz.“

Die Gitterteile für den Löwenkäfig werden gerade in die Manege getragen und in Windeseile zusammengebaut. Dann kann ich ja gleich hier bleiben. Benni entdeckt am Rand der fünften Reihe noch freien Platz. Also sind sie nicht ausverkauft. Da wird Alfredo, der Direktor, schön toben. Ihm, Benni, soll’s recht sein. So kann er sich wenigstens während der Löwendressur setzen.

Nach einem Tusch des kleinen Orchesters erscheint Alfredo, der Herr Direktor, und kündigt mit großen Worten Ricardos Nummer an. Schon schleichen durch einen Gittertunnel die ersten Tiere in die Manege und nehmen auf den bereitgestellten Hockern Platz. Als alle Tiere sitzen, betritt Ricardo das Rund, verbeugt sich nach allen Seiten, wird beklatscht, schon im Voraus, bis er dem Publikum mit einem Zeichen Ruhe gebietet.

Atemlose Stille breitet sich unterm Zirkuszelt aus. Aber was ist heute los mit Cora? Bennis Herz galoppiert. Was hat die Löwin? Sie bleibt nicht ruhig und gelassen auf ihrem Hocker sitzen wie die anderen, sie springt wieder herunter, läuft einmal das Manegenrund ab und kehrt erst auf Ricardos energisches Peitschenknallen auf ihren Platz zurück. Dort protestiert sie wütend mit Gebrüll. Mann-o-Mann! Sie wird mit ihrer Unruhe die anderen Löwen anstecken. Benni beschleicht ein mulmiges Gefühl. Wenn das man gut geht!

Ricardo aber bewahrt die Ruhe. Allerdings bewegt er sich heute nicht so geschmeidig, wie man es von ihm gewohnt ist, mit schwingenden Hüften und federnden Knien. Auch er scheint nicht in Topform zu sein.

Das Programm läuft wie vorgesehen ab. Die Löwen wechseln auf Befehl die Hocker, machen Männchen, springen übereinander.

Als Cora Ricardo ihre Tatze reichen soll – - mein Gott, was macht Cora denn da?! Sie schlägt mit ihrer mächtigen Pranke nach Ricardo und trifft ihn mit voller Wucht an der Schulter. Blut fließt über Ricardos blendend weiße Kostümjacke. Schreie im Publikum. Nichts hält die Menschen jetzt mehr auf den Sitzen. Sie springen auf und verfolgen mit weit aufgerissenen Augen das Geschehen, die Hände vor dem offenen Mund. Andere stürzen in wilder Panik aus dem Zirkuszelt.

Und was passiert in der Manege? Mit letzter Kraft hält Ricardo die Gruppe in Schach und bewegt sie mit Schreien und Peitschenknallen, den runden Käfig durch den Tunnel zu verlassen. Mitarbeiter eilen ihm zu Hilfe. Als die Tiere verschwunden sind, kommt ein Arzt aus dem Publikum zu Ricardo herunter, um die Wunde zu versorgen. Beide verschwinden hinter dem großen Vorhang. Wenig später erscheint der Herr Direktor und fordert die Besucher mit Gesten auf, Ruhe zu bewahren.

„Hochverehrtes Publikum, meine Damen und Herren!“, beginnt er, als das Stimmengewirr abgeklungen ist. „Ich bitte um Verzeihung für diesen bedauerlichen Zwischenfall, der Sie mit Recht schockiert hat. Ich kann Ihnen aber versichern, dass unser Meisterdompteur Ricardo nicht in Lebensgefahr schwebt. Er wird zur Zeit von einem Arzt behandelt. Nach einer kurzen Pause mit Musik werden wir das Programm fortsetzen. Vielen Dank!“

Das Orchester spielt einen Wiener Walzer, während Mitarbeiter den Manegenkäfig wieder auseinanderbauen und die Gitterteile fortschaffen. Ein Tusch der Kapelle und Peppino, der Clown, schlurft heran.

Der kann seine Witzchen ohne mich machen. Benni verlässt seinen Platz am Rand der fünften Reihe. Ich werde mal nach Ricardo sehen, wie schwer der wirklich verletzt ist. Alfredo wird den Zuschauern die Wahrheit nicht auf die Nase binden.

