Bilderbuchanalyse - Tobias Kurwinkel - E-Book

Bilderbuchanalyse E-Book

Tobias Kurwinkel

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  • Herausgeber: UTB
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Bilderbücher spielen nicht nur für die frühkindliche Bildung und Medienerziehung eine zentrale Rolle. In den letzten Jahrzehnten haben sich komplexe Formen der Interdependenzen von Bild und Text und eine lebhafte Rezeption der Bildenden Kunst sowie der Medienkultur entwickelt. Dieser Band führt umfassend in das Bilderbuch als Buchgattung ein, dabei steht die narratoästhetische Analyse in Bild und Text im Zentrum. Exemplarisch angewandt wird der Ansatz durch Beispielanalysen ausgewiesener Expert:innen, die verschiedene Bilderbücher und Apps untersuchen. Kapitel zur Didaktik des Bilderbuchs sowie ein Glossar zur Fachterminologie runden die Einführung ab. Die 3. Auflage wurde aktualisiert, überarbeitet und um ein Kapitel zu Page Breaks, Page Turns und Pageturnern ergänzt. „ein Basiskompendium für alle, die sich mit dem Kinderbuch akademisch auseinandersetzen.“ Eselsohr 1/2020

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Tobias Kurwinkel

unter Mitarbeit von Katharina Düerkop

Bilderbuchanalyse

Narrativik – Ästhetik – Didaktik

A. Francke Verlag Tübingen

 

 

© 2024 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8463-6296-9

Inhalt

Vorwort zur 3. AuflageVorwort zur 2. Auflage1 Einführung2 Das Bilderbuch – Annäherungen an eine Buchgattung2.1 Was ist ein Bilderbuch?2.2 Bilderbücher für Kinder und Erwachsene: All-Age/Crossover als Lesarten intra- und intermedialer CodierungExkurs: Comic, Manga und Graphic Novel2.3 Von Sach- und Erzählbilderbüchern, realistischen und fantastischen Bilderbüchern sowie elektronischen Erweiterungen: Beschreibungs- und OrdnungsversucheExkurs: Mediale Entgrenzungen: Adaptionen des Bilderbuchs2.4 Das Bilderbuch im Medienverbund2.5 Entwicklung des Bilderbuchs seit 19453 Aspekte der narratoästhetischen Bilderbuchanalyse3.1 Erzählen als Zustandsveränderung in der Zeit: Der narrative Text3.2 Die narratoästhetische Bilderbuchanalyse3.3 Makroanalyse: Kontext3.4 Mikroanalyse: Textexterne Aspekte3.4.1 Paratext3.4.2 Materialität3.5 Mikroanalyse: Textinterne Aspekte3.5.1 Was wird dargestellt?3.5.2 Wie wird es dargestellt?3.5.3 Interdependenzen von Bild und Text3.5.4 Page Break, Page Turn und Pageturner3.5.5 Intermediale Einflüsse3.6 Wie man ein Bilderbuch analysiert4 Pädagogische und didaktische Aspekte4.1 Das Bilderbuch in der frühkindlichen und schulischen Bildung4.2 Heterogenität: Differenzierung und Individualisierung5 Beispielanalysen5.1 Mareile Oetken: Die Regeln des Sommers (2014) von Shaun Tan5.2 Annika Sevi: Das Kind im Mond (2013) von Jürg Schubiger (Text) und Aljoscha Blau (Bild)5.3 Mirijam Steinhauser: Tatu und Patu und ihre verrückten Maschinen (2010) von Aino Havukainen (Bild) und Sami Toivonen (Text)5.4 Michael Staiger: Das Haus in den Bäumen (2013) von Ted Kooser (Text) und Jon Klassen (Bild)6 Glossar7 Medienverzeichnis7.1 Primärmedien7.1.1 Bilderbücher, Comics, Graphic Novels und Apps7.1.2 Filme7.1.3 Hörspiele7.2 SekundärmedienSachregister

Vorwort zur 3. Auflage

Für die dritte Auflage habe ich kleinere Korrekturen vorgenommen und zahlreiche Angaben zur Forschungsliteratur aktualisiert. Weiter wurden einzelne Kapitel überarbeitet und an den Stand der Forschung angepasst; als Beispiel sei hier das Kapitel zu den medialen Entgrenzungen des Bilderbuchs genannt. Hinzugekommen ist ein Kapitel zu Page Breaks, Page Turns und Pageturnern.

Mein Dank gilt meinen Mitarbeiterinnen Alina Gierke und Lea Zindel für die Unterstützung beim Lektorat und der Recherche sowie den vielen Kolleginnen und Kollegen, darunter Bettina Kümmerling-Meibauer, Michael Ritter und Marlene Zöhrer, die mich mit Verbesserungs- und Literaturhinweisen versorgten. Bedanken möchte ich mich außerdem beim Verlag und meinem Lektor Tillmann Bub.

 

Hamburg, Juni 2024    Tobias Kurwinkel

Vorwort zur 2. Auflage

Die erste Auflage der Bilderbuchanalyse hat eine überwältigend positive Resonanz erfahren, so dass bereits jetzt – keine drei Jahre nach ihrem Erscheinen – eine zweite Auflage möglich geworden ist, die ich hiermit vorlege.

Die Zweitauflage bietet eine Reihe von Berichtigungen und Korrekturen. Sie ist ergänzt, erweitert sowie aktualisiert worden: Ergänzt habe ich Aspekte, zu denen ich in der vergangenen Zeit gearbeitet und veröffentlicht habe, dies betrifft insbesondere die Kapitel zum Bilderbuch im Medienverbund, zu Motiven und Themen sowie zum Bilderbuch in der frühkindlichen und schulischen Bildung. Erweitert habe ich die Erstauflage um ein Kapitel zur literarhistorischen Entwicklung des Bilderbuchs seit 1945. Aktualisiert habe ich die Literaturangaben und -hinweise, um den neuesten Stand der Forschung abzubilden.

Bedanken möchte ich mich bei Corinna Norrick-Rühl, die mich bei der Durchsicht des Kapitels zur Makroanalyse unterstützt und einen Glossareintrag zum Gatekeeper beigetragen hat. Gedankt seien auch Alexandra und Michael Ritter sowie Jochen Hering, die mich mit Literatur und wertvollen Hinweisen versorgt haben.

In einigen Besprechungen wurde das Layout des Bandes kritisiert; entsprechend wurde dieses für die Zweitauflage überarbeitet, womit u.a. die Anzahl der Marginalien, die bei Rezensenten für Irritationen sorgten, reduziert werden konnten. Weiter ist das Buch nun voll vierfarbig – denn, um Christine Paxmann zu zitieren: „Man kann Fachbuch auch schön!“ Dafür, für das Entgegenkommen und die stete Unterstützung, möchte ich mich beim Verlag und meinem Lektor Tillmann Bub bedanken. Melanie Trolley danke ich für die Mitarbeit bei den Korrekturen von Tippfehlern und Ungenauigkeiten, die damals übersehen wurden.

 

Essen, Juni 2020    Tobias Kurwinkel

1 Einführung

Zu Beginn des neuen Jahrtausends schreibt Jens Thiele in seinem heute als Standardwerk geltenden Buch, dass es „eine kontinuierliche, systematische Theorieforschung zum Bilderbuch“ nicht gebe, obwohl „sie seit den 60er Jahren“ (Thiele 2003a:36) eingeklagt werde.

Dieser Befund liest sich seitdem beständig wiederkehrend in der Literatur; ich zitiere ihn hier, weil er ein in der Forschung noch immer gültiges Desiderat benennt – und damit einen Ausgangspunkt dieses Bandes darstellt.

Thieles Diktum kann entgegengehalten werden, dass vor allem in den letzten Jahren viele Studien und Untersuchungen erschienen sind, die das Bilderbuch sowohl pädagogisch als auch didaktisch fokussieren und ebenso fachwissenschaftlich perspektivieren. Nichtsdestotrotz

bleibt eine an Text- und Bildzugängen orientierte interdisziplinäre Forschung, die literatur-, sprach- und bildtheoretische wie auch didaktische Aspekte des Bilderbuchs zusammenführt, weiterhin Desiderat. (Preußer 2015:67)

Die narratoästhetische Bilderbuchanalyse

Zu diesem Desiderat möchte der vorliegende Band einen Beitrag leisten, indem er ein interdisziplinäres Modell zur Analyse von Bilderbüchern vorschlägt, das auf die genannten Aspekte zurückgreift und diese zu synthetisieren sucht; Ausgangspunkte der Narratoästhetiknarratoästhetische Bilderbuchanalyse sind zum einen das „stehende Bild“ und die „geschriebene Sprache“ (Barthes 1988:102), zum anderen die zwei Ebenen des narrativen Textes: die Geschichte oder histoire als Abfolge von Ereignissen und der Text oder discours als Abfolge von Zeichen.

MedienMedium- und TextbegriffTextbegriffDas hier entwickelte Modell rekurriert auf den Medienbegriff Werner Wolfs (2002:164), was nicht nur die Betrachtung der spezifischen Eigenschaften der EinzelmedienMedium ermöglicht, sondern auch den Blick freistellt auf deren Zusammenspiel als InterdependenzenBild-Text-Interdependenz von Bild- und Schrifttext im konventionell als distinkt wahrgenommenen Medium Bilderbuch. Dabei liegt dem Modell ein TextbegriffTextbegriff zugrunde, der

[i]n seiner weitesten Bestimmung […] eine verbale, nonverbale, visuelle und auditive Mitteilung [umfasst], die von einem Sender mittels eines Kodes an einen Empfänger gerichtet ist. Nicht nur gesprochene und geschriebene Diskurse, sondern auch Filme, Theateraufführungen, Zeremonien, Ballettaufführungen, Happenings, Zirkusnummern, Bilder oder Musikstücke sind demnach Texte. (Nöth 2000:392)

Ein derartiger TextbegriffTextbegriff bildet die Basis für das transmedialeTransmedialität Verständnis der Analysekategorien: Viele sind medienunspezifisch und können daher sowohl mit Mitteln des Schrift- als auch des Bildtexts ausgetragen werden. Die roten Haare einer Figur können beispielsweise im Schrifttext eines Bilderbuches verbalsprachlich beschrieben oder im Bildtext malerisch bzw. zeichnerisch realisiert sein.

GegenstandGegenstand der Bilderbuchanalyse ist vor allem das fiktionaleFiktionalität Bilderbuch, bei dem sich der Bild- wie auch der Schrifttext als selbstständiger Bedeutungsträger (Weinkauff & Glasenapp 2018:164) darstellt. Dies gilt auch für das faktuale Bilderbuch, das ebenso Untersuchungsgegenstand der narratoästhetischennarratoästhetischen Analyse sein kann.

