Beziehungspflege - Rüdiger Bauer - E-Book

Beziehungspflege E-Book

Rüdiger Bauer

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Beschreibung

Beziehungen zu beginnen, zu gestalten und zu beenden ist ein zentrales Elemente der Arbeit von (psychiatrisch) Pflegenden sowie anderen Gesundheits- und Sozialberufen. Das Praxishandbuch des erfahrenen Fachpflegers für psychiatrische und psychosomatische Pflege stellt die Beziehungspflege mit ihren Elementen, Einflussfaktoren und Interventionen dar. Bedeutende neurobiologische Erkenntnisse für die Beziehungspflege werden hervorgehoben. Das Praxishandbuch für Pflegepraktiker, Gesundheits- und Sozialberufe - klärt die biologisch-neurowissenschaftlichen, konstruktivistischen, sozialen und psychologisch-bindungstheoretischen Grundlagen und Einflussfaktoren der Beziehungsarbeit und -gestaltung - beschreibt die Geschichte und Entwicklung der Beziehungspflege - benennt und beschreibt die Elemente der Beziehungspflege, wie Haltung, Beziehungspflegeplanung, Biographiearbeit, Lebensereignisskala und bio-psycho-soziale Hypothesenbildung - zeigt, wie die Beziehungspflege in diversen Settings umgesetzt und angewendet wird, die von der Psychiatrischer Pflege, über die Akutversorgung bis hin zur Altenpflege reichen - zeigt, wie die Beziehungspflege bei diversen Erkrankungen körperlicher, psychischer und psychosomatischer Natur eingesetzt werden kann. Wer nach dem nötigen Rüstzeug sucht, um Beziehungen in der Akut- und Langzeitpflege kongruent beginnen, gestalten und beenden zu können, liegt mit dem Praxisbuch von Rüdiger Bauer zur Beziehungspflege richtig!

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Seitenzahl: 672

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Beziehungspflege

Rüdiger Bauer

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Pflege:

Jürgen Osterbrink, Salzburg; Doris Schaeffer, Bielefeld; Christine Sowinski, Köln; Franz Wagner, Berlin; Angelika Zegelin, Dortmund

Rüdiger Bauer

Beziehungspflege

Kongruente Beziehungsarbeit für Pflege-, Sozial- und GesundheitsberufeEine Geschichte kongruenter Beziehungen zwischen Menschen

3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage

Rüdiger Bauer Krankenpfleger, Fachpfleger für psychiatrische Pflege, Fachpfleger für Psychotherapie und Psychosomatik, ehemalige Pflegedienst- und Weiterbildungsleitung, ehemaliger Bildungsreferent (Kloster Irsee), BSc Soziale Arbeit, Magister Soziale Arbeit (Master of Social Work), Verlagsleiter, Dozent, Unterostendorf

IBI-Institut

Primelweg 6

DE-86869 Unterostendorf

E-Mail: [email protected]

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Anregungen und Zuschriften bitte an:

Hogrefe AG

Lektorat Pflege

z. Hd.: Jürgen Georg

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel: +41 31 300 45 00

Fax: +41 31 300 45 93

E-Mail: [email protected]

Internet: www.hogrefe.ch

Lektorat: Jürgen Georg, Martina Kasper

Herstellung: René Tschirren

Umschlagabbildung: Martin Glauser, Uttigen

Umschlag: Claude Borer, Riehen

Satz: Claudia Wild, Konstanz

Druck und buchbinderische Verarbeitung: Finidr s.r.o., Český Těšín

Printed in Czech Republic

3., überarb. u. erw. Auflage 2018

© 2018 Hogrefe Verlag, Bern

© 2004 Ibicura, Unterostendorf

© 1997 Ullstein Mosby, Wiesbaden

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-95806-4)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-75806-0)

ISBN 978-3-456-85806-7

http://doi.org/10.1024/85806-00

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Anmerkung

Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

Inhaltsverzeichnis
Widmung
Danksagung
Vorwort
Über dieses Buch
Teil I: Neurobiologische Grundlagen
1 Der Mensch – schon Mensch oder noch Tier oder beides?
1.1 Am Anfang steht das Erkennen
1.2 Wie alles begann
1.3 Wie Zellen erkennen
1.4 Aus Zellen wurden Menschen
1.5 Das Gedächtnis erzeugt die Wirklichkeit
1.6 Wie alles zusammenspielt
2 Das Gehirn – unser Beziehungsorgan
2.1 Unser Gehirn betrügt uns
2.2 Wie wir andere spüren – das Spiegelneuronensystem
2.3 Was unser Gehirn trotzdem faszinierend macht
2.4 Neuronale Plastizität
2.5 Das Gehirn in der Schwangerschaft und den ersten Lebensjahren
2.6 Das Teenager-Gehirn
2.7 Das Gehirn des Erwachsenen
2.8 Das Bindungs- und Vertrauenssystem
2.8.1 Psychotherapeutische Wirkung aus Sicht der Neurobiologie
2.9 Das Stressreaktionssystem und die Angst
2.9.1 Die Zentren der Angst
2.9.2 Angst bewältigende Strukturen
2.10 Wie alles zusammenspielt
3 Die verschiedenen Bindungstypen
3.1 Zu Beginn eine Geschichte
3.2 Die Entwicklung der Bindungstheorie
3.3 Der Fremde-Situation-Test
3.3.1 Sichere Bindung – „sich gefühlt fühlen“
3.3.2 Unsicher vermeidende Bindung
3.3.3 Unsicher ambivalente Bindung
3.3.4 Desorientierte/desorganisierte Bindung
3.4 Die Bindung bei Erwachsenen
3.5 Die Bedeutung der frühen Bindung für die Kongruente Beziehungspflege
3.6 Wie alles zusammenspielt
4 Störungen des Gehirns und Beziehungsstörungen
4.1 Die Depression
4.2 Die Posttraumatische Belastungsstörung
4.3 Erweiterte Hypothese zur Entstehung psychotischen Erlebens
4.4 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung
4.5 Das psychopathische Gehirn
4.6 Wie alles zusammenspielt
Teil II: Anwendung der Kongruenten Beziehungspflege
5 Beziehungspflegeplanung und die bio-psycho-soziale Hypothese
5.1 Die Geschichte der Beziehungspflegeplanung
5.2 Die bio-psycho-soziale Hypothese
5.3 Die epigenetische Begründung für die bio-psycho-soziale Hypothese
5.4 Checkliste für eine Hypothesenbildung
5.5 Fallbesprechungen und Beispiele für Hypothesen
5.6 Kurzinformationen über die relevanten Beziehungszentren des Gehirns
5.7 Kurzinformationen über Verhalten und Zuordnungen zu Zentren des Gehirns
5.8 Die explizite Beziehungspflegeplanung
5.9 Biografiearbeit mit der Lebensereignisskala
5.10 Die explizite Beziehungspflegeplanung in Altenhilfeeinrichtungen
5.11 Wie alles zusammenspielt
Teil III: Erfahrungsberichte zur Kongruenten Beziehungspflege
6 Implementierung des Konzepts in Altenhilfeeinrichtungen
6.1 Das Interview: Was geschieht eigentlich in den Entwicklungsprozessen?
6.2 Implementierung eines modernen Pflege- und Betreuungskonzepts
6.3 Widrige Bedingungen müssen nicht hindern
6.4 Eine skeptische Leitung – ein guter und weiter offener Ausgang
6.5 Beziehungspflege leben – den Ausgang offenhalten
6.6 Wir sind auf dem Weg
6.7 Am Anfang ein Flyer – am Ende Renditeoptimierung
7 Implementierung des Konzepts in die Psychiatrie
7.1 Je nachdem, wie einer erkennt
7.2 Das Erkennen des Erkennens
7.3 Der Prozess der Kongruenten Beziehungspflege
7.4 Einführung auf psychiatrischen Stationen eines Allgemeinkrankenhauses
7.5 Die Entwicklungen der Beziehungspflege in der Psychosomatik
7.6 Entwicklung der psychiatrischen Pflege: Beziehungsarbeit und Beziehungspflege
8 Implementierung des Konzepts in Allgemeinkrankenhäusern
8.1 Einführung des Konzepts im Herz-Jesu-Krankenhaus, Fulda
8.2 Einführung des Konzepts im Landeskrankenhaus in Kirchdorf an der Krems
8.3 Einführung des Konzepts im Klinikum Niederlausitz GmbH, Senftenberg
9 Schlusswort
Literatur
Autorenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Sachwortverzeichnis

Widmung

Für meine Frau Ingeborg, für einundvierzig Jahre liebevolle Beziehung und für meine Kinder Judith, Maximilian, Johannes und Sarah.

Sie alle sind eine Quelle tiefer Inspiration in der liebevollen Zuwendung zueinander.

Danksagung

Beim Schreiben dieses Buches haben mich viele Menschen unterstützt. Ich beginne im Kreis der Familie und da steht an erster Stelle meine Frau Ingeborg. Sie hat alle Höhen und Tiefen dieses Buches hautnah miterlebt. Ihr habe ich alle Schreibhemmungen sowie Zweifel und Mutlosigkeit zugemutet. Sie hat alles tapfer ertragen. Sarah, meine jüngste Tochter hat alle Skripten gelesen und mir vor allem in schwierigen Passagen, wenn ich wieder fast vollständig von geltenden Lehrmeinungen abgewichen bin, Mut gemacht und mir Selbstvertrauen gegeben. Meiner ältesten Tochter Judith Rossa danke ich für die Unterstützung im EDV-Word Dschungel bei der Zusammenstellung des Buches und zu Hinweisen in einigen Skripten. Ihr Mann Michael hat mit kritischem Auge eines völlig Fachfremden vor allem immer wieder aufgezeigt, dass zum Verständnis schwieriger Passagen Grafiken zu einem leichteren Verständnis verhelfen. Mein Sohn Maximilian hat in ungeheurer Geschwindigkeit einige Grafiken für das Buch erstellt, danke dafür, ich hätte es nicht gekonnt. Und dann ist da noch Isabelle Halbhuber, meine „hoffentlich bald mal-Schwiegertochter“: Sie hat auch alle Skripte gelesen, mir ganze Exzerpte geschrieben und sogar Aussagen von mir nachrecherchiert. Nicht zuletzt danke ich meinem Sohn Johannes für Nächte lange Diskussionen über Beziehungen zwischen Menschen.

Für die drei Kapitel der Einführung der Kongruenten Beziehungspflege in die verschiedenen Einrichtungen wurden Berichte von den Anwendern geschrieben. Niemand kann so fachkundig und authentisch Auskunft über die Prozesse, deren Erfolg, aber auch deren Probleme und Mühen Auskunft geben wie sie. Kerstin Schmidt, Pflegedienstleitung vom ASB Seniorenheim in Kirkel-Limbach, hat alle Skripte gelesen und mir sehr detailliert – und wie von mir angefordert – kritisch ihre Meinung dargestellt. Frau Heike Schille-Diehl, Heimleitung des ASB Seniorenheim in Homburg-Erbach, hat den Einführungsprozess verantwortlich mitgestaltet und für das Buch beschrieben. Renate Polack, eine langediente „Beziehungspflegerin“ und Pflegedienstleitung der Pro Seniore Residenz Erbach in Homburg, ist eine Wegbegleiterin über viele Jahre hinweg. Sie war eine derjenigen, die es vermochte, mir immer wieder Mut zu machen. Auch sie hat einen Bericht beigesteuert.

Heidrun Berger hat alle ihre Erfahrungen mit der Kongruenten Beziehungspflege in der Altenhilfe aufgeschrieben. Sie war damals die Erste, die das Konzept in die Altenhilfe geholt hat. Wir haben gemeinsam drei Altenhilfeeinrichtungen nach diesem Konzept aufgebaut und sie kann wie keine andere auf all die Probleme und Schwierigkeiten, aber auch auf die Glücksmomente und die schönen Erfolge zurückblicken, die wir gemeinsam erreicht haben.

Meine österreichischen Mitstreiter für die Kongruente Beziehungspflege Elfriede Pumberger, Pflegedienstleitung des Bezirksseniorenhauses des Sozialhilfeverbandes Urfahr und Umgebung und Ursula Rebhandl, Pflegedienstleitung des Bezirksseniorenheims in Walding im gleichen Sozialhilfeverband, sind beide glühende Verfechterinnen der Kongruenten Beziehungspflege und haben die Prozesse für ihre Einrichtungen beschrieben. Petra Welz, auch eine österreichische Mitstreiterin, hat die Kongruente Beziehungspflege in ihrer Masterarbeit verarbeitet. Sie hat einen Bericht über ihr „Betreutes Wohnen“ im Kabelwerk in Wien beigesteuert. Auch dies ist ein Vorzeigehaus.

Auch in der Psychiatrie findet die Kongruente Beziehungspflege statt und auch dort möchte ich einigen treuen Anwendern für ihre Berichte danken. Meine „Forensiker“, die in der forensischen Psychiatrie die Fahne der Kongruenten Beziehungspflege schwingen, sind Christian Beilstein, Manuel Landgrebe und Anja Lachmann, Bettina Wunsch und Ellen Butler. Christian Beilstein hat den sehr tiefgreifenden und ausführlichen Bericht letztlich geschrieben.

Dann gibt es noch André Danowski aus Berlin. Seine mir zur Verfügung gestellten Unterlagen hat er selbst in der Ausbildung in Kongruenter Beziehungspflege verwendet. Hendrik Groh aus Nürnberg hat seine Erfahrungen dazu dargestellt. Markus Wunderlich hat mit einer sehr prägnanten Einschätzung der Arbeit mit der Kongruenten Beziehungspflege beigetragen. Jürgen Hollick, ein richtig streitbarer Geist, hat alle Texte gelesen und mir seine kritischen Rückmeldungen gegeben. Er kann auch auf über mehr als vierzig Jahre psychiatrische Pflege zurückblicken und die Entwicklungen sehr gut beurteilen. Er hat den Beitrag zur Bedeutung der Kongruenten Beziehungspflege in der Entwicklung der psychiatrischen Pflege in den letzten fünfundzwanzig Jahren beigesteuert.

Mit Ruth Ahrens habe ich schon zusammen gearbeitet, als die Kongruente Beziehungspflege in Bad Kreuznach geboren wurde. Sie kennt alle danach kommenden Entwicklungen sehr genau und kann über die letzten fünfundzwanzig Jahre Kongruente Beziehungspflege die wohl am besten fundierte Auskunft geben. Später machten wir viele Projekte und viele Workshops gemeinsam. Mit ihr zusammen habe ich auch ein Buch geschrieben. Sie hat alle Texte gelesen und mir noch einige unschätzbare Hinweise zur Verbesserung des Buches gegeben.

Ein weiterer sehr wichtiger Berater war für mich Dr. Thomas Möckel. Wir kennen uns schon sehr lange, haben uns aber über einen längeren Zeitraum aus den Augenverloren. Er kam schon als junger Assistenzarzt in der Psychiatrie mit der Kongruenten Beziehungspflege in Kontakt. Er zeigte schon damals, es dürfte in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre gewesen sein, Akzeptanz und Anerkennung für das Konzept. Im Jahr 2015 hattte er mich dann zu einem Vortrag in die Psychiatrie nach Hildburghausen eingeladen. Ich habe ihn einfach gefragt, ob er mir als Psychiater und bekennender Konstruktivist beratend in inhaltlichen Fragen zu Seite steht. Es sagte zu und wir hatten inhaltlich äußert spannende Diskussionen. Sein umfangreiches Wissen, seine sprühende Intellektualität, seine kritische Haltung und seine Anmerkungen und Beiträge zu den Skripten haben erheblich zur Qualität dieses Buches beigetragen.

Mit Jürgen Georg, meinem Lektor, habe ich schon das dritte Buch gemacht. Er hatte 1996 den Mut besessen, einem jungen unbekannten Autor in der Pflege einen Vertrag zu geben. Dies machte die Beziehungspflege sehr bekannt und nur deshalb kann ich heute eine dritte, völlig neu überarbeitete Auflage dieses Buches schreiben. Die Zusammenarbeit mit ihm und dem Verlag war wie immer ausgezeichnet.

Allen Mitstreitern an dieser Stelle meinen herzlichen Dank!

Unterostendorf, April 2018

Rüdiger Bauer

Vorwort

Dieses Vorwort beginnt mit einem Zitat aus einem Schlusswort der ersten Auflage meines Buches. Als ich 1997 die erste Auflage „Beziehungspflege“ herausbrachte, war das Konzept „Kongruente Beziehungspflege“, denn davon handelte dieses Buch, schon fünf Jahre alt.

„Das Konzept ist in der vorliegenden Form sicher noch nicht endgültig umrissen, und es gäbe ohne Zweifel noch vieles dazu zu sagen, zu diskutieren und zu bedenken“. (Bauer, 1997, S. 157)

Ich weiß noch genau, was ich dachte, während ich diese Worte geschrieben habe: Ich wusste damals nicht, was es in der Zukunft zu einem Konzept von Beziehung noch zu sagen, zu diskutieren und zu bedenken gäbe.

Dies ist heute, zwanzig Jahre später natürlich anders. Das Konzept „Kongruente Beziehungspflege“ hat sich seit seiner ersten vagen Formulierung in der Psychosomatischen Fachklinik St.Franziska Stift in Bad Kreuznach erheblich weiter entwickelt. Dies war 1992. Das Konzept feierte also im letzten Jahr sein 25-jähriges Bestehen und findet heute Anwendung in Deutschland, der Schweiz, Österreich, Slowenien und Südtirol in Krankenhäuser, psychiatrischen Kliniken und in Altenhilfeeinrichtungen. Über 300 Ausbilderinnen und Ausbilder in Kongruenter Beziehungspflege sind in diesen Einrichtungen tätig und leiten andere Mitarbeiter in ihrer Beziehungsarbeit an.

So viel vorweg. Das Konzept hat heute mehrere leicht oder schwerer anwendbare Instrumente, die erlernt werden können. Es verfügt über Erklärungsansätze zur Wirkung der Beziehungsarbeit, die hauptsächlich aus der neurobiologischen Psychotherapieforschung stammen. Wir können also sagen, dass wir Pflegende oder auch andere Berufsgruppen mit unserer Beziehungsarbeit wirken und wie und warum wir wirken. Die Neurowissenschaft hat dem Konzept ein neues Menschenbild gegeben: Mit ihrer Hilfe konnte gezeigt werden, wie menschliche emotionale Erfahrungen zu biologischen Strukturen werden und dass diese Strukturen durch Beziehungsarbeit auch wieder verändert werden können. Die Erkenntnis, dass unser Gehirn bis ins höchste Alter plastisch, d.h. form- und veränderbar ist, lässt die Aussage zu, dass wir auch schwierige Beziehungskonstellationen in den Griff bekommen können. Vor allem der Hirnforscher Niels Birbaumer (2014) hat dies gezeigt, weil er die alte Gewissheit, dass Soziopathen nicht veränderbar sind, verändert hat.

Die Kongruente Beziehungspflege hat also heute als Grundlagen sowohl die Psychodynamik, wie sie in der ersten und zweiten Auflage beschrieben wurde, als auch neurowissenschaftliche Erklärungsmodelle. Von all dem werde ich in dieser Auflage berichten.

Als ich 1992 Pflegedirektor in Bad Kreuznach wurde, kam ich aus der Psychiatrie in Regensburg, wo ich nach der Krankenpflegeausbildung die Fachweiterbildung Psychiatrie absolviert habe. Ich hatte bereits Erfahrungen in den Ausbildungsstationen und nach dem Examen auf anderen psychiatrischen Stationen gemacht und wurde dann auf eine Psychotherapiestation für alkohol- und medikamentenabhängige Menschen versetzt.

Dort lernte ich die personzentrierte Gesprächspsychotherapie nach Carl R. Rogers kennen. Was ich darüber hörte, interessierte mich sehr und ich las alles darüber, was ich in die Finger bekam. Später machte ich eine Ausbildung in personzentrierter Gesprächführung und war als „Co-Therapeut“ in den psychotherapeutischen Gruppen tätig.

An den Ideen von Carl Rogers faszinierte mich vor allem, dass er die Beziehung zwischen Therapeut und Klient in den Mittelpunkt des therapeutischen Prozesses stellte und sie als das wirksame Agens bezeichnete. Ebenso imponierte mir die Idee der Kongruenz – oder Echtheit oder Selbstkongruenz, wie sie auch häufig genannt wird. Das Wort Kongruenz kommt aus dem Lateinischen und bedeutet dort als Substantiv Deckungsgleichheit. Menschen, deren inneres Erleben mit ihrem Verhalten und ihrem emotionalen Ausdruck deckungsgleich sind, sind kongruent. Menschen, bei denen dies nicht der Fall ist, sind inkongruent. Inkongruenzen erzeugen innere psychische Spannungen, aus denen Störungen resultieren können. Der Kern des therapeutischen Prozesses ist es also, dem Klienten zu helfen, die Inkongruenzen zu beseitigen und wieder Kongruenz herzustellen. Die Grundlage dazu ist eine vertrauensvolle und kooperative Beziehung zwischen Therapeut und Klient.

Ich entwickelte daraus die Idee, dass auch die Beziehung zwischen Therapeut und Klient eine kongruente sein müsste, um dem Klienten zu helfen, wieder in die eigene Kongruenz zu kommen. Darüber fand ich aber in den Schriften von Carl Rogers nichts. Deshalb wollte ich diese Idee für die Beziehung zwischen Pflegenden und Patienten formulieren, um somit eine Beschreibung zu liefern, wie professionelle Beziehungsgestaltung gestaltet werden kann. Zunächst ist mir dies nicht gelungen. Erst als ich 1992 ein Konzept von Pflege in der Psychosomatik schreiben wollte, um es mit meinen Mitarbeitern zu diskutieren, gelang dies nur vage. Diese erste Beschreibung existiert nicht mehr, aber im Kern drehte sie sich darum: Wir wollten zu Beginn und während des Pflegeprozesses abklären, ob wir uns aufeinander wertschätzend einstellen und empathisch begegnen konnten und ob dabei jeder kongruent sein konnte. Damit wären wir wieder bei Carl Rogers angelangt, der diese drei Einstellungen – Wertschätzung, Empathie und Kongruenz – als die drei Grundvariablen der personzentrierten Gesprächspsychotherapie beschrieben hat. Um dies umzusetzen, habe ich alle Mitarbeiter in personzentrierter Gesprächsführung ausgebildet.

In der Umsetzung gelang einiges, aber ich bemerkte auch, dass Beziehungen auch immer wieder an ihre Grenzen stießen und sich Beziehungsbehinderungen zeigten. Diese Behinderungen wurden durch Mitarbeiter als auch durch Patienten bewusst oder unbewusst erzeugt.

In den Gesprächsausbildungen für meine Mitarbeiter arbeiteten wir auch biografisch. Es stellte sich heraus, dass einige der Beziehungsbehinderungen durchaus aus den Erlebnissen und Prägungen des eigenen Lebens stammten. So lernten wir, die Beziehungsbehinderungen bei den Patienten auf ähnliche Weise zu besprechen.

Als ich zwei Jahre später in meine „Traumstelle“ als Bildungsreferent des Verbandes der bayerischen Bezirke ins Tagungs- und Bildungszentrum Kloster Irsee wechselte, nahm ich diese Idee einer kongruenten Beziehung natürlich mit. Meine neue Arbeit war die Entwicklung, Organisation und Durchführung eines übergeordneten Fort- und Weiterbildungsprogramms für die damals fünfunddreißig psychiatrischen Kliniken in Bayern.

Mir war sehr schnell klar, dass die Weiterentwicklung eines bestehenden Programms auch meine eigene Weiterentwicklung betreffen muss. Deshalb beschäftigte ich mich damals intensiv mit den großen Pflegetheorien aus den USA und dem vereinigten Königreich. Martha Rogers als Systemtheoretikerin, Jean Watson als Caring Theoretikerin, Ida Jean Orlando als Prozesstheoretikerin und Hildegard Peplau als Beziehungstheoretikerin beeinflussten mich am stärksten. In einer der Schriften erhielt ich auch einen Hinweis auf zwei chilenische Biologen, Humberto Maturana und Francisco Varela. Ich las deren Hauptwerk „Der Baum der Erkenntnis“ (1987) und wurde zum Konstruktivisten. Schon in den achtziger Jahren hatte ich die populären Werke von Paul Watzlawick „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“ (1976) und „Anleitung zum unglücklich Sein“ (1983) gelesen, jetzt lernte ich auch noch die biologische Grundlage des Konstruktivismus kennen.

Die Ideen der Theoretikerinnen und des Konstruktivisten Watzlawick erschufen eine neue Beschreibung der Kongruenten Beziehungspflege. Sie ist ein Beziehungsprozess, der in Phasen verläuft, mit der unumstößlichen Notwendigkeit der Zuwendung. Der Prozess vollzieht sich zwischen zwei Systemen, mit allen Einflüssen aus den Systemen, die an den beiden Beteiligten wirken. Jeder der beiden Beteiligten erzeugt dabei die eigene Erkenntnis über die Welt des Anderen aus seiner eigenen Welt heraus mit dem Ziel, Kongruenz zu leben. In der ersten Auflage des Buches habe ich versucht, die Kongruenz zwischen Menschen über die Begriffe, Können, Sollen und Wollen darzustellen. Das Können meinte damals die persönliche und fachliche Kompetenz der Beteiligten. Das Sollen bezog sich auf den Auftrag, den sich die beiden gegenseitig geben sollen, um einander zu helfen sich weiter zu entwickeln. Das Wollen meinte die bewusste Entscheidung darüber, mit dem Anderen wertschätzend, empathisch und kongruent umzugehen. Wenn im Patienten selbst und in der Schwester selbst diese Aspekte stimmig waren und sie auch zwischen den Personen übereinstimmten, kann Kongruenz erreicht werden (Abb. 1-1, 1-2, 1-3).

Abbildung 1-1: Der Beziehungsprozess (Quelle: eigene Darstellung)

Abbildung 1-2: Der Beziehungsprozess kongruent (Quelle: eigene Darstellung)

Abbildung 1-3: Der Beziehungsprozess inkongruent (Quelle: eigene Darstellung)

Die Beziehungspflege wurde damals auch in fünf Phasen beschrieben. In der Begegnungsphase treffen wir auf den Anderen. Durch die Begegnung kommt es zu Irritationen, Missverständnissen und Sympathie oder Antipathie. Damit kommen die Beteiligten in eine Inkongruenzphase. Wenn sie es dann schaffen, die gestörten Aspekte der Beziehung zu bearbeiten, sind sie in der Bearbeitungsphase. Schaffen sie dies nicht, wird die Beziehung inkongruent und das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit wird verschlechtert. Während der Bearbeitung der gestörten Beziehungsaspekte integrieren die Beteiligten Wissen über das Erkennen des Anderen. Dies führt im Idealfall zum Erkennen des Erkennens des Anderen und damit sind die Beteiligten auf dem Weg zur Kongruenz. Es sind also die Phasen:

BegegnungsphaseInkongruenzphaseBearbeitungsphaseIntegrationsphaseKongruenzphase

Während der Einführung der Kongruenten Beziehungspflege in Altenhilfeeinrichtungen benutze ich dieses Phasenmodell noch. Aber nicht nur, um die Beziehungen zwischen Pflegekräften und Bewohnern zu betrachten, sondern den Entwicklungsstand der Einführung an sich. Doch dazu mehr in Kapitel 6.

Abbildung 1-4: Dynamischer interaktioneller Prozess – positiver Verlauf (Quelle: Bauer, R., 1997)

Abbildung 1-5: Dynamischer interaktioneller Prozess – negativer Verlauf (Quelle: Bauer, R., 1997)

Nach diesen Grundannahmen wurde die erste Auflage der „Kongruenten Beziehungspflege“ geschrieben. Sollte jemand von Ihnen das Buch besitzen, werden Sie dies schon kennen. Sollten Sie die erste Auflage nicht gelesen haben, senden Sie mir eine E-Mail und ich schicke Ihnen das Buch als PDF.

Die erste Auflage beschreibt auch noch keine tatsächlichen Instrumente, die man anwenden könnte, um Beziehung professionell zu gestalten. So beschreibe ich dies auch im letzten Kapitel des Buches (Bauer, 1997, S. 157). In der ersten Auflage geht es um Haltungen, Kommunikations- und Gesprächsführungskompetenz, um das Entdecken der eigenen Beziehungsbehinderungen und von Wahrnehmungsproblematiken. Es ist sozusagen die psychodynamische, vorneurowissenschaftliche Zeit der Kongruenten Beziehungspflege. Die ersten Instrumente sollten sich aber bald entwickeln, ebenso sollten mögliche neue Erklärungsansätze entstehen.

Nach Erscheinen des Buches wurde ich zu vielen Vorträgen im In- und Ausland sowie zu Workshops eingeladen. Für die Workshops hatte ich genügend Material aus dem Buch. Für die Vorträge habe ich mir sieben Thesen zur Beziehungspflege erarbeitet. Grundlagen waren Inhalte der Pflegetheorien, der Systemtheorie und des Konstruktivismus sowie eigene Erfahrungen. Auch diese wurden in einem Aufsatz in PsychPflegeHeute (Bauer, 2001) publiziert. Ich möchte diese Thesen darstellen, weil sie ein weiterer Meilenstein für die Entwicklung der Kongruenten Beziehungspflege sind.

These 1

Beziehungspflege hat es in der Pflege schon immer gegeben und sie findet immer noch statt.

Diese These bezieht sich auf das sichere Wissen, dass es gute Beziehungsgestaltung schon immer gegeben hat. Ich habe es selbst als junger Mann immer wieder beobachten können. Es gibt Menschen, die agieren intuitiv einfach fast immer richtig und sie besitzen eine natürliche hohe Begabung für Empathie. Von ihnen habe ich gelernt. Ich bin also nicht der Erfinder, sondern der „Beschreiber“.

These 2

Beziehungspflege ist der Inhalt, Bezugspflege oder Bereichspflege sind der Rahmen.

Im Erscheinungsjahr Jahr 1997 gab es in der psychiatrischen Pflegewelt die Diskussion darüber, ob Beziehungspflege nicht das gleiche wäre wie Bezugspflege. Deshalb habe ich diese These so beschrieben. Man könnte auch Funktionspflege machen und trotzdem die Beziehung professionell gestalten. Das beste System zur Durchführung von Beziehungspflege ist aber das Bezugspersonensystem als Organisationskonzept. Beziehungspflege ist der Inhalt.

These 3

Beziehung zwischen Pflegekraft und Patient findet immer statt.

Mit dieser These wollte ich ausdrücken, dass es genau so unmöglich ist, eine Nicht-Beziehung zu haben, wie man nicht „nicht kommunizieren“ kann. Auch eine Nicht-Beziehung zu Patienten erzeugt Wirkung und diese kann sehr nachteilig für die Patienten sein.

These 4

Eine Pflegekraft kann sich nicht aus der Beziehung nehmen. Sie ist Teil der Beziehung.

Diese These ist die erste konstruktivistische These. Der Konstruktivismus hatte mich damals schon sehr beeindruckt und heute ist er aus biologischer Sicht nicht mehr zu leugnen (Kapitel 1). Dazu später mehr. Die Pflegekraft ist immer Teil dessen, was in der Beziehungsgestaltung geschieht. Sie kann sich nicht einfach auf die Position zurückziehen, der andere sei an etwas schuld. Wir erzeugen mit allem, was wir machen, bewusst oder unbewusst Wechselwirkungen. Dies ist ein komplexes Geschehen.

These 5

Das Instrument, dessen sich die Pflegekraft in der Beziehungspflege bedient, ist sie selbst.

Auch eine konstruktivistische These, die das Wechselwirkungsgeschehen deutlich machen soll und die die professionelle Seite stark betont. Der Patient darf am Anfang einer Beziehung „Fehler“ machen. Wechselwirkung wird durch beide Beziehungsteilnehmer erzeugt. Die Pflegekraft sollte sich dieses Mechanismus bewusst sein und ihre eigene Wechselwirkung auf den Patienten abgestimmt steuern. Sie ist in der Beziehung das „Medikament“, das Wirkung erzeugt und in manchen Fällen auch Nebenwirkungen.

These 6

In dem Maß, in dem sich eine Pflegekraft selbst erkennt, wird sie in der Beziehung eine andere Person erkennen können.

Das „Selbst-Erkennen“ ist eine humanistische Leibesübung, die das ganze Leben lang anhalten sollte. Es ist aber auch eine zutiefst konstruktivistische Sichtweise. Wozu soll das „Selbst-Erkennen“ denn führen? Doch dazu, dass ich erkenne, wie ich erkenne! Erkennen wird häufig mit Wahrnehmung gleichgesetzt. Dabei wird aber nicht beachtet, dass die Fähigkeit zur Wahrnehmung ein Erkennen voraussetzt. Wahrnehmung bezieht sich beim Menschen auf seine Sinne. Mit den Sinnen erleben wir die Welt, aber unsere Sinne sind durch unsere Erfahrungen geprägt und geformt. Wie oft werden wir durch sie getäuscht? Wenn ein Mensch erkennt, aufgrund welcher Lebensumstände oder welcher Lebenserfahrungen er eine Erfahrung immer wieder macht, dann erkennt er, wie er erkennt. Dieses Erkennen des Erkennens wird es ihm erleichtern, den anderen auch als jemanden zu sehen, der durch seine Lebenserfahrungen so zu erkennen gelernt hat, wie er dies tut. Auch dazu später mehr!

These 7

In der Beziehung treffen immer zwei Menschen aufeinander: ein Patient und ein professionell Handelnder.

Diese These sollte ein wenig provozieren. Es bezieht sich auf diejenigen, die sich als die „Professionellen“ fühlen und die besser wissen, was für den Patienten gut ist. Ich kenne keinen besseren Experten für seine Erkrankung als den Patienten selbst. Zudem trauen wir denn der menschlichen Begegnung nicht auch ihre Wirkung zu? Ist menschliche Begegnung wirksam? „Ja natürlich“ werden alle sagen und ich stimme zu. Dann ist aber die zuwendende menschliche Begegnung genauso wichtig wie die professionelle Begleitung. Wir wissen heute, über welche biologischen Mechanismen menschliche Begegnung wirksam wird und welche positiven Begleitumstände dies noch hat.

Ich beschäftigte mich in der Folge intensiv mit der Pflegetheorie von Jean Watson. Sie beschreibt in ihrem Buch „Pflege – Wissenschaft und menschliche Zuwendung“ (Watson, J, 1996) die transpersonale Zuwendungsbeziehung. Die zwei Beteiligten einer Zuwendungsbeziehung haben beide eine kausale Vergangenheit, in der sie geprägt wurden. Die Begegnung findet im Hier und Jetzt statt, das vom phänomenalen Feld beeinflusst wird. Die Qualität der Begegnung im Hier und Jetzt ist entscheidend dafür, wie sich die Zukunft der beiden Beteiligten gestalten wird. Watson fordert die Pflegenden auf, die Menschen in der transpersonalen Beziehung an die „Orte der Harmonie von Körper, Geist und Seele“ zurückzubringen. Dies soll ihre Selbstheilungskräfte stärken und sie selbstbewusster machen.

Aus dieser Idee entwickelte ich das erste Instrument der Kongruenten Beziehungspflege, die Beziehungspflegeplanung. Grundlage dafür war natürlich Wissen über die kausale Vergangenheit des Menschen, seine Biografie. In dieser Biografie sollten die Pflegenden die „Orte der Harmonie von Körper, Geist und Seele“ identifizieren und die Patienten so oft wie möglich an diese Orte erinnern. Dies kann durch Gespräche geschehen, aber auch durch Gesten oder durch neue Lebensereignisse, Aktivitäten, die an die „Orte“ erinnern. Als wir uns verstärkt mit der Biografiearbeit beschäftigten, bemerkten wir, dass die Patienten sehr viel über ihr Leid erzählten und nur wenig von „Orten der Harmonie von Körper, Geist und Seele“. Daraufhin entwickelte ich die Lebensereignisskala, die gezielt nach „Orten der Harmonie von Körper, Geist und Seele“ fragte. So bekamen wir darüber Auskunft, aber auch nicht von allen Patienten.

Später entwickelte ich dann noch einen Weg, der die Bedeutungen von Lebensereignissen erfasste, auch wenn diese negativ waren. Die Gegenseite der Bedeutung, z.B. Autonomie versus Abhängigkeit oder Geringschätzung versus Wertschätzung, ließ dann wieder eine Beziehungspflegeplanung zu, die auf die „Orte der Harmonie von Körper, Geist und Seele“ abzielten. Wenn jemand nur viel Geringschätzung in seinem Leben erfahren hat, dann sollte er in der Begegnung sehr viel Wertschätzung erfahren. Vielleicht findet sich ja dann doch noch eine kleine Erinnerung z.B. an die Oma, von der ein Patient die Wertschätzung erfahren hat. Veröffentlicht wurde dieses Instrument 2005 in einem weiteren Buch von mir, das ich mit einem Kollegen geschrieben habe und im gleichen Jahr in einem Aufsatz in „Die SchwesterDer Pfleger“ (Bauer, 2005). Das Buch heißt „Erzähl mir deine Geschichte“ – Beziehungsarbeit in Altenhilfeeinrichtungen, ist aber vergriffen.

Nach dieser Methode werden heute in vielen psychiatrischen Kliniken, in vereinfachter Form in einigen wenigen somatischen Krankenhäusern und in vielen Altenhilfeeinrichtungen Beziehungspflegeplanungen aufgestellt und durchgeführt. Das Instrument hat sich bis heute bewährt. Es wird in Kapitel 5.8 als – heute so genannt – explizite Beziehungspflegeplanung praktisch dargestellt.

Die Wirkungen waren sehr erstaunlich und konnten zu dem damaligen Zeitpunkt nicht erklärt werden. Es wirkte einfach. Heute gibt es dazu neurowissenschaftliche Erklärungen und ausreichende Forschung. Erstaunlich viel auch aus der Bindungsforschung. Ich werde darauf noch ausführlicher eingehen (Kapitel 2.8 und 3), nur so viel vorab: Es hat mit den Wirkungen des Bindungshormons Oxytocin im Körper zu tun und einem neurobiologischen Mechanismus, der sich Antizipation nennt.

Wenn es eine explizite Beziehungspflegeplanung gibt, werden viele fragen, ob es dann auch eine implizite Beziehungspflegeplanung gibt. Ja, es gibt sie, aber sie fällt in die neurowissenschaftliche Zeit der Kongruenten Beziehungspflege und so weit sind wir noch nicht.

1987 begann ich ein berufsbegleitendes Master Studium in „sozialem Management“. Es war zwar anstrengend, als Vater von vier Kindern an den Wochenenden in der Vorlesung zu sitzen und abends unter der Woche zu lernen, aber es machte mir trotzdem sehr viel Spaß. Ich durfte mich sehr stark mit dem beschäftigen, was mich auch sehr interessierte. Durch den Einfluss der o.g. Theoretikerinnen, die alle einen humanistischen Anspruch hatten, dachte ich darüber nach, wie Pflegende nachweisen könnten, über welche Mechanismen wir eigentlich wirksam werden. In meiner Bachelor-Abschlussarbeit vertiefte ich dieses Thema. Ich nahm dazu Anleihen in der Psychotherapieforschung. Vor allem von Klaus Grawe, der die so genannten „unspezifischen Wirkfaktoren“ der Psychotherapie eforscht hat. Ich verglich diese „unspezifischen Wirkfaktoren“ mit den Aussagen der humanistischen Pflegetheorien und fand dabei heraus, dass Pflegende, wenn sie denn nach den Theorien arbeiten würden, ebenso über die „unspezifischen Wirkfaktoren“ wirksam werden müssten. Die Abschlussarbeit wurde in zwei Teilen in der schweizerischen Pflegezeitschrift „Pflege – die wissenschaftliche Zeitschrift für die Pflege“ publiziert (Bauer, 1998, 1999), blieben aber ohne Wirkung. Mich aber ließ die Idee nicht mehr los, einen Weg zu finden, Wirkung von Pflege zu erklären – vor allem in Bezug auf die eigene Berufsgruppe.

Das Jahr 2002 brachte eine Wende für mich. Ich verließ das Kloster Irsee nach Abschluss meines Masterstudiums und wurde mit dem Konzept Kongruente Beziehungspflege selbstständig. Ich errichtete ein eigenes kleines Institut und von dort aus fuhr ich in die Welt hinaus. In dieser Zeit interessierte sich auch das erste Altenheim für die Kongruente Beziehungspflege. Ich hatte bis dahin keine Erfahrungen mit der Kongruenten Beziehungspflege in Altenhilfeeinrichtungen. Der Erfolg stelllte sich aber sehr schnell ein und verbreitete sich in der Szene. Heute arbeiten doch schon recht viele Einrichtungen nach dem Konzept. Vor allem die Zusammenarbeit mit Heidrun Berger, der damaligen Leiterin des Hauses, war sehr erfolgreich und sie hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Kongruente Beziehungspflege in der Altenhilfe Fuß fassen konnte. Heute sind Heidrun Berger, ich und andere Weggefährten der damaligen Zeit, selbst Träger von sozialen Diensten in der Altenhilfe.

Ich hatte viele Aufträge, einen der größten in der Landesnervenklinik Wagner Jauregg in Linz in Oberösterreich. Die Akademie der Klinik hatte mich schon viele Jahre vorher immer wieder eingeladen und das Konzept Kongruente Beziehungspflege war inhaltlicher Bestandteil fast aller Weiterbildungen der Akademie. In der Klinik sollte ich nun das Bezugspflegesystem einführen. Ich konnte die Direktorin überzeugen, dass die Einführung eines Bezugspflegesystems den organisatorischen Rahmen abdeckt, aber noch nicht den inhaltlichen. So durfte ich die Kongruente Beziehungspflege einführen, die als Organisationsform das Bezugspflegesystem hat. Wir hatten drei Jahre Zeit und ich war sehr oft zu Schulungsmaßnahmen für die pflegenden Mitarbeiter in der Klinik. Andreas Fankhauser, ein von mir sehr geschätzter Kollege in der Akademie der Klinik, machte mich in dieser Zeit auf ein Buch aufmerksam. „Das Gedächtnis des Körpers – wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern“, von Joachim Bauer (Bauer, 2006a).

Schon der Titel entfachte großes Interesse bei mir. Sollten tatsächlich Beziehungen Gene steuern und damit das Verhalten von Menschen beeinflussen oder verändern können? Dass Beziehungspflege wirksam sei, war zugegebenermaßen mein großes Credo, dass diese Frage aber durch die Biologie des Gehirns beantwortet werden sollte, erschien mir unwahrscheinlich. Ich las. Nach jeder Seite wuchs meine Begeisterung, ich las die ganze Nacht und erstellte sofort eine erste Präsentation darüber, wie und warum Beziehungspflege wirksam war. Dies alles fand ich in diesem Buch. Joachim Bauer beschrieb, über welche biologischen Mechanismen Beziehung zwischen Menschen zu biologischen Strukturen werden und welche Stoffe dabei ihre Wirkung entfalten.

Dies war der Anfang der neurowissenschaftlichen Entwicklung der Kongruenten Beziehungspflege.

In den letzten 12 Jahren habe ich mich dann autodidaktisch in die Neurowissenschaft eingearbeitet und viele Bücher und Aufsätze zum Thema gelesen. Vor allem die Arbeiten von Eric Kandel zum Gedächtnis (z.B. „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“, 2009) haben neue Erklärungsansätze für die Beziehungswirkung entstehen lassen. Aber auch andere Wissenschaftler, wie Gerald Hüther, Gerhard Roth, Niels Birbaumer, Klaus Grawe, Dick Swaab, Martin Spitzner, Joseph Ledoux, Louis Cozolino, Daniel Siegel, um nur einige zu nennen, habe ich zu Rate gezogen, um dem Konzept der Kongruenten Beziehungspflege heute ein anderes Erklärungsmodell zu geben. Dieses neue Erklärungsmodell lässt neue Sichtweisen und ein neues, anderes praktisches Pflege-Analysemodell entstehen. Aus ihnen gehen wiederum neue Interventionsmöglichkeiten hervor. Ab dem Jahr 2006 arbeitete ich dann an der Entwicklung eines Analysemodells, das die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse über Beziehungen zugrunde legt. Es entstand die bio-psycho-soziale Hypothese als eine zweite Variante der Beziehungspflegeplanung. Heute nenne ich dies die implizite Beziehungspflegeplanung.

Wie das neue Erklärungsmodell aussieht, welches neue Analysemodell und welche neuen Interventionsmöglichkeiten entstanden sind, finden Sie in den weiteren Kapiteln dieses Buches. Haben Sie viel Spaß dabei!

Über dieses Buch

In der ersten und zweiten Auflage des Buches wurde die zuwendende Beziehung als das wesentliche Agens der Kongruenten Beziehungspflege dargestellt. Darüber werden die verbessernden und heilenden Wirkungen erzielt, so das Versprechen. Zur Vorbereitung auf eine wirkende Beziehung sollten die Mitarbeiter zunächst ihre Empathie schulen, ihre Wertschätzung verbessern und zur eigenen Kongruenz finden. Im zweiten Schritt sollten sie ihre Kommunikationsfähigkeit verbessern und sich selbst auf eigene innere Beziehungsbehinderungen überprüfen und diese, wenn möglich, beseitigen. Wenn dieses Lernen und die eigene Selbsterfahrung abgeschlossen sein würden, sollten sich dann in der Beziehungsarbeit die verbessernden und heilenden Wirkungen schon einstellen.

Was für eine Behauptung? Ich kann dies nur meinem damaligen Enthusiasmus zuschreiben, diese Behauptung aufgestellt zu haben, ohne in dem damaligen Buch einen Beweis darüber zu führen. Trotzdem wurden das Buch und seine Inhalte von vielen Pflegenden angenommen, von anderen auch kontrovers diskutiert. Sowohl das Annehmen der Haltungen und der Versuch einer Übersetzung in die Praxis als auch die kontroverse Diskussion dürften dazu geführt haben, das Thema der professionellen Beziehungsgestaltung von Pflegenden wesentlich stärker in den Blickpunkt zu rücken. Die Pflege wurde dadurch mutiger, auch für sich selbst Wirkung zu reklamieren.

Wie steht es heute mit einer Beweisführung der Wirkungen von Beziehung? Es gibt sie, diese Beweisführungen. Sie werden in mehreren Kapiteln dargestellt. Es sind Befunde aus der neurobiologischen und psychologischen Psychotherapieforschung, die zur Argumentation herangezogen werden. Um dieser Argumentation folgen zu können, müssen wir aber eine Wieder- und Neuentdeckungsreise mit Fragen zu einem alten Thema antreten: Was ist der Mensch eigentlich? Womit und wie erkennt er die Welt, in der er lebt? Was steuert sein Handeln? Ebenso müssen wir uns einer auch nicht mehr ganz neuen, aber immer klareren Erkenntnis annähern. Eine Annäherung an den Gedanken, dass die möglichen Funktionen oder Dysfunktionen des Gehirns die Psyche hervorbringen könnte. Das bio-psycho-soziale Menschenbild könnte dadurch eine neue Interpretation finden. Dies könnte die Sichtweise auf die Funktionsweisen von Welt-Mensch-Psyche-Interaktion verändern, diagnostische Möglichkeiten schaffen und auch neue hilfreiche Interventionen hervorbringen. Um den Weg der Wieder- und Neuentdeckung zu erleichtern, werden nachfolgend kurz die Inhalte der Kapitel wiedergegeben, um zu verdeutlichen, aus welcher Perspektive eine Richtung skizziert wird.

Überblick

Sie lesen ein Buch mit dem Titel Beziehungspflege und das erste Kapitel beginnt mit einer Betrachtung darüber, ob wir schon Menschen sind oder noch Tiere. Anders gesagt: Wie viel Tierisches ist noch im Menschen? Weiter geht es mit einer Erklärung, wie Menschen die Welt erkennen. Ich spreche an dieser Stelle bewusst nicht von Wahrnehmung, sondern von Erkennen. Wahrnehmung ist an Wahrnehmungsorgane (Sinnesorgane) gebunden.

Erkennen ist die Grundvoraussetzung für Leben, das von Stoffwechsel gekennzeichnet ist. Die unterschiedlichen Wahrnehmungsorgane oder Sinnesorgane strukturieren nur das Ergebnis der Wahrnehmung. Jedes Lebewesen muss erkennen, um Stoffwechsel zu betreiben, der Einzeller, die Pflanze ebenso wie das Reptil, ein Insekt oder ein Säugetier. Nur wenn diese richtig erkennen, nehmen sie die Stoffe auf, die sie so verarbeiten, dass sie sich damit selbst erhalten können. Dieser Vorgang wird Autopoiese genannt. Mit dem Erkennen treten alle Lebewesen in die Beziehung zu ihrer Welt ein und erschaffen oder konstruieren sie damit. Ohne Erkennen keine Beziehung und ohne Beziehung kein Erkennen. Könnte Beziehung und Erkennen auf einer Ebene ein und dasselbe sein und könnte es sein, dass wir damit unsere je eigene individuelle Welt erschaffen?

Was soll das alles mit Beziehungspflege zwischen Menschen zu tun haben? Sehr viel!

Was ist der „Stoffwechsel“ in Beziehungen zwischen Menschen? Erinnerungen, Gedächtnisse, Gefühle, Ahnungen, Vorahnungen, Intuition, Befürchtung, Bewusstes und Unbewusstes?

Eine Möglichkeit Beziehungen zu verstehen besteht darin, die Möglichkeiten von Menschen in Beziehungen zu verstehen. Was meine ich mit Möglichkeiten? Alle folgenden Kapitel haben den Anspruch, einen Teil dieser Möglichkeiten aus einer vielleicht noch ungewöhnlichen Perspektive heraus zu beschreiben.

Die Grundlinie der Begründungen für die Bedeutung von Beziehungen zwischen Menschen wird in fast allen Kapiteln über die Themen Stress/Angst und Bindung geführt. Das Thema Beziehung zwischen Menschen ist auf den ersten Blick banal, weil sie so alltäglich ist. Jeder hat Beziehung. Warum sollte man darüber nachdenken? Beziehungen bestimmen bei fast allen Ergebnissen in der Auseinandersetzung oder der Begegnung mit Menschen das Ergebnis mit. Dabei geht es aus Sicht der Kongruenten Beziehungspflege meist um die Überwindung von Angst vor dem Anderen und dem, was er fordert oder um die eigene Angst, etwas hergeben zu müssen, wovon er nicht weiß, ob er das darf oder kann.

Wir werden im Verlauf der Kapitel sehen, dass die Bindung ein möglicher Weg ist, die Angst zu überwinden!

Kapitel 1: Der Mensch – schon Mensch oder noch Tier oder beides?

Wenn wir über Beziehungen zwischen Menschen nachdenken wollen, müssen wir auch über den Menschen als Lebewesen nachdenken. Wer sind wir, woher kommen wir, was könnten unsere zukünftigen Entwicklungen sein? Sind wir Menschen anders als Tiere oder sind wir Weiterentwicklungen von Tieren hin zu Menschen? Wie viel Tierisches ist dann noch in uns und wenn ja, könnte dies eine Rolle in unserem Erleben oder Verhalten und in unseren Beziehungen untereinander spielen?

In diesem Kapitel werde ich den derzeit bekannten evolutionären Weg des Menschen nachzeichnen, vor allem hinsichtlich der Entwicklung des menschlichen Gehirns. Denn mit diesem gestalten wir ohne jeden Zweifel unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Um Beziehungen zu gestalten, müssen wir aber über Erkenntnisfähigkeit, also Erkennen verfügen. Auf Erkennen folgt Handeln oder Nicht-Handeln. Mit Hilfe der chilenischen Biologen Humberto Maturana und Franciso Varela und dem amerikanischen Hirnforscher Eric Kandel werde ich darstellen, wie Menschen biologisch die Welt erkennen und was dies für Auswirkungen auf die Beziehung zwischen ihnen haben kann. Es geht um die biologische Tatsache, dass wir die Welt in Ähnlichkeiten, Mustern erkennen und daraus, neben anderen Vor- und Nachteilen, Vorurteile entstehen, die wir aber mit unserem menschlichen Bewusstsein überwinden könnten. Diese Tatsache, dass wir diese Vorurteile überwinden könnten, unterscheidet uns in bedeutender Weise von den meisten anderen Tieren! Dies wird der konstruktivistische als auch der deterministische Anteil im Buch sein. Erwähnt wird hier auch die Tatsache, dass unsere Gedächtnisse, sowohl bewusste als auch unbewusste in biologischen Mustern von Nervenzellen – man könnte sagen Nervenzellnetzwerken – abgespeichert werden. Dazu werde ich viel von Eric Kandel erzählen und, welche Rolle das bewusste und unbewusste Gedächtnis für die Beziehung zwischen Menschen hat. Sowohl im Alltag als auch zwischen „Behandlern“ und „Behandelten“.

Hier wird auch die evolutionäre Entwicklung der Säugetiere und des Menschen vertieft. Wenn es stimmt, dass Menschen Weiterentwicklungen von anderen Tieren und Säugetieren sind und alle unsere Vorfahren ihr Gehirn benutzten, um sich in ihrer Welt zurecht zu finden und zu überleben, dann sind menschliche Gehirne Weiterentwicklungen von Gehirnen unserer Vorfahren. Einzeller, Mehrzeller, Fische, Amphibien, Reptilien und andere Säuger gehören dazu. Ein evolutionäres Prinzip ist die Weiterentwicklung von Vorhandenem, das sich bewährt hat.

Das menschliche Gehirn müsste dann Anteile des Fischgehirns und des Reptiliengehirns haben und auf einer grundlegenden strukturellen Ebene müssten auch noch Anteile des Einzellers gegeben sein. Die Mustererkennung ist ein Beispiel dafür.

Unser Stressreaktionssystem, wie ich es nenne, ist Teil unseres Reptiliengehirns. Reagieren wir im Stress wie Krokodile? Auf eine gewisse Art und Weise: „Ja“. Aber wir haben etwas entgegenzusetzen: Unser Stirnhirn, der „wirklich menschliche“ Teil des Gehirns, das dem Stressreaktionssystem Einhalt gebieten kann. Bei der Entstehung von psychischen Erkrankungen und körperlichen Erkrankungen spielt Stress eine große Rolle. Wir können ihn mit unserem Stirnhirn besiegen.

Dieses Kapitel vermittelt, wie menschliche Gehirne sich entwickelt haben und wie sie in den meisten Fällen funktionieren. Wenn wir diese Funktionsweise verstehen können, ergeben sich völlig neue Betrachtungsweisen von Problemen in Beziehungen und der Entstehung von psychischen Beeinträchtigungen.

Kapitel 2: Das Gehirn – unser Beziehungsorgan

In einer etwas ungewöhnlichen Form beschreibt dieses Kapitel Eigenheiten eines Gehirns, die uns das Leben manchmal schwermachen können, die aber wichtig zu wissen sind. In Erzählform wird dann die Entwicklung des menschlichen Gehirns von vor der Geburt bis ins Erwachsenenalter hinein dargestellt. Es werden alle relevanten Informationen aufgeführt, um die Arbeitsweise des Gehirns in den Beziehungen zu anderen Menschen zu verstehen. Die Systeme, die zur Gestaltung von Beziehungen erforderlich sind, werden in ihrer Funktion und regelrechten Entwicklung sowie die Ursachen und Folgen von Fehlentwicklungen erklärt. Die neuronale Plastizität des Gehirns wird in einem Überblick und anhand eines Fallbeispiels, das schon einen ersten Hinweis auf die bio-psycho-soziale Hypothese hinweist, dargestellt. Auf die Hypothese gehe ich in Kapitel 5 näher ein.

Der Schwerpunkt dieses Kapitels beschäftigt sich mit der Frage, welche biologischen Systeme in Beziehungen zwischen Menschen aus Sicht der Kongruenten Beziehungspflege die haupttragende Rolle spielen. Es sind das Bindungs- und Vertrauenssystem sowie das Antriebs- und Motivationssystem, beide gemeinsam bezeichnet von Joachim Bauer als großes biologisches Kooperationszentrum. Der Gegenspieler ist die Kampf-Flucht-Reaktion, auch als Stressreaktion bezeichnet. Beide Systeme – Bindung und Stress – stehen sich gegenüber und leisten einen erheblichen Beitrag zur Stabilität und Instabilität von Menschen in Beziehungen.

Wir müssen verstehen, wie Bindung und Stress in Beziehungen funktionieren und wie wir auf sie Einfluss nehmen können. Beide Systeme haben ihre Eigenheiten und sind wiederum mit anderen Systemen verbunden. Deshalb ergeben sich in der Beschreibung komplexe Zusammenhänge. Ich werde sie deshalb wiederholt auffordern müssen, sich in Geduld zu üben, weil die Zusammenhänge erst nach und nach klar werden können, wenn das Wissen um die Funktionen der Systeme vollständig ist, zumindest aus Sicht der Kongruenten Beziehungspflege.

Wir müssen auch wissen, welche Beziehungsinterventionen geeignet sind, Fehlfunktionen zumindest teilweise wieder zurückzuführen. Die Studienergebnisse der epigenetischen Forschung und von bildgebenden Verfahren geben deutliche Hinweise darauf, dass dies tatsächlich möglich sein könnte. Die stärkste Kraft scheint dabei die Zuwendung zu sein.

Kapitel 3: Die verschiedenen Bindungstypen

Die frühe Bindung von Menschen an Bezugspersonen und der mögliche Einfluss auf die spätere Fähigkeit, Beziehung zu gestalten, ist Inhalt dieses Kapitels.

Es beginnt mit der Darstellung einer Szene, in der eine erwachsene Frau die Hauptrolle spielt. Anhand des Fallbeispielsl stelle ich dar, welchen Einfluss die frühe Bindung von Menschen an ihre Hauptbezugsperson auf das Verhalten im Erwachsenenalter haben könnte und wie dadurch Beziehung zu anderen Menschen negativ beeinflusst werden. Die frühe Bindung zur Hauptbezugsperson beginnt laut Mary Main, einer Bindungsforscherin, sehr früh mit sieben Monaten. Diese frühe Zeit ist extrem wichtig für Menschen, hinsichtlich der Entwicklung der Emotionalität, deren Entwicklung, Regulation und Kontrolle. Aus dem emotionalen Zusammenspiel zwischen Kind und Bezugsperson ergeben sich unterschiedliche, sogenannte Bindungstypen, die bereits ab dem 11. Monat in einem speziellen Test gemessen werden können. Sowohl die Geschichte der Entwicklung der Bindungstheorie als auch die Geschichte des Entstehens der Bindungstypen und des Tests, der diese Typen messen kann, werden kurz dargestellt. Ebenso die verschiedenen frühen Bindungstypen und die möglichen weiteren Entwicklungen der unterschiedlichen Typen in der späteren Kindheit, Adoleszenz und im Erwachsenenalter. Die Hauptlinie des Buches wird auch hier deutlich, weil wir sehen werden, dass die eher ungünstigen Bindungstypen in ihrer Entstehung wieder mit Angst zu tun haben. Der günstigere Bindungstypus hat auch mit Angst zu tun, aber hauptsächlich mit deren Bewältigung durch das Bindungssystem.

Kapitel 4: Störungen des Gehirns und Beziehungsstörungen

Für viele psychische Erkrankungen im Zusammenhang mit der organischen Beteiligung bestimmter Hirnstrukturen liegen heute schon recht gute Studienergebnisse vor,

Ausführlich werden die posttraumatische Belastungsstörung (PTSD, ich benutze die englische Bedeutung post traumatic stress disorder), die Borderline Persönlichkeitsstörung, die Depression und die Psychopathie behandelt. Weiter wird eine, bisher unveröffentlichte erweiterte Hypothese über die Entwicklung von psychotischem Erleben dargestellt. Dazu werden die bisher gängigen Hypothesen, die Dopamin Hypothese, die Vulnerabilitäts-Stress-Theorie von Zubin und Spring und die erweiterte Hypothese von Chiompi kurz beschrieben und um die „Split-Brain“ Forschungsergebnisse von Gazzaniga erweitert. Zu jedem Krankheitsbild werden die möglichen pflegerischen Interventionen erklärt, auch anhand von Fallbeispielen.

Dieses Kapitel wird ein Modell der Entstehung psychischer Krankheiten aus der Angst und dem Stress heraus als mögliche Ursachen und ihrer Überwindung durch Bindungsbeziehungen herausarbeiten.

Kapitel 5: Beziehungspflegeplanung und bio-psycho-soziale Hypothese

Neben den im vorhergehenden Kapitel beschriebenen Interventionen ist die bio-psycho-soziale Hypothese über einen Menschen für die Erklärung der Erkrankungsentwicklung und des aktuell sichtbaren Verhaltens hilfreich.

Dieses Instrument wurde ab 2006 entwickelt und beschreibt, wie Lebensereignisse (soziale) eines Menschen über die neuronale Plastizität des Gehirns entsprechende neurobiologische Beziehungssysteme (bio) beeinflussen und daraus Verhalten und Erleben im späteren Leben entstehen könnten (psycho). Dazu werden auch einige wenige Erkenntnisse aus der Epigenetik vorgestellt.

Es werden einige Hypothesen an Fallbeispielen aus dem Alltag von Menschen, der psychiatrischen Pflege und aus Altenhilfeeinrichtungen dargestellt. Diese Fallbeispiele verdeutlichen, was das erste Kapitel „Der Mensch – schon Mensch oder noch Tier“ vermitteln wollte. Die Idee des „Erkennens des Erkennens“ von Menschen in Beziehungen wird wieder aufgegriffen. Über die bio-psycho-soziale Hypothese wird deutlich, aufgrund welcher Erlebnisse die neurobiologischen Zentren der Beziehung eines Menschen so geformt wurden, dass dem Menschen mit diesen Formungen hypothetisch nur ein bestimmtes Erkennen möglich ist und warum er auf seine Art und Weise handelt, wie er handelt. Für einen Menschen, der nur ein Bein hat, wird es schwierig werden, ohne Prothese einen perfekten Drei-Sprung zu machen. Ein Mensch, der in seiner frühen Kindheit schwer vernachlässigt wurde und dessen Bindungssystem nie richtig durch elterliche Fürsorge entwickelt wurde, erkennt u.U. das ihm gemachte sichere Bindungsangebot nicht. Wir müssen ihm erst helfen, seine Bindungssysteme zu aktivieren.

Mit der Anwendung der bio-psycho-sozialen Hypothese erhöhen wir die Wahrscheinlichkeit zu erkennen, wie ein anderer Mensch erkennt.

Kapitel 6: Implementierung des Konzepts in Altenhilfeeinrichtungen

In Altenhilfeeinrichtungen könnte man auch von einer Kongruenten Beziehungspflege-Kultur sprechen, weil die Prozesse in diesen Bereichen tatsächlich einer Reorganisation gleichkommt. Dieses Thema eignet sich auch dazu, es zu einem eigenen Buch auszubauen.

In dem Kapitel wird überblicksartig der Gesamtprozess der Einführung der Beziehungspflege in Altenhilfeeinrichtungen aus meiner Erfahrung beschrieben. In Altenhilfeeinrichtungen hat es sich gezeigt, dass ein Einführungsprozess immer drei Ebenen umfassen muss: 1. die Führungsebene, 2. die Organisationsebene und 3. die inhaltliche Ebene der Umsetzung zwischen Mitarbeitern und Bewohnern.

Weil auch hier niemand so gut über die Verschiedenheit der Veränderungsprozesse berichten kann wie die Betroffenen, werden Sie mehrere Berichte über die Erfahrungen und Veränderungen in den Häusern lesen.

Kapitel 7: Implementierung des Konzepts in die Psychiatrie

Die Beziehungspflege kann für alle nicht primär „therapeutischen“ Berufsgruppen im Gesundheits- und Sozialwesen hilfreich sein. Es wird kurz der Beginn des Procedere eines Einführungsprozesses mit der Ausbildung von Ausbilderinnen und Ausbildern beschrieben. Wenn diese Ausbildungen beendet sind, dann übernehmen die Ausbilderinnen die weitere Einführung. Ich habe einige von ihnen gebeten, für das Buch ihre Erfahrungen mit diesen Prozessen zu berichten. Niemand kann dies so authentisch darstellen wie die Betroffenen selbst.

Kapitel 8: Implementierung des Konzepts in Allgemeinkrankenhäusern

Hier werden Sie meine eigenen Erfahrungen mit der Einführung der Kongruenten Beziehungspflege an zwei Beispielen lesen. Ich beschreibe Möglichkeiten der Anwendung der Beziehungspflege und wie diese durchgeführt werden können.

Falldarstellungen in diesem Buch

Sie sind zum größten Teil authentisch, aber so weit anonymisiert und teilweise in Geschlechterrolle, Herkunft, Lebensort, Ereignisdaten und Namen verändert, dass ein Erkennen nicht möglich ist.

Zur einfacheren Lesbarkeit des Buches verwende ich durchgehend die männliche Ansprache!

Teil I:Neurobiologische Grundlagen

1Der Mensch – schon Mensch oder noch Tier oder beides?

1.1Am Anfang steht das Erkennen

In diesem Kapitel geht es eigentlich um das Erkennen. Weil das Erkennen und die Art und Weise, wie wir erkennen und auch das Erkennen, wie wir den anderen Menschen erkennen, den Prozess der Beziehung zwischen Menschen kennzeichnet. Das Erkennen und diese Aspekte des Erkennens sind zentraler Bestandteil der Theorie der Kongruenten Beziehungspflege, weshalb ich mich zunächst darauf konzentriere.

Die beiden chilenischen Biologen Umberto Maturana und Francisco Varela behaupten, dass Erkennen Leben ist. Ohne Erkennen ist kein Leben möglich. Erkennen und Wahrnehmung sind in der Kongruenten Beziehungspflege nicht dasselbe. Erkennen ist dem Wahrnehmen übergeordnet. Menschen nehmen über Sinnesorgane wahr, aber das Wahrnehmen ist ein Erkennen. Andere Tiere haben andere Wahrnehmungsorgane und erkennen damit ihre Welt. In der Kongruenten Beziehungspflege ist Erkennen damit ein Oberbegriff für Wahrnehmung über irgendwie geartete Wahrnehmungsorgane sowie der Gewahrwerdung von Emotionen.

Definition Erkennen

Erkennen ist per Definition der Kongruenten Beziehungspflege die Gesamtheit aller möglichen Wahrnehmungsarten, die die verschiedenen Lebewesen auf diesem Planeten entwickelt haben. Erkennen ist ein Prozess des Geistes eines Lebewesens, der von dessen Struktur abhängig ist.

Wenn Menschen von Wahrnehmung sprechen, meinen sie fast immer menschliche Wahrnehmung. Hier eine Kurzdefinition von Wahrnehmung aus dem Online Lexikon Psychologie und Pädagogik (Stangl, 2017):

Wahrnehmung ist das Produkt zweier nacheinander ablaufender Prozesse, dem Prozess der Informationsaufnahme und dem Prozess der Informationsverarbeitung.

In der Psychologie bedeutet Wahrnehmung die Aufnahme, Interpretation, Auswahl und Organisation von Informationen, die zur Anpassung an die Umwelt durch z.B. Kommunikation notwendig ist. Wahrnehmung ist damit eine sehr allgemeine Bezeichnung für den Informationsgewinn durch Umwelt- und Körperreize, wobei in der Psychologie zwischen der inneren und der äußeren Wahrnehmung unterschieden werden kann. Die innere Wahrnehmung meint die Körperwahrnehmung wie Gefühle oder Schmerzen, die äußere Wahrnehmung bezieht sich auf die Umweltwahrnehmung von vorwiegend Mitmenschen und Gegenständen. Die Wahrnehmung ist ein psychophysischer Prozess, bei dem der Organismus eine mehr oder minder anschauliche Repräsentation seiner Umwelt und des eigenen Körpers erhält, indem er äußere und innere Reize aufnimmt und verarbeitet. (Stangl, 2017). Dazu ein passendes Zitat:

Das Auge sieht nur, was der Geist bereit ist, zu begreifen.

(Henri-Louis Bergson)

Humeberto Maturana beschreibt das Erkennen so (hier als Kurzfassung): Das Gehirn generiert aus den Signalen, die es normalerweise von den Sinnesorganen erhält, ein Bild der Welt. Das Gehirn arbeitet dabei als strukturdeterminierte Einheit. Das heißt, es ist in sich eine vollständig arbeitende Einheit, die gemäß ihrer Beschaffenheit mit den aufgenommenen Signalen umgeht. Es wird nicht durch die Signale selbst determiniert, sondern durch seine eigene spezifische Struktur. Es kann somit auf identische Signale anders reagieren als ein anderes Gehirn. (Shuizid, 2011)

Hierfür ein Beispiel: Einer sagt zum anderen: „Hunger“. Der andere antwortet: „Nein danke, habe schon gegessen“. Einer sagt zum anderen: „Hunger.“ Der andere antwortet: „Dann geh doch, ist ja schon zwölf Uhr.“ Die gleiche Information ruft bei zwei unterschiedlichen Gehirnen eine vollständig andere Antwort hervor. Gehört haben beide Gehirne das Wort „Hunger“. Die Gehirne haben aber jeweils etwas anderes erkannt. Das Erkennen wurde also durch den aktuellen Zustand des Gehirns in Bezug auf Hunger determiniert (syn. bestimmt).

Auf dieses Determiniertsein bezieht sich die Kongruente Beziehungspflege, wenn sie von Erkennen spricht. Das Erkennen ist dabei nicht eine Repräsentation der Umwelt, wie es die Definition im Lexikon aussagt, sondern sie ist eine Konstruktion aufgrund des Determiniertseins des Gehirns zu einem bestimmten Zeitpunkt. Hunger – Hunger!

Ich möchte mit Ihnen in diesem Kapitel eine Reise machen, von den Einzellern, den wahrscheinlich ersten Lebewesen auf diesem Planeten, bis zum heutigen Menschen. Dabei möchte ich darstellen, dass Einzeller über Muster ihre Welt erkannten, Mehrzeller und Wirbeltiere ihre Welt in Mustern erkannten, wir Menschen heute die Welt auch in Mustern erkennen und wie es geschehen könnte, dass wir uns ein wenig von diesen Mustern lösen könnten. Denn Mustererkennung zwischen Menschen entscheidet darüber, ob eine Beziehung gut gehen oder in die Brüche gehen wird. Deshalb sollten wir die Fähigkeit benutzen, unsere eigenen Muster des Erkennens zu erkennen und möglichst auch die Muster des Erkennens des anderen Menschen zu erkennen. Dies kann, wenn überhaupt, nur mit Hilfsmitteln und mit Bewusstheit geschehen. Wir haben die Fähigkeit, die normale Bewusstheit in eine bewusste Bewusstheit zu verwandeln (Cozolino, 2007). Davon handelt dieses Buch. Jetzt legen wir los!

1.2Wie alles begann

Es gbit sihcer vilee utnerschiedilche Geshcihcten daürebr, wie der Mnecsh auf die Edre kam, je nach Ertdeil, Kutulr und Rleigoin. In usneren Bretien gbit es dzuau zewi grßoe Varainten. Die enie fidnen wir im atlen Tsetaemnt in der Geensis, der Schpöfunsggecshichte. Daanch hat Gtot am scehsten Tag aus Edre und Stuab den Mneshcen ncah seniem Abblid gecshffaen und ihm den Aetm des Lbeens enigehuacht.

Warum Sie dies, wenn auch mit ein wenig Anstrengung lesen können, davon und mehr handelt dieses Kapitel.

Wir waren demnach also von Gott gemachte Wesen, die sich von den anderen Lebewesen in der Hinsicht, dass wir Gott und seinem Geist ähnlich sind, unterscheiden. Wir waren anders, eben keine Tiere, eher Gott ähnlich. Dies ist für viele Menschen heute immer noch so und diese Gedanken werden auch in einer sehr populären Erklärung, dem Kreationismus, weitergetragen.

Eine zweite große Geschichte, wie wir Menschen Menschen wurden, geht auf Charles Darwin zurück. 1856 erschien sein Werk „Über die Entstehung der Arten.“ Darin wird die Zumutung festgestellt, dass Menschen Weiterentwicklungen anderer Lebewesen sind, in unserem Fall, Weiterentwicklung von Affen. Ja, Zumutung und Kränkung muss es für viele Menschen gewesen sein, dass sie plötzlich nicht mehr göttliche Wesen wären und sich vom Rest der Natur deutlich unterscheiden würden. Die Kirche protestierte heftig und obwohl Darwin Theologe war, blieb er bei seiner Aussage. Die Geschichte der Evolution nahm ihren Lauf, brachte sowohl positiven naturwissenschaftlichen Fortschritt als auch unsägliche Irrungen und Grausamkeiten hervor.

Nachdem die Genetik, ausgehend von Gregor Mende, sich als Fach etablierte und das menschliche Genom und die Genome anderer Tiere vollständig entschlüsselt wurden, können wir heute aus naturwissenschaftlich, genetischer Sicht sagen, dass unser nächster Verwandter unter den Säugetieren der Schimpanse und der Bonobo ist. Der Unterschied im Erbgut zwischen Schimpansen, Bonobos und Menschen wird in der einschlägigen Literatur zwischen 1 und 1,5 Prozent benannt (Gazzaniga, 2012; Reichholf, 2016; Roth, 2003). Die gemeinsamen Vorfahren der Schimpansen und der Menschen lebten vor 5 bis 7 Millionen Jahren (Reichholf, 2016). Irgendwie im Laufe der Jahrmillionen mussten sich dann über viele weitere Versuche der Evolution Schimpanse (Pan troglodytes) und Mensch (Homo sapiens) herausgebildet haben.

Wir sind die einzige überlebende Hominidenart. Aber wir hatten viele Vorfahren, die sich im Leben versuchten und deren Fähigkeit zur Anpassung nicht genügte, um darin als Lebewesen zu überleben. Die berühmteste Vorfahrin des heutigen Menschen dürfte „Lucy“ (Australopithecus afarensis, der „Südaffe“ aus Afar) sein, deren fast vollständiges Skelett 1974 von Donald Johansen entdeckt wurde. Die Fossilien dürften 3,7 Millionen Jahre alt sein. Die Aufsehen-erregende Entdeckung war aber nicht die Tatsache des Alters, sondern Lucy konnte aufrecht gehen, aber ihr Gehirn war noch klein. Lucy galt lange Zeit als die „Urmutter“ des Menschen, wurde aber schon wieder überholt. 1995 wurden Fossilien gefunden, die noch älter waren, 3,9 bis 4,2 Millionen Jahre alt: Australopithecus anamensis.

Warum der einzige andere Homo, mit dem wir noch zusammen lebten, vor ca. 35000 bis 50000 Jahren, andere Zahlen geben nur 30000 Jahre an (Harari, 2015; Roth, 2003) verschwand, darüber wird viel spekuliert. Ebenso gibt es unterschiedliche Aussagen über den Homo neanderthalensis, der größer, bis zu 180 Zentimeter oder nur 160 Zentimeter (Roth, 2003) als Homo sapiens gewesen sei. Strittig scheint, dass er ein größeres Gehirn als Homo sapiens hatte. Dies brachte ihm aber auch keine wesentlichen Vorteile, denn sonst wäre er noch da.

Ebenso gibt es über die Vermischung Ungereimtheiten. Es wird davon berichtet, dass bei allen Menschen Neandertalergen, etwa vier Prozent gefunden werden können (Harari, 2015) oder wenig Vermischung stattfand, die dann weitere genetische Probleme und Unfruchtbarkeit der Nachkommen mit sich brachte (Roth, 2003). Im letzten Film, den ich über den Homo sapiens gesehen habe, wurde es so dargestellt, dass die Neandertaler sich wegen eines Kälteeinbruchs im Norden zurückziehen mussten und sie im heutigen nahen Osten wohl auf den Homo sapiens getroffen sind und sich dort vermehrt haben. In einigen wenigen Fällen scheint es doch mit der Vermischung und Weitergabe von Genen geklappt zu haben. Es scheint sogar so zu sein, dass der Neandertaler quasi in Homo sapiens aufgegangen ist.

Warum der Neandertaler verschwand, wissen wir also nicht, wie so vieles, was wir in unserer Entwicklungsgeschichte noch nicht entdeckt haben. Wir wissen jedoch, dass etwa zwei Millionen Jahre lang verschiedene Menschenarten bis vor 100000 Jahren miteinander auf dem Planeten gelebt haben. Wie würde die Welt wohl heute aussehen, wenn es neben uns noch die Neandertaler gäbe?

Für den Fortgang in diesem Kapitel brauchen wir auch kein weiteres tiefer gehendes Wissen über die Vergangenheit der Familie der Menschen. Allein die Tatsache, dass wir uns aus anderen Säugetieren entwickelt haben, ist wichtig. Vor allem die Entwicklung unseres Gehirns aus dem Gehirn von unseren gemeinsamen Vorfahren von vor 5 bis 7 Millionen Jahren heraus bringt die Argumentation weiter. Ein sicheres Ergebnis ist die Tatsache, dass sich unser Gehirn im Laufe der Jahrmillionen verändert hat. Es wuchs von hinten unten nach vorne oben. Lucy hatte eine relativ flache fliehende Stirn, also ein kleines Stirnhirn. Das Stirnhirn bei Homo sapiens ist der entwicklungsgeschichtlich jüngste Gehirnteil des menschlichen Gehirns. Wie kam das zustande und welche Auswirkungen hatte dies?

Ich stelle es mir so vor: Lucy lebte in kleinen Gruppen mit anderen „Lucys“ zusammen. Sie waren Beutetiere für Fleisch fressende Raubtiere. Was muss Lucy also tun, um Sicherheit zu bekommen? Sie muss schauen, ob Räuber kommen und aus welcher Richtung. Sehen war also eine der Hauptaufgaben des Gehirns. Mit welchem Teil des Gehirns sehen wir? Mit dem Hinterhaupt oder Occipitallappen. Dort sitzt das Sehzentrum.

Unser Gehirn arbeitet nach dem bereits erwähnten Prinzip „use it or loose it“. Was wir oft benutzen wird stärker, die Neuronen verbinden sich miteinander. Irgendwann sind die Gruppen der Menschen dann größer geworden und einer der klügeren entwickelte dann den Gedanken, dass in einer größeren Gruppe nicht alle gleichzeitig sehen müssen, es genügen vier Wächter. Dies könnte dann dazu geführt haben, dass sich die einzelnen Individuen einander zuwenden konnten und z.B. Fellpflege betrieben. Um sich einem anderen Individuum zuzuwenden, brauchen wir neben dem Sehen auch noch andere Fähigkeiten: soziale. Unsere sozialen Fähigkeiten sitzen zum größten Teil im Stirnhirn und je öfter sich die Individuen einander zuwandten, um so mehr musste das Stirnhirn wachsen. Dies ist ein evolutionäres Prinzip. Weil etwas erforderlich ist, entwickelt die Evolution die entsprechenden Fähigkeiten. Die Entwicklung des Stirnhirns, mit dem wir auch klares Kalkül und unsere Schlüsse ziehen, hat uns aber auch die Fähigkeit gebracht, Verbrechen zu planen und durchzuführen. Das Soziale kann in jeder Richtung genutzt werden.

Als die ersten Fische an Land gingen, war es beschwerlich, mit den kurzen Flossen auf dem Sand herumzurutschen. Deshalb wurden irgendwann kurze Stummelbeinchen aus den Flossen und so weiter.

Die Tatsache, dass Homo sapiens in größeren sozialen Gruppen zusammenlebte als alle seine Vorfahren, auch dem Neandertaler, scheint klar. Deshalb haben wir auch das größte soziale Stirnhirn der Säugetiere im Vergleich zur Körpergröße. Dies brachte viele Vorteile mit sich, unter anderem auch die Einhaltung von sozialen Regeln, der besseren Koordination von großen Gruppen, dem besseren Verstehen der Reaktionen von anderen und eine bessere Antizipation, die Fähigkeit das Ende einer Handlung schon beim Beginn zu erkennen.

Es scheint so zu sein, dass sich die Gehirne unserer Vorfahren aus den Gehirnen von deren Vorfahren entwickelt haben und so weiter – immer rückwärts gedacht. Wenn dies so ist – und es scheint so zu sein, dann haben sich Gehirne aus den Gehirnen von Einzellern entwickelt und in einer groben Linie weiter über Amöbengehirne, zu Fisch-, Amphibien-, Reptilien- und Säugetierengehirnen.

Dies wiederum müsste bedeuten, dass Säugetiergehirne einen Teil eines Fischgehirns oder eines Reptiliengehirns haben müssten. Diese Auffassung vertrat der Neurowissenschaftler Paul MacLean, der in seiner Evolutionstheorie des Gehirns vom dreieinigen Gehirn sprach. Er beschrieb das Gehirn als ein dreiteiliges phylogenetisches (die Stammesentwicklung betreffend) System, „das unsere evolutionäre Verbindung sowohl zu Reptilien als auch zu niederen Säugern widerspiegelt“ (Cozolino, 2007, S. 39). MacLean bezeichnet die evolutionären Schichten als „Reptilian, Paleomammalian und Neomammalian“ Gehirne (MacLean, 1985, S. 405–417). Diese Einteilung entspricht dem Stammhirn, dem limbischen System und dem Cortex