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Vor zehn Jahren sind die Kellers aus Kasachstan nach Deutschland gekommen. Mit großen Hoffnungen. Für sich und ihre drei Kinder. Aber die großen Erwartungen werden bitter enttäuscht. Das Leben in der neuen, alten Heimat entspricht nicht ihren Vorstellungen. Die Integration gelingt den Eltern nicht. Die Kinder finden sich in der fremden Umgebung sehr schnell zurecht, entwickeln sich aber, jedes auf seine Weise, ganz anders als von den Eltern gewünscht. Da stellt sich für die Mutter schon mal die Frage, ob ihr Entschluss auszureisen richtig war.
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Seitenzahl: 174
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Nikolaj/Kolja Keller (16)
Sohn der Kellers
Viktor/Vitja (14)
sein Bruder
Marija/Mascha (knapp 18)
seine Schwester
Valentina/Valja (43)
seine Mutter
Gennadij/Gena (44)
sein Vater
Igor
der älteste Bruder, gest. mit fünf Monaten, wäre heute 23
Aslan (20) Turgut
türkischer Freund von Mascha
Aktan (12)
sein Bruder
Aysel (10)
seine Schwester
Natalja/Natascha/Tascha (16)
Nikolajs Freundin
Sonja (12)
Nataschas Schwester
Pawel/Pascha (10)
Nataschas Bruder
Olga und Vadim Engel
Eltern von Natascha
Wladimir/Wolodja (16)
Nikolajs bester Freund
Dima (30)
Wirt des Eiscafés
Lena (18)
Maschas beste Freundin
Isa (16)
Nataschas 1. beste Freundin
Tatjana/Tanja (16)
Nataschas 2. beste Freundin
Andrej/Andrjuscha
Arbeitskollege von Gennadij
Konstantin/Kostja „King“ (28)
Anführer von Viktors Gang
Boris/Borja (16)
„Vize“-Anführer der Gang
Oleg (14)
Kumpel aus Viktors Gang
Piotr/Petja (15)
Kumpel aus Viktors Gang
Tobias/Toto (19)
Lenas Freund
Niklas (20)
Aslans Freund
Sebald
Kommissar
Jana Messerschmidt
Kriminalhauptkommissarin
Dietmar Brenner
Polizeihauptmeister
Claudia Schaller
Polizeihauptmeisterin
Bertram
Mobbingopfer in Nikolajs Klasse
Dennis
heiml. „Leader“ in der Klasse
Frau Lindenberg
Nataschas Klassenlehrerin
Annika Lohmann
Maschas Deutschlehrerin
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Ein Jahr Später
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Nikolaj Keller - gerade 16, schmal, schlaksig, in der üblichen Montur Jeans, T-Shirt und Jeans-Jacke - kam in die Küche. Sah seine Mutter Valentina am Herd hantieren. Sofort stieg wieder dieser unbezwingbare Zorn in ihm hoch. Den er sich nicht erklären konnte. Sie hatte ihm nichts getan. Jedenfalls im Moment nicht.
Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete er die Verrichtungen der kleinen, fülligen Person am Herd. Die drehte sich nicht zu ihm um. Wusste, wer da gekommen war. Als die Wohnungstür ins Schloss fiel.
„Essen ist gleich fertig, Kolja.“ Sagt sie. Auf Russisch. Und fragt in der selben Sprache: „Wo bleiben deine Geschwister?“
„Warum sprichst du Russisch und nicht Deutsch? Wo du doch unbedingt in Deutschland leben wolltest?“ Herrscht Nikolaj die Mutter an. Auf Deutsch.
Jetzt wandte sich Valentina doch um. Ihr rundes Gesicht war gerötet. Von der Hitze des Herdes. Aber wohl auch vom Ärger über die Frage des Sohnes. Die hatte sie durchaus verstanden.
„Wie redest du denn mit mir?“ Fragt sie empört. Wieder auf Russisch.