4 Benni und Marietta besuchen die Löwen und bekommen ein Eis

Auf dem Platz hinter dem Zelt herrscht große Aufregung. Die Nachricht von Ricardos Unfall hat sich in rasendem Tempo verbreitet. Nun stehen die Artisten zusammen und diskutieren, wie es zu dieser Katastrophe habe kommen können.

„Warst du dabei?“, hört Benni plötzlich eine leise Stimme, fast ein Flüstern. Marietta steht neben ihm; er hat sie gar nicht kommen sehen.

„Ja“, antwortet Benni, „aber lass uns von hier weggehen. Ich erzähl dir dann alles.“

Benni führt Marietta schnurstracks zu den Löwenkäfigwagen. Zu Ricardo kann er immer noch gehen. Aber jetzt interessiert ihn, wie die Stimmung der Tiere so kurz nach dem Zwischenfall ist. Auf dem Weg erzählt er der Freundin, was er erlebt hat.

„Was meinst du, Benni, warum war Cora heute so aggressiv?“, fragt Marietta.

„Weiß nicht. Sie war gleich zu Anfang unruhig und dann richtig bockig. Anstatt auf dem Hocker zu sitzen, ist sie runtergesprungen und rumgelaufen. Ricardo hat sie nur mit Müh und Not wieder auf den Sitz bekommen. Aber warum sie so mies drauf war, weiß ich auch nicht. Vielleicht weiß es Ricardo.“

„Schau mal, Benni! Cora ist ganz ruhig.“

Die Kinder sind bei den Löwenwagen angelangt. Tatsächlich. Cora liegt entspannt in ihrem Käfig. Blinzelt ein bisschen, als sie die beiden hört. Und schließt die kaum geöffneten Augen wieder. Als ob nichts geschehen wäre.

„Das darf nicht wahr sein! So ein Aas! Tut, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte.“

Auch die anderen vier Tiere liegen friedlich dösend in ihren Käfigen. Nichts erinnert mehr an die Aufregung in der Manege.

„Komm, Mari!“ Benni wird plötzlich lebhaft. „Anscheinend ist die große Pause vorbei. Da hinten steht Marco. Vielleicht spendiert er uns ein Eis.“

Benni ergreift Mariettas Hand und zieht die Freundin im Laufen hinter sich her.

„Marco!“, schreit er, „Marco, warte!“

Außer Atem erreichen sie Marcos Stand. „Marco“ – Luftholen – „Marco, hast du“ – Luftholen – „ein Eis für uns?“ – Luftholen. „Wir haben schon so lange keins mehr von dir bekommen.“

„Meinetwegen“, sagt Marco und zeigt sein breites, gutmütiges Grinsen. Er mag die Kinder sehr, bedauert sie, findet, dass sie im Zirkus ein für Kinder viel zu schweres Leben führen. „Es sind sowieso nur noch ein paar Packungen übriggeblieben.“ Marco beugt den Kopf mit dem angegrauten Pferdeschwanz, den er zur Vorstellung mit einer braunen Perücke verdeckt, über die Tiefkühlkiste und hält, als er sich aufrichtet, zwei verpackte Eistüten in der Hand.

„Hier, ihr beiden“, sagt er, „eins Erdbeer, eins Schoko. Ich hoffe, es gibt deswegen keinen Streit zwischen euch.“

„Nee, keine Sorge, Marco. Wir einigen uns schon. Schmeckt doch beides gut. Und schönen Dank auch.“ Benni und Marietta schlendern weiter.

In Gedanken versunken schaut Marco den Kindern nach. Nur in der Pause ist er Eisverkäufer. Während der Vorstellung ist er Artist wie die anderen. Jongleur. Und wenn sich Carlo nicht selbst seinen Sohn krallt, dann trainiert er, Marco, mit Benni. Ihm ist klar, dass Benni sich überhaupt nicht für die Manege eignet. Aber sein Vater lässt ihm keine Ruhe. Hat den Ehrgeiz, aus ihm was Besonderes zu machen. Und wird immer wieder enttäuscht. Tragisch, wirklich tragisch!, denkt Marco.