Sowohl im fiktionalenFiktionalität als auch im faktualen Bilderbuch entwickeln Bild- und Schrifttext ein Handlungskontinuum (Dolle-Weinkauff 2007:227); ein solches kann jedoch ebenfalls durch die Bilder allein entfaltet werden.

Aufbau und Anlage

1. TeilDer erste Teil des Bandes definiert das Bilderbuch, bestimmt es nicht nur als „Spezialkunst für Kinder“ (Thiele 2020:218), sondern auch als All-AgeAll-Age- oder Crossover-Literatur und stellt sein Verhältnis zu ComicComic(strip), MangaManga und Graphic NovelGraphic Novel dar. Darauf folgen Ordnungs- und Beschreibungsversuche, welche die BuchgattungGattung u.a. in Erzähl- und SachbilderbuchSachbilderbuch klassifizieren, den Wirklichkeitsstatus einer Bilderbucherzählung referieren und auf gestalterische Sondertypen eingehen. Weitere Kapitel dieses ersten Teils handeln von den medialen EntgrenzungenEntgrenzung, mediale des Bilderbuchs und positionieren dieses in und zu Medienverbundsystemen.

Anlage der KapitelDiese Kapitel sind so angelegt, dass sie sowohl einzeln als auch fortlaufend gelesen werden können; in letzterem Fall bauen sie aufeinander und kapitelweise eine umfassende Bestimmung des Bilderbuchs auf.

Jedes Kapitel bzw. jeder Exkurs enthält eine kommentierte Auswahl weiterführender Literatur für Forschung und Studium. Der Aufbau der Hinweise zum Weiterlesen folgt einem idealen Rechercheweg, der über Textsorten verläuft, die vom Allgemeinen zum Speziellen und zugleich vom Einfachen zum Komplexen führen: Zuerst werden, soweit verfügbar, Einträge in Enzyklopädien und Fachlexika vorgestellt, darauf folgen Handbücher sowie Einführungsbände zum Thema. Zudem werden wichtige Monographien, Sammelbände und ggf. (Beiträge in) Fachzeitschriften genannt, die das Kapitelthema weiter vertiefen.

2. TeilDer zweite Teil ist der narratoästhetischen Bilderbuchanalyse gewidmet: Auf zwei Kapitel, die zum einen davon handeln, wie in Bild und Text erzählt wird, und zum anderen das Modell darstellen und diskutieren, folgen die Aspekte und Kategorien der Bilderbuchanalyse, unterteilt in Makro- und MikroanalyseMikroanalyse.

Diese Kapitel sind wie diejenigen des ersten Teils angelegt, auch sie weisen weiterführende Literaturhinweise auf; eingeleitet werden sie von Textkästen, welche das Wesentliche der jeweiligen Kategorie zusammenfassen und damit vor dem Lesen des gesamten Kapitels Orientierung bieten – und danach ein schnelles Nachschlagen und Informieren ermöglichen.

Der Teil schließt mit einem Leitfaden zur Bilderbuchanalyse, der diese auch im Kontext akademischer Textsorten wie Referat oder Hausarbeit verortet.

3. TeilDer dritte Teil geht auf pädagogische und didaktische Aspekte ein; er beschäftigt sich mit dem Bilderbuch als Instrument für Sprach- und ErzählförderungErzählförderung in der Kindertagesstätte, führt Terminologie und Theorie der LiteracyLiteracy ein und zeigt, wie über intermedialeIntermedialität Lektüren des Bilderbuchs und seiner elektronischen ErweiterungenErweiterung, elektronische und medialen EntgrenzungenEntgrenzung, mediale unterschiedliche Kompetenzen vermittelt werden können. Ein weiteres Kapitel setzt sich mit HeterogenitätHeterogenität und DifferenzierungDifferenzierung auseinander und skizziert den Einsatz des Bilderbuchs als Unterrichtsgegenstand in diesem Kontext.

4. TeilVier verschiedene Beispielanalysen von Bilderbuchexperten1 lesen sich im vierten Teil des Bandes, welche das Modell der Bilderbuchanalyse praktisch anwenden. Mareile Oetken analysiert insbesondere RaumRaum, Zeit und MaterialitätMaterialität in Shaun Tans 2014 veröffentlichten Bilderbuch und AppAppDie Regeln des Sommers (engl. Rules of Summer, 2013); dabei arbeitet sie Tans Umgang mit den je spezifischen Mitteln des Erzählens in den verschiedenen MedienMedium heraus. So nutze er beispielsweise „die Immaterialität der App-Technik […], um die Materialität seiner Arbeit, insbesondere die haptischen Qualitäten der Malerei“ (S. 203) zugänglich zu machen.

Im Mittelpunkt von Annika Sevis Untersuchung steht das Fantastische in Jürg Schubigers (Text) und Aljoscha Blaus (Bild) Bilderbuch Das Kind im Mond(2013). Sevi analysiert, wie das Fantastische im Bild- sowie im Schrifttext entwickelt wird und welcher Art das Verhältnis von telling und showing dazu ist.

Michael Staigers Beitrag erschließt Ted Koosers (Text) und Jon Klassens (Bild) 2013 erschienenes Bilderbuch Das Haus in den Bäumen (engl. House Held Up by Trees, 2012) ausgehend von seiner Erzählstruktur und seiner Bildgestaltung; dabei geht er vor allem auf das Zusammenspiel von histoire und discours ein.

Mirijam Steinhauser untersucht den ersten Band (2010) der finnischen Bilderbuchreihe Tatu und Patu von Aino Havukainen (Text) und Sami Toivonen (Bild), Tatu und Patu und ihre verrückten Maschinen (fin. Tatun ja Patun oudot kojeet, 2005). Besonderes Augenmerk legt sie auf die peritextuellePeritext Gestaltung, der in den Tatu-und-Patu-Bänden eine wesentliche Rolle für die Gesamtkonzeption und den seriellen Zusammenhang zukommt. Der Beitrag schließt mit einem didaktischen Ausblick.

5. TeilDer fünfte Teil enthält ein umfangreiches Glossar, das in kurzen Einträgen Fachbegriffe erläutert. Diese Begriffe sind jeweils ein Mal pro Kapitel kursiviert – durchgängig kursiviert sind im Deutschen nicht lexikalisierte Fremdwörter, ausgewählte Fachtermini, Werktitel sowie Eigennamen.

Quellen

Das Modell der Bilderbuchanalyse, das ich seit 2013 in der universitären Lehre und parallel zu ihr entwickelte, steht auf den Schultern von vielen anderen, baut auf die Arbeiten von u.a. Schwarcz (1982), Nodelman (1988), Thiele (2003), Nikolajeva & Scott (2006) und Staiger (2014 und 2022) auf.

Für die Darstellung der textinternen Aspekte habe ich mich an verschiedenen Standard- und Einführungswerken orientiert, wie u.a. Bode (2011), Martínez & Scheffel (112019) und Vogt (72016) für den Schrift-, und wie Held & Schneider (2007), Kayser & Körner (2004) sowie Kerner & Duroy (1980, 1981) für den Bildtext.

Der Aufbau des Buches und einzelner Kapitel, wie zur Figur oder zu MotivenMotiv (siehe auchSchwellenmotiv) und Themen, folgen der Kinder- und Jugendfilmanalyse, die ich 2013 gemeinsam mit Philipp Schmerheim geschrieben und veröffentlicht habe. Zurückgegriffen habe ich auch auf andere Publikationen von mir, so zur Theorie des MedienverbundsMedienverbund (2013, 2017), zur MetapherMetapher der fantastischen Schwelle (2014), zu medialen EntgrenzungenEntgrenzung, mediale des Bilderbuchs (2016) sowie zum Verhältnis von Bilderbuch und Film (2017b).

Zielgruppe

Zielgruppe des Bandes sind vor allem Lehramtsstudierende der Fächer Deutsch und Kunst, die Vorlesungen, Seminare und Übungen zur Kinder- und Jugendliteratur und zum Bilderbuch besuchen. In derartigen Lehrveranstaltungen kann das Buch auch aufgrund seiner didaktischen Ausrichtung von Lehrenden und Studierenden als Grundlagenwerk eingesetzt werden. Der Band richtet sich zudem sowohl an Studierende der Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften als auch der Pädagogik und Erziehungswissenschaften.

Danksagungen

In vielen und verschiedenen Seminaren zum Bilderbuch und seinen AdaptionenAdaption an den Universitäten Bremen, Düsseldorf und Köln haben Studierende mit dem Manuskript dieses Buches gearbeitet und Bilderbücher mithilfe des Modells untersucht. Für ihre wertvollen Anregungen und Vorschläge möchte ich mich bedanken.

Dank gebührt auch den Beiträgern Mareile Oetken, Annika Sevi, Michael Staiger und Mirijam Steinhauser, die sich die Mühe gemacht haben, auf Grundlage des hier vorgestellten Modells eigene Analysen von Bilderbüchern beizusteuern.

Markus Le François und Tobias Krejtschi haben mir Bilder zur Verfügung gestellt, welche die Entstehung ihrer Illustrationen zeigen und das Verhältnis zwischen Autor und Illustrator reflektieren; geduldig haben sie mir – wie auch Torben Kuhlmann und Sebastian Meschenmoser – meine Fragen zu ihren Materialien und ihrer Technik beantwortet.

Meiner Mutter, der Künstlerin Jutta Kurwinkel, danke ich für das schöne Titelbild, das sie für diesen Band gestaltete, meiner Schwester für das gründliche Lektorat der Kapitel zur Bildanalyse.

Danken möchte ich auch dem Team des Arbeitsbereichs Kinder- und Jugendmedien an der Universität Bremen, darunter meinem Freund und Kollegen Philipp Schmerheim wie auch Nele Bartsch und Jana Wiegand. Meine Mitarbeiterin Katharina Düerkop besorgte nicht nur das Korrektorat und Lektorat des Buches, sondern kümmerte sich zudem um das Glossar, den Index und das Literaturverzeichnis.

Gedankt sei auch den Wissenschaftlerinnen und Bilderbuchexpertinnen Tamara Al-Chammas und Sarah Wildeisen für Literatur und Hinweise sowie und insbesondere Bettina Kümmerling-Meibauer, die mich in unzähligen eMails kenntnisreich auf internationale Forschungen und Literatur zum Bilderbuch hinwies.