Nikolaj winkte ab. Für ihn war das Gespräch beendet. Er ließ die Mutter stehen. Ging in sein Zimmer. Das musste er mit seinem jüngeren Bruder Viktor teilen. Nur seine Schwester Mascha, die demnächst achtzehn wurde, hatte einen winzigen Raum für sich alleine. Der war von der Wohnungsbaugesellschaft als halbes Zimmer ausgewiesen. Entsprach aber wohl eher einem Viertel. Kaum mehr als eine Kammer. Ein Bett. Ein kleiner Tisch. Ein Stuhl. Ein schmaler Schrank. Das war's. Na ja, viel mehr Platz hatten er und Viktor auch nicht. Das Zimmer war zwar größer. Aber es musste alles doppelt untergebracht werden. Zwei Betten. Zwei Tische. Zwei Stühle. Zwei Schränke. Die Eltern teilten sich das Wohnzimmer. Das war zugleich auch Schlafzimmer. Abends wurde der Tisch weggerückt. Die Schlafcouch ausgeklappt. Und das Bettzeug aufgelegt. Morgens das Ganze im Rückwärtsgang. Das einzig Schöne an dieser Wohnung war der Blick aus dem Fenster. Fand Nikolaj. Aus dem Fenster im zehnten Stock. Die ganze große Stadt lag einem zu Füßen. Bei klarem Wetter konnte man bis zum Fernsehturm sehen.
Noch etwas Gutes hatte dieses Hochhaus: die vielen „Russen“-Kumpel. Eigentlich waren sie ja gar keine Russen mehr. Sondern Deutsche. Hatten die deutsche Staatsbürgerschaft und einen deutschen Perso. Mussten nicht erst groß Anträge stellen wie die Türken drüben in dem anderen Hochhaus. Hatten die Papiere gleich bekommen. Einfach so. Weil sie deutsche Vorfahren hatten. Die mal nach Russland ausgewandert waren. Vor Jahrhunderten. Klar, der Name „Keller“ war ja deutsch. Der hatte in der damaligen Sowjetunion zu Schwierigkeiten geführt. Sagten die Eltern. Für die Ausreise war er ein Vorteil gewesen.
Nikolaj warf sich auf sein Bett. Dessen Decken- und Kissengebirge hatte die Mutter in eine makellose Ebene verwandelt. Während er in der Schule war. Er zog sein Smartphone aus der Jeanstasche. Prüfte, ob es neue Nachrichten gab. Nur eine. Wieder von Natascha. Die bildete sich immer noch ein, seine Freundin zu sein. Dabei hatte er ihr unmissverständlich klar gemacht, dass er seit jener Geschichte nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Aber sie gab keine Ruhe. Nervte ihn täglich mit mindestens fünf SMS. Wieder und wieder versicherte sie, wie Leid ihr das täte. Dass es doch ohne Bedeutung gewesen sei. Bla, bla, bla... Ohne Bedeutung! Das sah er anders.
Ärgerlich drückte Nikolaj die Nachricht weg. Zog Ohrstecker aus der anderen Hosentasche. Holte sich Musik aus seinem „Flachmann“. Und träumte von Zuhause. Zuhause – das war ein Dorf in der weiten Steppe Kasachstans. Sein Dorf. Das er vor zehn Jahren als Sechsjähriger verlassen musste. Weil die Eltern es so wollten. Das ganze Dorf war voller Kinder gewesen. Jeder kannte jeden. Was jetzt wohl die Kumpel dort machten? Schufteten sie wie ihre Eltern? Im Haus und in der kleinen Landwirtschaft? Die hatte fast jeder dort. Die, die besonders gut waren in der Schule, würden wohl in der Gebietsstadt die Hochschule besuchen. Aber vielleicht waren die meisten auch weg. Ab nach Deutschland.
