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Dieses Lehrbuch für die elementarpädagogische Ausbildung und Praxis liefert das professionelle Handwerkszeug für eine erfolgreiche Bildungsarbeit im Elementarbereich, das für die zentralen Bildungsbereiche des Vorschulalters beschrieben wird: für den sozio-emotionalen, sprachlichen, motorischen und den mathematischen Bereich und darüber hinaus für die übergreifenden Bereiche Spielen, Lernen und die Selbstregulation. Damit liegt für die elementarpädagogische Ausbildung und Praxis erstmalig ein Lehrbuch vor, das entwicklungspsychologische Grundlagen, diagnostische Verfahren und erprobte Fördermaterialien für die genannten Bildungsbereiche in kompakter Form in einem Buch zusammenfasst.
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Seitenzahl: 646
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Die Autorin, der Autor
Dorothee Seeger, Diplom-Psychologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Psychologie in Bildung und Erziehung an der Universität Münster. Sie forscht zur Diagnostik, Förderung und Evaluation von Bildungsprogrammen in der Kita (BIKO-Projekt) und ist wissenschaftliche Leiterin dieses Projekts.
Prof. Dr. Manfred Holodynski ist Professor für Entwicklung und Erziehung am Institut für Psychologie in Bildung und Erziehung an der Universität Münster. Er forscht zur Diagnostik, Förderung und Evaluation von Bildungsprogrammen in der Kita (BIKO-Projekt), zur Emotionsentwicklung und zur Klassenführung von Grundschullehrkräften.
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1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-042557-6
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-042558-3
epub: ISBN 978-3-17-042559-0
Die Lehrbuchreihe »Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit« will Studierenden und Fachkräften das notwendige Grundlagenwissen vermitteln, wie die Bildungsarbeit im Krippen und Elementarbereich gestaltet werden kann. Die Lehrbücher schlagen eine Brücke zwischen dem aktuellen Stand der einschlägigen wissenschaftlichen Forschungen zu diesem Bereich und ihrer Anwendung in der pädagogischen Arbeit mit Kindern.
Die einzelnen Bände legen zum einen ihren Fokus auf einen ausgewählten Bildungsbereich, wie Kinder ihre sozio-emotionalen, sprachlichen, kognitiven, mathematischen oder motorischen Kompetenzen entwickeln. Hierbei ist der Leitgedanke darzustellen, wie die einzelnen Entwicklungsniveaus der Kinder und Bildungsimpulse der pädagogischen Einrichtungen ineinandergreifen und welche Bedeutung dabei den pädagogischen Fachkräften zukommt. Die Reihe enthält zum anderen Bände, die zentrale bereichsübergreifende Probleme der Bildungsarbeit behandeln, deren angemessene Bewältigung maßgeblich zum Gelingen beiträgt.
Dazu zählen Fragen, wie pädagogische Fachkräfte ihre professionelle Responsivität den Kindern gegenüber entwickeln, wie sie Gruppen von Kindern stressfrei managen oder mit Multikulturalität, Integration und Inklusion umgehen können. Die einzelnen Bände bündeln aktuelle Erkenntnisse aus den Bildungswissenschaften wie der Entwicklungspsychologie, Diagnostik sowie Früh- und Sonderpädagogik. Die Lehrbuchreihe richtet sich sowohl an Studierende und Lehrende an Fach- und (Fach-)Hochschulen, die sich mit der Entwicklung und institutionellen Erziehung von Kindern befassen, als auch an die pädagogischen Fachkräfte des Elementar- und Krippenbereichs.
Der vorliegende Band Bildung in der Kita organisieren (BIKO). Entwicklung, Diagnostik, Förderung vermittelt Fachkräften in kompakter Form Grundlagenwissen zur frühkindlichen Entwicklung, Diagnostik und zur wirksamen Förderung in den zentralen Bildungsbereichen des Vorschulalters. Darüber hinaus werden eigens konzipierte modulare Bildungsangebote im sozio-emotionalen, motorischen, sprachlichen und mathematischen Bereich vorgestellt, die bereits erfolgreich in der Kita eingesetzt und evaluiert wurden. Sie zeigen, welche Art von Diagnostik Fachkräften hilft, den Förderbedarf in ihrer Gruppe in den genannten Bereichen zeitökonomisch zu erfassen und wie anschließend eine wirksame Förderung der Kinder in den Kita-Alltag integriert werden kann.
Die hier vorgestellte BIKO-Konzeption gibt eine wissenschaftlich fundierte und zugleich innovative Antwort auf die strittige Frage, worin die Ziele einer eigenständigen Elementarbildung (im Unterschied zur Schulbildung) bestehen und welche besonderen Bildungsmittel Kinder dazu benötigen.
Kinder zwischen drei und sechs Jahren erwerben erstmals metakognitive Fähigkeiten, ihre Handlungen und Emotionen in überschaubaren und vertrauten Alltags- und Spielkontexten nach geltenden Regeln selbstständig zu regulieren. Solche selbstregulatorischen Fähigkeiten benötigen sie auch für den Erwerb spezifischer Fähigkeiten in den genannten Bildungsbereichen. Werden sie ausreichend gefördert, helfen sie Kindern beim Übergang zum selbstregulierten Lernen in der Schule.
Ein geeigneter Weg zur Förderung selbstregulatorischer Fähigkeiten ist die Stärkung der kindlichen Spielfähigkeiten. Denn die Spielformen des gemeinsamen Konstruktions-, Rollen- und Regelspiels stellen Kindern immer wieder aufs Neue Anforderungen, ihre Handlungen und Emotionen angesichts der übernommenen Rolle oder der zuvor verabredeten Regel(n) zu regulieren. Es ist das Meistern solcher Anforderungen im Spiel in den verschiedenen Bildungsbereichen, das Kindern das Gefühl der Selbstwirksamkeit und Freude beschert und ganz nebenbei ihre Fähigkeiten zur Selbstregulation auch außerhalb von Spielsituationen stärkt.
Zur Umsetzung der BIKO-Konzeption in der Kita-Praxis liefert das vorliegende Buch eine umfassende Einführung in die Entwicklung, Diagnostik und Förderung anhand spielbasierter Angebote. Darin wird auch die Anwendung des Diagnostikverfahrens BIKO 3-6 erläutert, mit dem eine validierte und von Kita-Fachkräften erprobte Diagnostik für die vier genannten Bildungsbereiche zur Verfügung steht. Ebenso werden für drei Bildungsbereiche erprobte Spielesammlungen beschrieben, die BIKO-Mathe-Kiste, die BIKO-Motorik-Kiste sowie die BIKO-Gefühle-Kiste.
Wir wünschen den Lesern und Leserinnen eine anregende und erkenntnisreiche Lektüre.
Freiburg und Heidelberg im März 2022
Dorothee Gutknecht und Hermann Schöler
Die ersten Ideen zum Inhalt des hier vorliegenden Buches liegen lange zurück und sind eng mit unserer Lebensgeschichte verknüpft: In den 1980er Jahren, als Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren so gut wie nicht existent waren, engagierten wir uns in einer Elterninitiative und gründeten eine Kita in freier Trägerschaft. Dabei lernten wir nicht nur organisatorische Abläufe zur Verwaltung der Sach- und Personalmittel, sondern erfuhren auch, dass Träger in Deutschland zu dieser Zeit ihre Bildungskonzeptionen selbst gestalten konnten oder – besser gesagt – mussten.
Auf der intensiven Suche nach einer passenden Bildungskonzeption stellten wir fest, dass es keine elementarpädagogischen Ansätze gab, die entwicklungspsychologische Erkenntnisse aus den verschiedenen Bildungsbereichen mit validen und praktikablen Diagnostikverfahren und diese wiederum mit adaptiven, spielbasierten Fördermaßnahmen für Kinder in schlüssiger Weise verknüpft hätten. Diese Leerstelle einer solchen Konzeption besteht bis heute fort, wobei es sie getrennt für einzelne Bereiche wohl gibt.
Seit den 1990er Jahren forschen wir in der Entwicklungspsychologie und Spielpädagogik zur sozio-emotionalen, motorischen, mathematischen und selbstregulatorischen Entwicklung, Diagnostik und spielbasierten Förderung von Kindern zwischen drei Jahren und ihrer Einschulung. Wir organisierten in Zusammenarbeit von Universität und Jugendämtern auch unzählige Fortbildungen zur Professionalisierung von Kita-Fachkräften in diesen Bereichen. Hier trafen wir auf engagierte Fachkräfte, die händeringend nach Verfahren suchten, um die Entwicklungsstände ihrer Kinder valide und praktikabel diagnostizieren und deren Fähigkeiten auf spielerische Weise fördern zu können. Weder hatten die Fachkräfte dieses Wissen in ihrer Ausbildung vermittelt bekommen noch im elementarpädagogischen Berufsfeld vorgefunden.
Nicht nur, aber auch aufgrund dieser Erfahrungen entstand die Idee zu diesem Buchprojekt mit folgendem Ziel: Eine wissenschaftlich fundierte Konzeption für die Bildung von Kindern in Tageseinrichtungen (Kitas) zu entwerfen. Dazu sollten für zentrale Bildungsbereiche (Sozioemotionalität, Sprache, Motorik, Mathematik und Selbstregulation) die aktuellen Forschungsbefunde zur kindlichen Entwicklung und Förderung dargestellt und in schlüssiger Weise mit geeigneten Verfahren zur Diagnostik verknüpft werden. So sollten (zukünftige) Kita-Fachkräfte fundiertes Fachwissen zu folgenden Fragen finden:
1. Wie entwickeln sich Kinder in den genannten Bereichen und welche entwicklungsangemessenen Bildungsziele können/sollen sie bis zur Einschulung erreichen?
2. Wie erfassen sie die heterogenen Entwicklungsstände der Kinder ihrer Gruppe und wie können sie diese einordnen?
3. Wie helfen diagnostische Informationen, ein individuell angepasstes Niveau und Material für die Förderung der Kinder auszuwählen. Wie können Fachkräfte ihre Kinder in gemeinsamen Spielaktivitäten adaptiv fördern?
Zudem hatten wir uns vorgenommen, das dazu erforderliche Diagnostik- und Fördermaterial zu erstellen und zu erproben. Denn was nützt eine Konzeption, wenn geeignete Materialien fehlen?
Zu jeder der genannten Komponenten vermittelt der vorliegende Band das benötigte Grundlagenwissen und stellt bereits erprobte Materialien zum Einsatz in der Kita-Praxis vor. Dazu gehören u. a. das Diagnostikverfahren BIKO 3-6 als auch die Spielesammlungen BIKO-Motorik-Kiste, BIKO-Mathe-Kiste und BIKO-Gefühle-Kiste.