2 Das Bilderbuch – Annäherungen an eine BuchgattungGattung

2.1Was ist ein Bilderbuch?

Als Bilderbuch, so schreiben Horst Künnemann und Helmut Müller im Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur, bezeichne man „ein für Kinder von etwa 2–8 Jahren entworfenes Buch mit zahlreichen Illustrationen und wenig oder gar keinem Text“ (1984:159). Weiter haben Bilderbücher „nur wenige Blätter, sind oft aus zerreißfestem Papier oder Folie hergestellt und weisen sehr unterschiedliche Formate auf, von ganz kleinen ‚Lilliput‘-Ausgaben bis zu übergroßen Formaten“ (1984:159).

Diese Definition ist nicht mehr zeitgemäß. Das Bilderbuch als BuchgattungGattung der Kinder- und Jugendliteratur hat tiefgreifende Entwicklungen in ästhetischer, narrativer und buchgestalterischer Hinsicht durchlaufen, welche die Aussagen von Künnemann und Müller nicht reflektieren. Verschiedene Kriterien dieser engen Definition aber, das Alter der Adressaten, das Text-Bild-Verhältnis und der Umfang, können als Ausgangspunkte für aktualisierende Überlegungen dienen – und letztlich zu einer definitorischen Annäherung führen, die in den folgenden Kapiteln und Exkursen über weitere Aspekte kontextualisiert wird.

Kriterium Adressatenalter

Das Bilderbuch sei vor allem, wie Jens Thiele geschrieben hat, eine „Spezialkunst für Kinder“ (Thiele 2005:228). Als Bilderbücher für Kinder wird diese Kunst – wie auch Kinderbücher und Kinderfilme – im deutschsprachigen RaumRaum vor allem im kommerziellen Bereich nach Altersstufengliederungen differenziert. Zumeist verwenden diese Gliederungen einen Abstand von zwei Jahren sowohl bei Kleinkindern (2, 4 Jahre) als auch bei Kindern (6, 8, 10 Jahre). Eine wichtige Rolle nehmen Bilderbücher zudem für Kleinstkinder ein, die im Alter von 10–12 Monaten mit den so genannten Frühe-Konzepte-BüchernFrühe-Konzepte-Bücher in Kontakt kommen (Kümmerling-Meibauer 2012a:3).

Teilweise werden die Altersstufen über die von den Adressaten besuchten Bildungsinstitutionen definiert (Kindergarten-, Vorschul- und Grundschulbilderbuch). Kombiniert werden die Stufen zum Teil mit Angaben des Geschlechts, was besonders für Mädchen gilt.

In thematischer, erzählerischer und bildnerischer, nicht zuletzt in medialer Hinsicht hat sich das Bilderbuch zu einem „komplexen, offenen Bild-Text-MediumMedium“ entwickelt (Thiele 2020:218); auch jugendliche und erwachsene Leser und Betrachter sind damit zu Konsumenten von Bilderbüchern geworden. Ein Beispiel für letztere Adressatengruppe ist Und dann platzt der Kopf (2014) von Christina Röckl, das auf der Frankfurter Buchmesse 2015 den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Sachbuch gewann.

All-AgeAll-Age-BilderbuchUnd dann platzt der Kopf wird vom Verlag als „ein Bilderbuch für Erwachsene von Kindern gedacht“ beworben und damit der All-AgeAll-Age- oder Crossover-Literatur zugeordnet (→ Kapitel 2.2). Mit diesem Begriff werden seit Ende der 1990er Jahre Werke bezeichnet, welche die Grenzen zwischen Kinder- und Allgemeinliteratur überschreiten. Sie richten sich sowohl an Kinder und Jugendliche als auch an Erwachsene und sind für diese verschiedenen Lesergruppen attraktiv (Blümer 2011:1).

Kriterium Text-Bild-Verhältnis

Das Definitionskriterium des Verhältnisses von Schrift- und Bildtext im Bilderbuch ist für die Bestimmung dessen von großer Bedeutung; entsprechend schreibt Karl Ernst Maier, dass das „erste kennzeichnende Merkmal“ des Bilderbuchs sich aus der „einfachen Feststellung“ ergebe, dass „das Bild die dominierende Stelle“ einnehme (1996:1). Doch was genau bezeichnet die dominierende Stelle? Das quantitative oder das qualitative Verhältnis von Text und Bild im Buch – oder gar beide Aspekte?

‚Einfacher‘ – und vor allem präziser – ist eine qualitative Perspektive auf das Verhältnis, die mit dem erzählerischen Inhalt des Buches in Verbindung gebracht wird: So kann für das Bilderbuch definiert werden, dass sich der Bildtext, wie auch der Schrifttext, als selbstständiger Bedeutungsträger (Weinkauff & Glasenapp 2018:164) darstellt und ein Handlungskontinuum entwickelt (Dolle-Weinkauff 2007:227); ein derartiges Kontinuum kann jedoch ebenfalls durch die Bilder allein entfaltet werden.

Durch diese Definition ist weiter eine Abgrenzung des Bilderbuchs vom illustrierten Kinder- und Jugendbuch möglich, da die Bilder in letzterem zumeist kein Handlungskontinuum entwickeln, sondern eine den Schrifttext erläuternde, kommentierende und oft nur dekorierende Funktion einnehmen.

Kriterium Umfang

In Friedrich Justin Bertuchs Bilderbuch für Kinder, einem zwölfbändigen Unterrichtswerk, das zwischen 1790 und 1830 Wissen für Kinder in Themengruppen wie Weltwunder oder Fabelwesen aufbereitete, liest sich, dass ein Bilderbuch von geringem Umfang sein und dem Kind „nicht auf einmal ganz, und etwa in einem großen dicken Bande“ (Bertuch 1790:4) übergeben werden sollte. Was hier als adressatenspezifische AkkommodationAkkommodation formuliert ist, liest sich ohne pädagogischen Impetus auch in der eingangs dargelegten Definition, nach der ein Bilderbuch „nur wenige Blätter“ habe. Thiele präzisiert 2003 derartige Angaben, indem er schreibt, das Bilderbuch habe „in der Regel 30 Buchseiten“ (2003b:71); Staiger gibt 2014 an, dass der „materielle Träger der Bilderbucherzählung“ ein Buch „mit 24 bis 48 Seiten“ (2014:20) sei.

Auch wenn eine große Anzahl von Bilderbüchern den genannten Umfang aufweist: Ein Blick in die Nominierungslisten des Deutschen Jugendliteraturpreises der vergangenen Jahre offenbart, dass das gegenwärtige Bilderbuch derartigen Konventionen und Limitierungen immer weniger zu folgen scheint. Nicht anders sind Bilderbücher zu erklären, die 64 Seiten wie Gordon und Tapir (Sebastian Meschenmoser 2014), 96 Seiten wie das 2013 erschienene Akim rennt von Claude K. Dubois (franz. Akim court, 2012), 160 Seiten wie Spinne spielt Klavier, Geräusche zum Mitmachen (Benjamin Gottwald, 2022) oder sogar 224 Seiten wie Das literarische Kaleidoskop (Regina Kehn 2013) haben.

Literatur und Internetseiten zum Weiterlesen

Das Lexikon Kinder- und Jugendliteratur (1995–2017), das als Loseblattsammlung im Corian Verlag von Kurt Franz, Günter Lange und Franz-Josef Payrhuber im Auftrag der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e.V. herausgegeben wurde, stellt noch immer ein umfangreiches Standardwerk dar, das über Autoren und Illustratoren von Bilderbüchern ebenso wie über Fachbegriffe informiert. Eine Fortsetzung der Loseblattsammlung findet sich im Internet als Online-Lexikon unter der URL https://www.akademie-kjl.de/lexikon/.

In Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart – ein Handbuch (52020) findet sich ein Überblicksartikel zum Bilderbuch von Jens Thiele. Das gilt auch für das Handbuch Kinder- und Jugendliteratur (2020), zu dem ich einen Beitrag geschrieben habe. Ein wichtiges internationales Handbuch ist The Routledge Companion to Picturebooks (2018), herausgegeben von Bettina Kümmerling-Meibauer.

Eine gelungene Einführung in das Thema bietet noch immer das Standardwerk Das Bilderbuch: Ästhetik – Theorie – Analyse – Didaktik – RezeptionRezeption(22003a) von Thiele, das verschiedene Aspekte und Bereiche des Bilderbuchs abbildet und auch eine kurze Darstellung seiner Geschichte liefert. Eine Einführung in theoretische Grundlagen und analytische Zugänge zum Bilderbuch bietet der gleichnamige Sammelband (2022), den Ben Dammers, Anne Krichel und Michael Staiger herausgegeben haben.

Auf dem wissenschaftlichen Internetportal KinderundJugendmedien.de lesen sich verschiedene Beiträge zur Theorie des Bilderbuchs im Fachlexikon; in der Kategorie Bilderbücher werden sowohl Klassiker als auch Neuerscheinungen vorgestellt und besprochen. Weiter findet sich auf dem Portal eine Bibliographie zum Bilderbuch, die fortlaufend aktualisiert wird.

2.2Bilderbücher für Kinder und Erwachsene: All-AgeAll-Age/Crossover als Lesarten intra- und intermedialerIntermedialität Codierung

Mit dem Erfolg der Harry Potter-Romane von Joanne K. Rowling und dem sich dazu schnell entwickelnden MedienverbundMedienverbund zeichnet sich Mitte der 1990er Jahre – sowohl auf dem Kinder- und JugendbuchmarktKinder- und Jugendbuchmarkt als auch in der Forschung – eine neue Entwicklung ab: Bei dieser geht es um Bücher, die an Kinder und an Erwachsene adressiert sind und von diesen gleichermaßen gelesen werden, wie die Geschichte von dem elternlosen Jungen, der in einem Schrank unter einer Treppe lebt und später als berühmter Zauberer gegen das personifizierte Böse kämpfen wird.

Der erwachsene MitleserMitleser, erwachsenerBei den erwachsenen Lesern dieser Bücher handelt es sich nicht um so genannte MitleserMitleser, erwachsener, die kinder- und jugendliterarische Werke in dem Bewusstsein lesen, nicht deren eigentliche Leser zu sein. Mitleser fungieren als Vermittler, als Weiterleitende, als Filternde (Ewers 2012:57) – und mit Blick auf die Bilderbücher für (Kleinst- und Klein-)Kinder als Vorleser (→ Kapitel 3.3).