Das Leben im Dorf war einfach gewesen. Die Eltern nannten es primitiv. Klar, das Wasser mussten sie aus dem Brunnen holen. Im Winter wurde ein Haufen Schnee auf dem Herd in kochendes Wasser für den Samowar verwandelt. Schnee lag dort in jedem Winter. Und nicht zu knapp! Strom gab es. Fernsehen war also auch dort möglich. Na ja, in der Schule ging es strenger zu als in Deutschland. In Kasachstan durfte man während des Unterrichts nicht den Affen machen. Dann gab's Stress. Wenn man nicht pünktlich zur Schule kam. Oder die Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Dann hagelte es Strafen. War manchmal vielleicht ein bisschen übertrieben. Aber so lax, wie es hier in der Schule zuging – das war schon wieder das andere Extrem. Fand Nikolaj.
Plötzlich stand die Mutter in der Tür. „Du kannst essen kommen“, sagt sie. Wieder auf Russisch. Sie sprach immer nur Russisch. Einen Augenblick lang überlegte Nikolaj, ob er so tun sollte, als habe er sie nicht verstanden. Aber dann verwarf er den Gedanken. Wäre ja albern, kein Russisch zu verstehen. Wo bei ihnen in der Familie fast nix anderes gesprochen wurde.
Seufzend erhob er sich. Folgte der Mutter in die Küche. Hier war vor dem Fenster gerade Platz für einen Tisch und fünf Stühle. Wenn alle zusammen aßen, wurde es eng. Aber es klappte so gerade. Die Küche in ihrem Dorf war viel größer gewesen. Der einzige wirklich große Raum im Haus. In dem hatte sich das gesamte Leben abgespielt. In der Mitte ein riesiger, ovaler Holztisch. Um den herum versammelten sich alle. Familie, Freunde, Nachbarn. Zu besonderen Festen erschien das halbe Dorf. Hier war das nicht möglich. In der Küche konnten mal gerade die Familienmitglieder sitzen. Und im Wohnzimmer war allenfalls Platz für die Nachbarn von nebenan. Außer dem Schlafsofa gab es nur noch drei mit geblümtem Plüschstoff bezogene Sessel vor dem niedrigen Couchtisch. Und zwei Stühle an der Wand. Neben dem Fenster. Obwohl sehr viele Aussiedlerfamilien in diesem Hochhaus wohnten, hatten sie nur selten Besuch. Die restliche Familie war in Kasachstan geblieben. Aus ihrem Dorf waren schon viele „Deutsche“ in der Bundesrepublik, als sich die Eltern zur Ausreise entschlossen hatten. Sie waren irgendwo in Süddeutschland gelandet. Aber Nikolajs Vater hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt. Wollte unbedingt in die große Stadt. Hier, so hatte er gemeint, würden sich für ihre Familie die meisten Möglichkeiten bieten.
Dass das ein Irrtum war, hatten sie sehr schnell zu spüren bekommen. Was sie sich nicht vorgestellt hatten: In den Großstädten Deutschlands gab es Arbeitslosigkeit. Als noch in der Sowjetunion ausgebildeter Schlosser mit dürftigen Deutschkenntnissen – nicht viel mehr als „bitte“, „danke“, „Guten Tag“, „Auf Wiedersehen“ - hatte der Vater keine Chance. Jetzt stand er als Leiharbeiter in einer Fabrik am Band. Seine Beschäftigung hing von der Auftragslage des Betriebes ab. Die Mutter machte dreimal in der Woche in einer Putzkolonne Büros sauber. Schöne neue Welt!
Nikolaj verfolgte gespannt, wie seine Mutter mit einem Schaumlöffel Pelmeni aus dem Topf mit siedendem Wasser holte. Und auf einen Teller gleiten ließ. Manchmal passierte es, dass ihr ein oder zwei der gefüllten Teigtaschen von dem flachen Schaumlöffel rutschten. Und auf dem Linoleum-Boden landeten. Aber heute ging alles glatt.