Die Kapitel 2 bis 8 beschreiben anhand entwicklungspsychologischer Befunde die Basisfähigkeiten, die Kinder in den genannten Entwicklungsbereichen sowie bezüglich ihrer Spielfähigkeit bis zur Einschulung erwerben. Dabei zeigt sich, dass Kinder, die anspruchsvolle Konstruktions-, Rollen- und Regelspiele meistern, auch die metakognitiven Fähigkeiten erwerben, die ihnen zur Selbstregulation in anderen Handlungsfeldern verhelfen. Auf diese Weise bildet der Erwerb elaborierter Spielformen eine Brücke zwischen der augenblicksorientierten, ungestümen Handlungsweise von Kleinkindern und dem selbstregulierten Lernen in der Schule.
In den Kapiteln 9 und 10 werden die wissenschaftlichen Qualitätsstandards von Diagnostikverfahren erläutert und das BIKO 3-6 zur Anwendung in der Kita-Praxis vorgestellt.
In den Kapiteln 11 bis 16 beschreiben wir die BIKO-Konzeption für den elementaren Bildungsbereich und stellen mit dem sogenannten Qualitätszyklus die vier Schritte einer diagnosebasierten Spielförderung im Ablauf eines Kita-Jahres vor. Dabei erläutern wir auch den Einsatz der Spielesammlungen.
Damit werden in diesem Band die drei wesentlichen Bildungskomponenten Entwicklung, Diagnostik und Förderung zusammengeführt und ihre konzeptuellen und praktischen Verbindungen in den einzelnen Bildungsbereichen aufgezeigt. Eine solche wissenschaftlich fundierte und gleichzeitig verständliche Darstellung dieser Zusammenhänge wird vom elementarpädagogischen Feld seit Langem angemahnt. So hoffen wir, dass dieses innovative Lehrbuch seinen Platz in Ausbildung und Studium sowie in der Weiterbildung von pädagogischen Fachkräften findet.
Darüber hinaus haben wir in diesem Lehrbuch einer weiteren Herzensangelegenheit – dem kindlichen Spielen – ein wissenschaftlich gesichertes Fundament verliehen. Bereits in unseren o. g. Projekten waren wir uns mit den Fachkräften einig, wie wichtig das Spielen für die kindliche Entwicklung in allen Bereichen sei und dass die wertvolle Zeit zum Spielen gegen eine vorzeitige Verschulung verteidigt werden müsse. Aber bei unseren Beobachtungen in den Kitas zeigten nur wenige Kinder im Freispiel elaborierte Formen von Rollen-, Regel- und Konstruktionsspielen. Viel mehr Kinder fanden wir, deren Spielverhalten als eher stereotyp und wenig inspiriert zu beschreiben ist. Und die Fachkräfte? Sie erschienen seltsam zurückhaltend, zogen sich während der Spielphasen oft auf das Beaufsichtigen und Streitschlichten zurück, anstatt aktiv am Spiel der Kinder teilzunehmen und deren Spielideen aufzugreifen und zu bereichern. Auf Nachfragen zeigte sich, dass sie so recht keine Vorstellungen hatten, was unter Spielfähigkeit zu verstehen ist, wie und wann sich diese entwickelt und welche Unterstützung Kinder in Form von Material, Modellen, Anleitungen und persönlicher Spielfreude von Erwachsenen benötigen. Stattdessen äußerten viele Fachkräfte die Fehlvorstellung, dass Kinder natürlicherweise von allein spielen könnten und dass daher Spielenlassen besser als Mitspielen wäre.
Das nahmen wir zum Anlass, in diesem Buch der Entwicklung der kindlichen Spielfähigkeiten einen breiten Raum zu geben. Dabei vertreten und begründen wir eine Sichtweise auf das kindliche Spiel, die für die Elementarpädagogik in Deutschland innovativ und herausfordernd zugleich ist: Auch Spielen will gelernt sein, d. h. Kinder, die wirklich freudig-engagiert, kooperativ und elaboriert spielen, greifen auf sozio-emotionale, sprachliche und auch meta-kognitive Fähigkeiten zurück, die sie in den (spielerischen) Interaktionen mit ihren Eltern oder Bezugspersonen in der Kita sowie mit kompetenten Spielpartnern gelernt haben. Wir haben in unseren spielbasierten Förderungen die bestehenden Spielfähigkeiten der Kinder aufgegriffen und durch ein adaptives Unterstützungsverhalten weiterentwickelt. Dabei ging und geht uns das Herz auf, wenn die Kinder beginnen, im angeleiteten Spiel aufzublühen, sich von der Spielfreude anstecken zu lassen und Lachen und Stolz sie erfüllt, wenn sie in der faszinierenden Spielewelt ihre wachsenden Fähigkeiten erleben. Mit diesem Buch möchten wir auch diese erfüllenden Momente einer spielbasierten Förderung für die beteiligten Fachkräfte in den Blick nehmen. Eine professionelle Bildungsarbeit mit Kindern erschöpft sich eben nicht nur in konzentrierter und anstrengender Arbeit. Vielmehr ergeben sich im gemeinsamen Spielen auch viele Momente der Freude, Verbundenheit und Erfüllung.
Wir hoffen, dass dieser spielerfüllte Geist auch Sie erfasst und dazu animiert, sich eingehender mit der Entwicklung, Diagnostik und spielbasierten Förderung von Kindern zu befassen.
Wir möchten an dieser Stelle Hermann Schöler und Dorothee Gutknecht, die diese Lehrbuchreihe mit herausgeben, für ihre sorgfältigen und kritischen Kommentare beim Lesen von Vorversionen dieses Buches und ihre stete Unterstützung danken. Unser Dank gilt auch unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Projekten zur Erstellung und Erprobung der Diagnostik- und Fördermaterialien in den Kitas. Sie haben durch ihr hohes Engagement und Expertise mit dazu beigetragen, dass dieses Lehrbuch durch die zugehörigen Diagnostikverfahren und Spielesammlungen zu einem Materialset komplettiert vorliegt, das inhaltlich und methodisch aufeinander abgestimmt ist. Schließlich gilt unser Dank auch den Kita-Fachkräften und Kindern, mit denen wir immer wieder das Engagement und die Begeisterung beim Spielen teilen durften.
Münster, im Dezember 2021
Dorothee Seeger und Manfred Holodynski
Vorwort der Herausgeberin und der Herausgeber
Vorwort der Autoren
1 Vom Kindergarten zur Bildungseinrichtung
1.1 Gestaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen
1.2 Kulturelle Grundlagen des Bildungsverständnisses
1.3 Neuausrichtung des Bildungsauftrags für den Elementarbereich
1.4 Verfahren zur Beobachtung und Dokumentation
1.5 Bildung in der Kita organisieren
2 Entwicklung der Selbstregulation
2.1 Was ist Selbstregulation?
2.2 Niveaus der Selbstregulation
2.3 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen
3 Entwicklung von Spielformen
3.1 Definition des Spielens
3.2 Funktionsspiele
3.3 Konstruktionsspiele
3.4 Rollenspiele
3.5 Regelspiele
3.6 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen
4 Entwicklung von Lernformen
4.1 Orientierungsreaktion und Habituation
4.2 Signallernen und die Bewertung von Sinneswahrnehmungen
4.3 Lernen am Effekt und der Aufbau motivdienlichen Verhaltens
4.4 Imitationslernen und der Gebrauch kultureller Mittel
4.5 Selbstreguliertes Lernen und Selbstregulation
4.6 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen
5 Entwicklung motorischer Fähigkeiten
5.1 Was ist motorische Kompetenz?
5.2 Körperliche Grundlagen
5.3 Modelle der Bewegungsregulation
5.4 Lernformen und der Erwerb motorischer Kompetenz
5.5 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen
6 Entwicklung sozio-emotionaler Fähigkeiten
6.1 Emotionen und ihre Entwicklung
6.2 Sozio-emotionale Kompetenzen
6.3 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen
7 Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten
7.1 Sprache und ihre Komponenten
7.2 Spracherwerb
7.3 Nutzungsformen der Sprache
7.4 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen
8 Entwicklung mathematischer Fähigkeiten
8.1 Das numerische Erbe des Menschen
8.2 Die sprachliche Basis – Zahlwörter
8.3 Entwicklungsetappen des Zählens
8.4 Das Anzahlkonzept
8.5 Vom Handeln mit Mengen zum Denken mit Zahlen
8.6 Zahlsymbole für Zahlen lernen – Ziffern lesen
8.7 Entwicklungsmodell mathematischer Basiskompetenz
8.8 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen
9 Diagnostik des kindlichen Entwicklungsstands
9.1 Was soll diagnostiziert werden?
9.2 Anhand welcher Bezugsnormen soll diagnostiziert werden?
9.3 Welchen Gütekriterien müssen diagnostische Verfahren genügen?
9.4 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen
10 Diagnostische Verfahren für die Kita-Praxis
10.1 Informelle Verfahren
10.2 Standardisierte und normierte Einschätzungsverfahren
10.3 Entwicklungstests
10.4 Screenings
10.5 BIKO 3-6. Screening zu Basiskompetenzen von 3- bis 6-Jährigen
10.6 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen
11 Die BIKO-Konzeption zur Organisation von Bildungsangeboten
11.1 Grundlagen der BIKO-Bildungskonzeption
11.2 Bildungsziele der BIKO-Konzeption
11.3 Qualitätsstandards für die Organisation von Bildungsangeboten
11.4 Ein Qualitätszyklus für Bildungsangebote
11.5 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen
12 Bildung der Selbstregulation im Spiel
12.1 Bildungsziele
12.2 BIKO-Bildungsangebote
12.3 Förderung des Rollenspiels
12.4 Förderung des Regelspiels
12.5 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen
13 Bildung im sozio-emotionalen Bereich
13.1 Bildungsziele
13.2 Förderprogramme
13.3 BIKO-Bildungsangebot
13.4 Emotionscoaching
13.5 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen
14 Bildung im motorischen Bereich
14.1 Bildungsziele
14.2 Förderprogramme
14.3 BIKO-Bildungsangebot
14.4 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen
15 Bildung im mathematischen Bereich
15.1 Bildungsziele
15.2 Förderprogramme
15.3 BIKO-Bildungsangebot
15.4 Bedingungen für den Erfolg einer spielbasierten Förderung
15.5 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen
16 Bildung im sprachlichen Bereich
16.1 Bildungsziele
16.2 Wie wirksam sind Sprachfördermaßnahmen in der Kita?
16.3 Sprachliche Bildung in der Kita organisieren
16.4 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen
Literatur
Ein zentrales Anliegen und zugleich die Aufgabe von Fachkräften in Bildungseinrichtungen ist es, jedem Kind Angebote für seine Bildung bereitzustellen, die ihm die Möglichkeit zur Teilhabe am Leben seiner sozio-kulturellen Gemeinschaft eröffnen. Das ist keine leichte Aufgabe, da die Kinder aus unterschiedlichen familiären Lebensverhältnissen in die Kindertageseinrichtungen (Kita) kommen. Lebensverhältnisse, die sich u. a. darin unterscheiden, welche Ziele Eltern anstreben und welche Werte sie Kindern vermitteln wollen.