All-AgeAll-Age-/ Crossover- LiteraturAll-AgeWerke, die sich an Kinder und Erwachsene richten, werden als All-AgeAll-Age- oder Crossover-Literatur (Beckett 2009:7f.) bezeichnet, wobei sich im deutschsprachigen RaumRaum erstgenannter Begriff, eine Übersetzung der aus der skandinavischen Literaturwissenschaft stammenden Bezeichnung „allålderslitteratur“, durchgesetzt hat. In der englischsprachigen Forschung wird hingegen der zweite Begriff verwendet, die Bezeichnung All-Age findet sich kaum (Blümer 2011:6).

Den Terminus des Crossover greift Bettina Kümmerling-Meibauer auf und bietet eine weite Definition dessen als Crosswriting an:

CrosswritingZunächst macht Crosswriting darauf aufmerksam, dass es eine wachsende Anzahl von Autoren und Autorinnen gibt, die literarische Werke sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene schreiben […]. Außerdem referiert Crosswriting auf das Phänomen des rezipientenübergreifenden Schreibens, d.h. ein kinderliterarisches Werk spricht sowohl Kinder als auch Erwachsene an, wobei verschiedene Bedeutungsebenen herausgeschält werden können. […] Zuletzt verweist Crosswriting auf die Tatsache, dass ein zunächst als Erwachsenenbuch konzipiertes Werk von demselben Autor/derselben Autorin in ein Kinderbuch umgeschrieben wird oder umgekehrt. (Kümmerling-Meibauer 2012b:27f.)

DoppelsinnigkeitZu den verschiedenen Bedeutungsebenen, die in der Definition genannt werden, hat Hans-Heino Ewers den Begriff der DoppelsinnigkeitDoppelsinnigkeit geprägt. Damit ist das Angebot unterschiedlicher Lesarten gemeint, einer exoterischen für Kinder- und Jugendliche und einer esoterischen für Erwachsene:

Während sich den „Alten“ die Textbotschaft in ihrer ganzen Bedeutung erschließt, bleibt für die kindlichen Leser so manches unverständlich. Der Text ist jedoch so beschaffen, daß es dem kindlichen Rezipienten möglich ist, über das ihm Unbegreifliche hinwegzugleiten, so daß es zu keinem Abbruch der kindlichen Lektüre kommt. Die betreffenden Signale sind so gestaltet, daß sie der kindlichen Aufmerksamkeit entgehen oder ohne Beeinträchtigung des kindlichen Leseerlebnisses übersprungen werden können. Einem Text, der die kindliche Fassungskraft übersteigt, muß dennoch die Möglichkeit einer kindlichen Lektüre eingeschrieben sein, wenn Kinder zu seinen Lesern zählen sollen. (Ewers 2000:123)

Intra- und IntermedialitätIntermedialitätVerwirklicht werden diese Lesarten vor allem über sowohl intramediale als auch intermedialeIntermedialität Codierungen, über die das Werk im Schnittpunkt anderer Texte, zu denen es in Beziehung steht, positioniert ist: So finden sich in vielen Bilderbüchern bspw. intertextuelleIntertextualität und/oder interpiktorialeInterpiktoralität Verweise auf andere Schrifttexte bzw. Bildtexte, deren Realisierung dem zumeist erwachsenen Rezipienten neue Bedeutungshorizonte eröffnet, mit denen ein Vergnügen einhergeht.

In Mein Papi, nur meiner! Oder Besucher, die zum Bleiben kamen (engl. The Visitors Who Came to Stay) von Annalena MacAfee (Text) und Anthony Browne (Bild) aus dem Jahr 1984 finden sich interpiktorialeInterpiktoralität Verweise auf das Werk René Magrittes oder auf das Gemälde Frühstück im Freien von Edouard Manet (1863) (Thiele 2003a:56).

Die Verweise werden hierbei über den Text motiviert, aber „in der Interaktion zwischen Text und Konsument, seinen Kenntnismengen und RezeptionserwartungenRezeption“ (Holthuis 1993:31) vollzogen. Die (kindlichen) Rezipienten, denen die intra- und/oder intermedialeIntermedialität Enzyklopädie fehlt, um die Verweise aufzulösen, können dem Text aber trotzdem Bedeutung zuweisen (Kurwinkel & Schmerheim 2013:22).

Auch vor dem Aufkommen der neuen Begriffe All-AgeAll-Age- und Crossover-Literatur gab es an Kinder und Erwachsene gleichzeitig gerichtete, mehrfach adressierte Werke – in allen literarischen EpochenEpoche, literaturgeschichtliche und PeriodenPeriode und in keineswegs geringem Umfang (Ewers 2012:58). Die auffälligste Neuerung für die All-Age-Literatur der Jahrtausendwende im Gegensatz zu den früheren Texten ist das veränderte Marketing:

Das Label Crossover dient Verlagen und Buchhandel als Verkaufsargument und wird gezielt zur breiteren Vermarktung der Texte eingesetzt. Mit dem neuen Trend hängen auch Veränderungen in der Publikationsform zusammen. Häufig gibt es dual editions, mit denen ein Crossover-Text sowohl in einer Ausgabe für Kinder bzw. Jugendliche als auch in einer Ausgabe für Erwachsene veröffentlicht wird. (Blümer 2012)

All-AgeAll-Age-/ Crossover-BilderbuchSpätestens seit dem Erscheinen von Sandra Becketts Buch Crossover Picturebooks im Jahr 2012 werden die Begriffe All-AgeAll-Age- und Crossover-Bilderbuch sowohl im kommerziellen als auch im wissenschaftlichen Bereich für mehrfachadressierteMehrfachadressierung Bilderbücher verwendet. Was für die Kinder- und Jugendliteratur gilt, gilt auch für das Bilderbuch: Bilderbücher, die sich zugleich an Kinder und Erwachsene richten, existieren nicht erst seit dem „crossover hype“ (Beckett 2012:1).

Maurice Sendak: Als Papa fort warAls ein Beispiel kann das Bilderbuch Als Papa fort war (engl. Outside Over There, 1981) von Maurice Sendak aus dem Jahr 1984 gelten, das der amerikanische Verlag Harper & Row sowohl für Kinder als auch für Erwachse bewarb. Das Buch setzte sich jedoch nur schwer auf dem Buchmarkt durch und entsprach damit der Aussage seines Künstlers, nach der es eine arbiträr gesetzte Trennung zwischen Kinder- und Jugendbüchern gebe, die nicht existent sei (Beckett 2012:3). Der Literaturkritikerin und Journalistin Selma G. Lanes erklärte Sendak zum Erscheinen von Als Papa fort war, dass er eine lange Zeit gewartet habe, „to be taken out of kiddy-book land and allowed to join the artists of America“ (1980:235).

Sven Nordqvist: Petterson und FindusEine Bilderbuchreihe, die im selben Jahr mit Eine Geburtstagstorte für die Katze (schwed. Pannkakstårtan, 1984) ihren Anfang nahm, wurde hingegen bereits kurz nach dem Erscheinen von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen gelesen – und gefeiert. Dies liege daran, dass sie sich nicht wie Als Papa fort war „schwierig, sperrig fremd und rätselhaft“ (Thiele 1987:80) gebe, wie Jens Thiele schreibt. Sie falle nicht „durch die Maschen des Wahrnehmungsnetzes […], weil für sie keine Beurteilungskriterien vorhanden“ (Thiele 1987:80) waren: Die Abenteuer von Petterson und Findus, dem schrulligen alten Tüftler und seinem sprechenden Kater, lesen sich heute infolgedessen in mehr als zehn Bänden, übersetzt in über 40 Sprachen und mit Verkaufszahlen, welche die Grenze von 6 Millionen weit überschritten haben.

Wolf ErlbruchMit Ende der 80er Jahre scheinen jedoch Beurteilungskriterien für Bilderbücher zu entstehen, die der „Norm des Einfachen“ (Thiele 1987:80) nicht entsprechen. Nicht anders ist der Erfolg der Bücher zu erklären, für die Wolf Erlbruch verantwortlich zeichnet und seit 1990 auch immer wieder schreibt. Sowohl thematisch als auch insbesondere ästhetisch entziehen sich diese Bücher herkömmlichen Kriterien, stellen sich dem Bilderbuch als „Ikone[…] bürgerlicher Kindheitskultur“ (Rank & Weinkauff 2004:25) entgegen, wie Erlbruch in einem Interview formulierte. Seine Bilderbücher beschäftigen sich mit dem Tod, der als unscheinbarer Begleiter in Ente, Tod und Tulpe (2007) daherkommt, mit James Joyces Brief an seinen Enkel über buttermilchtrinkende Polizisten in Die Katzen von Kopenhagen (2013) oder mit einem Maulwurf, welcher der Frage nachgeht, wer ihm auf den Kopf gemacht habe.

Das 1989 erschienene Bilderbuch Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat (Werner Holzwarth [Text]) war ein großer internationaler Erfolg – und zwar sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen. Die Gründe dafür macht Beckett im humoristischen, ja Rabelais’schen Umgang (Beckett 2012:15) Erlbruchs mit dem wohl menschlich Profansten aus. Bereits 2000 war das Bilderbuch mehr als eine Million Mal verkauft und in 18 Sprachen übersetzt worden; ein Erfolg, mit dem niemand gerechnet hatte, wie Erlbruch erzählt:

Als das Buch auf den Markt kam, haben sich die Buchhändler quer in die Eingänge ihrer Buchhandlungen gelegt, um die Verlagsvertreter daran zu hindern solchen Schmutz hereinzutragen. Es war gewöhnungsbedürftig. Aber dann haben Kinder ihre Eltern dazu gebracht, das Buch zu kaufen, und progressive Lehrer haben es gar zum Lesestoff in der Schule gemacht und so ist das Buch, als eines der wenigen Kinderbücher, den Weg über die Kinder gegangen und nicht über die Eltern. (Rank & Weinkauff 2004:27)

Literatur und Internetseiten zum Weiterlesen

Im Handbuch Kinder- und Jugendliteratur (2020) liest sich in der ersten Sektion ein Artikel mit dem Titel Crossover-Literatur von Agnes Blümer.

In der Einführung Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in Grundbegriffe der Kinder- und Jugendliteraturforschung (22012) geht Hans-Heino Ewers auf die genannten Begriffe ein und differenziert diese im Kontext von MehrfachadressierungMehrfachadressierung und DoppelsinnigkeitDoppelsinnigkeit. Auch Bettina Kümmerling-Meibauer widmet sich in Kinder- und Jugendliteratur: Eine Einführung (2012b) dem Thema – unter Verwendung des breiter gesetzten Terminus Crosswriting.