Valentina setzte einen randvoll gefüllten Teller vor Nikolaj ab. Eine Schale mit Schmand stand schon auf dem Tisch.
„Was is diesmal drin?“, fragt Nikolaj und meint die Füllung der kleinen Taschen.
„Fleisch“, antwortet Valentina, ausnahmsweise auf Deutsch. Eines der wenigen deutschen Wörter, die sie kennt. Dachte Nikolaj. Verkniff sich aber einen Kommentar.
„Hmmm. Super!“, sagt er stattdessen. Klackste einen gehäuften Esslöffel Schmand auf den Tellerrand. Mit der Gabel spießte er eines der Täschchen auf. Tunkte es in den Schmand. Ließ es genussvoll im Mund verschwinden.
Valentina hatte sich ebenfalls einen Teller gefüllt. Nicht ganz so hoch wie den von Nikolaj. Sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch.
„Wo sind deine Geschwister? Es ist gleich halb vier. Dein Bruder müsste längst zu Hause sein. Und Mascha hat doch mittwochs keinen Nachmittagsunterricht. Wo bleiben die denn beide?“, fragt Valentina nun wieder in der Sprache, in der sie sich sicher fühlt.
„Keinen Check, Mama“, Nikolaj zuckte mit den Schultern. Beschäftigte sich ohne aufzusehen weiter mit seinen Pelmeni. „Viktor ist wahrscheinlich bei seinem Freund Oleg. Und Mascha trifft sich sicher mit Aslan.“
„Was sagst du da?“ Valentinas Stimme rutscht in eine gefährlich hohe Tonlage. „Sie verkehrt immer noch mit diesem Türkenjungen? Obwohl wir es ihr streng verboten haben?“
„Ach, Mama!“ Jetzt sah Nikolaj doch auf. Blickte der Mutter direkt in die Augen. „Mascha wird demnächst 18. Da kann sie sowieso machen, was sie will. Was regst du dich also auf? Außerdem ist Aslan in Ordnung.“
Damit war nach Nikolajs Meinung alles gesagt. Er erhob sich. Wollte den leeren Teller in die Spülmaschine stellen. Aber für Valentina war das Gespräch keineswegs beendet.
„Sie hat zu tun, was wir ihr sagen, solange sie mit uns lebt! Auch wenn sie 18 ist.“ Valentinas Stimme überschlägt sich fast. „Wir sind nicht nach Deutschland gekommen, damit sie sich mit Türken rumtreibt. Es gibt genug deutsche Jungen.“
„Ej, Mama, was hast du gegen Aslan? Du kennst ihn doch überhaupt nicht.“
„Ich will ihn auch gar nicht kennenlernen. Wir sind aus Kasachstan weggegangen, damit unsere Kinder keinen Kasachen oder Russen heiraten. Vater und ich wollten, dass ihr nur mit Deutschen zusammen seid. Wenn ich gewusst hätte, wie viele Ausländer es hier gibt und welche Sitten hier herrschen, dann ...“
„Tja, Mama, dazu ist es jetzt zu spät“, unterbricht sie Nikolaj. „Da hättet ihr euch vorher schlau machen müssen. War'n ja schon genug von unsern Leuten hier. Hättet ihr nur zu fragen brauchen. Bei einem eurer hunderttausend Telefongespräche.“ Nikolaj hatte einen Platz für seinen Teller in der Spülmaschine gefunden. Wollte in das Zimmer gehen, das gar nicht seines genannt werden konnte. Jedenfalls nicht wirklich.
Aber Valentina war immer noch aufgebracht. „So hättest du in Kasachstan nicht mit mir geredet. Das hättest du nicht gewagt. Schuld ist die Frechheit, die hier herrscht. Überall. Gegenüber den Eltern, den Lehrern, allen Erwachsenen. Die Jungen hier haben keinen Respekt vor den Älteren. Und die Älteren tun nichts dagegen. Lassen alles so laufen. Lassen sich auslachen und beleidigen.“
„Du übertreibst, Mama! Hier gibt es einfach mehr Freiheit als in Kasachstan. Das ist doch gut. Nicht nur für die Kinder und Jugendlichen. Auch für die Erwachsenen.“
„Was soll daran gut sein?! So viel Freiheit, das führt ins Chaos. Und im Übrigen: Ihr prügelt euch doch auch mit den Türken.“
„Ej, das is was ganz anderes. Da geht’s um die Gang. Die von denen und die von uns. Das hat nix zu tun mit Aslan. Der ist da raus. Der studiert schon.“
„Gang, Gang! So was hat's in Kasachstan nicht gegeben.“
„Klar hat's das gegeben, ej! Ihr habt es nur anders genannt. Da hieß es „banda“. Und außerdem: Wir machen auch manchmal was mit den Türks zusammen, ej.“
„Ich verbiete dir, immer „ej“ ...“ In diesem Augenblick erschien jemand im Türrahmen. Viktor, in voller Montur. Mit Rucksack und Sporttasche.
„Wo kommst du jetzt her, Viktor? Es ist nach vier. Schulschluss war um zwei“, fährt ihn Valentina an.
„Geht dich nichts an!“ Wie Nikolaj spricht Viktor Deutsch. Aber Valentina verstand Deutsch sehr gut. Konnte es nur nicht sprechen. Für einen Moment verschlug ihr Viktors Antwort die Sprache. Ungläubig schaute sie ihren zweiten Sohn an, der von Statur und Gesicht her Nikolajs Zwillingsbruder hätte sein können. Wie sie so beide nebeneinander standen – der eine im Kommen, der andere im Gehen -, die gleichen strohblonden, glatten Haare, die gleichen hellblauen Augen, die gleichen hohen Wangenknochen, das gleiche ausgeprägte Kinn, waren sie ein schöner Anblick. So hatte ihr Gennadij auch ausgesehen. Als sie sich in ihn verliebt hatte. Der Stolz auf zwei so ansehnliche Söhne milderte Valentinas hochkochenden Wutanfall ein wenig. Aber nur ein wenig.
„Schämst du dich nicht, so mit deiner Mutter zu reden?!“, legt sie los. „Es geht mich sehr wohl etwas an, wo du dich rumtreibst. Du bist erst 14 und hast uns zu sagen, was du machst, wenn du nicht zu Hause oder in der Schule bist. Dein Vater und ich sind schließlich noch verantwortlich für dich. Das gilt übrigens auch für dich, Kolja, auch wenn du schon 16 bist. Bilde dir ja nicht ein, du könntest dir schon gewisse Freiheiten rausnehmen!“
Die Brüder sahen sich an. Nickten sich zu. Verließen gemeinsam ohne ein Wort die Küche. Um sich in ihr Zimmer zu verziehen.
Valentina überlegte kurz, ob sie hinterher gehen sollte. Ließ es dann aber sein. Die große Wut war nach ihrer Ansage sowieso verflogen.