Ungeachtet solcher Unterschiede geht es bei der Erziehung von Heranwachsenden in demokratisch verfassten Gesellschaften im Grundsatz darum, dass Kinder lernen, ihre Handlungen, Gedanken und Emotionen durch den eigenen Willen regulieren zu lernen, um ein selbst gewähltes Ziel zu erreichen, und dabei die moralischen Werte der Gemeinschaft zu beachten. Eine solche Selbstregulation (Gawrilow & Rauch, 2017) umfasst die willentliche Planung, Kontrolle und Steuerung von Handlungen und Gedanken sowie die willentliche Regulation der eigenen Emotionen nach Maßgabe eigener Motive und moralischer Werte.
Zum Erwerb der Selbstregulation ist u. a. die Vermittlung und Aneignung des Zeichengebrauchs, insbesondere des Sprachgebrauchs eine notwendige Voraussetzung. Dadurch wird es möglich, zeitgleich die eigene Perspektive und die eines anderen beachten zu können, um seine Handlungen und Emotionen nicht nur an den eigenen Motiven auszurichten, sondern zugleich soziale Normen und Werte des Miteinanders und des wechselseitigen Respekts beachten zu können (Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, 2014). Forschungsergebnisse belegen, dass der Erwerb einer solchen Selbstregulation an ein qualitativ hochwertiges Erziehungsumfeld gebunden ist. Dies betrifft sowohl das familiäre wie das öffentliche Erziehungsumfeld (Beckh et al., 2014).
Die Qualität des elementaren Bildungsbereichs wurde u. a. in den internationalen Vergleichsuntersuchungen zur Kinderbetreuung (Starting Strong) der OECD (2017) analysiert. Danach müsste Deutschland – im Vergleich zu anderen Ländern – die Tagesbetreuung von Kindern unter sechs Jahren sowohl quantitativ ausbauen als auch ihre Qualität verbessern (Spieß, 2014). Insbesondere die pädagogische Prozessqualität von Kitas hat sich von den 1990er bis zu den 2010er Jahren nicht verbessert, wie die NUBBEK-Studie eindrücklich belegt (Tietze et al., 2013, S. 84).
Seit der ersten PISA-Studie im Jahr 2001 und dem OECD-Bericht im Jahr 2004 steht für Politik und Fachverbände die Reformierung der Elementarbildung auf der Agenda. Im föderal organisierten Bildungssystem Deutschlands bedeutet dies, möglichst einheitliche Antworten auf die folgenden Fragen zu finden:
1. Gestaltung der Rahmenbedingungen. Wer ist in Deutschland berechtigt, Ziele und Rahmenbedingungen für die öffentliche Elementarbildung zu gestalten?
2. Kulturelle Grundlagen des Bildungsverständnisses. Welche Werte liegen dem Verständnis von Erziehung und Bildung in unserer Gesellschaft zugrunde?
3. Bildungsauftrag der Kitas. Welche konkreten Erziehungs- und Bildungsziele werden für Kitas formuliert, und wie lässt sich das Erreichen dieser Ziele sinnvoll dokumentieren?
4. Professionelle Verfahren zur Diagnostik und Dokumentation. Wie können die individuellen Entwicklungsstände von bis zu 25 Kindern in definierten Bildungsbereichen kontinuierlich erfasst und dokumentiert werden? Denn diese Informationen sind notwendige Voraussetzung, um ein darauf abgestimmtes Bildungsangebot planen zu können. Für das Gelingen dieser »Herkulesaufgabe« benötigen Fachkräfte professionelle, aber praktikable Diagnostikverfahren, die ihnen ermöglichen, valide Aussagen über die Entwicklung und ggf. Entwicklungsrisiken der einzelnen Kinder zu treffen.
5. Bildung in der Kita organisieren. Über welche Materialien und Formen der Vermittlung und Lernunterstützung müssen Fachkräfte verfügen, um Bildungsangebote für bis zu 25 Kindern mit heterogenem Bildungsbedarf so gestalten zu können, dass Kinder die elementaren Bildungsziele erreichen?
Im Folgenden wollen wir aufzeigen, welche Antworten auf diese Themenkomplexe im Rahmen der bildungspolitischen Diskussion bislang gegeben wurden und wie diese mit Blick auf empirische Befunde zu bewerten sind. Dem schließt sich jeweils ein Ausblick auf die weiterführenden Darstellungen in diesem Buch an.
Im Achten Buch des Sozialgesetzbuches zur Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) ist in § 22 Absatz 2 das übergreifende Bildungsziel für Kitas formuliert worden:
Das Bildungsziel für Kitas
Tageseinrichtungen für Kinder und Kindertagespflege sollen die Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit fördern.
(SGB VIII § 22, Absatz 2)
Dies ist auch im gemeinsamen Rahmen der Kultusministerkonferenz (2004) zur Gestaltung der pädagogischen Arbeit in Kitas formuliert worden. Jedoch ist die Frage, welche Institution eigentlich berechtigt ist, Ziele und Rahmenbedingungen für die öffentliche Bildung in Kitas zu gestalten, in Deutschland schwierig zu beantworten. Denn in der föderalistischen Staatsform besteht für die 16 Bundesländer die Kultushoheit: Für die Gesetzgebung zur Organisation und Verwaltung des Bildungswesens sind im Grundsatz die Bundesländer verantwortlich. Daher erlässt jedes Bundesland eigene Gesetze und Vorschriften zur Organisation seines Bildungswesens.
Eine weitere Besonderheit im deutschen Bildungswesen besteht darin, dass die Elementarbildung (für Kinder bis 6 Jahren) im Sinne der Gesetzgebung gar nicht Teil des Bildungswesens ist. Vielmehr gehört sie zum Bereich der Sozialfürsorge und ist damit im Sozialgesetz geregelt (§ 1 SGB VIII). Im Unterschied zu Primar- und Sekundarschulen unterstehen Kitas daher trotz ihres Bildungsauftrags nicht in jedem Bundesland dem Kultusministerium, sondern je nach Anzahl und Zuschnitt anderen Landesministerien.
Doch auch diese Landesministerien können aufgrund einer weiteren (aus den Erfahrungen der nationalsozialistischen Gleichschaltung gewachsenen) Besonderheit – dem Subsidiaritätsprinzip – nicht eigenmächtig Standards für die Bildung der Kinder vor Schuleintritt festlegen. Denn das Subsidiaritätsprinzip sichert den sogenannten freien Trägern per Gesetz (§ 4 SGB VIII) den Vorrang gegenüber kommunalen Trägern für die Betreibung von Einrichtungen zur kindlichen Bildung und Erziehung. Zu den wichtigsten Trägern, die auf Bundesebene zusammengeschlossen sind, gehören die Arbeiterwohlfahrt (AWO), der Deutsche Caritasverband (Wohlfahrtsverband der katholischen Kirche), der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (unabhängige Anbieter, z. B. Elterninitiativen), das Deutsche Rote Kreuz (DRK) und das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Diese Träger(verbände) dürfen für ihre Einrichtungen letztendlich in eigener Verantwortung entscheiden, welche Ziele, Bildungsangebote und Qualitätsstandards in der pädagogischen Arbeit für Kinder unter sechs Jahren gelten sollen und in »ihren« Einrichtungen umgesetzt werden.
Damit besteht ein bedeutender Unterschied zwischen der Bildungsinstitution Schule und den Kitas. Müssen Schulen die Bildungspläne aus ihren Kultusministerien verpflichtend umsetzen, sind Bildungspläne aus den Jugend- und Kultusministerien für Kitas nicht verbindlich.
Deshalb tragen die landesspezifischen Bildungspläne mitunter auch etwas sperrige Titel, wie z. B. »Leitfaden zur …«, »Empfehlung zur …«, »Orientierungsplan für …« oder »Vereinbarung zwischen …«. Diese Titel spiegeln den Status ihrer (Un-)Verbindlichkeit für die Träger der Bildungseinrichtungen. Damit diese Pläne zu einer verbindlichen Grundlage für die Kitas werden können, sind juristisch sogenannte Vereinbarungen zwischen Land und den o. g. Trägerverbänden nötig. Der Inhalt solcher Vereinbarungen wie z. B. die der Kultusministerkonferenz (2004) spiegelt dann jeweils den aktuellen Stand dessen, worauf sich Landesregierung und Trägerverbände verständigen konnten.
Ungeachtet der Trägerautonomie obliegt die Gesamtverantwortung für die Sicherstellung und weitestgehend auch für die Finanzierung der Kitas weiterhin allein den Kommunen. Diese sind jedoch bei der Finanzierung der Personal- und Betriebskosten weitestgehend auf Landesmittel angewiesen, deren Vergabe durch entsprechende Landesgesetze geregelt wird.
Fazit: Aufgrund der Kultushoheit der einzelnen Länder können Bildungsziele, Bildungsmittel, Bildungsqualität und deren Evaluation von dem im Land jeweils zuständigen Ministerium in Form von Bildungsplänen empfohlen werden. Jedoch liegt die konkrete Ausgestaltung und Umsetzung solcher Vorgaben aufgrund des Subsidiaritätsprinzips allein in der Verantwortung der Trägerverbände. Erst durch zusätzliche Vereinbarungen werden solche Bildungspläne zu einer verbindlichen Vorgabe für das eigenverantwortliche Handeln der Kita-Fachkräfte.
In den derzeit vorliegenden Vereinbarungen (Kultusministerkonferenz, 2004) sind konkrete Bildungsziele und Qualitätsstandards zur Dokumentation, wenn überhaupt, dann nur vage formuliert. Darüber hinaus markiert eine Vereinbarung von Zielen erst den Anfang auf dem Weg zu einer erfolgreichen institutionalisierten Elementarbildung. Denn ob jedem Kind unabhängig von seiner Herkunftsfamilie all die in den Bildungsvereinbarungen aufgeführten Kompetenzen tatsächlich vermittelt werden, hängt von den konkreten Bildungsangeboten und der Qualität der Lernunterstützungen durch die Fachkräfte in den einzelnen Kitas ab. Diese sind jedoch bislang nicht Gegenstand von Vereinbarungen geworden.
Daher wollen wir in diesem Buch bereichsübergreifende und bereichsspezifische Bildungsziele für Kitas zusammenstellen, die entwicklungspsychologisch begründet und durch wissenschaftliche Studien fundiert sind. Darüber hinaus werden wir Bildungsangebote zur Erreichung dieser Bildungsziele vorstellen, die Qualitätsstandards genügen und sich in der praktischen Arbeit von Kitas bewährt haben.