Die wichtigsten Monographien stellen Sandra Becketts Crossover Fiction. Global and Historical Perspectives (2009) und Rachel Falconers The Crossover Novel. Contemporary Children’s Fiction and its Adult Readership (2009) dar; mit Bezug auf das Bilderbuch ist insbesondere Becketts Crossover Picturebooks: A GenreGenre for All Ages (2012) zu nennen. In ihrem 2018 erschienenen Buch Crossover. Mehrfachadressierung in Text, Markt und Diskurs arbeitet Lena Hoffmann aus komparatistischer Perspektive „wiederkehrende Charakteristika“ (2018:17) in mehrfachadressierten Texten der Kinder- und Jugendliteratur heraus.

Im Fachlexikon von KinderundJugendmedien.de liest sich ein Überblicksartikel von Agnes Blümer zu den genannten Begriffen mit vielen weiteren Literaturhinweisen.

Exkurs: ComicComic(strip), MangaManga und Graphic NovelGraphic Novel

ComicComic(strip)Das Bilderbuch als solches ist eine BuchgattungGattung – ein publizistisches MediumMedium, das über Bild- und Schrifttexte erzählt (→ Kapitel 2.1 und 2.2); letzteres gilt auch für den ComicComic(strip)(-strip), der jedoch nicht als Medium eingestuft werden kann:

[D]er ComicComic(strip) […] gelangt durch Vermittlung unterschiedlicher druckgraphischer MedienMedium wie z.B. Zeitung, Zeitschrift und […] Bilderbuch an seine Leser, wobei unstreitig ist, dass die jeweilige mediale FormForm […] deutlich erkennbare Konsequenzen für dessen Struktur nach sich zieht. Diese Feststellungen lassen sich dahingehend verallgemeinern, dass wohl jeder in Buchform erscheinende Comic […] ein Bilderbuch […] darstellt. (Dolle-Weinkauff 2020:309)

ComicsComic(strip) entstanden als ursprünglich rein humoristische Zeitungsstrips um die Wende zum 20. Jahrhundert in der nordamerikanischen Presse; über die Strips sollten neue Leserkreise erschlossen werden, deren Sprachkenntnisse begrenzt waren und die besser durch Bilder erreicht wurden (Dittmar 2011:21).

Ab 1907 gab es täglich ComicstripsComic(strip), die nur aus wenigen Bildern bestanden und kleine Geschichten mit überschaubarem Figurenpersonal enthielten. Schon bald boten auch große Syndikate, wie z.B. das King Feature Syndicate, den Zeitungen Daily Strips an – hierzu wurde deren Erscheinungsbild standardisiert, um bei der Satzplanung ohne Sichtung des jeweiligen Inhalts berücksichtigt werden zu können (Grünewald 2010a:4).

Merkmale des ComicsComic(strip)Nicht zuletzt aus dieser Normierung heraus entwickelten und etablierten sich die spezifischen Merkmale des ComicsComic(strip): Hierzu zählt zum einen das LayoutLayout als Arrangement der im Format aufeinander abgestimmten EinzelbilderEinzelbild, der so genannten Panels. Das Panel wird von einer Randlinie oder Habitus begrenzt, der RaumRaum zwischen den Panels stellt den Hiatus oder Gutter (dts. Rinnstein) dar.

Charakteristisch sind weiterhin die Sprech- und Denkblasen, über die der Schrifttext transportiert wird; der Denkblase kommt dabei eine besondere Funktion zu:

The word balloon, by externalizing thoughts, makes visible the (fictional!) inner world of represented figures, externalizing their inner lives, making them transparent to readers. (Carrier 2000:73)

In diese Merkmalskategorie gehört auch der Blocktext oder -kommentar – ein Textkasten, über den weitere Informationen gegeben werden und der zusätzliche Bezüge auf nicht dargestellte (oder auch nicht darstellbare) Themen und Konzepte öffnet (Dittmar 2011:110).

Innerhalb und außerhalb dieser Blasen und Blöcke finden sich rhetorische MittelMittel, rhetorische wie MetaphernMetapher und OnomatopoetikaOnomatopoetikum, die im ComicComic(strip) eine spezifische Gestaltung in FormForm von Piktogrammen und Soundwords erfahren.

Ein weiteres Merkmal ist die Gestaltung und Darstellung von Bewegung im ComicComic(strip) durch Bewegungslinien, die im englischen Sprachraum als Speed Linesoder Action Lines bezeichnet werden. Diesen Linien kommen „fast ein Eigenleben und eine körperliche Präsenz“ (McCloud 2001:119) zu; sie überhöhen Vorgänge dramatisch und sind eine Besonderheit des amerikanischen Comics (McCloud 2001:120).

Einfluss auf das BilderbuchÜber diese Merkmale lässt sich der ComicComic(strip)(-strip) differenzieren; viele dieser haben seit den 70er Jahren auf moderne und zeitgenössische Bilderbücher Einfluss genommen (Lange & Ziesenis 2011:243, Dingens 1986). Als Künstler derartiger Bilderbücher können – unter vielen anderen – Raymond Briggs, Janosch, Jörg Müller, Maurice Sendak, Posy Simmonds und Friedrich Karl Waechter genannt werden (Dolle-Weinkauff 2020:329).

Maria Linsmann und Martin Schmitz konstatieren, dass nicht nur das LayoutLayout, die Sprech- und Denkblasen, die OnomatopoetikaOnomatopoetikum und die Bewegungslinien Eingang in das Bilderbuch gefunden haben, sondern auch filmspezifische Charakteristika, die sie dem ComicComic(strip) zuschreiben (Linsmann & Schmitz 2009).

Als Beispiel dafür kann David Wiesners Strandgut von 2013 (engl. Flotsam, 2006) gelten. In diesem Bilderbuch, das ohne Schrifttext auskommt, verwendet Wiesner zum einen (Kamera-)Techniken, die dem Film entnommen sind, wie der Zoom oder typische Perspektiven wie die AufsichtAufsicht. Zum anderen folgt das LayoutLayout der ComicComic(strip)-Gestaltung als solcher durch das Arrangement der EinzelbilderEinzelbild in Panels:

Abb. 2.1 bis 2.7: Strandgut (Wiesner 2013:11)1

Die Panels (Abb. 2.1 bis 2.7) zeigen, wie ein Junge ungeduldig vor einem Fotolabor auf einer Bank auf die Entwicklung des Films wartet, den er in einer Kamera am Strand gefunden hat: Das Verstreichen der erzählten ZeitZeit, erzählte wird erreicht durch die sich wiederholende Abbildung derselben Umgebung im EinzelbildEinzelbild, welcher die Figur des Jungen in verschiedenen Positionen und Körperhaltungen gegenübergestellt wird. Diese Darstellung eines zeitlichen Verlaufs sowohl durch die Gestaltung von statischen und dynamischen Elementen als auch durch die Hiatus als äußere LeerstellenLeerstelle, welche der Betrachter füllt, sind Verweise auf den ComicComic(strip) und den Film.

MangaMangaUnter dem Begriff MangaManga (dts. zwangloses, ungezügeltes Bild) werden japanische ComicsComic(strip) subsumiert. Manga ist, aus westlicher Perspektive, ein allgemeiner Sammelbegriff für alle Spielarten des japanischen Comics; in Japan gehören hingegen auch Karikaturen und Cartoons zum Manga (Schikowski 2014:290f.). Die Entstehung des Manga mit seiner charakteristischen Figurengestaltung ist eng verbunden mit dem japanischen Zeichner Osamu Tezuka, dem „Manga no Kami-sama“, dem Gott des Manga. Er schuf mit Werken wie u.a. der 2001 in Deutschland erschienenen Serie Kimba, der weiße Löwe (jap. Janguru Taitei, 1950–1954) „Schlüsseltext[e]“ (Ewers 2007) des kinder- und jugendliterarischen Manga.

Graphic NovelGraphic Novel„Mehr oder minder lange, erzählerisch ambitionierte ComicComic(strip)-Publikationen“ (Dolle-Weinkauff 2020:327) werden seit 1978 als Graphic NovelsGraphic Novel bezeichnet: Der US-amerikanischer Zeichner Will Eisner veröffentlichte in diesem Jahr vier kurze Bildgeschichten, die er in einem Band mit dem Titel A Contract with God (1978) herausbrachte. Auf dem Titelblatt und im Vorwort bezeichnete Eisner dieses Werk als Graphic Novel. Wenngleich er auch nicht als Urheber des Begriffes gilt, prägte er diesen maßgeblich.

Für Eisner lag die Zukunft der Graphic NovelGraphic Novel in der Auswahl von relevanten Themen und der Innovation des Ausdrucks, wie er 1985 in ComicsComic(strip) & Sequential Art schrieb (Eisner 2006:141). Diese Worte deuten auf das Verständnis der Graphic Novel als anspruchsvollen Comic für erwachsene Rezipienten hin, wenngleich sich in Deutschland durchaus ansehnliche Ausläufer für Kinder und Jugendliche entwickelt haben und entwickeln. Darunter finden sich besonders AdaptionenAdaption von bekannten Stoffen: Im Carlsen Verlag adaptierte Flix (Felix Görmann) beispielsweise Faust (2010) und Don Quijote (2012), im Metrolit-Verlag erschien 2015 Hans Falladas Der Trinker von Jakob Hinrichs.

Literatur und Internetseiten zum Weiterlesen

In Kinder- und Jugendliteratur – Ein Lexikon (1995–2017) findet sich ein Überblicksartikel zum ComicComic(strip) von Dietrich Grünewald (2010b). Hier zu nennen sind auch die Comic-Lexika von Andreas C. Knigge (1990) und Marcel Feige (2004), wenngleich sie keine wissenschaftlichen Fachlexika darstellen.

In Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. – ein Handbuch (52020) liest sich ein Beitrag von Bernd Dolle-Weinkauff (2020), der nicht nur kenntnisreich auf den ComicComic(strip), sondern auch auf das MangaManga und die Graphic NovelGraphic Novel eingeht. Im Handbuch Kinder- und Jugendliteratur (2020) widmet sich Felix Giesa dem Comic. Eine gelungene Einführung in das Thema ist das Buch Comicanalyse (2019), herausgegeben von Stephan Packard, Andreas Rauscher, Véronique Sina u. a. Scott McClouds Comics richtig lesen (2001) stellt ein Standardwerk in dieser Hinsicht dar – und präsentiert sich dabei selbst als Comic.

Im Sammelband Die Welt im Bild erfassen. Multidisziplinäre Perspektiven auf das Bilderbuch (2020), herausgegeben von Corinna Norrick-Rühl, Tobias Kurwinkel und Philipp Schmerheim, finden sich zwei Beiträge von Christian A. Bachmann und Felix Giesa, die sich mit Grenzgängen zwischen Bilderbuch und Comic auseinandersetzen.