„Kolja, Kolja! Warte!“ Aber Nikolaj blieb nicht stehen. Ging einfach weiter. Er wusste, wer da rief. „Kolja!“ und dann noch einmal „Kolja! Bleib stehen!“
Schließlich hatte sie ihn eingeholt. Packte ihn am Ärmel seiner Jeansjacke. Zwang ihn stehen zu bleiben. „Kolja, warum antwortest du nicht auf meine SMS. Wir müssen reden. Ich will mit dir reden.“
„Wir müssen gar nix, Natascha. Für mich ist der Fall erledigt. Aus. Ende. Finito.“
„Das kann's doch nicht sein, Kolja. Wir sind seit einem Jahr zusammen. Und es ist doch nichts passiert.“
„Das hättest du dir vorher überlegen müssen. Bevor du mit Wolodja rummachst.“
„Aber ich hab nicht mit ihm rumgemacht. Wir haben doch nur ein bisschen rumgealbert.“
„Und was ist mit dem Kuss? Ich hab euch gesehn. Wie ihr euch geküsst habt.“
„Ja, ich weiß. Aber das war nichts. War auch gar kein richtiger Kuss. Nicht so, wie wir uns küssen. Mit Wolodja hab ich nur Quatsch gemacht.“
Jetzt endlich sah Nikolaj Natascha an. Tränen standen in ihren dunklen Augen. Die Wangen vom Laufen gerötet, die langen schwarzen Haare zerzaust. Mein Gott, wie schön sie ist, dachte Nikolaj. Das war mir bis jetzt gar nicht so klar. Sie war einfach die Natascha aus dem dritten Stock. Die ich schon seit Ewigkeiten kannte. Und die seit einem Jahr meine feste Freundin war. Und seit einer Woche meine Ex.
Weil Nikolaj nichts sagte, sie nur anschaute, bettelt Natascha: „Bitte, Kolja, verzeih mir, es tut mir Leid, aber es ist wirklich nichts passiert. Ich liebe dich, nur dich, Kolja. Glaub mir. Wolodja ist nett, aber ich liebe ihn nicht. Er ist ein guter Kumpel, sonst nix. Bitte, lass uns wieder zusammen sein.“
Nikolaj zog sie an sich. Legte seine Arme um sie und sagte leise, mehr in ihre Haare als in ihr Ohr: „Okay. Ich liebe dich auch, Natascha. Deshalb war ich ja so wütend, als ich euch beide gesehen habe. Aber“, fügt er noch hinzu und löst sich aus der Umarmung, sieht sie streng an, „lass dir so was nicht noch mal einfallen!“
„Also ist alles wieder gut?“ Und als Nikolaj sie erneut fest an sich drückt: „Oh, Kolja, ich bin so froh. Du hast mir so gefehlt. Ich war so unglücklich.“
„Ich hab dich auch vermisst. Auch wenn ich stinkig war.“
„Wohin gehst du jetzt?“, fragt Natascha.
„Nix Bestimmtes. Bloß weg von zu Hause! Da is' Superstress. Mal wieder.“ Nikolaj legte Natascha die Hand um die Taille. Gab ihr einen freundschaftlichen Kuss auf die Nase. Und zog sie mit sich. „Komm, lass uns bei Dima 'ne Cola trinken.“
„Hast du Euros?“
„Für jeden 'ne Cola, dafür reicht's.“
Im Eiscafé von Dima war eine Menge los. Russische Laute. Gebrochenes Slawischdeutsch. Hier und da korrektes Deutsch. Kein Türkisch. Die Diele schien fest in russlanddeutscher Hand.
„Ej, Kolja! Wieder da?!“ Dima, der dreißigjährige Wirt, dem man gutes Essen und viel Eis ansah, hatte Nikolaj entdeckt. Dann stutzte er: „Wieder zwei? Alles gutt?“, fragt er mit Augenzwinkern. Und einer Kopfbewegung in Richtung Natascha.
„Ja, ja, alles okay“, sagt Nikolaj schnell. Jetzt eine Diskussion über ihre Beziehung, nein danke! „Is' kein Platz mehr?“
„Njet, nix Platz. Moschet ganz chinten. Musst kucken.“
Nikolaj nahm Nataschas Hand. Zog sie in den hinteren Teil der Eisdiele. Aber auch dort waren fast alle Plätze besetzt. Das übliche Bild: nur junges Publikum. Eine Cola. Oder eine Limo. Oder ein Eis. Das reichte für Stunden. Schwatzen. Kichern. Streiten. Tratschen. Zu zweit. In Grüppchen. Hier und da ganze Cliquen. Gemütlich wurde das Lokal mit den in kaltblauer Lackfarbe gestrichenen Wänden, dem Neonlicht und dem aus dem Erdmittelalter stammenden Mobiliar einzig und allein durch seine lebhaften jungen Gäste.
„Komm, lass uns gehn. Is' heute zu voll hier.“ Nikolaj trat den Rückzug an. Mit Natascha im Schlepptau. Draußen auf der Straße blieb er unschlüssig stehen. „Und jetzt?“
„Wir können zu mir gehen. Da is' jetzt keiner“, schlägt Natascha vor.
„Wieso? Wo sind'n deine Geschwister?“
„Sonja is' auf Klassenfahrt, und Pascha geht mittwochs nach der Schule immer zu einem Kumpel. Kommt erst am Abend nach Hause. Mama holt ihn nach der Arbeit ab.“
„Nu ladno“, sagt Nikolaj, was so viel wie „okay“ bedeutet. Manchmal rutschte auch ihm ein russisches Wort heraus.
Als Valentina die Wohnungstür ins Schloss fallen hörte, baute sie sich vor dem Herd auf. Den Blick fest auf die Türöffnung gerichtet. Aber dort erschien niemand. Stattdessen hörte sie, dass die Tür des halben Zimmers geschlossen wurde.
Jetzt gab es für sie kein Halten mehr. Wutentbrannt stürmte sie aus der Küche in den Flur. Und ohne jede Ankündigung in das Zimmer ihrer Tochter.
„Wo kommst du jetzt her?“ Ihre Stimme füllt den winzigen Raum.
Erschrocken blickte Mascha zu ihr auf. Sie saß auf dem Bett. Hatte gerade begonnen, etwas in ihrem Schulrucksack zu suchen. Derartige Ausbrüche der Mutter kannte sie zur Genüge. Deshalb hielt der Schreck nicht lange an. Sie wandte sich wieder ihrem Rucksack zu.
„Ich will wissen, wo du warst! Wo du dich rumgetrieben hast.“ Maschas Schweigen brachte Valentina völlig aus der Fassung. „Du hättest seit Stunden zu Hause sein müssen! Wo bist du gewesen?“
Mascha kramte weiter in ihrem Rucksack. Suchte etwas. Das sie offenbar nicht fand.
„Antworte mir!“, schreit Valentina.
Mascha wandte sich langsam zur Mutter um. Sagt betont lässig: „Unterwegs, Mama. Ich war unterwegs.“
Wie ihre Brüder sprach Mascha Deutsch. Als sie vor zehn Jahren nach Deutschland gekommen waren, war sie zwar schon sieben. Aber sie hatte die Sprache sehr schnell gelernt. War überhaupt eine Schülerin, die schnell begriff, worum es ging. Deshalb hatten die Lehrer ihre Eltern überzeugt – was nicht ganz einfach war -, dass Mascha unbedingt ein Gymnasium besuchen sollte. Die Eltern hatten das für reichlich überflüssig gehalten. Ein Mädchen – das würde doch bald heiraten. Da reichte eine „normale“ Schule. Und im Anschluss eine kurze Ausbildung. Wichtig waren die Jungen. Die sollten aufs Gymnasium. Und ordentliche Leistungen bringen. Damit aus ihnen mal was Besseres würde. Nun gingen alle drei Kinder aufs Gymnasium. Der Jüngste, Viktor, allerdings mit mäßigem Erfolg.
Valentina machte einen Schritt auf die Tochter zu. Es sah aus, als wolle sie ausholen. Ihrer Tochter eine Ohrfeige verpassen. Aber sie änderte ihre Taktik. Blieb stehen und sagte in plötzlich sehr ruhigem Ton:
„Gut, wenn du nicht reden willst, werden wir das heute Abend mit Papa besprechen.“ Dann knallte die Tür.
Mascha hatte endlich gefunden, was sie gesucht hatte: ihr Handy. Hastig wählte sie einen Kontakt. Tippte. Wartete ungeduldig.