Eine solche Grundlage soll über die Grenzen von Trägern und Ländern hinweg helfen, Bildung in Kitas entwicklungsangemessen zu gestalten, unabhängig davon, ob die öffentliche Einrichtung in Hamburg, NRW oder Bayern liegt oder von der AWO, der Kirche oder einer Elterninitiative getragen wird.
In der Auseinandersetzung um die Gestaltung der Elementarbildung in Deutschland seit den 1970er Jahren wurde der Erziehungsbegriff fast gänzlich durch den Bildungsbegriff abgelöst – auch in den Bildungsplänen der Länder. Dabei blieb jedoch weitgehend ungeklärt, welches kulturell geprägte Verständnis die Begriffe Erziehung und Bildung transportieren.
Die Antworten auf diese Frage reichen bis zur Schulreform von Humboldt im frühen 19. Jahrhundert zurück (Bracht et al., 1990). Im Folgenden soll diese Geschichte nicht aufgerollt, sondern lediglich ein Fazit gezogen werden für das Verständnis von Bildung und Erziehung im Bereich der Elementarbildung seit den 1950er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Grossmann, 1987) und in Gesamtdeutschland (Gauß & Wollnitz, 2013; Textor, 2002).
Ein allgemein akzeptiertes Verständnis, was unter Erziehung verstanden wird, gibt es nicht. Die meisten Definitionsversuche bewegen sich zwischen den Polen des kulturellen Formens und des natürlichen Wachsens (Fuhrer, 2005): Wird Erziehung als kulturelles Formen verstanden, versuchen Erziehungspersonen den Heranwachsenden kulturell erwünschte Werte und nützliche Kompetenzen in den wichtigen Lebensbereichen zu vermitteln. Wird Erziehung als ein natürliches Wachsenlassen verstanden, definieren sich Erziehungspersonen (nur) als Begleiter der selbsttätigen Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit.
Als eine vermittelnde Position kann die Definition von Ludwig (2020) dienen:
»Mit Erziehung werden Handlungen bezeichnet, mit denen beabsichtigt wird, bestimmte Anteile des psychischen Dispositionsgefüges anderer Menschen zu verändern« (Ludwig, 2020, S. 249).
Dabei ist Erziehung in jeder Gesellschaft normativ durch Ziele vorgegeben, die kulturell geteilte Werte beinhalten (vgl. Borke & Keller, 2014; Brezinka, 1990; Fuhrer, 2005; Keller & Kärtner, 2013).
Ein normatives Erziehungsziel könnte z. B. die unbedingte Folgsamkeit gegenüber einer Autoritätsperson sein. In einer demokratisch verfassten Gesellschaft ist dies kein wünschenswertes Erziehungsziel – wohl aber in einer streng hierarchisch gegliederten Gesellschaft, wie sie in vielen nicht-westlichen Gesellschaftssystemen, aber auch in den historischen Vorgängerstaaten heutiger westlicher Demokratien anzutreffen ist bzw. war (vgl. auch Borke & Keller, 2014).
Der deutsche Gesetzgeber hat im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) zentrale Bildungs- und Erziehungsziele vorgegeben, die der Formulierung im SGB VIII § 22 Absatz 2 entsprechen: »Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit« (§ 1 KJHG).
Beide Erziehungsziele, Eigenverantwortlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit, können als vernunftgeleitet bewertet werden. Vernunftgeleitet meint hier, dass Menschen Entscheidungen für sich und ihre Mitmenschen nicht auf Grundlage egozentrischer Vorlieben und zugestandener Machtfülle treffen, sondern auf Grundlage verallgemeinerbarer Werte, Gründe und Einsichten. Letztere folgen dem Kategorischen Imperativ des Philosophen Emanuel Kant: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde« (Kant, 1792/1900, S. 421). In diesem moralischen Imperativ sind die Eigenverantwortlichkeit und die Gemeinschaftsfähigkeit zusammengebunden. Handele stets so, dass die Maxime deines Handelns zu einem allgemeingültigen Wert gemacht werden kann, der allen Menschen zugestanden werden kann.
Eine in diesem Verständnis erzogene Person wäre demnach fähig, ihr aktuelles Handeln von ihrer eigenen Zukunft und aus der Perspektive ihrer Mitmenschen her zu denken und zu gestalten. Sie könnte die zukünftigen Konsequenzen ihres Handelns für sich und andere vorausschauend in den Blick nehmen und dafür die persönliche Verantwortung übernehmen.
Ziele für die Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit
Der Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen (2005) hat diese Ziele wie folgt konkretisiert (S. 47):
a) »die Anregung und Unterstützung zur Entfaltung der Begabungen, Interessen und Selbstentwicklungsfähigkeit jedes Einzelnen, um jedem eine eigenverantwortliche Lebensführung zu ermöglichen«,
b) »die Entwicklung sozialer Fähigkeiten wie die Etablierung zufrieden stellender zwischenmenschlicher Beziehungen, die Anerkennung der Bedürfnisse anderer, die Übernahme von Verpflichtungen im Dienste der Gemeinschaft, die Kooperation bei gemeinsamen und Konfliktfähigkeit bei divergierenden Interessen« und
c) »die Entwicklung von Wertmaßstäben, um beurteilen zu können, was richtig und falsch, zulässig und unzulässig, fair und unfair, gerecht und ungerecht etc. ist«.
Die unter (a) genannten Erziehungsziele sind darauf gerichtet, jedem Heranwachsenden zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung zu verhelfen, und die unter (b) und (c) genannten Erziehungsziele darauf, die personalen Voraussetzungen für das Leben und Zusammenleben in einer demokratisch organisierten Gemeinschaft zu schaffen.
Über diese Erziehungsziele besteht ein gesellschaftlicher und bildungspolitischer Konsens (vgl. z. B. Tenorth, 2004; s. aber auch Borke & Keller, 2014). Er spiegelt sich auch in der gesetzlichen Verankerung dieser Ziele wider. Die psychologischen Voraussetzungen für diese beiden Fähigkeiten werden im Kapitel 2 ( Kap. 2) näher beschrieben und mit dem fachwissenschaftlichen Begriff Selbstregulation (Kray & Schneider, 2018; Vohs & Baumeister, 2004; Vohs & Ciarocco, 2004) bezeichnet.
Die vom Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen (2005) formulierten Erziehungsziele mit den dazu notwendigen Fähigkeiten und Werthaltungen lassen sich als zeitgenössische Definition von Bildung verstehen, wie dies Tenorth (2013) definiert hat:
»Bildung ist Ausstattung zum Verhalten in der Welt – und zwar notwendige Ausstattung. Sie umfasst die freie Entfaltung der menschlichen Fähigkeitspotenziale zu einer harmonisch gebildeten Persönlichkeit – und zwar aller Menschen einer Gesellschaft – als psychische Ausstattung für eine eigenverantwortliche und gemeinschaftsfähige Lebensführung« (Tenorth, 2013).
Fazit: Bildung und Erziehung sind für Menschen, die ihre Lebensgrundlagen als kulturelle Gemeinschaft erzeugen und tradieren, notwendige Prozesse zur Weitergabe der dazu erforderlichen Kompetenzen und sozialen Normen und Werte an die nachfolgende Generation. Dementsprechend beruhen auch die Vorstellungen dazu, was Ziel und Inhalt von Erziehung sein sollen, auf grundlegenden Werten und Normen der jeweiligen Kultur. In westlichen demokratischen Gesellschaften gelten Eigenverantwortlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit als allgemein verbindliche Werte. Sie sind gleichzeitig Ziele von Bildung.
Der Inhalt des (übrigens nur!) in der Elementarpädagogik diskutierten Begriffs der Selbstbildung (Laewen, 2002; Schäfer, 2005) bezieht sich nicht auf Erziehung und Bildung im hier vorgestellten Sinne, sondern beinhaltet ein recht undifferenziertes Verständnis kindlicher Lernformen. Daher hat der Begriff der Selbstbildung in unseren Augen mehr zur Verwirrung als zur Aufklärung in der Diskussion um den Bildungsauftrag von Kitas beigetragen (Borke & Keller, 2014; Schöler, 2019).
Neben der Eigenständigkeit und Gemeinschaftsfähigkeit sollen Kinder in Kitas auch Kompetenzen in spezifischen Bereichen erwerben, um für den Einstieg in die schulische Bildung gut vorbereitet zu sein.
Definition
Was versteht man unter Kompetenz?
Kompetenzen sind »die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können« (Weinert, 2001, S. 27 f.).
Diese Kompetenzdefinition von Weinert (2001) wird in den Bildungswissenschaften weitgehend geteilt. Danach beinhaltet die Kompetenz einer Person ihre Möglichkeit, Anforderungen unter variablen situativen Bedingungen meistern zu können. Wie alle psychischen Gegebenheiten können Kompetenzen nur anhand der Bewältigung kompetenzspezifischer Anforderungen erschlossen werden. Kompetent handeln setzt also auch voraus, dass die Person motiviert ist, die gestellte Anforderung zu meistern (Klieme & Hartig, 2007).
In neueren Veröffentlichungen wird der Kompetenzbegriff insbesondere im mathematischen und sozio-emotionalen Entwicklungsbereich benutzt. Im sprachlichen und motorischen Bereich ist vornehmlich der Fähigkeitsbegriff verwendet worden.
Wenn in diesem Buch der Begriff Kompetenz verwendet wird, dann fokussieren wir auf das Zusammenspiel von Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und der Motivation, diese Fähigkeiten und Fertigkeiten auch zur Bewältigung von gestellten Anforderungen einzusetzen.
Wenn wir den Begriff Fähigkeit verwenden, dann fokussieren wir auf die erlernte Disposition, eine spezifische Anforderung meistern zu können, unabhängig davon, ob die Person aktuell gewillt ist, sie zu meistern, und auf einzelne Komponenten einer Kompetenz. Wenn wir den Begriff Fertigkeit verwenden, dann fokussieren wir darauf, dass es sich um eine eingeübte Routine handelt.
Auf die Frage danach, welche konkreten Kompetenzen in Kitas zu vermitteln seien, wurde in der Geschichte der elementaren Bildungsinstitutionen in Deutschland sehr unterschiedliche Antworten gegeben (Fthenakis, 2003; Reyer, 2006). Für ein Verständnis der Diskussionen um den Bildungsauftrag von Kitas ist es aufschlussreich, sich die Geschichte dieser Antworten zu vergegenwärtigen.
Bis in die 1960er Jahre waren Kindergärten in Deutschland rein sozialfürsorgerische Einrichtungen mit dem Auftrag zur familienergänzenden Betreuung. Die dort tätigen (Fach-)Kräfte sollten die Kinder zum selbstständigen Handeln insbesondere im Bereich der Selbstversorgung (z. B. ankleiden, ohne Hilfe essen) und in der Übernahme kleiner Pflichten (helfen beim Tischdecken, kleine Besorgungen machen) anleiten (Grossmann, 1987). Wie Studien zeigen, gingen die Vorstellungen darüber, in welchem Alter Kinder welche dieser Handlungen selbstständig beherrschen sollten, durchaus auseinander (Holodynski et al., 2001). Fragen nach frühkindlicher Bildung standen in dieser Zeit nicht im Fokus des öffentlichen oder politischen Interesses.
