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Beziehungsarbeit ist ein zentrales Merkmal sozialarbeiterischer Professionalität. Eine gute Arbeitsbeziehung kommt nicht zufällig zustande und hängt zu weiten Teilen auch nicht von der Persönlichkeit der Sozialarbeitenden ab: Sie ist lernbar. Im Buch werden Ideen zur schrittweisen Umsetzung eigener Beziehungsarbeit entwickelt und Grundlagen der Beziehungsarbeit vorgestellt, die als Ausgangspunkt für professionelles Handeln verstanden werden. Neben der Auseinandersetzung mit den verschiedenen (personalen und strukturellen) Einflussgrößen auf die Beziehungsarbeit runden Übungs- und Reflexionsaufgaben die einzelnen Abschnitte ab. Anhand von Fallbeispielen, die die Beziehungsgestaltung mit Adressat:innen in spezifischen Handlungssituationen der Sozialen Arbeit beschreiben, werden zentrale Kompetenzen herausgearbeitet.
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Seitenzahl: 201
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Sabrina Amanda Hancken
2., durchgesehene Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
Dr. Sabrina Amanda Hancken, Diplom-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, M. A. Soziale Arbeit, Sozialtherapeutin, ist Professorin für Sozialarbeitswissenschaften an der Hochschule Merseburg.
Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb.de
Mit 5 Abbildungen und 1 Tabelle
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© 2023, 2020 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe
(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Osterreich GmbH, Wien, Osterreich)
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Umschlagabbildung: © designer491/Shutterstock
Umschlaggestaltung: siegel konzeption | gestaltung, Stuttgart
Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
UTB-Band-Nr. 6015
ISBN 978-3-8463-6015-6
Vorwort
1Einleitung
Zum Inhalt und Aufbau des Buches
2Soziale Arbeit – eine Beziehungsprofession
2.1 Ausbildungsgeschichte der Sozialen Arbeit
2.2 Bezugswissenschaften im Studium
2.3 Ausbilden nach Bologna-Reform
2.4 Lebenslagen und Handlungsfelder im Wandel
2.5 Fallbeispiel und Übungsaufgabe
2.6 Auf einen Blick
3Sozial kompetent in die Praxis starten
3.1 Handlungskompetenzen in der Sozialen Arbeit
3.2 Fallbeispiel und Übungsaufgabe
3.3 Auf einen Blick
4Therapeutische Beziehungsgestaltung
4.1 Professionelle versus freundschaftliche Beziehung
4.2 Die therapeutische Beziehung
4.3 Bindungsforschung und therapeutische Beziehung
4.4 Herausforderungen der Beziehungsgestaltung
4.5 Auf einen Blick
5Grundlagen der Beziehungsgestaltung
5.1 Konzepte sozialer Beziehungen
5.2 Beratung und Therapie – eine Abgrenzung
5.3 Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Beziehungsarbeit
5.4 Auf einen Blick
6Gestaltung einer professionellen Arbeitsbeziehung
6.1 Grundlagen der Beratung in der Sozialen Arbeit
6.2 Fallbeispiel und Übungsaufgabe
6.3 Einflussgrößen der sozialarbeiterischen Beziehung
6.4 Beziehungsarbeit in psychiatrischen Kontexten
6.5 Auf einen Blick
7Wie geht es beziehungsweise weiter?
Literatur
Vorwort
Wir Menschen sind soziale Wesen: Wir sind auf Kontakte und Begegnungen mit anderen Menschen angewiesen. Aus diesem Grund wissen wir auch bzw. lernen von Geburt an, wie wir Beziehungen zu unseren Mitmenschen herstellen und aufrechterhalten können. Es sollte also eigentlich nicht allzu schwierig für uns sein, diese Fähigkeiten auch als Sozialarbeiter*in in unserem professionellen Alltag anzuwenden. Doch ganz so einfach ist es dann doch nicht. Es gehört schon ein bisschen Arbeit dazu.
In der Sozialarbeit haben wir oft mit Menschen zu tun, zu denen wir ohne den beruflichen Zusammenhang eher nicht in Kontakt kommen oder, wenn wir ehrlich sind, auch nicht immer unbedingt kommen wollten. Zu unterschiedlich sind wir uns dann häufig doch in unseren Werten und Meinungen, in unseren Lebensstilen, Bildungsgraden, finanziellen Ressourcen, Geschmäckern und politischen Ansichten. Zu sehr bewegt sich jede*r von uns in ihren*seinen jeweils eigenen Kreisen oder auch »Blasen«, zu wenig Kontakt haben wir im Alltag mit den allermeisten der Gruppen, die es in unserer Gesellschaft gibt. Und so sind uns viele unserer Klient*innen zunächst eher fremd – und wir ihnen. Für beide Seiten ist es nicht ganz selbstverständlich, miteinander zu tun zu haben und sich zu vertrauen.
Ein zentrales Anliegen unserer Profession ist es, unsere Klient*innen dabei zu unterstützen, dass sie ihr Leben nach ihren Vorstellungen gestalten können und sich als selbstwirksam erleben. Damit wir diese Aufgabe leisten können und damit sie unsere Hilfe annehmen können, benötigen wir eine einigermaßen vertrauensvolle Beziehung zwischen diesen Menschen und uns. Und je schwerer dies uns und/oder unseren Klient*innen zu fallen scheint, umso mehr sind wir als Profis herausgefordert: Denn wir sind es – vielleicht nicht allein, aber doch in erster Linie –, die dafür verantwortlich sind, dass wir zwischen uns eine gute Beziehung herstellen.
Wie uns dies gelingen kann und wie wir dazu aktiv und methodisch geschult beitragen können, zeigt uns Sabrina Hancken in dem vorliegenden Buch. Darin beleuchtet sie das Thema von den verschiedenen Seiten und erläutert, wie notwendig es ist, sich eine gute Beziehung zu erarbeiten. Sie macht deutlich, dass Beziehungsarbeit weder eine Kunst noch eine Frage der Persönlichkeit oder gar »der Chemie« ist und dass sie auch nicht »wie von selbst passieren« wird. Vielmehr ist sie ein Handwerk, dass wir erlernen und uns aneignen können.
Neben der Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen lässt uns Sabrina Hancken mit einer Vielzahl von Übungen und Reflexionsaufgaben ganz praktisch nachvollziehen, was es bedeutet, sich Beziehungen aktiv zu erarbeiten. Nach der Lektüre können, dürfen und werden wir uns nicht nur dafür verantwortlich fühlen, eine gute Beziehung zu unseren Klient*innen herzustellen, sondern uns auch dazu in der Lage sehen. Das ist immer dann umso wichtiger, je schwieriger es zunächst zu sein scheint: denn gerade dann sollten wir dieses Handwerk besonders gut beherrschen.
Ihnen, den Leser*innen, wünsche ich eine anregende und inspirierende Lektüre. Die Sozialarbeiter*innen unter Ihnen werden dadurch (neue) Lust darauf bekommen, auch mit schwierigen Klient*innen in Beziehung zu kommen und dadurch erfolgreich zusammenzuarbeiten. Aber auch Angehörige anderer sozialer Berufe ebenso wie interessierte Laien werden das Buch mit Gewinn lesen und etwas darüber lernen, wie man professionell aufeinander zugehen und miteinander gut arbeiten kann.
Johannes Herwig-Lempp, Halle/Merseburg
1Einleitung
Dass Soziale Arbeit und Beziehungsarbeit zusammengehören – daran gibt es keinen Zweifel! Denn nur, wenn es gelingt, eine gute Arbeitsbasis zu schaffen, werden auch die gesteckten Ziele der Adressat*innen in erreichbare Nähe rücken. Jedoch verläuft für die meisten Sozialarbeitenden die Beziehungsgestaltung automatisch: Mal entwickelt sich die Beziehung gut, mal schlecht. Eine professionelle Beziehungsgestaltung zeichnet sich hingegen als ein aufgabenorientiertes, reflektiertes Handeln aus, bei dem es sich um eine wesentliche Voraussetzung für einen gelingenden sozialarbeiterischen Unterstützungsprozess handelt. Auffallend ist, dass – während die Wirksamkeit der therapeutischen Beziehung schon lange nachgewiesen wurde – entsprechende Nachweise für die Soziale Arbeit fehlen. Was macht eine gute professionelle Arbeitsbeziehung überhaupt aus? Wie können Interaktionsprozesse gelingen? Wie viel Nähe ist erlaubt? Wann ist Distanziertheit angebracht? Und wie können bereits Studierende im Rahmen ihrer Ausbildung Beziehungskompetenzen erwerben, damit ihnen die Zusammenarbeit mit Adressat*innen gut gelingt? Dies sind nur einige Fragen, die im weiteren Verlauf des Buches bearbeitet werden. Das Arbeitsbuch richtet sich vor allem an Studierende der Sozialen Arbeit, weshalb immer wieder Bezüge zu dieser Personengruppe und dem Studium hergestellt werden. Mithilfe von Fallbeispielen aus dem psychiatrischen Bereich, bei denen es sich überwiegend um tatsächlich zugetragene, anonymisierte Fälle handelt, wird die Reflexion subjektorientierter Beziehungsarbeit in unterschiedlichen Praxisfeldern geübt.
Dabei wird nicht außer Acht gelassen, dass sich die Soziale Arbeit verändert. Denn im Zuge der neoliberalen Umstrukturierungsprozesse des Sozialstaates droht der Anspruch der Sozialen Arbeit, den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns zu stellen, immer weiter in den Hintergrund zu geraten. Um einer De-Professionalisierung entgegenzuwirken, muss Soziale Arbeit für ihre professionellen Werte und Standards eintreten. Nicht zuletzt, weil sie die Voraussetzung für eine langfristige, wirksame Intervention bildet, wird der Gestaltung von Arbeitsbeziehungen im Professionalisierungsdiskurs eine hohe Bedeutung beigemessen. Denn eine gute Arbeitsbeziehung kommt nicht zufällig zustande und hängt weitestgehend nicht von der Persönlichkeit des Sozialarbeitenden ab, sondern sie ist vielmehr zu großen Teilen lernbar. Deshalb bedarf es schon im Bachelorstudiengang Soziale Arbeit ausgewiesener Lernorte.
Zum Inhalt und Aufbau des Buches
Obwohl die einzelnen Kapitel des Buches aufeinander aufbauen, können sie auch jeweils für sich gelesen werden, da es sich um abgeschlossene Sinneinheiten handelt. Unterschiedliche Übungs- und Reflexionsaufgaben laden zum Mit- und Darüber-hinaus-Denken ein. Am Ende jeden Kapitels findet sich stets eine komprimierte Zusammenfassung des jeweiligen Abschnitts.
In Kapitel 1 werden die Spuren der Sozialen Arbeit auf dem Weg zur Beziehungsprofession nachgezeichnet. Neben einem kurzen geschichtlichen Rückblick in die Ausbildungsgeschichte der Sozialen Arbeit werden die Veränderungen des Professionsverständnisses von Sozialarbeitenden im Zuge sich wandelnder sozialer Problemlagen skizziert.
Kapitel 2 setzt sich mit dem erforderlichen Kompetenzprofil von (zukünftigen) Sozialarbeiter*innen auseinander. Es werden unterschiedliche theoretische Konzepte und Modelle vorgestellt, bei denen es weniger um ein Entweder-oder als vielmehr um ein Miteinander geht.
Kapitel 3 greift die »therapeutische Beziehungsgestaltung« auf. Diese liefert erste Hinweise für die professionelle Beziehungsarbeit von Sozialarbeitenden. Vertiefend wird auf die Bindungstheorie eingegangen.
Kapitel 4 bietet wichtige theoretische Hintergründe zur sozialen Beziehungsgestaltung. Neben der Darstellung dreier Ansätze werden drei Veröffentlichungen zum Thema der professionelle Beziehungsgestaltung in der Sozialen Arbeit beleuchtet. Sie bilden die Grundlage zur Herausarbeitung wesentlicher Einflussgrößen auf das professionelle Arbeitsbündnis in psychosozialen Arbeitsfeldern, die bereits im Hochschulkontext sowohl vermittelt als auch zueinander in Verbindung gesetzt, geübt und reflektiert werden können.
Kapitel 5 widmet sich der »Gestaltung einer professionellen Arbeitsbeziehung«. Weil Beziehungsarbeit ohne Kommunikation und Interaktion nicht funktionieren würde, findet als Ausgangspunkt für die Gestaltung eines professionellen Arbeitsbündnisses zunächst eine Erörterung von Gesprächstechniken statt, um darauf aufbauend weitere zentrale Einflussgrößen zu benennen. Neben diesen eher allgemein gehaltenen »Bausteinen« benötigen psychosozial Helfende ebenfalls Kenntnisse über die Besonderheiten der jeweiligen Zielgruppe im jeweiligen sozialarbeiterischen Kontext. Exemplarisch werden an dieser Stelle drei Fallbeispiele behandelt.
Das Buch endet mit einem Ausblick auf mögliche zukünftige Herausforderungen für die Soziale Arbeit, die wiederum Auswirkungen auf die professionelle Beziehungsgestaltung haben können.
2Soziale Arbeit – eine Beziehungsprofession
Dass Soziale Arbeit eine Beziehungsprofession ist, steht außer Frage. Deshalb kann es schnell als Selbstverständlichkeit angesehen werden, dass Sozialarbeiter*innen von sich aus in der Lage sind, eine tragfähige und vertrauensvolle Beziehung zu ihren Adressat*innen aufzubauen. Doch es bedarf weit mehr als nur eines »richtigen Fingerspitzengefühls« oder der »richtigen Chemie« zwischen beiden Parteien. Grundidee des vorliegenden Arbeitsbuches ist vielmehr, dass Beziehungsarbeit nicht nur als unverzichtbarer Bestandteil der Methodik verstanden wird, sondern vor allem lernbar ist! Da die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte Voraussetzung für das Verständnis der Gegenwart ist, findet nachfolgend eine Darstellung der über 100-jährigen Berufsgeschichte der Sozialen Arbeit statt.
2.1Ausbildungsgeschichte der Sozialen Arbeit
Die Bezeichnung »Sozialarbeit/Sozialpädagogik« verweist auf zwei Ursprünge: Während sich die Sozialpädagogik aus der Jugendhilfe und dem Waisenhaus entwickelte, um schwindende familiäre Erziehungsleistungen zu kompensieren, legte die Sozialarbeit ihren Fokus auf in Not gekommene Familien. Erste engagierte Vertreter waren Wichern und Kolping (Armenfürsorge, um 1850) sowie Pestalozzi (Armenhäuser für Kinder von Armen, um 1800). Eine Unterscheidung zwischen diesen beiden Bereichen ist heutzutage kaum noch möglich, sodass das Berufsfeld immer häufiger als Soziale Arbeit bezeichnet wird. Wie es zu dieser Entwicklung kam, zeigt ein Blick in die Geschichte.
Obwohl soziale Tätigkeiten so alt wie die Menschheit selbst sind, beginnt die Professionalisierungsgeschichte der Sozialen Arbeit erst mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Denn nun fand zunehmend eine Verberuflichung sozialer Tätigkeiten statt. Eng verwoben mit ihren Wurzeln ist die Entwicklung ihrer Ausbildungsgeschichte. So lassen sich, bevor es überhaupt zur Institutionalisierung der Ausbildung der Sozialen Arbeit kam, bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts erste Schulungen für die Soziale Arbeit finden. Kirchlichen Trägern kam hier eine Vorreiterrolle zu, da sie das Ziel verfolgten, Personen für soziale Hilfstätigkeiten vorzubereiten.
Aus jener Zeit bekannt geworden ist Johannes Wichern. Er gründete im Jahr 1833 das Rauhe Haus in Hamburg als ein Rettungsdorf für arme und verwahrloste Kinder. In den Häusern lebten Kinder und Erzieher in familienähnlichen Gruppen zusammen. Für die Ausbildung der Erzieher (»Brüder«; später Diakone) gründete Wichern in den 1840er-Jahren eine Brüderanstalt (vgl. Diakonie Deutschland 2018). Ein weiterer Vorläufer der Fürsorgeausbildung ist in dem einjährigen Ausbildungskurs vom Verein für Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit im Jahr 1899 zu sehen (vgl. Mühlum/Buttner 2010, S. 156). Aus ihm entstand 1908 die erste »Soziale Frauenschule« in Berlin, die von Alice Salomon gegründet wurde. Nun war eine zweijährige Ausbildung möglich. Der Bedarf an qualifizierten Fachkräften stieg, nicht zuletzt aufgrund der im Zuge der Industrialisierung größer werdenden sozialen Probleme. Dabei setzte sich zunächst das staatliche Interesse durch, dass vor allem eine Berufsausbildung und weniger ein Studium verlangte. Das Besondere hierbei ist, dass sich erst durch die Gründung der Ausbildung das Berufsbild formte und die Profession hervorbrachte. Ähnlich verlief es auch bei der Etablierung der Sozialpädagogikausbildung. Aufbauend auf den Beruf der Kindergärtnerin entwickelte sich ab 1909 das Berufsbild der Jugendleiterin. Sie war zuständig für die Arbeit mit älteren Kindern und Jugendlichen – also die Arbeit der späteren Sozialpädagogin. Durch den Ersten Weltkrieg entstanden im weiteren Verlauf soziale Notlagen, die alle Teile der Bevölkerung betrafen mit der Folge, dass die Wohlfahrtspflege ab 1914 deutlich ausgebaut wurde. Der Bedarf an Fachkräften stieg und brachte weitere neue Ausbildungsstätten hervor. Vor allem in den 1920er-Jahren etablierte sich die Soziale Arbeit mit einer Vielzahl an Ausbildungsstätten, staatlich anerkannten Abschlüssen und einem festen Platz im Bildungssystem. Dazu trugen vor allem wirtschaftlicher Aufschwung, rechtliche Regelungen sowie der Wunsch nach Anerkennung bei. Hinzu kam ein steigender Arbeitskräftemangel. Schon damals wurde über die Vor- und Nachteile einer generalistischen Ausbildung für alle Arbeitsfelder bzw. einer spezifischen Qualifikation für Teilbereiche diskutiert mit dem Ergebnis, sich auf ein allgemeines Ausbildungskonzept mit einer Wahlschwerpunktsetzung zu einigen.
Erheblichen Einfluss auf die Ausgestaltung der Profession hatte die Geschlechterordnung. Während Männer überwiegend universitäre Studienangebote in Anspruch nahmen, fanden sich Frauen oftmals an den von den Gründerinnen der Wohlfahrtsschulen etablierten Einrichtungen wieder (vgl. Kruse 2008, S. 39 f.). Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kam die Sozialarbeit zum Stillstand. Die Wohlfahrtspflege wurde vielmehr zur Volkspflege. Die Lehrpläne der Frauenschulen wurden zugunsten einer nationalsozialistischen Rassen- und Gesinnungspflege ersetzt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg musste die Ausbildung unter den widrigsten Umständen aufgebaut werden. Dabei wurde versucht, an die alten Strukturen vor 1933 anzuknüpfen. Gleichzeitig fand eine Übernahme von Konzepten und Methoden aus England und den USA statt (vgl. Schilling/Klus 2018, S. 64 ff.). Die zweijährigen Fachschulen wurden wieder ins Leben gerufen und ab den 1960er-Jahren zu Höheren Fachschulen umgewandelt. Damit einher ging, dass die Bezeichnung der Wohlfahrtspflegerin durch die Berufsbezeichnung »Sozialarbeiter*in« abgelöst wurde.
Ein weiterer Meilenstein wurde 1971 erreicht, als die Anhebung der Ausbildung von Höheren Fachschulen zu Fachhochschulen erfolgte. Damit wurde sie in den tertiären Bildungsbereich übernommen. Von nun an konnten die Fächer Sozialarbeit und Sozialpädagogik als Fachhochschulstudiengänge mit Diplomabschluss studiert werden. Allerdings fehlte es noch an einschlägigem Lehrpersonal. Dieses äußerte sich darin, dass überwiegend ein Fächerstudium angeboten wurde, in dem die Sozialarbeit/Sozialpädagogik nur eine untergeordnete Rolle spielte. Die Fächer wurden von Bezugswissenschaftler*innen mit Inhalt gefüllt. Nach wie vor bestand ebenfalls ein enger Bezug der Sozialen Arbeit zu harten Problembereichen wie Sucht, Obdachlosigkeit, Psychiatrie, während die Sozialpädagogik in enger Verbindung zu Erziehungsaufgaben stand. Erst in den 1980ern weichten die Grenzen immer mehr auf, sodass sich beide Studiengänge mehr und mehr zu Studiengängen Sozialwesen bzw. Soziale Arbeit zusammenschlossen.
Seit den 1990er-Jahren setzte sich allmählich die Forderung nach und die terminologische Verwendung der Bezeichnung »Wissenschaft der Sozialen Arbeit« durch. Es dauerte noch weitere neun Jahre bis die Hochschulrektorenkonferenz und die Kultusministerkonferenz im Jahr 2001 eine Rahmenordnung für die Diplomprüfung im Studiengang Soziale Arbeit erließen und damit deutlich zur Verwissenschaftlichung der Disziplin beitrugen. Es wurde nicht nur die Vereinheitlichung des Studienganges Soziale Arbeit gefordert, sondern die Soziale Arbeit wurde erstmals als Wissenschaft bezeichnet:
»Die Prüfungsgebiete folgen nicht der Gliederung der üblichen Wissenschaftsdisziplinen […], sondern gehen davon aus, dass die heute der Sozialen Arbeit zugrunde liegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse/Theorien und Methoden unter dem Begriff einer Wissenschaft der Sozialen Arbeit zusammengefasst werden können […].« (Hochschulrektorenkonferenz/Präsidenten der Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland 2001, S. 49)
2.2Bezugswissenschaften im Studium
Weil die Soziale Arbeit in sich inter- und transdisziplinär angelegt ist, wird sie erst mithilfe ihrer Bezugswissenschaften zu einer eigenständigen Disziplin. Sie verfügt über kein Alleinstellungsmerkmal. Theoretisch wird die Inter- und Transdisziplinarität insbesondere von Heiko Kleve, Albert Mühlum, Konrad Maier und Tilly Miller vertreten. Nach Kleve (2009, S. 154 ff.) ist die Wissenschaft der Sozialen Arbeit nur mehrdeutig als »Koordinationswissenschaft« für interdisziplinäre Zugänge zu sozialen Problemen vorstellbar. Dabei geht es aber weniger darum, dass sich die Soziale Arbeit aus Beiträgen und Sammlungen anderer Disziplinen speist, sondern vielmehr ist von Bedeutung, dass sie je nach Bedarf hierauf zurückgreifen und formulieren kann, welchen Input sie von ihren Bezugswissenschaften benötigt. Miller (2011, S. 243) geht noch einen Schritt weiter. Für sie ist die Soziale Arbeit nur als eine junge Wissenschaftsdisziplin mit transdisziplinärer Ausrichtung vorstellbar.
Da das Studium für die berufliche Praxis ausbildet, kommt den Bezugswissenschaften eine hohe Bedeutung zu. Mit Bezugswissenschaften sind solche Wissenschaften gemeint, die einen gemeinsamen Bezug haben, z. B. weil sich Teile der jeweiligen Gegenstandsbereiche überschneiden, die Fragestellungen komplementär sind oder die Erkenntnisinteressen übereinstimmen. Die Beziehungen zwischen der Sozialen Arbeit und ihren Bezugswissenschaften kann generell mit den Begriffen »Multidisziplinarität«, »Interdisziplinarität« und »Transdisziplinarität« beschrieben werden. Die Präfixe »post« und »trans« boomen derzeit in der sozialwissenschaftlichen Literatur.
Zur Gruppe der Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit gehören sowohl die Disziplinen Soziologie, Ethik, Rechtswissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Biologie, Medizin, Ökonomie und Politikwissenschaft als auch die Fachrichtungen Geschichte, Philosophie und Theologie. Silvia Staub-Bernasconi (2007, S. 246) stellte bereits fest, dass es kein soziales Problem gebe, dass nur mit Bezug auf eine einzelne Disziplin beschrieben und erklärt werden kann. Es ist notwendig, dass die Soziale Arbeit sich ihrer gemeinsamen strukturellen Kopplungen bewusst ist, denn erst dort, wo ihre eigenen Grenzen anfangen, kommen andere Disziplinen ins Spiel. Zum Verdeutlichen eignet sich das biopsychosoziale Gesundheitsverständnis in der Sozialarbeitspraxis am Beispiel der Sozialpsychiatrie. Professionelle Helfer*innen legen ihren Fokus auf die soziale Dimension psychischer Störung unter Beachtung psychobiologischer Aspekte und arbeiten mit weiteren Disziplinen wie Medizin und Psychologie zusammen.
Aufgrund der inhaltlichen Dichte und Relevanz für die Beziehungsarbeit werden zunächst die Bezugswissenschaften Sozial- und Berufsethik sowie Pädagogik vertieft, um in einem anschließenden Kapitel auf die Bezugswissenschaft Psychologie einzugehen.
Sozial- und Berufsethik
Soziale Arbeit hat einen engen Bezug zur Ethik. Dies wird vor allem beim methodischen Handeln deutlich. Denn die Praxis Sozialer Arbeit ist seit ihrer Entstehung zumeist an bürgerlichen Moralvorstellungen orientiert. Aufgrund des lebensweltlichen Bezuges ist das Hinterfragen eigener Moralvorstellungen sowie der in Institutionen gelebten Normvorstellungen elementar (vgl. Walter 2017, S. 65). Dafür greift die Soziale Arbeit sowohl auf die Sozial- als auch auf die Berufsethik zurück.
Bei der Sozialethik handelt es sich um eine Ergänzung der Ethik, die sich mit Fragen, die das Miteinander betreffen, befasst. Es geht um die Klärung, inwiefern Menschen, Institutionen, Kommunen und Länder Verantwortung für ihre Mitmenschen haben und wie sie Gerechtigkeit herstellen können. D. h. die ethische Normierung von Handlungen steht im Vordergrund, sofern sie sich institutionell verankert hat.
Hingegen bezieht sich die Berufsethik darauf, wie mit ethischen Fragen in sozialen Einrichtungen umgegangen wird, in denen das Handeln der professionellen Helfer*innen abläuft (vgl. Schmid Noerr 2012, o. S.). Weil es weder eine spezifische Ethik der Sozialen Arbeit noch konkrete sozialarbeiterische Werte und Normen gibt, können sich Sozialarbeitende an den gültigen Werte- und Normensetzungen für das menschliche Zusammenleben und für zwischenmenschliche Beziehungen orientieren. Die International Federation of Social Work (IFWS) gibt hierfür einen Orientierungsrahmen. Sie benennt die Prinzipien soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, gemeinsame Verantwortung und Achtung der Vielfalt als Grundlage der Sozialen Arbeit. Aber nicht nur auf internationaler Ebene wird die Ethik als Bestandteil der Sozialen Arbeit hervorgehoben, sondern auch im nationalen Kontext. Hier ist vor allem die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit zu nennen, die sich im Rahmen des Kerncurriculums für Soziale Arbeit mit (berufs)ethischen Themen beschäftigt (vgl. DGSA 2016).
Auch in sozialarbeitswissenschaftlichen Theorien spielt die Ethik eine Rolle. Beispielsweise versteht Silvia Staub-Bernasconi Soziale Arbeit als eine Menschenrechtsprofession. Dabei bewegen sich Sozialarbeitende stets in einem Spannungsfeld, dem sogenannten »Doppelten Mandat«. Der Begriff »Mandat« stammt aus dem Lateinischen und versteht sich als Auftrag, Weisung oder Vollmacht. Dies bedeutet, dass Sozialarbeitende zum einen staatlichen Interessen dienen und somit auch eine Kontrollfunktion einnehmen. Denn der Staat ist in der Regel Auftraggeber für die sozialarbeiterische Hilfe. Der Spielraum für Entscheidungen ist somit nicht beliebig, weil er eben an gesetzliche Normen sowie gesellschaftliche Normvorstellungen gebunden ist. Dieses setzt eine gewisse Sensibilität aufseiten der Sozialarbeitenden für eine angemessene und gerechte Entscheidung voraus, die ethisch zu vertreten ist. Neben dem staatlichen Mandat sind Sozialarbeitende zum anderen ihren Adressat*innen verpflichtet. Hierbei handelt es sich zugleich um das zweite Mandat der Sozialen Arbeit. Es geht darum, gemeinsam mit den betreffenden Personen einen für sie gelingenden Alltag herzustellen und beizubehalten sowie sie gesellschaftlich, unter Berücksichtigung ihrer Wünsche und Erwartungen, zu integrieren.
Was damit in der Praxis gemeint ist, zeigt folgendes Beispiel aus dem Handlungsfeld des Ambulant Betreuten Wohnens. Hier kommt es immer wieder vor, dass Nutzer*innen suizidal sind. Aufgrund der oftmals langjährigen Betreuungstätigkeit kann in der Regel von einem intensiven Vertrauensverhältnis ausgegangen werden. Dennoch reagieren die Menschen in akuten instabilen Phasen sehr unterschiedlich. Während ein Teil der Adressat*innen sich in solchen Situationen sicherlich zurückziehen wird, öffnet sich ein anderer Teil seinen Betreuungspersonen gegenüber und gibt somit Einblicke in seine Gefühls- und Gedankenwelt. Häufig ist bei Gesprächen über Suizidgedanken die Angst vor einer Klinikeinweisung sehr groß. Denn bei einer Selbst- oder Fremdgefährdung kann es zu einer Einweisung in die Psychiatrie gegen den Willen der betreffenden Person kommen. An dieser Stelle befindet sich der*die Sozialarbeiter*in in einer »Zwickmühle«: Zum einen soll das Vertrauensverhältnis gewahrt bleiben, zum anderen besteht die Pflicht, zumindest beim Sozialpsychiatrischen Dienst, die Information über den krisenhaften psychischen Zustand der betreffenden Person weiterzugeben.
Reflektieren Sie Ihre bisherigen praktischen Erfahrungen:
–Fallen Ihnen Beispiele ein, wo Sie sich im Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle bewegt haben?
–Wie haben Sie zu einer Klärung gefunden?
–Mit welchem Ergebnis?
Das Doppelmandat wurde durch ein drittes Mandat erweitert. Vor allem Staub-Bernasconi (2007, S. 200) hat auf die Notwendigkeit der Wissenschaftsbasierung der professionellen Praxis sowie eines Ethikkodexes hingewiesen. Denn oftmals bleiben die wissenschaftlichen Ansprüche oder professionsethischen Grundsätze von Sozialarbeitenden hinter den in einer Einrichtung gewünschten oder geforderten Arbeitsweisen, z. B. aufgrund von wirtschaftlichen Zwängen oder politischen Entscheidungen, zurück.
Mit Wissenschaftsbasierung ist gemeint, dass sich die in der Praxis tätigen Helfer*innen theoretischer Wissensbestände bedienen, um sich ihre Arbeitspraxis erklären und Arbeitshypothesen aufstellen zu können. Es wird also erwartet, dass Sozialarbeitende in der Lage sind, theoretische Kenntnisse in die Praxis zu transformieren. Alltagstheorien und eigene Intuitionen sollen durch wissenschaftliche Theorien bzw. Erkenntnisse überprüft sowie hinterfragt und ggf. korrigiert werden.
Ein Berufskodex dient nach Beat Schmocker (2011, S. 8) sowohl als Orientierung und Argumentierung als auch zur Begründung von Handlungsentscheidungen. Die Geschichte hat bereits gezeigt, dass auch die Soziale Arbeit nicht frei von wirtschaftlichen, politischen oder religiösen Interessen ist. Ein von externen Einflüssen unabhängiger Ethikkodex kann zwar auch verletzt werden, ist aber, aufgrund der besonderen Stellung von Sozialarbeitenden, unabdingbar. So findet die praktische Tätigkeit überwiegend in der Lebenswelt von Adressat*innen statt und greift in demokratisch-rechtliche Verhältnisse ein, um bestimmte Handlungen oder Maßnahmen durchführen zu können. Die Notwendigkeit einer professionsethischen Begründung von Interventionen zeigt sich besonders deutlich in hierarchischen machterfüllten Arbeitsfeldern, wie es zum Beispiel beim Jobcenter oder beim Allgemeinen Sozialen Dienst der Fall ist. Dieses spiegelt sich auch im Ethikkodex der internationalen und nationalen Vereinigungen wider. Hier werden vor allem die Menschenrechte mit Fokus auf soziale Gerechtigkeit festgehalten.
Das Tripelmandat setzt ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit der eigenen Tätigkeit aufseiten der Praktiker*innen voraus, denn sie müssen sowohl das Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle reflektieren als auch einen Bezug zu theoretischen Wissensbeständen und geltenden professionsethischen Werten herstellen. Supervisionen, kollegiale Fallgespräche, Teambesprechungen und andere reflexive Gesprächsmethoden haben nicht zuletzt aus diesen Gründen eine lange Tradition in der Sozialen Arbeit.
Denken Sie bitte an Ihre letzte Fallbesprechung, an der Sie als Fallgeber*in bzw. Teilnehmer*in in der Praxis oder im Studium teilgenommen haben.
–Was ist Ihnen in Erinnerung geblieben?
–Nach welchem Schema ist diese abgelaufen?
–Wurde ein Bezug zum Tripelmandat in irgendeiner direkten oder indirekten Weise hergestellt?
Halten Sie anschließend die jeweiligen Vor- und Nachteile fest und überlegen Sie, zu welchen Ideen und Lösungen Sie im Hinblick auf das Tripelmandat gelangen können.