Ein von Caroline Roeder herausgegebenes Heft der Fachzeitschrift kjl&m der Arbeitsgruppe Jugendliteratur und MedienMedium (AJuM) geht auf den ComicComic(strip) in der Kinder- und Jugendliteratur (2009) ein; in diesem Heft befindet sich weiter ein Beitrag zum Einfluss des Comics auf das Bilderbuch von Maria Linsmann und Martin Schmitz. 2015 hat kjl&m auch ein Heft der Graphic NovelGraphic Novel gewidmet, unter Herausgabe von Ricarda Dreier.

Eine Datenbank zur Comicforschung, die auch Forschungsliteratur zu MangaManga und Graphic NovelGraphic Novel enthält, ist im World Wide Web unter https://www.bobc.uni-bonn.de abzurufen. Die Bonn Online Bibliography of Comics Research (BOBC) stellt einen empfehlenswerten Ausgangspunkt für die Literaturrecherche dar.

Auf KinderundJugendmedien.de findet sich eine umfassende Bibliographie zum ComicComic(strip), die fortlaufend aktualisiert wird.

2.3 Von Sach- und ErzählbilderbüchernErzählbilderbuch, realistischenErzählen, realistisches und fantastischen Bilderbüchern sowie elektronischen ErweiterungenErweiterung, elektronische: Beschreibungs- und Ordnungsversuche

Das Angebot an Bilderbüchern ist breit gefächert. Um dies festzustellen, genügt ein kurzer Blick in eine imaginäre (Kinder-)Buchhandlung: Neben Bilderbüchern, in denen Figuren in Kindern vertrauten Umgebungen kleine und große Abenteuer erleben, stehen Bücher, die von feuerspeienden Drachen und bösen Märchenhexen handeln. Einen Regalboden weiter finden sich SachbilderbücherSachbilderbuch, die den Wald, den Weltraum und das Wetter in bunten Bildern kindgemäß erklären. Ein ganzes Regal enthält Bücher, die auf unterschiedlichste Weise zum Spielen einladen; der Fußboden ist ihrer Größe wegen den großformatigen und pappeschweren WimmelbüchernWimmel(bilder)buch vorbehalten. Diese Aufzählung folgt keiner Ordnung. Um eine derartige vorzunehmen, werden in der wissenschaftlichen Beschäftigung häufig Typologien erstellt, die mit Begriffen wie u.a. GattungGattung und GenreGenre operieren.

LiteraturgattungGattung und BilderbuchGattungGattung ist ein theoretischer Begriff für Textgruppenbildungen, die diachronDiachronie und synchronSynchronie in Opposition zueinander stehen (Hempfer 2007:651); als literarische Gattungen werden in den Literaturwissenschaften historische Textgruppen wie z.B. Roman, Lied oder Tragödie bezeichnet, diese können weiter in Untergruppen (beispielsweise Briefroman, Ode, Tragikomödie) differenziert werden. Wenngleich das Bilderbuch immer wieder auch als literarische Gattung beschrieben wurde und wird – so z.B. in Hans A. Halbeys Monographie zum Bilderbuch von 1997 – stellt es jedoch keine solche dar.

GroßgattungGroßgattung und BilderbuchIm Kommentar zu seinem Gedichtzyklus West-östlicher Divan führt Johann Wolfgang von Goethe verschiedene dieser literarischen GattungenGattung samt ihrer Unterformen als „Dichtarten“ auf und erklärt, dass es schwierig sei, „dergleichen methodisch zu ordnen“ (Goethe 1994a:187). Als übergreifendes Ordnungsprinzip bietet er darauffolgend „die drei echte[n] NaturformenGroßgattung der Literatur“ (Goethe 1994a:187) an, auf die unter dem Begriff der Gattung vor allem in der Deutschen Literaturwissenschaft immer wieder rekurriert wird: EpikEpik, LyrikLyrik und DramatikDramatik.

Diese drei NaturformenGroßgattung oder ‚Großgattungen‘, „die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde“ (Goethe 1994a:187), wie Goethe sie fundamentalpoetisch charakterisiert, kann das Bilderbuch in sich aufnehmen (Abraham & Knopf 2019:3): In Bilderbüchern wird episch erzählt und lyrischLyrik in Versen und Reimen gedichtet; auf Art und Weise eines dramatischen TextesDrama können Bilderbücher auch die Basis, das virtuelle Kunstwerk, für die Realisierung im theatralen RaumRaum liefern.

BuchgattungGattung und BilderbuchWeder der Begriff der literarischen GattungGattung noch derjenige der GroßgattungGroßgattung kann dazu verwendet werden, Ordnung in die Bilderbuchunordnung zu bringen. Auch der Gattungsbegriff der Buchwissenschaft eignet sich nicht zur Typologisierung des vielfältigen Bilderbuchangebots; mit der Bestimmung als Buchgattung (Weinkauff & Glasenapp 2018:163) beschreibt er das Bilderbuch jedoch als MediumMedium – und integriert damit die qualitative Perspektive auf die Bild-Text-InterdependenzBild-Text-Interdependenz, über welche das Bilderbuch definiert und vom illustrierten Kinder- und Jugendbuch abgegrenzt werden kann (→ Kapitel 2.1).

Genre und BilderbuchEin ähnlicher Ordnungsbegriff wie derjenige der GattungGattung ist das GenreGenre: Erfährt der Begriff in der Literaturwissenschaft wenig Beachtung und wird zumeist synonym für denjenigen der Gattung verwendet, stellt sich dies insbesondere in der Filmwissenschaft anders dar. Hier formieren Filmgattungen Genres, die als „Geschichten generierende Systeme“ über „inhaltlich-strukturelle Bestimmungen“ (Hickethier 2012:205f.) Gruppen von Spielfilmen ausbilden. Der Name des Genres hebt dabei jeweils ein Gruppierungsmerkmal hervor, wobei diese Merkmale auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sein können und damit beispielweise thematische, kulturelle, zeitliche oder topographische Momente in den Vordergrund stellen (Schweinitz 2011:289).

Ähnlich dem Begriff der GattungGattung wird derjenige des GenresGenre in der Bilderbuchforschung unsystematisch verwendet; so wird das Bilderbuch in verschiedenen Publikationen als Genre der Kinder- und Jugendliteratur genannt, in anderen Veröffentlichungen werden hingegen die unterschiedlichen Erscheinungsformen und -formate als Genre bezeichnet.

Beschreibungs- und OrdnungsversucheGrundsätzlich können Bilderbücher auf erster Ebene in Erzähl- und SachbilderbücherSachbilderbuch typologisch differenziert werden. Erstere bezeichnen dabei fiktionaleFiktionalität (von lat. fingere: bilden, erdichten, vortäuschen) Bilderbücher – sie erzählen von Geschehen, die keinen Wirklichkeitsbezug, keine Referenzialisierbarkeit beanspruchen und demnach weder als wahr noch als falsch gelten können. Letztere teilen demgegenüber als faktuale (von lat. factum: Geschehen, Tatsache) Sachbilderbücher Vorgänge mit, die einen Anspruch auf Referenzialisierbarkeit, auf Verwurzelung in einem empirisch-wirklichen Geschehen erheben (Martínez & Scheffel 2019:16): Sie informieren, wie Klaus Doderer schreibt,

ihre kindlichen Leser über Dinge, Ereignisse oder Zusammenhänge dieser Welt in einer solchen Weise, daß durch den Einsatz besonderer sprachlicher Mittel und kompositorischer Kräfte der Leser gleichzeitig unterhalten und belehrt wird. (Doderer 1961:14)

Die Unterscheidung zwischen FiktionalitätFiktionalität und Faktualität, zwischen ErzählbilderbuchErzählbilderbuch und SachbilderbuchSachbilderbuch gilt auch dann, wenn Figuren, Geschehnisse, SchauplätzeSchauplatz und Daten einer fiktionalen Erzählung der Realität entlehnt sind: In Blumkas Tagebuch (2011) von Iwona Chmielewska werden zwölf Kinder aus dem Waisenhaus von Janusz Korczak vorgestellt; der polnische Reformpädagoge ist eine historisch reale Person, dennoch zählt dieser Text zum erzählenden Bilderbuch. Der Grund dafür liegt in der Fiktionalisierung der Figuren und ihrer Biographien, in der Anreicherung und Gestaltung des sich tatsächlich Ereigneten. In Anlehnung an Ekkehard und Herbert Ossowski kann Blumkas Tagebuch als SacherzählbilderbuchSacherzählbilderbuch bestimmt werden – als Erzählbilderbuch, das „sich im Rahmen einer Erzählung mit einer Sache“ (2020:377) befasst. Hieran wird deutlich, dass die Kategorien ineinander übergehen und Mischformen bilden können; insbesondere im Bilderbuch kommen derartige FormenForm häufig vor.

Realistische und fantastische BilderbücherDas erzählende Bilderbuch kann auf zweiter Ebene nach der Erzählform in realistische und fantastischeBilderbücherErzählen, realistisches klassifiziert werden: Letztere unterscheiden sich von den realistisch erzählenden Bilderbüchern insofern, als ihre Handlungen in fiktiven Welten spielen, in denen Naturgesetze verletzt werden (Durst 2010:29). Diese maximalistische Definition hat die russisch-schwedische Anglistin Maria Nikolajeva um weitere Merkmale ergänzt: „[T]he presence of magic, that is, magical beings or events, in an otherwise realistic world, the sense of the inexplicable, of wonder“ (Nikolajeva 1988:12).

Zwei-Welten-ModellZwei-Welten-ModellDas „wesentliche Charakteristikum“ (Rank 2020:175) fantastischer Kinder- und Jugendliteratur ist nach Nikolajeva jedoch das Vorhandensein von zwei Welten, einer realistischenErzählen, realistischesPrimärweltPrimärwelt und einer fantastischen SekundärweltSekundärwelt. Dieses Zwei-Welten-ModellZwei-Welten-Modell geht in seiner Begrifflichkeit auf den Essay On Fairy-Stories von J.R.R. Tolkien aus dem Jahr 1947 zurück; hiernach erfährt es verschiedene Variationen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen durch u.a. Göte Klingberg oder Wolfgang Meißner. Das Modell, auf das hier zurückgegriffen wird, hat Nikolajeva zu einem Interpretationsrahmen ausdifferenziert, der speziell auf die Kinder- und Jugendliteratur zugeschnitten ist (Rank 2020:175); damit bietet es sich für die Analyse von fantastischen ErzählbilderbüchernErzählbilderbuch an.

Die geschlossene WeltDie zwei Welten des Modells sind nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten aufeinander bezogen. Man unterscheidet hierbei drei mögliche Konfigurationen der SekundärweltenSekundärwelt: die geschlossene, die offene und die implizierte Welt.

Abb. 2.8: Die geschlossene Welt

Die geschlossene Welt ist eine SekundärweltSekundärwelt ohne jeglichen Kontakt mit der PrimärweltPrimärwelt; sie ist in Abbildung 2.8 größer als die Primärwelt dargestellt, da in ihr die Handlung spielt. Nichtsdestotrotz ist die Primärwelt von Bedeutung: „[…] the primary world exists outside the text. We are watching it as if through a window without being able to enter it“ (Nikolajeva 1988:36). Ein Beispiel für eine derartige Sekundärwelt findet sich in Ute Krauses Bilderbuch Oskar und der sehr hungrige Drache (2007): Die Handlung spielt in einem kleinen, von hohen Bergen umgrenzten Dorf, dessen Fachwerkhäuser durch ihre Bauweise an das späte Mittelalter erinnern. Diese closed world besitzt eine eigene Geographie und folgt eigenen Gesetzen (Nikolajeva 1988:37), schließlich muss dem unlängst erwachten Drachen eine „hübsche Prinzessin zum Fraß“ (Krause 2007:1) vorgeworfen werden. Die Prinzessinnen sind jedoch aus dem Dorf geschafft worden und daher nehmen „die Leute das Nächstbeste […] – ein Kind“ (Krause 2007:1). Oskar, so der Name des Auserwählten, wird nicht vom Drachen gefressen, sondern wird am Ende sein Freund – der Weg dahin ist von kulinarischer Überzeugungsarbeit gezeichnet: Der kleine Junge kocht zunächst, um sich märchengleich für das bevorstehende Drachenmahl zu mästen, Spargelcremesuppe und zartes Zanderfilet, junge Kartoffeln und Crêpe. Der Drache probiert schließlich das Menschenessen – und lässt Oskar aufgrund seiner Kochkunst am Leben. Die fantastische Welt dieses Bilderbuchs stellt sich konsistent für und in sich als Anderswelt dar; sie verweist aber in unterschiedlicher Hinsicht auf die realistische PrimärweltErzählen, realistisches und bezieht sich damit auf die Erfahrungen des Lesers: „A secondary world which has no reference whatsoever for the reader would be meaningless“ (Nikolajeva 1988:37).

Abb. 2.9: Die offene Welt

Die offene WeltDie offene Welt ist eine SekundärweltSekundärwelt mit Kontakt zur PrimärweltPrimärwelt, die Figuren reisen für gewöhnlich aus der realistischenErzählen, realistisches Primär- in eine fantastische Sekundärwelt. Die Reise ist dabei linear oder zirkulär angelegt; in den meisten fantastischen Bilderbüchern, deren Handlungen auf dieser Konfiguration basieren, reisen die Figuren zirkulär – und kehren damit am Ende in ihr sicheres Zuhause zurück. Ein klassisches Beispiel von 1967 ist Maurice Sendaks Wo die wilden Kerle wohnen (engl. Where the Wild Things Are, 1963): Nach seinen Abenteuern bei den wilden Kerlen, die er zähmt, indem er in ihre gelben Augen starrt, „ohne ein einziges Mal zu zwinkern“ (Sendak 1967:20), segelt Max zurück in sein Zimmer, wo das warme Essen auf ihn wartet.

Als dritte Möglichkeit der fantastischen Reise nennt Nikolajeva die Schleife, eine sich wiederholende zirkuläre Reise, die am Handlungsende zumeist ein lineares Finale nimmt. Wenn Ulla ihren Besucher in Ein Buch für Bruno (1997) von Nikolaus Heidelbach am Ende auffordert „einfach mal wieder“ (Heidelbach 1997:29) zu kommen, um ihm zu zeigen, wie sie über das blaue Zauberbuch in die SekundärweltSekundärwelt gelangt sind, findet die Schleife als Muster der fantastischen Reise seine Erwähnung.

Fantastisches SchwellenmotivSchwellenmotiv, fantastischesDas Buch in Heidelbachs Bilderbuch ist ein fantastisches SchwellenmotivSchwellenmotiv, fantastisches (Kurwinkel 2014:309), ein Artefakt, das als Schleuse zwischen Primär- und SekundärweltSekundärwelt fungiert. Schwellenmotive können in materielle Schwellenmotive wie das Zauberbuch, wie Höhlen, Bilder, Spiegel, magische Ringe oder fliegende Pferde und immaterielle Schwellenmotive wie Träume, Zeitsprünge und der Tod differenziert werden (Kurwinkel 2014:309). Häufig fungieren Schwellemotive zudem als PageturnerPageturner, als Elemente, die das Umblättern in einem Bilderbuch motivieren (→ Kap. 3.5.4).

Der Traum als immaterielles Schwellenmotiv führt einen kleinen Jungen in Free Fall (1988) von David Wiesner in eine fantastische (Traum-)Welt, in der er gegen einen Drachen kämpft, wie Gulliver in Liliput auf menschliche Winzlinge trifft oder auf einem Blatt durch die Lüfte fliegt. Diese Erlebnisse und Begegnungen sind beeinflusst von den Dingen, die ihn in der Eigenwelt umgeben – und die er nach dem Erwachen in seiner unmittelbaren Nähe wiedererkennt.

Abb. 2.10: Die implizierte Welt

Implizierte WeltDie implizierte Welt ist eine SekundärweltSekundärwelt, die in der PrimärweltPrimärwelt präsent ist – in FormForm einer Figur, eines fantastischen Gegenstands oder MotivsMotiv (siehe auchSchwellenmotiv) (Rank 2020:176). Eine derartige Figur ist Mischa aus dem 1996 veröffentlichten, gleichnamigen Bilderbuch (franz. Mitch, 1989) von Grégoire Solotareff (Text) und Nadja (Bild). Mischa ist Bastians Teddybär und wird lebendig, indem sein Besitzer aus Versehen – „Patsch! Patsch! Patsch!“ – dreimal in die Hände klatscht (Solotareff & Nadja 1996:6). Dass Spielzeuge hierdurch aus ihrem Spielzeugschlaf geweckt werden, ist das Geheimnis einer weiteren fantastischen Figur, eines bösen Zwerges, dem alle Spielzeuge kraft seiner Macht gehorchen müssen. Doch Mischa verrät seinem besten Freund und Besitzer das Geheimnis, worauf Bastian zum Herrn im Spielzeugland wird.

MärchenMärchenSprechende Spiegel, Figuren wie Zwerge oder ein verzauberter Frosch – auch in den (Zauber-)Märchenbilderbüchern1Märchen werden die Naturgesetze unserer Welt verletzt, das Wunderbare ist ihnen eingeschrieben: Der maximalistischen Definition entsprechend zählen diese Texte damit zur fantastischen Literatur, zu den fantastischen Bilderbüchern. Sie lassen sich jedoch durch Merkmale wie die Eindimensionalität ihrer Handlungen und Figuren oder stereotype SchauplätzeSchauplatz von fantastischen Texten unterscheiden. Aus der FigurenzeichnungFigurencharakterisierung oder -zeichnung, die eine Psychologisierung nicht zulässt, erklären sich die fehlenden Emotionen der Handlungsträger bei der Begegnung mit dem Wunderbaren, was sich in der fantastischen Literatur anders darstellt: In dieser staunen Protagonisten wie Antagonisten, wundern und erschrecken sich angesichts der fantastischen Elemente, mit denen sie konfrontiert werden.

Science FictionScience FictionPrimär- und SekundärweltSekundärwelt sind ebenfalls Strukturmoment von Bilderbüchern, deren Geschichten der Science FictionScience Fiction zugehören, jener „in Prosa gekleideten Prognostik der Zukunft“ (Haller 2020:349), wie Hugo Gernsbach als Begriffsbegründer 1929 schrieb. Entsprechend erkundet Marie gemeinsam mit ihrem Chamäleon Mr. Hobbes in Die fantastische Reise mit einem wundersamen Gefährt (2012) von Robert Göschl fantastische Sekundärwelten wie z.B. den Mond, um nach ihrem verlorenen Bruder zu suchen. Sie erreicht die Anderswelt des Mondes aus der PrimärweltPrimärwelt heraus mit Hilfe von „mingo“, einem Gefährt, das als Rakete fungiert. Ein derartiges SchwellenmotivSchwellenmotiv, fantastisches kann als Kriterium zur Einordnung von und DifferenzierungDifferenzierung zwischen Science Fiction und fantastischer Literatur dienen, weil es innerhalb eines wissenschaftlich-technischen Bezugsrahmens steht und eine Art rationaler Erklärung für die irrationalen Ereignisse bietet.

SpielbilderbücherGestalterische Sondertypen des Bilderbuchs (Ries 1992:46–68) finden sich auf erster Ebene sowohl unter den Erzähl- als auch den SachbilderbüchernSachbilderbuch; es handelt sich hierbei um Spiel- oder BeschäftigungsbilderbücherSpiel- oder Beschäftigungsbilderbuch, die durch

ihr Äußeres, durch ein ungewöhnliches Format, durch Beilagen, Papierfaltungen, Durchbrüche, Spiegel, Klappen, Pläne, kinetische Objekte, Ziehlaschen etc. (Schürmann 1994:42)

charakterisiert sind. Zu diesen Bilderbüchern zählen beispielsweise Lochbilderbücher wie Eric Carles Die kleine Raupe Nimmersatt (engl. The Very Hungry Caterpillar, 1969), Fühlbilderbücher wie Mein kleiner Streichelzoo (2010) von Sandra Grimm (Text) und Ana Weller (Bild), Aufklapp- und Zieh-, Pop-up- und Aufstell- ebenso wie Puzzlebilderbücher und das wie eine Ziehharmonika gefaltete Leporello, das auseinandergezogen und wieder zusammengefaltet werden kann.

In diese Aufzählung gehören auch die Wimmelbücher, sofern es sich um Such-Wimmelbücher handelt. Der bekannteste Künstler dieser ist der Brite Martin Handford, der mit der Reihe Wo ist Walter in den 80er Jahren weltweit bekannt wurde. Das Prinzip der Bücher ist einfach: Eine ausgewählte Figur oder ein Objekt will im pluriszenischPluriszenik (→ Kapitel 3.5.1.1) wimmelnden Bildraum gefunden werden – wie in Mein großes Spielplatz-WimmelbuchWimmel(bilder)buch (2014) von Ali Mitgutsch, in dem die zu suchenden Elemente auf jeder Doppelseite in einer Vignettenleiste abgebildet sind. Das Spiel ist damit regelbasiert und determiniert: Art und Weise des Spiels, Spielraum und -elemente sind festgelegt, wenngleich z.B. die Reihenfolge der zu suchenden Elemente frei gewählt werden kann.

Elektronische ErweiterungenAuch diejenigen Bilderbücher, die elektronische ErweiterungenErweiterung, elektronische aufweisen, gehören zu den Spiel- bzw. BeschäftigungsbilderbüchernSpiel- oder Beschäftigungsbilderbuch, die auf erster Ebene zumeist den SachbilderbüchernSachbilderbuch zugeordnet werden. Dazu zählen beispielsweise Klang- und Stimm(bilder)bücher wie Wer brüllt denn da? (2011) von Anna Taube (Text) und Günther Jakobs (Bild), die das Bilderbuch mit einem Tonmodul erweitern; Musikbilderbüchern wie Leise rieselt der Schnee (2015) von Silke Leffler ist eine Musik-CD beigegeben, welche – dem Prinzip der Klangbilderbücher folgend – die visuelle RezeptionRezeption um eine auditive Ebene ergänzen.

Im Herbst 2010 erschien mit dem tiptoi von Ravensburger eine weitere elektronische ErweiterungErweiterung, elektronische des Bilderbuchs: Der tiptoi ist, wie ähnliche Produkte, ein Lesestift. Tippt der Leser mit der Stiftspitze auf ausgezeichnete Stellen im Bilderbuch, werden über einen digitalen Code, der aus einem Raster aus kleinen Punkten besteht, Audiodateien abgespielt, die vorher über das Internet per USB-Kabel auf den Stift geladen wurden. Die Audiodateien enthalten nicht allein den Schrifttext des Bilderbuchs, sondern sind darauf ausgelegt, zusätzliche Informationen zu liefern. Diese reichen wie bei den Klangbilderbüchern von Tierstimmen über einen Gitarrenarpeggio in Die monsterstarke Musikschule (2013) bis hin zur Aufforderung, bestimmte Dinge auf der Bilderbuchseite zu finden. Aktuelle Versionen (2022) des Lesestifts ermöglichen die Aufnahme und das Abspielen von Geräuschen und Sprache – wie beim Konkurrenzprodukt BOOKii (2018) von Tessloff, das als offenes System entwickelt wurde; entsprechend werden mittlerweile auch von anderen Verlagen BOOKii-Produkte angeboten.

Einem ähnlichen, jedoch über die medialen Möglichkeiten von tiptoi und anderen Lesestiften hinausgehenden Konzept folgte Carlsen mit LeYo! von 2014 bis 2016 – die Rolle des Lesestifts nahmen dabei das Smartphone oder das Tablet ein; mit Hilfe einer auf den Geräten installierten App konnten Kinder ab drei Jahren die Bilderbuchinhalte akustisch, visuell und spielerisch erschließen.

Ähnlich funktioniert SuperBuch, das maßgeblich von der Oetinger Verlagsgruppe in Kooperation mit verschiedenen deutschen Kinderbuchverlagen entwickelt wurde. Auch hier braucht es ein Smartphone oder eine App, auf dem die sog. Tigerbooks-AppApp installiert ist. Mit Hilfe der App werden die Bilder eines SuperBuchs „zum Leben erweckt“ und um „3D-Szenen, Sounds, Animationen, Lese- und Lern-Spiele und viele weitere Funktionen“ erweitert, wie Till Weitendorf in einem Interview erklärt (Businessinsider 2016).

Das Prinzip von LeYo! und SuperBuch ist die Erweiterung der Realität um digitale Inhalte, was als Augmented Reality bezeichnet wird.

Elektronische Erweiterungen als RemediationenRemediationDigitale elektronische ErweiterungenErweiterung, elektronische sind RemediationenRemediation analoger Erweiterungen von Spiel- bzw. BeschäftigungsbilderbüchernSpiel- oder Beschäftigungsbilderbuch wie Das magische Zauberlupenbuch von Agathe Demois (Text, Bild) und Vincent Godeau (Text, Bild) aus dem Jahr 2015 (frz. La grande traversée, 2014). Durch den Blick einer Zauberlupe mit roter Folie können die Betrachter in diesem Buch verborgene Elemente in den Wimmelbildern entdecken: So wird aus dem Baum ein Riesenrad und so geben die Mauern eines Hochhauses den Blick auf die darin lebenden Menschen frei. Dieses Abrufen von zusätzlichen Informationen, dieses Erzählen von Geschichten hinter den Geschichten ist das Prinzip von Lupen und Folien wie Lesestiften; letztere stellen sich damit als eine digitale Version der analogen Erweiterung dar, als „the representation of one medium in another“ (Bolter & Grusin 1996:339), wie Jay David Bolter und Richard Grusin das Phänomen der Remediation definiert haben.

Literatur und Internetseiten zum Weiterlesen

Orientierung zu den Begriffen GattungGattung und GenreGenre vermitteln die Beiträge im Standardwerk der Literaturwissenschaft, dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (Hempfer 2007) und im Metzler Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie (Wenzel 52013), das von Ansgar Nünning herausgegeben wird. Den Genre-Begriff konturiert Jörg Schweinitz in seinem Artikel in Thomas Koebners Reclams Sachlexikon des Films (Schweinitz 32011). Auch zur Unterscheidung von faktualer und fiktionalerFiktionalität Literatur bieten sich die entsprechenden Einträge im Reallexikon an.

In Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch (52020) liest sich ein Beitrag zum Sachbuch von Herbert Ossowski, im Handbuch der Kinder- und Jugendliteratur (2020) von Nikola von Merveldt. Speziell auf das Sachbilderbuch geht von Merveldt im Beitrag Informational Picturebooks im Routledge Companion to Picturebooks (2018) ein. In seinem Beitrag Sachbilderbuch (2022) greift Peter Rinnerthaler u. a. auf die Arbeiten Ossowskis und von Merveldt zurück – und liefert einen kompilatorischen Überblicksartikel nebst Modellanalyse, der u. a. eine Typologie nach Ordnungsprinzipien entwickelt.

Im Lexikon Kinder- und Jugendliteratur (1995–2017) widmet sich Gerhard Haas in einem Beitrag der Begriffsdefinition und -geschichte der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur, dabei geht er auch auf das Bilderbuch ein. Der Artikel von von Hadassah Stichnothe im Handbuch der Kinder- und Jugendliteratur (2020) bietet eine Einführung mit Blick auf das Zwei-Welten-ModellZwei-Welten-Modell.

Zum Spielbilderbuch liest sich im Internet eine Dissertation mit dem Titel Das Spielbilderbuch. Ästhetische FormenForm und Chancen frühkindlicher Förderung (2012) von Tamara Al Chammas. Der Sammelband Bewegungsbücher. Spielformen, Poetiken, Konstellationen (2016), herausgegeben von Christian A. Bachmann, Laura Emans und Monika Schmitz-Emans, beinhaltet verschiedene Beiträge zu Spiel- und BeschäftigungsbilderbüchernSpiel- oder Beschäftigungsbilderbuch aus theoretischen, poetologischen sowie historischen Gesichtspunkten.

Auf digitale elektronische Erweiterungen wie tiptoi, LeYo! und SuperBuch gehen Julia Knopf und Rebecca Jakobs im Praxisband von BilderBücher (2019), herausgegeben von Julia Knopf und Ulf Abraham, ein.

Exkurs: Mediale Entgrenzungen: AdaptionenAdaption des Bilderbuchs

Mediale EntgrenzungDie Entwicklung des Bilderbuchs ist gekennzeichnet durch die Überschreitung von ästhetischen, erzählerischen und buchgestalterischen Limitierungen, wie sie sich noch in der engen Definition des Bilderbuchs von Horst Künnemann und Helmut Müller finden (→ Kapitel 2.1). Die mit dieser Entwicklung einhergehenden Prozesse, Durchdringungen, Überlagerungen und schließlich Erscheinungsformen hat Jens Thiele mit dem Begriff der Entgrenzung charakterisiert (Thiele 2003a:203).

Filmische AdaptionenAdaption von Bilderbüchern wie beispielsweise der Kurzfilm von Julia Donaldsons (Text) und Axel Schefflers (Bild) Der Grüffelo (engl. The Gruffalo, 1999), den Max Lang und Jakob Schuh für BBC und ZDF besorgten, oder die Umarbeitung eines Bilderbuchs in ein enhanced eBookeBook können, an Thieles Begriff angelehnt, als mediale EntgrenzungenEntgrenzung, mediale bezeichnet werden. Derartige Entgrenzungen sind medientheoretisch definiert; sie werden bestimmt durch die Überschreitung der medialen Grenze des Bilderbuchs und den Wechsel von einem MediumMedium in ein anderes.

MedienwechselMedienwechsel und MedienbegriffIrina Rajewsky definiert diesen MedienwechselMedienwechsel aus Perspektive der IntermedialitätsforschungIntermedialität als „Transformation eines medienspezifisch fixierten Produkts bzw. Produkt-Substrats in ein anderes, konventionell als distinkt wahrgenommenes MediumMedium“ (Rajewsky 2002:19). Von Bedeutung ist hierbei der Medienbegriff, der auf die Arbeiten Werner Wolfs zurückgeht, der ein Medium nicht als „technisch-materiell definierten Übertragungskanal von Informationen“ versteht, sondern als „konventionell als distinkt angesehene[s] Kommunikationsdispositiv“ (Wolf 2002b:164). Dieser weite Medienbegriff erlaubt es, das Bilderbuch, welches zwei semiotische Systeme verwendet, die ihrerseits wiederum anderen Medien zuzuordnen sind, als Medium zu definieren – dabei aber zugleich Bild- und Schrifttext als Einzelmedien zu berücksichtigen. Weiter wird durch diese Definition der Medienwechsel zwischen Medien wie beispielsweise Bilderbuch und Film mit nicht nur qualitativ, sondern eben auch quantitativ divergierenden Zeichensystemen nachvollziehbar.

Mediale Entgrenzungen des Bilderbuchs finden sich auch als Hörspiele oder Theaterstücke wie z.B. bei entsprechenden AdaptionenAdaption von Der Grüffelo (→ Kapitel 2.4); verbreiteter sind Filmadaptionen – und zunehmend digitale BilderbücherBilderbuch, digitales