Erst 1970 wies der Deutsche Bildungsrat dem Kindergarten in seinem Strukturplan des deutschen Bildungswesens einen eigenständigen, d. h. einen von der Schule unabhängigen Bildungsauftrag zu. Dieser wurde ausdrücklich vom funktionsorientierten und wissenschaftsorientierten Ansatz abgegrenzt, der Bildungsangebote nach der Einteilung von Schulfächern (Mathematik, Deutsch, Biologie etc.) empfiehlt (Grossmann, 1987). In Abgrenzung dazu wurde der elementare Bildungsauftrag als ein situationsorientierter Ansatz ausformuliert (Zimmer, 1985; Zimmer et al., 1997). Danach sollten Kinder in der Bewältigung alltäglicher, lebensrelevanter Situationen (z. B. Einkaufen, Besuch im Krankenhaus, Umgang mit einem neugeborenen Geschwisterkind) begleitet werden. Ziel war, dass sich die Kinder die zur Meisterung dieser Situationen benötigten Fähigkeiten alltagsnah aneignen.
Die situationsorientierte Ausrichtung der Elementarbildung wurde auf Grundlage aufwändiger landesweiter Modellversuche legitimiert, die durch den »Sputnikschock« im Jahr 1957 und die daran anknüpfende Bildungsdiskussion der 1960er und 1970er Jahre von der Bildungspolitik initiiert wurden. In diesen durch Längsschnittstudien begleiteten Modellversuchen sollte die Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Bildungskontexte verglichen werden. Dazu wurde ein Teil der Fünfjährigen im letzten Jahr vor der Einschulung in sogenannten Vorklassen durch formalisierte, regelgeleitete Lernangebote (z. B. in Form von Arbeitsblättern und strukturierten Übungen) gefördert, während ein anderer Teil der Fünfjährigen sogenannte Modellkindergärten weiter besuchte.
Die Evaluationsstudien zeigten, dass sich die Kinder aus den Vorklassen in ihren nachfolgenden Leistungen im Verlauf der Grundschulzeit nicht von den Kindern unterschieden, die im letzten Jahr vor der Einschulung den Kindergarten weiter besucht hatten (Dollase, 1979; Winkelmann et al., 1977). Daraus schlussfolgerte man, dass junge Kinder noch nicht von formalisierten Lernangeboten im Vergleich zu den spielerischen Angeboten in den Kindergärten profitieren würden. Daher sollte die Vermittlung von Kompetenzen im Kindergarten weiterhin situiert, d. h. eingebettet in Alltagskontexte erfolgen. Allerdings erbrachten die Modellversuche das eindeutige Ergebnis, dass Kinder, die Vorklassen oder Kindergärten besucht hatten, in der Schule im Durchschnitt besser zurechtkamen als die Kinder, die keines von beiden vor ihrem Schuleintritt besucht hatten (Dollase, 1979; Winkelmann et al., 1977).
Welche Situationen Kinder im Verlauf der Vorschulzeit durchlaufen und welche Kompetenzen sie dabei erwerben sollten, wurde weder konkretisiert noch überprüft (Zimmer et al., 1997). Das führte zur Kritik, dass der situationsorientierte Ansatz eine Beliebigkeit bei den zu vermittelnden Kompetenzen zuließ (vgl. aber auch Wolf et al., 1999).
Im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre erbrachte die entwicklungspsychologische Forschung zunehmend mehr Belege, dass Kinder bereits in den ersten Lebensjahren Fähigkeiten erwerben, die für den Erwerb nachfolgender Kompetenzen eine notwendige Voraussetzung darstellen, wie z. B. einfache Formen der Aufmerksamkeitslenkung und exekutive Funktionen (Müller & Kerns, 2015), intentionale nonverbale Kommunikation und Imitationslernen (Tomasello, 2006).
Die TIMSS- und PISA-Studien
Die Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudien zum Bildungsstand in der Sekundarstufe in den OECD-Staaten (TIMSS und PISA-Studie) offenbarten einen unterdurchschnittlichen Bildungsstand der deutschen Schülerinnen und Schüler im Vergleich zu dem in anderen Ländern (Baumert, 1997; Baumert et al., 2001). Die politisch Verantwortlichen in Deutschland befürchteten daraufhin, dass das öffentliche Bildungssystem den Anschluss an internationale Standards zu verlieren drohe. Damit schien die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland gefährdet. Das sich daran anschließende öffentliche Interesse ging weit über die Fachwelt hinaus und hat Fragen nach der Qualität, Gestaltung und Evaluation des öffentlichen Bildungssystems zu einem politischen Dauerbrenner gemacht (Tietze et al., 2013). In der Folge führte dies zu entsprechenden bildungspolitischen Entscheidungen auch für die Elementarbildung (Fthenakis, 2003).
Studien aus der Entwicklungspsychologie und Bildungsforschung belegen, dass bereichsspezifische Basisfähigkeiten auch einen späteren Lernerfolg in diesen Bereichen vorbereiten und mitbestimmen (vgl. zsf. Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, 2014). So konnte in Längsschnittstudien gezeigt werden, dass Kinder, die z. B. im Bereich Sprache während des Vorschulalters im Vergleich zu ihren Altersgenossen fähiger waren, sich auch während des Grundschulalters weiterhin überdurchschnittlich entwickelten (Rose et al., 2016). Vergleichbares fand man bezüglich des Zahlen- und Mengenwissens von Kindern (Sinner et al., 2011).
In Übereinstimmung mit solchen Erkenntnissen definiert die Neufassung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (1990) in § 22 ausdrücklich die Bildung als Aufgabe von Kindertageseinrichtungen neben der Erziehung und Betreuung. Doch bedurfte es erst des »PISA-Schocks« im Jahr 2001, um solche fachwissenschaftlichen Befunde in weitergehende bildungspolitische Initiativen einzubeziehen.
Eine der wichtigsten bildungspolitischen Veränderungen im Elementarbereich ist die heute noch gültige Ausrichtung des Bildungsauftrags, auf die sich die Jugend- und Kultusminister aller Bundesländer im Jahr 2004 in einem »gemeinsamen Rahmen zur Gestaltung der pädagogischen Arbeit in elementaren Bildungseinrichtungen« verständigten (Kultusministerkonferenz, 2004). Darin wird der Bildungsauftrag von Kitas dahingehend konkretisiert, dass Kindern Basiskompetenzen zu vermitteln sind, die ihnen den Anschluss an das Lernen in den spezifischen Bildungsbereichen der Schule ermöglichen.
Diese Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz werden im Folgenden als KMK-Rahmenplan bezeichnet. Die länderspezifischen Pläne werden in Abgrenzung dazu durchgängig als Bildungspläne bezeichnet, unabhängig davon, ob sie in ihrem Titel die Bezeichnung Orientierungsplan, Orientierungsrahmen o. Ä. tragen.
Die Jugend- und Kultusminister*innen aller Länder haben sich 2004 erstmals in der Geschichte des föderalen Systems der Bundesrepublik Deutschland darauf verständigt, in welchen Bildungsbereichen der Elementarbildung Basiskompetenzen vermittelt werden sollen. Das sind die folgenden sechs Bildungsbereiche (KMK, 2004, S. 4 f.):
1. Sprache, Schrift, Kommunikation
2. Personale und soziale Entwicklung, Werteerziehung/religiöse Bildung
3. Mathematik, Naturwissenschaft, (Informations-)Technik
4. Musische Bildung/Umgang mit Medien
5. Körper, Bewegung, Gesundheit
6. Natur und kulturelle Umwelten.
»Durch die Beschäftigung mit Inhalten aus den vorgegebenen Bereichen soll das Kind nicht nur bereichsspezifische, sondern vor allem übergreifende und grundlegende Kompetenzen als Persönlichkeitsressourcen erwerben« (KMK, 2004, S. 3).
Mit einer solchen »Kompetenzorientierung« ist in der Elementarpädagogik ein Perspektivenwechsel verbunden. Danach legt der Kompetenzbegriff den Fokus auf klar definierte Anforderungen, die ein Kind z. B. im Bereich Sprache, Motorik, Mathematik, soziale Beziehungen im Laufe seiner Kita-Zeit zu meistern lernen soll. Die Bewältigung von Anforderungen mit Hilfe geeigneter kulturellen Mittel und Strategien wird als grundsätzlich erlernbar angesehen. Fragen danach, in welchem Verhältnis angeborene und erworbene Strukturen bei der Meisterung von Anforderungen (Kompetenzerwerb) zusammenwirken, treten in den Hintergrund zugunsten von Fragen, wie man den Erwerb durch eine adaptive Lernunterstützung für möglichst alle Kinder gewährleisten kann.
Über die Bestimmung von Bildungsbereichen hinaus wird Kitas ein eigenes Profil zugesprochen: »Kindertageseinrichtungen sind Bildungsinstitutionen mit einem eigenen Profil« (KMK, 2004, S. 3). Auf der Suche nach dem Inhalt für ein solches Profil findet man Formulierungen wie die frühzeitige Stärkung individueller Kompetenzen, Lerndispositionen und des Forscherdrangs. Die Stärkung dieser Lerndispositionen soll »das Kind motivieren und darauf vorbereiten, künftige Lebens- und Lernaufgaben aufzugreifen und zu bewältigen … und ein Leben lang zu lernen« (KMK, 2004, S. 3). Solche Formulierungen zielen darauf, das eigene Lernen eigenverantwortlich ausrichten, planen und gestalten zu können (Hasselhorn & Labuhn, 2008).
In der pädagogisch-psychologischen Forschung wird ein solches Lernen unter dem Konzept des selbstregulierten oder selbstständigen Lernens untersucht. Diese Kompetenz zum selbstregulierten Lernen ist die psychologische Bezeichnung für das, was in der Bildungsdiskussion seit Wilhelm von Humboldt als allgemeine Bildung beschrieben wird. Allgemeine Bildung beinhaltet im umfassenden Sinne das Lernen zu lernen (Tenorth, 2004, S. 111).
Der Erwerb selbstregulierten Lernens als Bildungsziel in den Elementarbereich vorzuziehen, halten jedoch nur wenige Autoren für machbar. Dazu gehört Pramling (1990) mit ihrem metakognitiven Ansatz, auf den sich auch Gisbert (2004) sowie Fthenakis und Mitarbeiter (2007) in ihrer Neukonzeption der Elementarbildung beziehen.
Betrachtet man jedoch die psychischen Voraussetzungen, die eine eigenverantwortliche Ausrichtung, Planung und Gestaltung von Handlungen ganz allgemein und somit auch von Lernhandlungen erfordern, erkennt man den Grund für diese Skepsis: Das Bildungsziel, selbstreguliertes Lernen zu erwerben, stellt für den Entwicklungsstand von Kindern unter fünf/sechs Jahren zu hohe Anforderungen an ihre Selbstregulation. Denn in diesem Alter beginnen Kinder gerade erst, metakognitive Fähigkeiten zu erwerben, die für eine selbstständige Planung, Ausrichtung und Reflexion von (Lern-)Handlungen sowie für eine Regulation von Emotionen Voraussetzung sind. Daher kann dieses Bildungsziel kein tragfähiges Konzept für die Elementarbildung abgeben (Blair & Raver, 2015; Bodrova & Leong, 2006; Kap. 4.5).
Nicht ohne Grund ist daher das selbstregulierte (und lebenslange) Lernen ( Kap. 4.5) zum allgemeinen Bildungsziel der Schule bestimmt worden (Klieme et al., 2003; Tenorth, 2004) und eben nicht der Kita. Damit bleibt in der Neuausrichtung des Bildungsauftrags für Kitas die entscheidende Frage letztendlich noch unbeantwortet, nämlich die nach dem eigenständigen Bildungsziel für den Elementarbereich.
Um hier eine Antwort zu finden, hilft es, die Entwicklung der verschiedenen Lernformen in den Blick zu nehmen ( Kap. 4). Denn dabei wird deutlich, dass selbstreguliertes Lernen eine eigenständige Lernform darstellt, die Kinder erst im Laufe der Schulzeit erwerben (Stöger et al., 2009). Zur Bestimmung eines eigenständigen Bildungsziels für den Elementarbereich bliebe dann zu klären, welche Fähigkeiten Kinder auf ein selbstreguliertes Lernen vorbereiten und daher in der Kita zu vermitteln wären.
Dazu werden wir in Kapitel 3 ( Kap. 3) die besonderen Merkmale und Anforderungen des Spiels in seinen Formen des Funktions-, Rollen-, Regel- und Konstruktionsspiels näher beschrieben. Dabei wird deutlich, dass diese Spielformen in ihren höheren Niveaus von den Kindern bereits basale Formen der Selbstregulation verlangen und damit vorbereiten. Auf diese Weise stellen sie einen geeigneten Kontext für deren Erwerb dar (Berk & Meyers, 2013; Bodrova et al., 2013; Bodrova & Leong, 2007; El'konin et al., 2010).
Daher vertreten wir die Auffassung, dass der Erwerb von Spielkompetenzen als übergreifendes Bildungsziel einer Elementarbildung formuliert werden sollte.
Ab 2003 sind erstmalig Bildungspläne für Kinder von 0 bis 6 (und nachfolgend in einer zweiten Generation für Kinder von 0 bis 10) Jahren entstanden (für einen Überblick s. deutscher Bildungsserver, 2019). Mit diesen Bildungsplänen soll eine Orientierung für Kita-Fachkräfte gegeben werden, wie sie die Bildung von drei- bis sechsjährigen Kindern gestalten können.
Schaut man sich die Bildungspläne der einzelnen Bundesländer an, findet man jedoch keine konkreten Ausführungen, welche Anforderungen Kinder mit drei, vier, fünf und sechs Jahren in den vorgegebenen Bildungsbereichen meistern sollten, um bis zum Schulübergang z. B. über die sprachlichen, mathematischen oder selbstregulatorischen Fähigkeiten zu verfügen, die einen erfolgreichen Übergang zum Lernen in der Schule für die Kinder sichern. Auch sucht man vergeblich nach erprobten Materialien, die Fachkräften helfen, Kindern spielbasiert Basisfähigkeiten zu vermitteln. Stattdessen findet man entweder blumige Leitbegriffe in unsystematischer Zusammenstellung wie z. B. im sächsischen Bildungsplan (Sächsisches Staatsministerium für Kultus, 2011) oder eine überbordende Ausdifferenzierung von Ich-, Sach-, Sozial- und Lernkompetenzen wie z. B. im Berliner und Hamburger Bildungsplan (Freie und Hansestadt Hamburg, 2012; Senatsverwaltung für Bildung Jugend und Wissenschaft Berlin, 2014). Positiv hervorzuheben ist der Hessische Bildungsplan (Hessisches Ministerium für Soziales und Integration und Hessisches Kultusministerium, 2014) mit einer Konkretisierung der Bildungsziele für die sechs Bildungsbereiche.
In der Gesamtschau haftet den Bildungsplänen eine bemerkenswerte Beliebigkeit an – wenn man einmal von der Gemeinsamkeit absieht, dass sie »Bilder schönster Gegenwarten, freundlichster Zukünfte, harmonischer Menschen, gebildeter Pädagogen, friedlicher Weltzustände« beschreiben, wie Tenorth (2004, S. 107) das süffisant formuliert hat. Ansonsten wundert sich der Leser und die Leserin, dass in den kulturell doch sehr ähnlichen Bundesländern Deutschlands gänzlich andere Bildungsziele formuliert und gewichtet werden.
Bezüglich der inhaltlichen Bestimmung eines »eigenständigen Profils« für Kitas, zeigt sich nach Durchsicht der Bildungspläne ein ernüchterndes Bild: Das in allen Bildungsplänen übereinstimmend benannte Bildungsziel, das selbstregulierte Lernen zu fördern, setzt die eigenständige Auswahl, Planung, Durchführung und Kontrolle von Handlungen bereits voraus. Aber die dazu erforderlichen Fähigkeiten beginnen fünf- und sechsjährige Kinder gerade erst in ihren basalen Formen zu erwerben. Daher ist das selbstregulierte Lernen Bildungsziel und Kernaufgabe allgemeinbildender Schulen und gerade nicht des Elementarbereichs.
Bereichsübergreifendes Bildungsziel. Stattdessen sollte der Erwerb von Spielkompetenzen als übergreifendes Bildungsziel der Elementarbildung formuliert werden, da im Kontext des Spiels bereits diejenigen metakognitiven Fähigkeiten erworben werden können, die beim selbstregulierten Lernen vorausgesetzt werden.
Bereichsspezifische Bildungsziele. Die im Rahmenplan vorgeschlagenen sechs Bildungsbereiche (KMK, 2004, S. 4 f.) wurden in die Bildungspläne der Länder übernommen und z. T. weitere hinzugefügt. Allerdings fehlt durchgängig eine Konkretisierung, welche Fähigkeiten in welcher Abfolge in jedem der Bereiche erworben werden und welche Bildungsangebote und lernunterstützenden Maßnahmen von Fachkräften dazu organisiert werden müssen.
Wir werden daher in den Kapiteln 5 bis 8 ( Kap. 5 bis Kap. 8) darstellen, welche Basiskompetenzen Kinder in welcher entwicklungslogischen Reihenfolge zwischen drei Jahren bis zu ihrer Einschulung erwerben. Diese entwicklungslogische Abfolge bietet einen notwendigen Maßstab für eine Beobachtung und Bewertung der individuellen kindlichen Entwicklung einerseits ( Kap. 9 und ( Kap. 10) als auch für die entwicklungsförderliche Gestaltung von Bildungsangeboten andererseits ( Kap. 11 bis Kap 16).
Um Kindern eine auf ihren individuellen Bildungsbedarf abgestimmte Lernunterstützung geben zu können, müssen Fachkräfte zunächst den individuellen Bildungsbedarf einzelner Kinder erfassen. Sie sollten auch deren Interessen kennen, da sie hilfreiche Anknüpfungspunkte für Bildungsangebote darstellen. Dazu werden in allen Bildungsplänen übereinstimmend Beobachtung und Dokumentation als wichtige Methoden benannt und deren Anwendung von den Fachkräften eingefordert. Beobachtung und Dokumentation sind daher nicht Selbstzweck, sondern notwendige Voraussetzung zur Gestaltung von adaptiven Bildungsangeboten. Dabei hängt die erfolgreiche Ermittlung des kindlichen Bildungsbedarfs auch davon ab, dass die eingesetzten Verfahren tatsächlich Substanzielles zum Entwicklungsstand der Kinder erfassen. Dazu müssen sie den wissenschaftlichen Standards der Diagnostik genügen, wie wir im nächsten Abschnitt begründen.
In allen Bildungsplänen wird den Fachkräften die Aufgabe zugewiesen, die individuellen Themen, Interessen und Zugänge eines Kindes zur Welt zu verstehen. Das ist sinnvoll und notwendig, um Kinder an neue Aufgaben in einer Art und Weise heranzuführen, die nach ihrem Verständnis und in ihrem Lebenskontext Sinn machen. Denn solche Sinnzusammenhänge ergeben sich keineswegs automatisch aus der Erfassung des Vorwissens eines Kindes in einem der Bildungsbereiche.
Zur Erfassung der Themen und Interessen wird in allen Bildungsplänen eine nicht standardisierte Beobachtung, auch freie Beobachtung genannt, als geeignete diagnostische Methode empfohlen, aber nur in den Plänen aus Berlin, Hamburg und dem Saarland ausführlich beschrieben.
Ablauf und Auswertung von »freien« Beobachtungen zur Erfassung des individuellen Bildungsbedarfs
Eine Fachkraft oder besser zwei Fachkräfte sollen ein Kind (zufällig oder geplant) in einer beliebigen Spiel- oder Alltagssituation (ungefähr fünf bis zehn Minuten) wahrnehmen und dabei (oder im Anschluss) sowohl die kindlichen Handlungen, den Situationskontext als auch alle ablaufenden Kommunikationsprozesse verhaltensnah und wertfrei protokollieren. Die Protokolle werden gesammelt (vgl. Greve & Wentura, 1997; Viernickel & Völkel, 2017).
Damit aus solchen Aufzeichnungen Erkenntnisse bezüglich kindlicher Interessen, Themen und Zugängen zur Welt entstehen, bedarf es neben der Beobachtung an sich weiterhin (a) Zeit für eine Selbstreflexion der Fachkraft, um zu vermeiden, dass die Beobachtungen durch eigene Voreingenommenheit verzerrt wahrgenommen werden, (b) Zeit für einen kollegialen Austausch im Team sowie (c) Zeit für ein Gespräch mit dem Kind, um auch dessen Sichtweise zu berücksichtigen.
Sorgfältig und regelmäßig angewandt, können Fachkräfte durch die oben beschriebene »freie« Beobachtung für jedes Kind klären, welche Aktivitäten es gern tut, welche nicht, welche es gar meidet, mit wem es sie tut, ob es zum Streit kommt oder es einvernehmlich passiert. Diesem Vorteil stehen jedoch gravierende Nachteile entgegen ( Kap. 9):
• Der hohe Zeitaufwand. Mehrfache Beobachtungen und ihre gemeinsame Reflexion im Team benötigen viel Zeit – zu viel Zeit angesichts der vielfältigen Aufgaben von Fachkräften.
• Die Anfälligkeit für Beobachtungsfallen. Je nach individuellen Vorerfahrungen werden gleiche kindliche Verhaltensweisen sehr unterschiedlich wahrgenommen und gedeutet (vgl. dazu Dittrich et al., 2001). Es wird eher das wahrgenommen, was die eigenen (unbewussten) Erwartungen bestätigt. Einen systematischen Überblick über die vielfältigen Fehlermöglichkeiten bei einer Beobachtung vermitteln Greve und Wentura (1997).
• Fähigkeiten können nur durch diagnostische Experten erfasst werden. Was besagt z. B. die freie Beobachtung, dass ein sechsjähriges Kind bis 10 gezählt hat, über dessen Entwicklungsstand? Für sich genommen nichts. Erst wenn das beobachtete Verhalten mit sachlichen, sozialen und individuellen Bezugsnormen in Beziehung gesetzt wird lässt sich das kindliche Fähigkeitsniveau erschließen ( Kap. 9; Kany & Schöler, 2009). Diese Bezugsnormen müssen Fachkräfte kennen, was eine hohe diagnostische Kompetenz voraussetzt. Bislang gibt es keine empirischen Überprüfungen für die Zuverlässigkeit und Gültigkeit (Validität) der aus »freien« Beobachtungen gezogenen Schlüsse auf das kindliche Fähigkeitsniveau (Quaiser-Pohl et al., 2010).
• Mangelnde Repräsentativität der Beobachtungsereignisse. In »freien« Beobachtungen kann man nur das beobachten, was ein Kind von sich aus zeigt. Das ist in vielen Fällen zu wenig, um daraus selbst bei hoher diagnostischer Kompetenz auf zugrunde liegende Fähigkeiten zu schließen.
Gänzlich unprofessionell ist der Wunsch oder Anspruch, mit der »freien« Beobachtung die Persönlichkeit eines Kindes »ganzheitlich« erfassen zu wollen. Ein solcher Anspruch scheitert logischerweise an den »schier unendlichen« Aspekten, die in den Blick genommen werden müssten (Schöler, 2019).
Die Entwicklung der Kinder in wesentlichen Bildungsbereichen zu beobachten und auf ihre Altersangemessenheit zu prüfen, gehört zu den Aufgaben der Fachkräfte in Kitas. Denn nur, wenn Fachkräfte eine Vorstellung davon haben, was ein Kind (z. B. im Bereich Mengen und Zahlen) schon weiß und welche einzelnen Fähigkeiten es bereits entwickelt hat, können sie neue Anforderungen für ein Kind gestalten, die den kindlichen Interessen und Sinnzusammenhängen gerecht werden. Obwohl die Bedeutung dieser Aufgabe im KMK-Rahmenplan (2004) ausdrücklich betont wird, fehlen Hinweise oder Empfehlungen auf geeignete Verfahren. Allein zur Sprachdiagnostik werden zunehmend wissenschaftlich geprüfte Verfahren in Kitas verlangt.
Aber auch für die anderen Bildungsbereiche darf es für ein Kind nicht Glücksache sein, ob seine Fachkraft professionelle Diagnostikverfahren einsetzt, um den kindlichen Bildungsbedarf zu ermitteln.
Daher sollten in öffentlichen Bildungseinrichtungen solche diagnostischen Methoden und Verfahren zum Einsatz kommen, die offenlegen, mit Hilfe welcher Bezugsnormen Beobachtungen von kindlichen Verhaltensweisen als altersangemessen oder als Hinweis auf ein Entwicklungsrisiko interpretiert werden und aufgrund welcher wissenschaftlichen Studien sie zu diesen Einschätzungen gekommen sind. Das ist nur mit standardisierten und normierten diagnostischen Verfahren möglich (Schneider & Hasselhorn, 2018; Schöler, 2019; Tietze, 2006). Welche Verfahren für den Einsatz in Kitas geeignet sind, beschreiben wir in Kapitel 10 ( Kap. 10), wie z. B. das BIKO-Screening zur Entwicklung von Basiskompetenzen für 3- bis 6-Jährige (BIKO 3-6; Seeger et al., 2014).
In den Bildungsplänen beschränken sich die Empfehlungen zur Gestaltung einer Bildungsdokumentation auf das Sammeln von Selbstzeugnissen und Spuren der kindlichen Entwicklung. Das sind z. B. vom Kind gemalte Bilder, Fotos von Aktivitäten und Bastelarbeiten, Geburtstagsinterviews, kleine Geschichten, die Kinder erzählten und die Fachkraft aufschrieb, oder Lerngeschichten im Anschluss an eine »freie« Beobachtung (Viernickel & Völkel, 2017). Solche »Entwicklungsspuren« werden in Form von Bildungsbüchern oder Portfolios gesammelt, von Zeit zu Zeit gemeinsam mit dem Kind angeschaut und dabei im Rückblick seine Fortschritte gewürdigt. Beim Übergang in die Schule werden diese Dokumente dem Kind zur Erinnerung ausgehändigt. Diese Art der Dokumentation gehört seit jeher zum guten Standard deutscher Kitas und stellt einen nicht zu unterschätzenden Eigenwert dar. Denn eine solche gemeinsame autobiografische Erinnerungskultur transportiert emotionale Wertschätzung gegenüber dem Kind und seinen angefertigten Produkten auf seinem individuellen Entwicklungsweg.
Über die Dokumentation von Erinnerungsspuren hinaus werden aber nur in einzelnen Bildungsplänen die Dokumentation von Kompetenzzuwächsen und das Erreichen von definierten Entwicklungsmeilensteinen gefordert.
Fazit: Während die Dokumentation kindlicher Entwicklungsspuren in Form von Portfolios und Bildungsbüchern in den Einrichtungen seit den 1950er Jahren beliebt und weit verbreitet ist, werden kindliche Entwicklungsstände und -fortschritte bislang nur unzureichend dokumentiert. Wir werden daher in Kapitel 10 ( Kap. 10) ein Beispiel für eine solche Bildungsdokumentation vorstellen, die auf den diagnostischen Ergebnissen des BIKO 3-6 (Seeger et al., 2014) beruht und von Fachkräften in Kitas ohne zusätzlichen Schreibaufwand erstellt werden kann.
Die Beobachtung von Kindern bezüglich ihrer altersgemäßen Entwicklung ist traditionell eine wichtige Aufgabe in Kitas. Über die Wahrnehmung von kindlichen Fragen, Themen und Interessen hinaus gilt es, für jedes Kind in zentralen Bildungsbereichen auch den Stand seines bereits erworbenen Vorwissens und seiner Fähigkeiten zu erfassen, zu dokumentieren und ein mögliches Entwicklungsrisiko frühzeitig zu erkennen.
Auf diese Aufgabe sind Fachkräfte in Kitas nur unzureichend vorbereitet. Die Schwierigkeit, in welchen Bereichen sowie mit welchen Verfahren sie den individuellen Entwicklungsstand ihrer Kinder erfassen können, bleibt in den Bildungsplänen weitgehend unbeantwortet, da dort keine Verfahren empfohlen werden, die nach diagnostischen Qualitätsstandards konstruiert und evaluiert worden sind. Eine Ausnahme bilden professionelle Verfahren zur Sprachstanderhebung, die mittlerweile Einzug in die Kitas gehalten haben.
Manche Fachvertreter und Fachvertreterinnen werfen diagnostischen Verfahren eine sogenannte »Defizitorientierung« vor, weil sie neben den bereits entwickelten Fähigkeiten eines Kindes auch Entwicklungsrisiken aufdecken. Eine dogmatische Ablehnung, diese wichtigen Informationen über die kindliche Entwicklung zur Kenntnis zu nehmen, führt aber dazu, eine frühzeitige Planung von Unterstützungsmöglichkeiten ungenutzt zu lassen (Schöler, 2019; Tröster, 2009). Auch Viernickel (2011, S. 202) beklagt einen solchen elementarpädagogischen Dogmatismus, der vielfach auf reiner Unkenntnis beruht. Denn die Vermittlung von diagnostischen Verfahren gehört nicht zum Ausbildungskanon an Fachschulen für Kita-Fachkräfte.
Daher werden wir in Kapitel 9 ( Kap. 9) die grundlegenden Fragen zur Erfassung des kindlichen Entwicklungsstands erörtern und die diagnostischen Qualitätsstandards erläutern, die valide und zuverlässige Aussagen über kindliche Kompetenzen und Risiken im Entwicklungsverlauf liefern können. In Kapitel 10 ( Kap. 10) werden wir das BIKO 3-6 (Seeger et al., 2014) als ein Beispiel wissenschaftlich geprüfter diagnostischer Verfahren für den Elementarbereich vorstellen. Es ermöglicht den Fachkräften, motorische, mathematische und sozio-emotionale Basiskompetenzen der Kinder sowie ihre Voraussetzungen für den Schriftspracherwerb in praktikabler Weise und Zeit zu ermitteln.
Antworten auf die Frage, welche Faktoren zum Gelingen einer Elementarbildung beitragen, wurden im Rahmen der Qualitätsdebatte der 1990er Jahren gesucht. Dabei lassen sich nach Tietze und Kollegen (1997) zwei Hauptfaktoren unterscheiden, nämlich die Strukturqualität und die Prozessqualität einer Kita-Gruppe. Die Strukturqualität ist definiert durch Merkmale, die den Personalschlüssel sowie die Räume- und Spielmaterialien betreffen. Die Prozessqualität wird definiert durch Merkmale, die die lernunterstützenden Interaktionen zwischen Fachkraft und den Kindern kennzeichnen.
Auf der Suche nach den Erfolgsbedingungen frühkindlicher Bildung haben Langzeitstudien gezeigt, dass insbesondere die Qualität der Interaktionen zwischen Fachkraft und Kind den Schlüssel zum Erfolg darstellt. In der Arbeit mit Kindern mit bildungsfernem familiärem Hintergrund entfaltet eine hohe Prozessqualität eine kompensatorische Wirkung (Hamre, 2014; Pianta et al., 2016; Siraj-Blatchford & Sylva, 2004; Tietze et al., 2005; Tietze et al., 2013).
Gleichzeitig zeigt die NUBBEK-Studie, dass diese Schlüsselkompetenz einer kognitiv-aktivierenden Interaktionsgestaltung nicht in ausreichendem Maße von Fachkräften in den Kitas gezeigt wird (Tietze et al., 2013). Bei der Hälfte der untersuchten Gruppen war die Interaktionsgestaltung unzureichend. Auch Ergebnisse der BiKS-Studie (Bildungsprozesse, Kompetenzentwicklung und Selektionsentscheidungen im Vorschul- und Schulalter; Kuger & Kluczniok, 2009) belegen eine schwache Prozessqualität und damit eine unzureichende Förderung der Kinder. König (2009) resümiert ihre Beobachtungsstudie in Kitas, dass Fachkräfte kognitiv aktivierende Dialoge mit Kindern mit angemessenen Anforderungen zur Lösungssuche nur selten initiierten. Vielmehr reagierten sie lediglich auf die Initiativen der Kinder oder warteten einfach ab.
Aus der Unterrichtsforschung weiß man: Je besser Lehrkräfte den Kenntnisstand ihrer Schülerinnen und Schüler einschätzen können (diagnostische Kompetenz) und je mehr kognitiv aktivierende Interaktionen sie realisieren (didaktische Kompetenz), desto stärker sind auch die Lernzuwächse (Behrmann & Souvignier, 2013; Helmke & Schrader, 1987). In den Lehrplänen der Fachschulen, an denen Kita-Fachkräfte in Deutschland noch überwiegend ausgebildet werden, sind jedoch die beschriebenen Kompetenzen zur Planung lernunterstützender Interaktionen nur unzureichend adressiert.
Wie können Bildungsangebote in Kitas entwicklungsangemessen gestaltet werden und mit Spaß und hohem Engagement durchgeführt werden, sodass Kinder Freude und Selbstwirksamkeit erleben und zugleich Lernfortschritte ermöglichen? Wir haben dazu eine Bildungskonzeption entworfen, die auf die oben vorgenommenen Analysen abgestimmt ist: Bildungin derKitaorganisieren (BIKO). Sie soll Fachkräften in Kitas eine Orientierung geben, wie sie entwicklungsangemessene, wirksame und motivierende Bildungsangebote gestalten können und worauf sie dabei zu achten haben. Die BIKO-Konzeption wird in Kapitel 11 ( Kap. 11) ausführlich vorgestellt. Sie umfasst drei Komponenten:
1. Formulierung von Bildungszielen in Form einer bereichsübergreifenden und vier bereichsspezifischen Basiskompetenzen. In der BIKO-Konzeption werden für die Bereiche Selbstregulation ( Kap. 11) und Sozio-Emotionalität ( Kap. 13), Motorik ( Kap. 14), Mathematik ( Kap. 15) und Sprache ( Kap. 16) Bildungsziele formuliert. Diese sollten Kinder bis zu ihrer Einschulung erreicht haben, um für das Lernen in den Bildungsbereichen der Grundschule gut vorbereitet zu sein. Diese Bildungsziele basieren auf den in den Kapiteln 2 ( Kap. 2) bis 8 ( Kap. 8) dargestellten entwicklungspsychologischen Erkenntnissen.
2. Vier Qualitätsstandards für die Gestaltung von Bildungsangeboten in Kitas. Die BIKO-Konzeption beinhaltet vier Qualitätsstandards für wirksame Bildungsangebote. Sie basieren auf Evaluationsstudien, die zeigen, welche Komponenten zu einer wirksamen Lernunterstützung im Elementarbereich beitragen (Blair & Raver, 2014; Diamond & Lee, 2011; Siraj-Blatchford & Sylva, 2004; Tietze et al., 2005; Tietze et al., 2013):
• Bildungsangebote sind diagnostikbasiert. Werden die individuellen Fähigkeiten eines Kindes zunächst diagnostiziert, kann eine individuelle Passung zwischen dem diagnostizierten Entwicklungsstand und den zu planenden Bildungsangeboten hergestellt werden. Für die Diagnostik wurde das BIKO 3-6 (Seeger et al., 2014) theoriebasiert konstruiert, standardisiert, validiert und normiert sowie für den Einsatz durch Kita-Fachkräfte optimiert ( Kap. 10).
• Bildungsangebote sind spielbasiert. Spiele stellen in Abgrenzung zu Übungen in schulähnlichen Trainingssettings eine gute Passung zu den noch in der Entwicklung befindlichen Fähigkeiten der Kinder zur Selbstregulation dar. Dabei kann je nach Entwicklungsstand und Bildungsbereich das Förderpotenzial unterschiedlicher Spielformen (Funktions-, Rollen-, Regel- und Konstruktionsspiele) genutzt werden, um Kindern Anforderungen im Bereich der Selbstregulation und den anderen Bildungsbereichen zu stellen (Bodrova & Leong, 2007).
• Bildungsangebote sind materialbasiert. In den BIKO-Spielekisten werden für den motorischen, mathematischen und sozio-emotionalen Bildungsbereich jeweils eine umfangreiche Sammlung an praxiserprobten Spielen zur Verfügung gestellt, die Fachkräfte für eine wirksame Förderung einsetzen können (Seeger et al., 2020; Seeger et al., 2021). Die BIKO-Spielekisten beschreiben für jedes der Spiele, welche Fähigkeiten der Selbstregulation und welche Fähigkeiten im Bereich Mathematik, Motorik etc. adressiert werden, welche konkrete Lernunterstützung eine Fachkraft geben und wie sie das Spiel variieren kann, um es an individuelle Fähigkeiten anzupassen.
• Bildungsangebote sind lernunterstützend. In den Kapiteln 12 bis 16 ( Kap. 12 bis Kap. 16) geben wir konkrete Hinweise, wie Fachkräfte in spielbasierten Bildungsangeboten den Kindern Lernunterstützung geben können.
• In den Kapiteln 12 bis 16 werden Bildungsangebote vorgestellt, die nach diesen vier Qualitätsstandards konzipiert wurden. In Kapitel 12 ( Kap. 12) beschreiben wir, wie die Selbstregulation von Kindern durch das Rollen- und Regelspiel gefördert werden kann. Die Kapitel 13 bis 16 enthalten Bildungsangebote zur Förderung sozio-emotionaler, motorischer, mathematischer und sprachlicher Basiskompetenzen.
3. Qualitätszyklus der Bildungsarbeit. Im Qualitätszyklus beschreiben wir, wie Fachkräfte Bildungsangebote in eine zyklische Abfolge von Diagnostik, Planung, Durchführung und Reflexion im Ablauf eines Kita-Jahres einbetten können ( Kap. 11.4).
Der Erwerb der Selbstregulation stellt eine bedeutsame Entwicklungsaufgabe auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen dar (Blair & Raver, 2015; Kochanska & Aksan, 2006). Kopp (1982) hat den Begriff Selbstregulation als eine der ersten in die Diskussion eingeführt und beschreibt Selbstregulation wie folgt:
»(Selbstregulation ist) die Fähigkeit, einer Aufforderung zu folgen, Aktivitäten entsprechend der situativen Anforderungen zu initiieren oder zu stoppen, die Intensität, Häufigkeit und Dauer von verbalen und motorischen Handlungen auf die sozialen und erzieherischen Kontexte hin abzustimmen, das Handeln in Bezug auf ein gewünschtes Objekt oder Ziel aufzuschieben und sozial erwünschtes Verhalten in Abwesenheit externer Aufpasser zu zeigen« (Kopp, 1982, S. 199; dt. Übers. durch Autoren).
Die hohe Bedeutung der Selbstregulation für ein gedeihliches Zusammenleben in kulturellen Gemeinschaften ist in Erziehungswissenschaft, Psychologie sowie im elementarpädagogischen Feld unbestritten. Weniger einmütig sind die Antworten auf die Fragen, welche Fähigkeiten eine Selbstregulation umfasst und wie und wann Kinder diese erstmals erwerben. In diesem Kapitel wollen wir diesen Fragen nachgehen.
Selbstregulation umfasst motivationale Bereitschaften und kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Person, Handlungen in unterschiedlichen Anforderungssituationen initiieren und regulieren zu können.
Definition
Selbstregulation
Selbstregulation ist die Kompetenz, dass eine Person eine Folge von Handlungen zur Befriedigung ihrer persönlichen Motive und unter Berücksichtigung sozialer Werte vorausschauend planen, mit ihren Mitmenschen koordinieren, durchführen, überwachen und wenn notwendig nachjustieren kann.
Selbstregulation besteht im Gebrauch von exekutiven Funktionen, um ein übergeordnetes Ziel zu erreichen. Exekutive Funktionen sind metakognitive Strategien, die eine willentliche Regulation der eigenen Handlungen und Emotionen ermöglichen (Diamond, 2006; Kubesch, 2014; Miyake et al., 2000; Müller & Kerns, 2015). Dazu gehören die folgenden Fähigkeiten:
1. Handlungen planen,
2. Handlungen willentlich hemmen (inhibition),
3. Handlungen flexibel wechseln (shifting),
4. Handlungen an sich fortlaufend ändernde Bedingungen anpassen (updating),
5. Emotionen in Intensität, Dauer und Qualität willentlich verändern (Emotionsregulation) (Holodynski, Hermann et al., 2013; Holodynski, Seeger et al., 2013; Kullik & Petermann, 2012) sowie
6. über Handlungen und Emotionen reflektieren (metakognitives Verständnis, Kray & Schneider, 2018). Zum metakognitiven Verständnis zählen insbesondere
a) eine Theory of Mind, eigene Absichten, Motive/Werte und Erwartungen sowie die seiner Interaktionspartner verstehen zu können,
b) ein Symbolverständnis, Zeichen zur Repräsentation dieser Sachverhalte nutzen zu können sowie
c) ein Zeitverständnis, sich Handlungen, Emotionen und Sachverhalte in Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit vorstellen zu können.
Wenn von Handlungen gesprochen wird, dann sind damit nicht nur motorische und sprachliche Handlungen, sondern auch mentale Handlungen gemeint.
Die Frage nach dem Erwerb von Selbstregulation ist gleichbedeutend mit der Frage, wie Kinder metakognitive Strategien erwerben. Antworten auf diese Frage geben Theorien zur Entwicklung der exekutiven Funktionen, die in den letzten drei Jahrzehnten in der Entwicklungspsychologie immer stärkere Beachtung gefunden haben (Diamond, 2006; Zelazo & Carlson, 2012). Die Konzepte zeitgenössischer Theorien gehen u. a. auf Forschungen der kulturhistorischen Tätigkeitstheorie zurück (Leontjew, 1982; Vygotskij, 1992, 2002; Vygotsky & Luria, 1994). In diesen frühen Arbeiten wurde bereits die Bedeutung kulturell geschaffener Zeichen und die Bedeutung der Kooperation (bzw. Koregulation) für die Entwicklung der Selbstregulation hervorgehoben. Diese Konzepte und Ideen leben in einer Reihe zeitgenössischer Theorien fort (Carlson & Beck, 2009). In diesen Theorien wird die psychische Regulation, eigene Handlungen und Emotionen willentlich zu hemmen oder zu modifizieren, als exekutive Funktionen konzeptualisiert (Gawrilow & Rauch, 2017; Kray & Schneider, 2018; Sokol et al., 2010).
Eine Leitidee ist das von Vygotskij (1992) aufgestellte allgemeine Gesetz der Entwicklung höherer psychischer, sprich metakognitiver Funktionen. