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Mehr als Hopfen, Wasser und Malz: eine Weltgeschichte des Bieres Das Weißbier der Bayern, das Stout der Iren oder das Maisbier der Mexikaner: Biergenuss hat viele Facetten und eine lange Tradition. Doch wo wurde das erste Bier gebraut und zu welchen Anlässen wurde es getrunken? Wie entwickelten sich das Brauwesen und der Bierkonsum im Mittelalter? Welche Auswirkungen hatte die Industrialisierung auf Braumethoden und Biervertrieb? Vom steinzeitlichen Emmerbier über das deutsche Reinheitsgebot bis hin zu den Craft-Beer-Brauereien erzählt dieses Buch die Geschichte des bislang erfolgreichsten Getränks der Menschheitsgeschichte: - Von der Steinzeit über die frühe Stadtkultur Mesopotamiens bis heute: eine Konsum- und Kulturgeschichte des Bieres - Rituelles Nahrungsmittel oder Durstlöscher: so hat sich das Biertrinken verändert - Wie England und die Hansestädte die Globalisierung des Bieres vorantrieben - Brauereikonzerne versus Craft Beer: Bier als Massengetränk und Lifestyle-Produkt - Ein originelles Geschenk für Biertrinker und Freunde der Bierkultur13.000 Jahre Bier: vom rituellen Getränk zum Feierabendbier Die Erfindung des Bieres ist untrennbar mit der Sesshaftwerdung des Menschen und dem Anbau von Getreide verbunden. Doch wie man es braute, welche Inhaltsstoffe man dabei verwendete und in welchem Kontext es getrunken wurde, das unterlag im Laufe der Geschichte fundamentalen Veränderungen. Das Bier spielte bei religiösen Ritualen der frühen Hochkulturen des Zweistromlandes ebenso eine zentrale Rolle wie später in den Arbeiterkneipen des Deutschen Kaiserreichs. Bier ist eng mit der menschlichen Zivilisation verknüpft. Das belegen Gunther Hirschfelder und Manuel Trummer kenntnisreich mit ihrer globalen Kulturgeschichte.
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber www.dnb.de abrufbar.
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wbg Paperback ist ein Imprint der wbg.
© der 2., durchges. Aufl. 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Neuausgabe der 2016 bei wbg Theiss unter dem Titel „Bier. Eine Geschichte von der Steinzeit bis heute“ erschienenen Ausgabe
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Lektorat: Claudia Weingartner, IckingEinbandgestaltung: Andreas Heilmann, HamburgGestaltung & Satz: SatzWeise GmbH, TrierPrinted in Europe
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-27397-3
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-74727-6eBook (epub): 978-3-534-74728-3
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Innentitel
Inhaltsverzeichnis
Informationen zum Buch
Informationen zu den Autoren
Impressum
Vorwort
1. Erfolgsprodukt und Megaphänomen:Einführung in die Kulturgeschichte des Bieres
2. Rituelles Nahrungsmittel und Kulturgetränk:Die Biergeschichte als Zivilisationsgeschichte
3. Zwischen Euphrat und Tigris:Mesopotamien als frühes Land des Bieres
4. Das alte Ägypten:Bier und die Ordnung der Welt
5. Nord gegen Süd?Bier als kultureller Indikator der antiken Welt
6. Rückkehr des Archaischen:Bier im frühmittelalterlichen Europa
7. Bier erobert die Stadt:Professionelles Brauwesen im Hoch- und Spätmittelalter
8. Technik, Krieg und Neue Welt:Die heterogene Bierkultur der frühen Neuzeit
9. Bier geht um die Welt:Industrialisierung, Nationalisierung und Technisierung im 19. Jahrhundert
10. „GlobALE“:Mainstream kontra Biervielfalt im 20. und 21. Jahrhundert
13.000 Jahre Bier:Versuch einer Bilanz
Anhang
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Im Frühjahr 2016 erschien die erste Auflage dieses Buches – pünktlich zum 500-jährigen Jubiläum des Reinheitsgebots. In jener Zeit wurde die Bierkultur von einer allerorts spürbaren Energie erfasst. Da war nicht nur die große mediale Aufmerksamkeit für den vermeintlichen Bier-Geburtstag. Bier war lange vor allem Massenprodukt gewesen, oft standardisiert, großindustriell hergestellt und billig. Inzwischen aber hatte die Gruppe der jungen urbanen Trendsetter das Bier als modernes Lifestylegetränk entdeckt und etabliert. Expertenwissen, Interesse für Geschmack und Handwerk, ein Faible für die Ästhetik des Getränks und seines Ausschanks sowie cleveres Marketing – das war neu. Die Welt des Bieres schien – weit über Deutschland hinaus – vor einer Revolution zu stehen.
Heute, nach fünf Jahren, ist die Situation hochdynamisch. Die Bierlandschaft ist vielfältig und schillernd wie lange nicht; nicht zuletzt, weil die öffentlichkeitswirksam geführten Debatten zu Sinn und Unsinn des Reinheitsgebots sich verstetigt haben, zumal die moderne Lebensstilgesellschaft mit dem Essen eben auch das Trinken zu einer Leitperspektive erkoren hat. So nimmt es kaum Wunder, dass die großen Discounter und vor allem auch die großen Produzenten durchweg eigene Craft Beer-Serien anbieten. Am oberen Ende des Spektrums ist es auch bei den vom Guide Michelin prämierten Sternerestaurants inzwischen üblich, die traditionellen Weinmenüs um eine eigene exklusive Bierauswahl zu ergänzen. Bier ist eben nicht mehr allein Konsumprodukt und Durstlöscher, sondern mehr als je zuvor – auch über seine höhere Preisstruktur – Signifikant der „feinen Unterschiede“ zwischen den kulturellen Milieus im Sinne des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Expertise zu Inhaltsstoffen, handwerklichen Herstellungsverfahren und Aromen dient heute in ähnlich hohem Maße als kulturelles Kapital wie es traditionell unter Wein- und Whiskykennern üblich ist. Inzwischen greift schon ein Viertel der Verbraucher regelmäßig zu Craft Beer; und der Anteil der Verbraucherinnen steigt signifikant. Die Vielfalt des Geschmacks, die handwerkliche Produktqualität, der Wunsch nach Individualität und nicht zuletzt die Faktoren Regionalität und Nachhaltigkeit sind dabei besonders wichtig.*
Das neue Bewusstsein für das Genussmittel Bier und seine jahrtausendealte Geschichte schlägt sich auch in einer Konjunktur kleiner Brauereien nieder. Drohten die zahlreichen familiengeführten, lokalen Mikrobetriebe noch um die Jahrtausendwende von den globalen Bierkonzernen und der Macht ihrer Werbemillionen überrollt zu werden, haben sich hier Wachstumstendenzen verfestigt – freilich vorläufig noch auf niedrigem Niveau: Der Produktionsanteil der Kleinbrauereien liegt in Deutschland noch immer unter zwei Prozent. Das zeigt, dass es bei aller Dynamik nötig ist, die globalen Verhältnisse und Entwicklungen im Auge zu behalten. Obwohl individuelle, handwerklich hergestellte Biere medial präsent und auch sonst angesagt sind, bildet der offensiv beworbene Craft-Beer-Sektor mit seinen Hochglanzmagazinen, seinen Events und seiner Homebrewing-Kultur noch immer ein Nischenphänomen. Aber nicht nur beim Thema Craft Beer macht sich ein erhöhtes Bewusstsein für Inhaltsstoffe, Produktqualität und Herkunft bemerkbar. Praktisch die gesamte Lebensmittelbranche sieht sich mit einer Vertrauenskrise konfrontiert. Permanente Diskussionen um die Problematik von Inhaltsstoffen aller Art, veritable Lebensmittelskandale, die Gewissheit um die realen Gefahren der Erderwärmung und ein wacheres ökologisches Bewusstsein haben eine stabile Thematisierungskonjunktur der Nachhaltigkeit bewirkt, die sich vor allem gegen die Produktions- und Distributionsweisen jener Großkonzerne richteten, die auch den deutschen Biermarkt dominieren.
So lässt sich nach der Aufbruchstimmung des Bierjubiläumsjahres 2016 heute auch nicht leugnen, dass der Deutschen liebstes alkoholisches Getränk in schwieriges Fahrwasser geraten ist. Im Jahr 2020 lag der durchschnittliche Pro-Kopf-Konsum von Bier mit rund 95 Litern so niedrig wie zuletzt Anfang der 1960er-Jahre. Ein Trend, der analog zum Rückgang zunehmend kritisch diskutierter Lebensmittel wie etwa Fleisch verläuft. Betroffen davon sind vor allem die Konzernbrauereien mit ihren standardisierten Produkten, die sich zudem weniger auf markentreue Konsumentinnen und Konsumenten verlassen können und in einem unbarmherzigen Preisdumping und Marketingwettrüsten bestehen müssen. Logisch, dass ein wachsender Exportanteil für die deutschen Großbrauereien heute wichtiger ist als je zuvor; wobei auch in China, dem größten Bierproduzenten und Biermarkt der Welt, rückläufige Zahlen festzustellen sind. Nach einem starken Einbruch 2018 um 60 Millionen Hektoliter sind es 2021 auch hier die kleinen, hochpreisigen Craft-Beer-Sorten, die – zwar auf niedrigem Niveau – Zuwächse verzeichnen. Vor allem in den Mega-Cities versprechen sie einem jungen, lifestyle-orientierten Publikum Status, Internationalität und Genuss, und damit ein probates Mittel, um sich von den heimischen Großkonzernen zu distanzieren.
Zu den vielen Faktoren, die den Biermarkt unübersichtlich machen, gehört die globale Corona-Pandemie seit dem Beginn des Jahres 2020. Sie hat Brauereien und Gastronomie rund um den Globus herbe Verluste beschert. Zudem hat der Public Health Sektor das Individuum als Zielgruppe entdeckt. Permanente Appelle zur gesunden Ernährung, Selbstoptimierungs-Apps und Imperative zum perfekten Körper wirken auf viele wie eine Mahnung, bloß nicht mit dem Biertrinken zu beginnen oder den Konsum zumindest zu reduzieren; die Utopie eines kontrollierbaren, gesunden und ewig jungen Körpers zwingt zur Askese.
Dabei lernen wir mehr und mehr, dass Bier und Kultur zusammengehören. 2016 glaubten wir noch, dass Tell Abu Hureyra, eine 11.500 Jahre alte Siedlung im heutigen Syrien, die Braustätte des ersten Bieres der Menschheit war. Inzwischen hat ein Team der Universität Stanford Überreste eines Gärprozesses in 13.000 Jahre alten Steingefäßen in einer Höhle im israelischen Raqefet entdeckt. Immerhin bleibt die Erkenntnis, dass Bier seit dem Beginn der Sesshaftwerdung integrativer Bestandteil des zivilisierten Lebens ist und wohl auch bleiben wird.
Gunther Hirschfelder und Manuel Trummer
November 2021
Bier ist das erfolgreichste Produkt der Konsumgeschichte. Seine Erfindung steht am Beginn der Zivilisationsgeschichte. Die ersten Brauer wirkten dort, wo der Mensch sesshaft wurde und das Städtewesen seinen Anfang nahm. Die größten Erfolge feierte das Bier aber zunächst in Europa. Von den Häfen der spätmittelalterlichen Hansestädte und Englands aus setzte es seinen weltweiten Siegeszug lange vor der großen Globalisierung des späten 20. Jahrhunderts fort. Heute ist Bier – sieht man einmal vom Tee und vom Wasser ab – das am weitesten verbreitete Getränk der Welt. Seinen ewigen Konkurrenten Wein lässt es zusammen mit allen modernen Brausegetränken weit hinter sich. Inzwischen ist das Bier sogar bis ins Weltall vorgedrungen: Im Auftrag der NASA untersuchte 2001 die Biotechnikerin Kirsten Sterrett die Brautechnik unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit. Das Ergebnis: Weltraumbier punktet aufgrund einer effizienteren Gärung durch einen höheren Alkoholgehalt.1
Bier ist das kulturelle Megaphänomen der sich globalisierenden und ausdifferenzierenden Moderne schlechthin. Gab es bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in vielen kulturellen Großräumen Bier allenfalls in den Provinzhauptstädten zu kaufen – das ländliche Indien, die Weidegebiete Tibets, die Dörfer am Amazonas und der kongolesische Regenwald sind hierfür Beispiele –, so ist das Getränk heute global verfügbar. Ausnahmen bilden nur jene Länder, die den Alkoholkonsum dogmatisch und erbitterter denn je zuvor ablehnen. Auch das ist ein bier- und kulturwissenschaftlich bemerkenswerter Befund. In der großen Mehrzahl der Kulturräume erreicht das Bier inzwischen die meisten sozialen Milieus und alle Altersschichten oberhalb der Kindheit. Sogar dort, wo die Moderne derzeit die Reste des vorindustriellen Zeitalters bedrängt, dient das Bier als Chiffre für einen globalen und konsumorientierten Lebensstil: Chinas Peripherie, das provinzielle Südamerika oder die Montanregionen Afrikas etwa zeugen von dieser Dynamik.
Die Veränderungen in der Bierkultur des mitteleuropäischen Raums gestalten sich im Vergleich dazu relativ langsam. An der Schwelle zum digitalen und globalen Zeitalter haben sich Eckkneipen, Feierabendbiere und Maßkrüge erhalten – ebenso wie einige seit Längerem bestehende Konsummuster: Der gesetzliche Rahmen der Bundesrepublik Deutschland erlaubt die Abgabe von Bier an Jugendliche ab dem 16. Lebensjahr, in Begleitung von Erziehungsberechtigten bereits ab dem 14. Lebensjahr. Das reale Einstiegsalter in den Bierkonsum dürfte mit zehn bis 14 Jahren sogar noch darunter liegen.2
Bier bedient dabei ein weit ausdifferenziertes Spektrum kultureller Normen und Wertzuschreibungen: Es steht im Ruf, billiges Massengetränk sowie Basis des Alkoholismus am unteren Rand der Gesellschaft zu sein. Gleichzeitig enthält Bier Nährstoffe. Ein Liter hat etwa 430 Kalorien, eine Halbliterflasche deckt ein Zehntel des täglichen Energiebedarfs. Keine Frage also: In Massen getrunken ist Bier ungesund und macht dick. Der im Bier enthaltene Alkohol kann als Suchtmittel fungieren. Aber: Bier hat in den letzten Jahren auch an Ansehen gewonnen. Fassgereifte Jahrgangsabfüllungen erreichen heute Höchstpreise. Der edle Gerstensaft krönt sogar die exklusiven Menüs von Spitzenrestaurants, wo eigens geschulte Biersommeliers ihn auf die geschmacklichen Nuancen der Speisen abstimmen. In Gestalt von „Craft Beer“ reüssiert Bier inzwischen als Lifestyle-Getränk eines jungen, urbanen Publikums. Die Produzenten spielen auch die Traditionskarte aus, die in Deutschland zu einem wichtigen Qualitätslabel geworden ist – 500 Jahre Reinheitsgebot.
Als „global player“ der modernen Ernährungskulturen hat das Bier seine regionalen und nationalen Qualitäten aber nicht eingebüßt. Das Weißbier der Bayern, das Stout der Iren oder das Maisbier der Mexikaner sind längst mehr als nur Getränke. Bier ist zum nationalen Symbol geworden, zum in seiner Komplexität und Geschichte reduzierten Stereotyp ganzer Staaten und Regionen. Eine global operierende Bierindustrie, bestehend aus transnationalen Megakonzernen und handwerklich arbeitenden Mikrobrauern, liefert den Treibstoff für die Erfolgsstory. 2014 lag die weltweite Bierproduktion bei 1,96 Milliarden Hektolitern, Tendenz steigend.3
Bier findet heute unter allen alkoholischen Getränken die weiteste räumliche und soziale Verbreitung. Gleichzeitig blickt es auf die längste Geschichte aller alkoholischen Getränke zurück: Die Ursprünge bierartiger Getränke reichen bis in das 10. vorchristliche Jahrtausend zurück. Bier ist älter als die frühesten Destillate, die im Zweistromland des 4. vorchristlichen Jahrtausends hergestellt wurden, und sogar älter als der Wein, der wahrscheinlich um 7500 v. Chr. im nordiranischen Zagrosgebirge gekeltert wurde. Der Getreidetrunk ist auch untrennbar mit dem Sesshaftwerden des Menschen verbunden, dem Ackerbau und den ersten stadtähnlichen Siedlungen. Und allein das Bier spiegelt alle großen Linien der Geschichte.
Dieses Buch unternimmt den zugegebenermaßen verwegenen Versuch, die gesamte Kulturgeschichte des Bieres nachzuzeichnen. Biergeschichte im Sinne von Kultur- und Konsumgeschichte wird auf diese Weise auch zu einer Geschichte der Menschheit.4 Bier ist dabei nicht nur Produkt, sondern in seinen kulturellen Bezügen Produzent und Katalysator soziokultureller Veränderungen. Die Beziehung des Menschen zum Bier dient als Ariadnefaden, an dem sich die vorliegende Schilderung durch den gewaltigen historischen Unterbau des Getränkes tastet. Ein Unterfangen, das umso schwieriger erscheint, da sich nicht nur Herstellungsweisen, Zutaten und vor allem kulturelle Wertigkeiten des Bieres im Lauf der Jahrhunderte permanent veränderten und an herrschende gesellschaftliche Bedingungen und Bedürfnisse anpassten. Gerade innerhalb der letzten Generation durchliefen die globalen Kulturen und mit ihnen die Konsumstile weltweit einen dramatischen Wandel, der bei vielen Konsumenten zu Unsicherheit, zu einer kritischen Haltung gegenüber industriellen Produktionsverfahren und einer Neubewertung von vielen Lebens- und Genussmitteln führte.5 Diese fundamentalen Transformationen betreffen auch das Thema Bier; denn Bier ist nicht nur das Produkt der natürlichen Bestandteile Hopfen, Wasser und Malz, sondern immer auch Symbol gesellschaftlicher Positionierungen und kulinarischer Politiken.
Das Hauptaugenmerk legt die vorliegende Betrachtung auf die Produzenten, Konsumenten und alle anderen, die mit Bier beschäftigt waren oder sind. Im Mittelpunkt stehen die Mahlzeitensituationen, die Diskussionen und Kämpfe ums Bier und seine stets neu zu verhandelnde Position innerhalb der kulturellen Normen einer Gesellschaft. Der Genuss von Bier wird dabei als sozial tradiertes Verhalten mit hoher symbolischer Qualität verstanden.
Trinkkultur verstehen wir als Kommunikation und als soziales Handeln. Bier ist damit ein symbolisch besetztes Kulturgut, in dem sich gesellschaftliche Normen, Rollen und Entwicklungen in großem Umfang spiegeln. Diese dezidiert kulturwissenschaftliche Herangehensweise unterscheidet sich von anderen mit dem Thema Ernährung befassten Disziplinen und bleibt ihnen doch stets verbunden. Während sich die Medizin mit den Inhaltsstoffen und dem Suchtfaktor von Bier beschäftigt, verhandeln Diätetik, die Ökotrophologie oder die Ernährungswissenschaft den richtigen Platz und die angemessene Menge des Konsums im Rahmen der alltäglichen Ernährung. Haltbarkeit, Geschmack und Zusatzstoffe sind das Metier der Lebensmittelchemie. Die Grundbestandteile des Bieres – Hopfen und Getreide – sowie deren Anbau und Züchtung erforschen die Agrarwissenschaften. Die technischen Fragen der Bierproduktion fallen in den Bereich der Brauwissenschaften oder des allgemeinen Ingenieurwesens. Die Geschichte der Brautechniken und der agrarischen Grundlagen der Bierproduktion sowie die Hintergründe des Handels mit Bier sind Sache der Ökonomie und der Wirtschaftsgeschichte.
Von all diesen Ansätzen, die das Getränk in den Mittelpunkt einer Technik- oder Produktgeschichte stellen, unterscheidet sich diese Kultur- und Konsumgeschichte des Bieres. Denn der Fokus liegt hier stets auf dem Menschen, den Kulturen und Gesellschaften hinter dem Bier. Sie versteht sich als kompakter Überblick, der das über zahllose Einzeldarstellungen, wissenschaftliche Aufsätze oder Statistiken verstreute Material zum Alltagsthema Bier allgemeinverständlich bündelt und vor einem kulturwissenschaftlichen Hintergrund neue Perspektiven und Deutungen eröffnet – und dies für ein wissenschaftliches, aber auch für ein eher alltagshistorisch interessiertes Publikum.
Unser Interesse am Bier steht in der Fachtradition der Vergleichenden Kulturwissenschaft beziehungsweise der Europäischen Ethnologie wie auch der Geschichtswissenschaft.6 Damit ist es einem weiten Kulturbegriff verpflichtet. Kultur in dieser Lesart umfasst nicht lediglich die Spitzenleistungen der menschlichen Schöpferkraft, die Theaterstücke Shakespeares, die Gemälde Michelangelos oder die Lyrik Hölderlins. Kultur versteht sich auch nicht als zivilisatorische Norm, als „feines Benehmen“ oder als Bildung. Kultur umfasst hier vielmehr die Gesamtheit der menschlichen Lebensweisen, Wertehaltungen und Kommunikation. Dazu zählen immaterielle Formen, etwa Muster des Erzählens oder Praxen des Glaubens, ebenso wie Dinge und ihr Gebrauch, zum Beispiel Mode, Kleidung oder Möbel. Des Weiteren gehört dazu aber eben auch der kulturelle Akt der Ernährung.
Bei der Auswahl von Getränken und Speisen lässt sich der Mensch von unterschiedlichen, kulturell determinierten Faktoren leiten. Unsere Trinkkultur ist keineswegs statisch. Das Gegenwärtige lässt sich vor dem Hintergrund gewaltiger historischer Entwicklungen interpretieren. Die Art wie, wann und wo wir Bier konsumieren und wie wir den Konsum von Alkoholika bewerten, ist von außergewöhnlich widerständigen kulturellen Traditionen und Normen beeinflusst, die sich regional und national unterscheiden können. Auch Erziehung und Sozialisation prägen den Umgang mit der Trinkkultur. Ob ein Rauschmittel wie Bier als legal oder illegal gilt, hängt von den jeweiligen herrschenden Normen ab sowie von geschlechts-, alters- oder lebensstilspezifischen Konsumgewohnheiten und -regeln. Auf diese Weise wird Bier in seiner historischen, geographischen und sozialen Bewertung selbst kultural. Der Genuss von Bier – oder anderen Getränken – kommuniziert symbolisch Zugehörigkeiten, aber auch Grenzen zwischen Personen, Gruppen, Glaubensgemeinschaften oder Nationen. Noch heute verlaufen trotz allgemeiner Verfügbarkeit der Getränke deutliche Trennlinien zwischen den Weinkulturen des mediterranen Raums und den Biertrinkern nördlich der Alpen. Auch zwischen Menschen aus dem christlichen und dem islamischen Kulturraum markiert der Bierkonsum kulturelle Schranken: Er gerät zum Symbol von Zugehörigkeit oder Fremdheit.
Bier kann heute viele kommunikative Funktionen erfüllen. Es kann sogar zum Prestigeprodukt werden, dessen demonstrativer Konsum eine herausragende gesellschaftliche Stellung unterstreicht. Über den Genuss und den Besitz von Bier drücken Menschen die Zugehörigkeit zu kulturellen Eliten aus: Bier wird zum exhibitionistischen Attribut eines exklusiven Lifestyles, in dessen Rahmen Individuen ihre finanziellen Ressourcen in einer anonymer und individualistischer werdenden Gesellschaft nach außen hin sichtbar machen.7 In der Geschichte des Bieres stößt man bereits in der römischen Republik des 2. vorchristlichen Jahrhunderts auf diesen Symbolgehalt, wenn zwischen dem edlen Weizenbier cervesia der reichen und adligen Gallier und dem gewöhnlichen Gerstenbier der breiten Bevölkerung unterschieden wird. Elitären Status auf exklusiven Tafeln genoss auch das Einbecker Bier des späten Mittelalters, das in Qualität und Geschmack dem faden, alltäglichen Braunbier überlegen war. Heute haben junge, urbane Eliten exklusive und teure „Craft-Beer“-Abfüllungen als Distinktionssymbol gegenüber der industriellen Bierkultur des 21. Jahrhunderts entdeckt.
Der russische Ethnologe Sergei Alexandrowitsch Tokarev (1899–1985) unterteilte in einem 1971 erschienenen Aufsatz Nahrungsmittel nach ihrer kommunikativen Leistung in einer konkreten sozialen Situation. Er unterschied dabei zwischen „Nahrung, die die Menschen vereinigt, und d[er] Nahrung, die sie trennt“.8 Natürlich grenzt auch Bier nicht nur ab; vielmehr verbindet es meistens. Gemeinsames Trinken im Brauhaus oder Stadion stiftet Gruppenidentität: Wer mittrinkt, gehört dazu. Bier wirkt dann als sozialer Kitt – und übernimmt damit eine aus frühester Zeit bekannte Funktion: Erhaltene Rechnungsbücher aus dem ptolemäischen Ägypten belegen, dass bereits damals gerade in Vereinen und sozialen Gemeinschaften regelmäßig Bier getrunken wurde. Diese Funktion zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Bieres. In England ist Bier seit der Industrialisierung das typische Getränk der arbeitenden Klasse und in der Musikszene, etwa der des Heavy Metal. Bier genießt als Rauschmittel Nummer eins die symbolische Bedeutung eines gruppenspezifischen Getränks. Die große zeichenhafte Kraft von Bier in kollektiven Identitäten tritt vor allem im Rahmen regionaler oder nationaler Zuschreibungen zutage. Die Bezeichnung „Bayerisches Bier“ dient heute nicht mehr lediglich dem gruppenkonformen „Mia-san-Mia“-Gefühl des Freistaates, sondern ist auch eine geschützte geographische Angabe im Rahmen von EU-Lebensmittel- und Agrarverordnungen.9
Bier kann auf individueller ebenso wie auf kollektiver Ebene Sicherheit und Orientierung geben. Das symbolisch überhöhte gemeinsame Feierabendbier nach einem anstrengenden Arbeitstag im Kreise von Kollegen sorgt nicht nur für den Abbau von Spannungen, sondern auch für situative Sicherheit in einer informelleren Kommunikationsumgebung. Noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein verfügte Bier über eine dezidierte symbolische Qualität als nahrhaftes, gesundes Produkt. Anders als das oft verunreinigte Wasser genoss Bier den Ruf eines unbedenklichen Erzeugnisses, das gerade auch von Schwangeren und Kindern getrunken werden konnte. Amtsärztliche Protokolle aus dem ostbayerischen Raum beklagen noch um 1860 den hohen Alkoholkonsum von Kindern.10
Bier hat viele Funktionen – die wichtigste ist der Genuss. In allen Epochen und Gesellschaftsordnungen war und ist der Hedonismus eine entscheidende Triebfeder für das Biertrinken. Sein Alkoholgehalt, die Lust am Rausch und nicht zuletzt seine geschmacklichen Qualitäten sicherten ihm einen festen Platz bei öffentlichen und privaten Feiern, bei ausgelassenen Wirtshausrunden, Hochzeiten oder Studentenpartys.11 Lieder über das Bier gibt es zahllose. Ebenso umfangreich sind die Darstellungen von Bier in der Kunst und die symbolischen Überhöhungen des Getränks in der materiellen Kultur, etwa durch spezielle Trinkgefäße oder im Rahmen von Ornamentik und Ikonographie. Auch die Werbung betont seit ihren Anfängen den Lustgewinn, den ein goldenes Bier mit perfekter Schaumkrone beschert.
Heute zählt Bier nicht mehr zu den überlebenswichtigen Grundnahrungsmitteln. Ein Leben ohne Bier ist möglich – und wäre für manchen sogar gesundheitsförderlich. Bier oszillierte über weite Phasen seiner Geschichte zwischen seinen Funktionen als Grundnahrungs- und Genussmittel. Einen Spitzenplatz unter den universellen Genussmitteln hat es sich allein schon durch die Konstanz gesichert, mit der es über weite Phasen der Geschichte produziert wurde, sowie durch seine breite Verfügbarkeit.
Die Bedeutung des Bieres als „luxury food“ hat mit der aufwendigen Herstellung zu tun. Die Produktion von Qualitätsbier ist an eine Reihe teils komplizierter Arbeitsschritte gebunden, die mit langen Reife- und Ruhephasen einhergehen. Unter den schwierigen Bedingungen der vorindustriellen Arbeitswelt konnte das heimische Bierbrauen nur gemeinschaftlich bewerkstelligt werden. Außerdem erforderte es Ressourcen, die nur zu bestimmten Zeitpunkten vorhanden waren. Das Braugetreide konkurrierte mit jenen Getreidemengen, die für die Herstellung von Brot, Suppen oder Breigerichten unverzichtbar waren. Daher hatte das Brauwesen vor allem dann Konjunktur, wenn überschüssiges Getreide verfügbar war. Die zahlreichen süddeutschen Reinheitsgebote des Mittelalters zielen weniger auf den Schutz vor schädlichen Würzstoffen als vielmehr darauf, bestimmte Getreidesorten in Zeiten schlechter Ernten vom Bierbrauen auszunehmen. Der Stellenwert des Bieres als „luxury food“ wird schließlich in zahlreichen Rechtsverordnungen und handelspolitischen Instrumenten manifest. Bereits aus den frühen Stadtkulturen Mesopotamiens hat sich ein breites Verwaltungsschriftgut überliefert, das Bierproduktion und -handel zum Gegenstand hat. Wenngleich diese Quellen nur spärliche Einblicke in die Herstellung und den Konsum von Bier gewähren, zeigen sie doch, dass das Produkt schon in den frühen öffentlichen Verwaltungssystemen eine Rolle spielte, denn auf die Herstellung und den Handel mit dem Gebräu wurden Steuern erhoben. Bier stand über die Jahrhunderte außerdem im Fokus der Behörden, weil sie – oft vergebens – nach Instrumenten suchten, um den Konsum der Bevölkerung zu reglementieren. Beispiel hierfür sind die skandinavischen Prohibitionen der 1910er- und 1920er-Jahre und besonders die Alkoholverbote, die im Amerika der Jahre 1920 bis 1933 galten.
Ein Jahrhundert zuvor war der Alkoholkonsum schon einmal in den Blickpunkt der Wissenschaft und bald auch der Behörden gerückt. Anlass war ein schmales Buch mit dem Titel Die Trunksucht und eine rationelle Heilmethode derselben aus der Feder Carl von Brühl-Kramers. Der Moskauer Arzt führte darin den Begriff Trunksucht ein und äußerte die revolutionäre Ansicht, dass selbst gelegentlicher Konsum von Bier (oder Wein) zur Sucht führen könne. Trinken war fortan nicht mehr nur Genuss, sondern wurde auch mit dem Aspekt Krankheit in Verbindung gebracht.12 Die Diskussionen über den vermeintlich falschen oder richtigen Bierkonsum und seine Bedeutung – je nach Position – als Droge oder als nährstoffreiches Allheilmittel halten an und werden wohl auch in Zukunft erbittert geführt werden.13
Die Problematik eines Lebensmittels aus der Kategorie der Genussmittel wird in diesen kontroversen Betrachtungsweisen deutlich. Je nach Zeit, Raum, Wirtschaftslage und sozioethischem Kontext wandelte sich die kulturelle Wertigkeit des Bieres. Während die Abstinenzbewegung im Europa des späten 19. Jahrhunderts das Bier als Suchtmittel dämonisierte, betonten zur gleichen Zeit Ärzte die positiven und heilsamen Effekte seines Konsums gegenüber anderen Getränken wie Kaffee oder Wasser.14 Die Funktionen des Bieres sind vielschichtig: War es während seiner gesamten Geschichte, und insbesondere in Zeiten klimatischer Umwälzungen, Nährstofflieferant und Nahrungsmittel breiter Bevölkerungsteile, so diente es zugleich in anderer Form dem demonstrativen Konsum einzelner Eliten.
Wenn wir uns im Folgenden bezüglich der Kulturgeschichte des Bieres und seiner unterschiedlichen Wertzuschreibungen auf eine globale Spurensuche begeben, sind wir uns mehrerer Gefahren bewusst: Zum einen soll trotz des generalistischen Anspruchs der Darstellung nicht der Eindruck einer linearen, kontinuierlichen Entwicklungsgeschichte von Bier und Gesellschaft vermittelt werden. Weder lässt sich das Verhältnis von Mensch und Bier auf einen singulär zu verortenden Ursprung festmachen, noch verläuft die Geschichte bruchlos in die Moderne. Je nach Route hat es das Bier mit zahlreichen Sackgassen und Umwegen zu tun, außerdem liegen weitreichende Innovationen und Veränderungen auf seinem Weg in die Gegenwart. Generell ist die Kulturgeschichte des Bieres ein Mosaik aus zahlreichen geographisch, sozial und historisch teils gravierend divergierenden Strängen. Die im Folgenden präsentierten Kapitel verstehen sich damit in erster Linie als Umbruchserzählungen. Sie dokumentieren besonders dynamische Innovationsetappen der Bier- und Kulturgeschichte.
Die zweite Hauptschwierigkeit besteht darin, innerhalb all dieser kulturell spezifischen Bewertungen des Bieres eine dem globalen Rahmen angemessen gleichwertige Perspektivierung zu finden. Wir sind uns dabei bewusst, wie stark die Kulturgeschichte des Bieres zwangsläufig auch von unserer eigenen europäischen Sichtweise gelenkt wird. Tatsächlich beleuchten die Kapitel vor allem den europäischen, vorderasiatischen und anglo-amerikanischen Raum. Andere Kulturräume werden nur kurz angeschnitten, wenngleich mancherorts beachtliche Bierinventionen gemacht wurden. Zu berücksichtigen ist hier allerdings, dass die Entwicklungslinie der Kulturgeschichte des Bieres mit ihren großen Umbrüchen und Innovationen in weiten Zügen zweifellos auch in realiter von Europa – und hier besonders vom Europa nördlich der Alpen – ausgehend in die Welt verlief. Erst ab dem 18. Jahrhundert gewinnen Amerika und ab dem 19. Jahrhundert der asiatische Raum einen wirtschaftlich und kulturell ähnlich prägenden Einfluss auf die Geschichte des Bieres wie zuvor Europa und auch der Vordere Orient.
Eine Kulturgeschichte, die der wechselhaften Beziehung von Mensch und Bier auf die Spur kommen will, hat es zwangsläufig auch mit den verschiedenen sozialen Milieus zu tun – und genau deren Untersuchung gestaltete sich schwierig: Das von frühester mesopotamischer und altägyptischer Zeit an breit vorhandene Verwaltungsschriftgut dokumentiert in erster Linie den Elitenkonsum sowie den öffentlichen Handel und die professionelle Produktion. Über den tatsächlichen Konsum in den privaten Haushalten der breiten Bevölkerung erfahren wir meist wenig. Auch Gesetzestexte oder religiöse Vorschriften geben uns bis in die jüngste Vergangenheit hinein lediglich fragmentarisch Auskunft über die Mahlzeiten der Bevölkerungsmehrheit und lassen allenfalls Deutungen über Hierarchien, Geschlechterrollen und Konsummengen zu. Allerdings unterscheiden sich Normen, Wissensbestände und Konsumpraxen erheblich. Biergeschichte ist vor diesem Hintergrund vor allem eine Annäherung an ein in mehrfacher Hinsicht fluides Sujet. Und dennoch: Gerade in diesen Lücken und Widersprüchen, Konflikten zwischen öffentlicher Ordnung und individuellem Gebrauch liegt die Spannung, aus der Ernährungsgeschichte ihre Energie gewinnt. Der „global player“ Bier ist ein optimales Brennglas, in dem sich die großen kulturellen Entwicklungen der Geschichte bündeln.
Am Anfang stand das Bier. Seine Bedeutung für die menschliche Zivilisation spiegelt sich bereits im babylonischen Gilgamesch-Epos, einer der ältesten schriftlichen Quellen der Menschheitsgeschichte. Das Werk entstand wohl um die Mitte des 3. vorchristlichen Jahrtausends im Vorderen Orient. Es erzählt von den Abenteuern König Gilgameschs, des großen Herrschers von Uruk. Die zuerst in sumerischer Sprache verfassten Keilschrifttafeln fanden weite Verbreitung in den frühen Gesellschaften Mesopotamiens. Unzählige Male abgeschrieben, überdauerten sie so den Untergang der sumerischen Sprache und gingen in die Literatur und Sprachen der nachfolgenden Zivilisationen des Zweistromlandes ein.1
Im Epos von Gilgamesch begegnet uns auch Enkidu, die Symbolfigur eines Naturmenschen. Durch den Konsum des Kulturgetränkes Bier entfremdet er sich von der Sphäre der Natur und wird zum zivilisierten Menschen. Mit Gazellen und Löwen in der Steppe aufgewachsen, gerät der wilde Enkidu ins Visier des Königs Gilgamesch. Der schickt die Priesterin und Dirne Schamchat. Sie verführt Enkidu und leitet ihn in ein Hirtenlager. Hier, an der Schwelle von Natur und Zivilisation, von nomadischen Lebensformen und sesshafter Kultur, vollzieht sich die zweite Menschwerdung Enkidus: Mit sieben Krügen Bier und gebackenem Brot tritt er in die zivilisatorische Gemeinschaft ein.2
„Brot legten sie ihm vor.
Bier stellten sie ihm hin.
Nicht aß Enkidu das Brot, ratlos schaut er in die Runde.
(Denn) Brot zu essen hatte er nie erlernt,
und Bier zu trinken blieb ihm unbekannt.
Die Dirne sagt zu ihm, zu Enkidu:
‚Iß doch, Enkidu, vom Brot, das zu dem Menschen gehört!
Trink doch, Enkidu, vom Bier, das dem Kulturland bestimmt!‘“3
Nicht nur der Mythos, auch die moderne Archäologie verfügt über schlüssige Argumente, die einen engen Zusammenhang zwischen der Entdeckung alkoholhaltiger Getränke und der Sesshaftwerdung der frühen Kulturen nahelegen. Fast alle Szenarien versetzen uns dabei in den Vorderen Orient in der Zeit vor 13.000 bis 10.000 Jahren. Die Innovationen fanden in einem Gebiet statt, das etwa von den Tempelanlagen Göbekli Tepes und den frühen Stadtformen Catal Hüyüks in Zentralanatolien über das Zagrosgebirge im nördlichen Iran bis an die Mündung von Euphrat und Tigris in den Persischen Golf reichte.
Von besonderer Bedeutung erweisen sich dabei Funde aus der Region des heutigen Palästina. Hier stoßen wir etwa 11.000 Jahre v. Chr. auf eine sich ausdifferenzierende Jäger-und-Sammler-Kultur, die nach Fundorten im Wadi an-Natuf als Natufien benannt ist. Das Natufien der Levante und verwandte regionale Kulturen hinterließen einen Horizont von Funden, in dem sich die Möglichkeit und die Fähigkeit einer ersten frühen Bierherstellung widerspiegeln. Unabdingbar für die Herstellung von Bier war damals wie heute das Vorhandensein von Getreide. Wie die Enkidu-Episode zeigt – er trinkt Bier und speist Brot –, stehen der Anbau und die Verarbeitung von Getreide und das Brauen in diesem epochalen Übergang der Zivilisationsgeschichte in einem engen Zusammenhang.4
Genau hier, an den bedeutenden Fundorten des Natufien, belegen Ausgrabungen diesen Wandel der menschlichen Lebensweisen. In Tell Abu Hureyra etwa, im heutigen Syrien, ist wilde Gerste nachgewiesen. Etwa 200 jungsteinzeitliche Siedler lebten hier ganzjährig als Jäger und Sammler, bevor sie damit begannen, aktiv Getreide zu domestizieren. Auch Vorläufer unseres Roggen, die alte Weizenart Emmer und vor allem deren biologischer Ahne Einkorn, befinden sich unter den gesicherten Nahrungsüberresten. Sachkulturelle Relikte flankieren die Funde aus den Nahrungsresten von Tell Abu Hureyra. So belegen Feuersteinsicheln eine Erntepraxis von wildem und später auch von gezüchtetem Getreide in der Zeit um 10.000 v. Chr.
Ebenfalls gut 11.000 Jahre alt sind Überreste von Gebäuden in Bad el-Dhra auf dem Gebiet des heutigen Jordanien. Die in ihnen gefundenen Spuren verarbeiteter wilder Gerste legen die Verwendung der Bauwerke als Kornspeicher oder womöglich sogar als Darren für Getreide nahe. Gerade die Lagerung von Getreide musste einen gewaltigen Schritt für die Domestizierung und gezielte Aussaat von Samen in den Kulturen an der Schwelle zur Sesshaftwerdung bedeutet haben.
Um diesen Zeitpunkt setzte 2012 auch ein Team von Nahrungsarchäologen um Brian Hayden den Beginn der Kulturgeschichte des Brauens an. Das Besondere: Hayden betrachtet die Herstellung von Bier als wesentliches Moment in der Sesshaftwerdung sowie der Domestizierung von Getreide.5 Diese aufregende Verbindung von Bier und Zivilisationsgeschichte geht dabei von einer prinzipiellen Frage aus, die bis heute nicht abschließend beantwortet werden kann: Warum gaben die Jäger und Sammler des Natufien und ähnlicher Kulturen eine gesicherte nährstoff-, fleisch- und proteinreiche Ernährung auf und vollzogen den Schritt zu einer extrem aufwendigen und – angesichts mangelnder Anbau- und Ernteerfahrung – auch äußerst riskanten Ernährung auf der Grundlage domestizierter Gräser?
Die kanadischen Wissenschaftler folgerten, dass nur eine besondere, rituelle Verwendung dieser Nahrungsmittel – etwa in Tempelanlagen wie Göbekli Tepe, in dessen Nähe der Anbau von Einkorn nachgewiesen ist – den enormen Aufwand von Getreideanbau und die Beschaffung von Getreide von entfernten Orten sinnvoll begründeten. Gerade in ansonsten nahrungsreichen Siedlungsstätten, wie in Tell Abu Hureyra, erschienen religiöse Gründe und ritueller Rausch als einzig plausible Erklärung für die unverhältnismäßigen Mühen, die sich aus der Domestizierung und dem Transport von Korn ergaben.6 Hayden kommt zum Schluss:
„Die Herstellung von Bier ist einer von wenigen möglichen Kandidaten für die Motivation, frühe Getreidearten zu beschaffen und deckt sich mit dem exzessiven Aufwand, der auch heute noch in traditional geprägten Gesellschaften betrieben wird, um Bier herzustellen.“7
Der Wunsch nach Rausch als Motor für die Sesshaftwerdung der Menschheit? Bier als Treibstoff für einen der größten Epochenwandel der Menschheit? Andere Forscher äußern sich dazu weitaus zurückhaltender.8 So könnte auch ein Einbruch der Temperaturen im Rahmen eines kleinen Klimawandels und ein Fernbleiben der großen Wildtierherden zu einer zivilisatorischen Revolution der Jäger und Sammler der Jungsteinzeit an Orten wie Tell Abu Hureyra oder Bad el-Dhra geführt haben. Der britische Prähistoriker Andrew Sherratt etwa sieht in der Entdeckung des Bieres lediglich einen zweiten Folgeschritt der Domestikation von Getreide. Doch unabhängig von der Frage, ob das Bedürfnis nach Bier den Anbau von Getreide beflügelte, oder – wovon die meisten Forscher heute ausgehen – der vergärte Gerstensaft ein Begleitprodukt der neolithischen Revolution um 10.000 v. Chr. bildete, markiert der Beginn der Brau- und Bierkultur einen markanten Punkt in der Geschichte der Menschheit: Die frühen Gesellschaften beginnen, sich über eine komplexe Verarbeitung von Ernährung kulturell auszudifferenzieren.9 Biergeschichte gerät zur Zivilisationsgeschichte.
Die Spezialisierung der Arbeitsschritte führte zu einer Ausdifferenzierung einzelner Landwirtschafts- und Handwerkszweige und ließ Ernährung zum Statussymbol werden. Bier als Luxusprodukt markierte nun nicht nur besondere religiöse und rituelle Anlässe im Jahreslauf und formierte so im Sinne der Anthropologin Mary Douglas über den Rausch eine Gemeinschaft, sondern avancierte rasch zum Konsumgut von Herrschaftseliten, Beamten oder Priestern. Der Anthropologe Alexander Joffe führt einen breiten Bestand an ikonographischem Schmuck und keramischen Entwicklungen an, die ab 5000 v. Chr. im frühen Sumer die bedeutende soziale Rolle des alkoholischen Getränks Bier betonten. Der Beitrag von Bier und anderen alkoholischen Getränken zur sozialen Ausdifferenzierung und Urbanisierung der frühen mesopotamischen Stadtstaaten sei, so Joffe, als kulturstiftendes Element kaum zu unterschätzen.10
Was ist nötig, um aus dem Korn Bier zu produzieren?11 Bier unterscheidet sich in seiner Herstellungsweise von allen anderen alkoholischen Getränken. Die Zuckergewinnung aus einem stärkehaltigen Grundprodukt stellt den wesentlichen Unterschied zu Wein oder Met dar. Bei Letzteren ist der Zucker bereits im Grundprodukt, der Frucht oder dem Honig, vorhanden.
Der erste Schritt: Aus Getreide gewinnt der Brauer durch Keimung mittels Wasser- und Wärmezufuhr Malz. Diese künstlich provozierte Keimung aktiviert im Korn Enzyme. Die Enzyme wiederum verwandeln die im Korn enthaltene Stärke in Malzzucker. Dieser Zucker wird später mit Hilfe von Hefe zu Alkohol vergoren.
Der Vorgang des Weichens nimmt etwa zwei Tage in Anspruch. In speziellen, mit Wasser gefüllten Weichgefäßen trennen sich auch Spreu und leere Hülsen vom vollgesogenen Korn. Die eigentliche Keimung beginnt, nachdem das feuchte Getreide auf Tennen oder in Keimkästen verbracht wurde. Etwa nach fünf Tagen unterbricht der Brauer die Keimung des entstandenen Grünmalzes und macht es auf Darren durch Trocknung und Röstung zu halt- und verarbeitbarem Malz. Über den Grad der Röstung und den Feuchtigkeitsgehalt des verwendeten Keimgutes lassen sich bereits erste Aroma- und Farbnuancen des späteren Bieres determinieren.
Heute ist das am häufigsten verwendete Malz das Pilsner Malz. Bei etwa 80 °C gedarrt, eignet es sich zur Herstellung von Pils und anderen hellen Bieren. Recht dunkle Biere erhält man mit Malz der Münchner Art, das bei höheren Temperaturen von bis zu 100 °C gedarrt wird.
Die überwiegende Zahl aller Biere wird auf der Basis von Gerstenmalz produziert. Daneben existieren aber auch eine Reihe anderer Sorten mit jeweils eigenen Farb- und Aromaeigenschaften, etwa Weizenmalz (für Weißbiere), spezielle Karamellmalze (für zusätzliche Süße) oder in Rauch gedarrte Rauchmalze. Dies sind lokale Spezialitäten, die etwa Bamberger Rauchbier seinen außergewöhnlichen Charakter verleihen.12
Das fertige Malz zerkleinert der Brauer nun mittels spezieller Mühlen und vermengt es in den großen Maischbottichen der Brauhäuser mit Wasser.13 In mehreren Temperaturschritten, den sogenannten Rasten, beginnen die während der Keimung im Korn aktivierten Enzyme, die feste, mehlige Getreidestärke zu einer Flüssigkeit, bestehend aus vergärbarem Malzzucker und anderen Stoffen, zu verwandeln: Die Würze entsteht. Die zahlreichen in der Würze enthaltenen Vitamine und Mineralstoffe bestimmen den hohen Nährwert des Bieres. Dieser Vorgang des Maischens bestimmt die Beschaffenheit des späteren Bieres entscheidend. Nicht nur die Wahl des Brauwassers, sondern vor allem die Temperatur und die Dauer der Rasten prägen den Charakter des Bieres entscheidend.
Der moderne Weg vom Gerstenkorn zum Bierkasten.
Nach etwa vier Stunden haben die aktivierten Enzyme die komplette Stärke in vergärbaren Malzzucker umgewandelt. Der gesamte Sud wird nun in Läuterbottiche umgefüllt. Hier setzen sich die unlöslichen Bestandteile des Suds, etwa die Spelzen, am Boden ab. Wenn nun der Sud durch eine Öffnung im Boden des Läuterbottichs abgepumpt wird, fließt er durch diesen festen Bodensatz und wird so wie in einem Filter gleichzeitig von Schwebstoffen gereinigt. Die zurückbleibenden Feststoffe bilden den Treber. Die flüssige Würze selbst wird nun für etwa zwei Stunden in den großen, oft kupfernen Sudpfannen auf etwa 80 °C erhitzt.
Dabei erfolgt die zweite große Kursbestimmung in Richtung des späteren Biergeschmacks. Denn in den Sud gibt die Brauerei auch Hopfen. Die zahlreichen Hopfensorten mit ihren vielfältigen Aromen entscheiden dabei, wie bitter oder wie fruchtig das Bier gerät.14 Eine hohe Menge an Hopfen, der heute aufgrund besserer Lagerfähigkeit meist in Form gepresster Pellets oder konzentrierter Extrakte zugegeben wird, verlängert zudem die Haltbarkeit des Bieres. Während der Versiedung des Hopfensudes verdampft Wasser. Was nun zurückbleibt, bestimmt den Stammwürzegehalt eines Bieres. Je höher der Anteil der nicht flüchtigen Stoffe – des Malzzuckers, der Hopfenaromen, aber auch der Vitamine und Eiweiße – im Sud ist, umso höher ist die Stammwürze. In Deutschland dient der Stammwürzegehalt der steuerund lebensmittelrechtlichen Einteilung von Bier. Die Angabe erfolgt in Prozent nach dem Anteil vergärbarer Stoffe in der Flüssigkeit. Als dünnstes Bier gilt das Einfachbier mit einem Stammwürzeanteil von 1,5 % bis 6,9 %. Gewöhnliches Schankbier folgt mit 7,0 % bis 10,9 %. Das gebräuchlichste Bier ist Vollbier. Dazu zählen die meisten hellen Biere. Es verfügt über eine Stammwürze im Bereich von 11,0 % bis 15,9 %. Bei einer Stammwürze ab 16 % gilt ein Bier als Starkbier. Das gilt etwa für Bock- oder Doppelbockbiere.
Nach einem weiteren Reinigungsschritt, der den nicht gelösten Hopfentreber und ausgefallene Eiweiße von der Oberfläche der Würze abfiltert, wird der Sud abgekühlt und mit Hefe versetzt.15 Die Hefe frisst nun den Malzzucker und produziert so Alkohol. Die Gärung beginnt anschließend in den Gärtanks der Brauerei. Erneut spielt die Temperatur eine wichtige Rolle. Biere auf der Grundlage untergäriger Hefen, etwa Helles oder Pils, benötigen eine Temperatur um 5 °C. Biere mit obergärigen Hefen, die also am Ende der Gärung nach oben steigen, werden bei 20 °C vergoren. Vor der Erfindung von Kühlmaschinen im späten 19. Jahrhundert stellte vor allem die Produktion untergärigen Bieres die Brauereien vor große Herausforderungen. Gekühlt wurde mit Eis und Kühlschiffen, bevor das Bier in kalten Bierkellern gären durfte. Aufgrund der nötigen Kälte waren die Monate September bis März in Mitteleuropa die Hauptbrauzeit.
Nach fünf Tagen Gärung wird das entstandene, alkoholhaltige Jungbier in Lagertanks umgefüllt. Hier findet bei niedrigen Temperaturen die Nachgärung statt, die im Falle von untergärigen Bieren etwa zwei bis sechs Monate dauern kann. Obergärige Biere sind weniger lagerfähig und bereits nach zwei Wochen trinkfertig. Ihre Nachgärung erfolgt deshalb oft direkt in der Flasche. So finden sich gerade bei vielen Weißbieren noch Hefereste in der Flasche. Während der Lagerung des Bieres in den luftdichten Tanks oder in der Flasche entsteht aus der Nachgärung zudem Kohlensäure, die dem Bier seine Spritzigkeit verleiht.16 Das fertige Bier wird nun in einer letzten Filterung von Bakterien, zurückgebliebenen Hefezellen und anderen unerwünschten oder geschmacksschädlichen Rückständen befreit17 und für Gaststätten in Fässer oder für den Großhandel, den Einzelhandel und Privatkunden in Flaschen und Dosen abgefüllt.18
Wie und wo genau das erste Bier gebraut wurde, muss offenbleiben. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei diesem komplexen Zusammenspiel von Temperatur, Feuchtigkeit und Bakterien um eine rein zufällige Entdeckung handelte, ist aber recht groß.
„Letztendlich sollte in Erwägung gezogen werden, dass die Natur selbst das erste Bier geschaffen haben könnte. Die Gerstenkörner wurden nach der Ernte vermutlich zur Lagerung in einem Behältnis verstaut. Wenn die Körner Feuchtigkeit ausgesetzt waren, keimten sie. Gekeimte Gerste ist süßer und weicher als ungekeimte Samen und daher genießbarer. Vielleicht wurden die gekeimten Körner für den späteren Verzehr aufbewahrt. Luftübertragenen Hefen und mehr Feuchtigkeit ausgesetzt, gärte die Gerste und erzeugte auf diese Weise Bier. Wir werden wohl nie erfahren, wann irgendeine mutige Seele wirklich diese ‚verfaulte‘ Gerste trank, aber was wir wissen ist, dass es jemand getan hat.“19
Gleichwohl: Kultur kennt keine Zufälle. Innovationen und Entdeckungen geschehen, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Eine Verbreitung erfolgt nur, wenn eine Idee erfolgreich, ein Bedürfnis vorhanden und die Möglichkeit eines kommunikativen Austausches gegeben ist. So musste für den Brauvorgang und die Entdeckung des Bieres eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein: Zunächst benötigt die Produktion von Bier einen beträchtlichen Vorrat an Getreide. Es reicht für eine umfänglichere Herstellung nicht mehr, lediglich Grassamen zu sammeln. Die Bierproduktion erfordert das Wissen, Getreide flächig auszusäen und systematisch zu ernten. Zum zweiten bedarf es eines Verfahrens, Malz in Zucker zu verwandeln. Erst dieser garantiert in der Vergärung einen einigermaßen hohen Alkoholgehalt. Das verwendete Korn wiederum muss bereits gekeimt haben, da ungekeimtes Getreide nicht über die Enzyme verfügt, Stärke in Zucker umzuwandeln. Schließlich benötigten die frühen Brauer Hefe für die Vergärung sowie Gefäße, um den Gerstensaft darin in größerem Stil zu produzieren, zu konsumieren und zu lagern. In einer funktionierenden Landwirtschaft liegt der Schlüssel der Bierproduktion: Ohne Überschussproduktion kann sich eine Innovation wie die Entdeckung vergorenen Getreidebreies oder -saftes nicht vollziehen.
Diese notwendigen Voraussetzungen finden wir, unabhängig voneinander, zu verschiedenen Zeiten weltweit in unterschiedlichen frühen Kulturen. Die Kulturgeschichte des Bieres verfügt nicht über den einen zentralen Ursprung. Es handelt sich um keine lineare Geschichte, sondern um eine parallele Entwicklung von zahlreichen Startpunkten aus.
Ein sehr früher Anfangspunkt ist wohl in den Subsaharazonen des östlichen Afrika zu setzen. Hier stoßen wir bereits um 8000 v. Chr. auf vergorene alkoholhaltige Getränke auf einer Grundlage von Hirse und Sorghum, aber auch Mais oder Maniok. Etwa aus der gleichen Zeit stammen Funde aus dem prähistorischen China und Japan, wo sich in Gefäßen Rückstände von bierartigen Getränken auf der Grundlage von Reis fanden. Etwas später wurden auch in Südamerika erste bierartige Getränke, vor allem auf Maisgrundlage, gefunden. In den prähistorischen Anden wurden weitere Pflanzen und Früchte wie Maniok oder Erdnüsse zum Bierbrauen genutzt.20
Etwa um 7000 v. Chr. sind im Vorderen Orient die Voraussetzungen für die Produktion früher Biergetränke gegeben. Nördlich der Alpen treten alkoholhaltige, vergorene Getränke auf Getreidegrundlage noch später, etwa ab 5000 v. Chr. auf. Der russische Brottrunk Kwas erinnert an die frühen europäischen Gerstensäfte.21 Bei den Hethitern, die sich ab ca. 2300 v. Chr. in Zentralanatolien ansiedelten, kam Bier bei Zeremonien zum Einsatz. Das Getränk, wahrscheinlich vor allem auf Gersten- und Emmerbasis, wurde möglicherweise auch mit Honig gewürzt und als medizinisches Präparat genutzt.22
Die notwendige Verzuckerung der Stärke stand in Abhängigkeit zum jeweiligen Grundbestandteil. Die südamerikanischen Maisbiere wurden ebenso wie wahrscheinlich die japanischen Reisbiere oder die frühen afrikanischen Biere auf Grundlage von Maniok durch Speichelamylase verzuckert. Das bedeutet, dass die Umwandlung von Stärke zu Zucker durch Kauen erfolgt. Der menschliche Speichel regt dabei in Kombination mit der Wärme die Verzuckerung an.
Auch die für die Vergärung der so verzuckerten Grundbestandteile nötigen Hefen entstammten unterschiedlichen Quellen. So fanden neben Spontanvergärung durch wilde Hefen auch Früchte Verwendung, auf deren Schalen sich Hefekulturen ansiedelten. Einen frühen Zusammenhang von Brot und Bier – „heute back’ ich, morgen brau’ ich“, wie es im Märchen „Rumpelstilzchen“ heißt – finden wir bei Verfahren aus dem Vorderen Orient, wo die Vergärung mit der Hefe aus angebackenem Brotteig oder entsprechenden, hefehaltigen Flüssigkeiten und Getreidebreien gestartet wurde. In all diesen frühen Techniken stand das Bier am Ende einer landwirtschaftlichen Kette von Arbeitsschritten, die zur Verarbeitung des geernteten Korns dienten. Sein niedriger pH-Wert, der das Wachstum von Keimen und unerwünschten Bakterien hemmt, machte Bier zu einem halbwegs haltbaren Getränk, in dem sich das geerntete Korn in flüssiger Form konservieren ließ.
Wie wohlschmeckend all diese Getränke letztlich waren, wie hoch der Alkoholgehalt und wie golden oder dunkel die Farbe, lässt sich nur schwer rekonstruieren. Anhaltspunkte bieten lediglich Vergleiche mit einigen vergorenen Getreidegetränken der Gegenwart, etwa den trüben afrikanischen Opaque-Bieren, den bespeichelten Chicha-Bieren der Anden, dem vergorenen russischen Brottrunk Kwas oder auch spontanvergorenen, sauren belgischen Geuzes oder Lambics.23 So geht der kalifornische Brauwissenschaftler Charlie Bamforth davon aus, dass die ersten Biere geschmacklich wenig mit jenen der Gegenwart gemein hatten:
„Seit 8.000 Jahren ist Bier in der einen oder anderen Form ein Bestandteil der Ernährung. Der Trinker des 21. Jahrhunderts würde die ersten Biere, welche ein glückliches Ergebnis der spontanen Vergärung schlecht gelagerten Brotes darstellten, nicht als solche erkennen.“24
Bereits ab dem 3. vorchristlichen Jahrtausend eröffnen uns Quellen einen lebendigen Einblick in die Geschichte des Bieres zwischen Euphrat und Tigris. Gleichzeitig erfahren wir viel über die Menschen, die es produzierten. Innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit hatte sich die Kulturlandschaft des Vorderen Orients fundamental verändert.1 In Folge eines umfassenden Klimawandels während der letzten Eiszeit (um 13.500 v. Chr.) war der Meeresspiegel rapide gesunken. Die Küstenlinie verlief teils auf der Höhe der heutigen Straße von Hormus, bevor sie mit dem Ende der Kaltphase wieder ins Landesinnere rückte: Etwa vor 6.000 Jahren begann die Küstenlinie wieder nach Süden zu wandern. Im Gebiet von Euphrat und Tigris und den benachbarten Regionen entstanden so fruchtbare, für die landwirtschaftliche Nutzung bestens geeignete Ebenen. Dennoch: Trotz der günstigen Bodenverhältnisse entlang Euphrat und Tigris, deren Schlamm im Süden der Region ein flaches Schwemmland entstehen ließ, war die Situation für die Landwirtschaft unvorteilhaft. Erlaubte das raue Klima im Bergund Hügelland des Nordens Regenackerbau, herrschte im südlichen Mesopotamien für zwei Drittel des Jahres starke Trockenheit. Erst mit der Entwicklung ausgefeilter Bewässerungstechniken konnte eine effiziente Landwirtschaft entstehen. Weitläufige Kanalsysteme ermöglichten eine Überschussproduktion von Getreide, die das Brauen von Bier erlaubte.2
Der „fruchtbare Halbmond“, in dem sich der Ackerbau ab dem 6. Jahrtausend v. Chr. rapide verbreitete, erstreckte sich von der Mittelmeerküste und den heutigen Ländern Libanon und Israel über den Irak bis hinab zum roten Meer. Gesellschaft und Handel in dieser jungen bäuerlichen Welt betteten sich in ein kulturelles und wirtschaftliches Netzwerk ein, das im Norden bis nach Zentralanatolien ausstrahlte, im Süden bis nach Ägypten und bis an den Persischen Golf.
Mit der Etablierung der Landwirtschaft und der damit verbundenen Sicherung der Versorgung ging nicht nur ein Bevölkerungswachstum einher, sondern auch die Gründung erster größerer Städte. Hier, in den frühesten Metropolen der sumerischen Kultur, etwa in Eridu oder Uruk, entstanden bald Schriftsysteme, die das Leben in den zunehmend komplexeren städtischen Gesellschaften dokumentierten. Es handelte sich um eine theokratisch geprägte Kultur. Die Fäden von Politik und Administration liefen in den Tempeln der frühen Stadtstaaten zusammen. Von hier aus lenkten Priesterfürsten, stellvertretend für die Götter der Stadt, das Leben, die Wirtschaft und die Bebauung und Bewässerung des Landes.
Schon zu Beginn der schriftlichen Aufzeichnungen über die frühen Stadtgesellschaften Sumers und später Akkads stoßen wir auf das Getränk Bier.3 Spätestens um 3000 v. Chr. zählte Bier zu den wichtigen Wirtschaftsgütern, die von den sumerischen Gesellschaften in großem Stil produziert und konsumiert wurden. Zeitweise entfiel wahrscheinlich ein Drittel der Getreideernte auf die Herstellung von Bier.4 Ein eigener Brauerstand mit festen Regeln und Hierarchien bildete sich in den Städten heraus.5
Religiöse Texte zeugen von der sumerischen Bierkultur. Von den Folgen übermäßigen Bierkonsums handelt der Mythos von Innana und Enki, eine wilde Geschichte von Verführung, Trunkenheit und Betrug aus dem 3. vorchristlichen Jahrtausend.6 Im Mittelpunkt steht Enki, der auch mit anderen Trinkgeschichten assoziierte Schöpfergott und Gott der Weisheit. In seinem Palast in Eridu erhält Enki Besuch von der Himmelsgöttin Inanna, die er mit allen Ehren empfängt und fürstlich bewirtet. Inanna hingegen führt im Schilde, die von Enki in Eridu gehüteten Tafeln der Weisheit, die Grundlage für Enkis göttliche Macht, zu rauben und für ihre eigene Stadt Uruk zu gewinnen.
So berichtet es die mythische Geschichte: „Enki und Inanna […] trinken Bier im Abzu, lassen sich den süssen Wein munden. Die bronzenen AGA(-Gefäße) machen sie übervoll.“7 Warum Enki früher betrunken ist als Inanna, ob diese sich zurückgehalten hatte oder das Bier