5 Benni und Marietta reden

Benni und Marietta lassen sich im Gras nieder und schlecken hingebungsvoll das von Marco spendierte Eis. Marietta das Erdbeerhörnchen, Benni das mit Schoko.

Als nur noch ein klitzekleiner Rest ganz unten in der Waffeltüte zu sehen ist, fragt Benni:

„Sag mal, Mari, bist du eigentlich gern beim Zirkus?“

Marietta schaut ihn an, sie versteht nicht, was er meint.

„Na ja“, erklärt Benni, „hast du nicht manchmal Lust auf ein anderes Leben? Ohne Zirkus. In einer Wohnung. Immer am selben Ort. In einer Schule mit festen Freunden. Ein ganz normales Leben eben.“

Heftig schüttelt Marietta den Kopf. „Nein, wieso? Ich kenne doch nichts anderes. Ich weiß doch gar nicht, wie das ist, immer nur an einem Ort. Vielleicht ist das furchtbar langweilig. Der Zirkus ist mein Zuhause. Da habe ich meine Mama und da habe ich dich. Und die anderen auch, aber vor allem die Mama und dich. Außerdem macht mir das Rumreisen Spaß. Ich finde es toll, immer wieder neue Städte und neue Leute zu sehen.“

„Ja, aber du musst immer wieder weg. Du hast keinen Freund auf Dauer. Kaum hast du jemand kennengelernt, musst du auch schon wieder ‚tschüs!’ sagen. Und siehst ihn nie wieder.“

„Aber ich hab doch dich, Benni.“ Mariettas Stimme wackelt ein bisschen. Was erzählt ihr Freund denn da! Will der etwa weg?

„Ja, gut!“, räumt Benni ungehalten ein. „Du hast mich, und ich hab dich. Das ist aber eine Ausnahme. Ich meine, dass wir uns so gut verstehen. Du bist doch hier auf die anderen Kinder angewiesen, egal, ob du sie magst oder nicht. Kannst sie dir nicht aussuchen. Stört dich das nicht?“

„Nein, Benni. Aber was willst du denn eigentlich sagen?“ Die Stimme wackelt noch ein bisschen mehr.

„Ich hasse den Zirkus, Mari, das ganze Leben hier. Das Theater, das um jeden Mist veranstaltet wird. Den Streit, wer wohl die beste Nummer hat. Den Klatsch und das Gezänk. Und ich will nie, nie, verstehst du, nie! in der Manege stehen. Ich will kein Artist werden.“

Mit weit aufgerissenen Augen starrt Marietta Benni an. „Willst du weg?!“

„Wenn ich könnte, ... ja. Sofort. Mein Vater wird mich nicht in Ruhe lassen. Ich soll unbedingt auftreten. Er kann nicht einsehen, dass ich für den Zirkus nicht ein Fitzelchen Begabung habe. – Bist du eigentlich gern in der Manege?“

Marietta kann erst einmal nicht antworten. Tränen fließen. Reichlich. Erschrocken blickt Benni sie an.

„Mari, was hast du denn?“, fragt er.

„Du sollst“ – Schluchzer – „nicht weggehen. Ich will nicht“ – Schluchzer – „allein bleiben.“

„Aber, Mari. Ich geh doch gar nicht weg. Kann ich doch gar nicht. Jedenfalls im Moment nicht.“ Wie stark ihn allerdings der Gedanke, den Zirkus zu verlassen, beschäftigt, verschweigt er der Freundin.

„Weißt du“, versucht er zu erklären, „als wir in Hamburg waren ... Kannst du dich noch an Hamburg erinnern?“

Marietta nickt und wischt die Tränen aus dem Gesicht.

„Da ist jeden Tag ein Junge auf den Platz gekommen. Der Maxi. Wir haben uns angefreundet. Aber dann mussten wir wieder weiter. Ich hätte ihn so gern als Freund gehabt. Für immer.“

„Ja, ich weiß“, sagt Marietta. „Ich hab ihn ja auch gesehen. Aber ihr schreibt euch doch noch E-Mails, oder?“

„Das ist nicht dasselbe, Mari. Nicht dasselbe, wie sich jeden Tag sehen, zusammen zur Schule gehen, Sachen zusammen machen.“

6 Benni besucht Ricardo

„Kommst du mit zu Ricardo, Mari?“, fragt Benni.

„Nein, ich muss zurück in den Wagen. Hoffentlich ist Mama noch nicht da. Ich sollte nämlich was fürs Abendessen vorbereiten.“

„Okay. Dann bis morgen. Ciao!“

Ricardos Wagen steht am Ende des Platzes. Weit und breit ist niemand zu sehen. Hat man Ricardo am Ende doch ins Krankenhaus gebracht? Es hieß doch, es sei nicht so schlimm.

Benni klopft an die Wagentür. Zaghaft. Schüchtern. Keine Reaktion. Dann fasst er Mut, versucht es ein wenig fester, energischer.

„Ja“, ist eine dumpfe Stimme von drinnen zu hören.

Vorsichtig öffnet Benni die Tür. Da liegt Ricardo, auf seinem Bett, auf der Seite. Auf der mit der unverletzten Schulter. Als Benni eintritt, richtet sich Ricardo ein wenig auf.

„Ach, du bist et, Benni!“ Ricardo lässt sich wieder in die Kissen fallen.

„Wie geht’s dir, Ricardo?“, erkundigt sich Benni.

„Geht so. Könnte besser sein. Aber auch schlechter.“ Und nach einer kurzen Pause redet er weiter. „Weißte, die Wunde is' nich' so tief, wie ich befürchtet habe. Wird bald heilen. In ein paar Tagen steh ich wieder in der Manege.“

„Hast du ’ne Ahnung, warum Cora so zickig war?“

„Nee, überhaupt nich’!“

„Mari und ich waren vorhin bei den Löwen. Da lag die Cora ganz gemütlich im Käfig und hat gedöst. Keine Spur von Unruhe.“

„Ja. Vielleicht liegt’s ja am Alter. Die Jüngste isse wirklich nich' mehr. Vielleicht wirdse mit der Zeit launisch. Krank isse jedenfalls nich'. Dann hätte se sich anders verhalten.“

„Ja, kann sein“, meint Benni. „Und was war heute mit dir, Ricardo?“

„Mit mir? Was soll mit mir gewesen sein?“

„Du warst nicht so – so beweglich, so – so elegant wie sonst.“

„Das is’ dir aufgefallen? Donnerwetter, Benni, Kompliment! Ja, mein Kostüm saß ’n bisschen knapp. Ich konnte mich nich’ so gut darin bewegen. Ja, ja“, lacht er, „das gute Essen von Nicoletta!“

„Kann es sein, dass Cora das gemerkt hat?“

„Nee, ich denke, das war’s nich’. Als ich wie immer vor dem Auftritt nach den Löwen gesehen habe, war Cora schon total unruhig. Is’ am Gitter hin- und hergelaufen. Ich weiß nich’, was sie hatte. Aber wenn se sich jetzt wieder beruhigt hat, wie du sagst, dann isses wohl nichts Ernstes.“

„Tut es sehr weh?“, fragt Benni und zeigt auf den großen Verband, und als Ricardo den Kopf schüttelt: „Brauchst du was? Soll ich dir irgendwas holen?“

„Nee danke, Benni. Nett von dir. Aber ich hab alles. Und nachher kommt Nicoletta und bringt mir was zu essen. Hoffentlich nich’ zu viel und nich’ zu lecker. Sonst pass ich demnächst überhaupt nich’ mehr in mein Kostüm!“ Ricardo lacht schallend.

7 Carlo bringt den neuesten Klatsch

„Ach, Cornelia, sei froh, dass du keine Artistin bist!“ Carlo betritt den Wagen, in dem seine Frau und Benni schon mit dem Abendbrot auf ihn warten. „Ewig Zank und Streit und Eifersüchteleien.“

„Setz dich erst mal, Carlo. Wir wollen essen.“ Es ist schwer, Cornelia aus der Ruhe zu bringen. „Und? Was gibt’s denn wieder?“

„Ricardo und Nicoletta haben sich geprügelt.“

„Ricardo? Ist der nicht verletzt?“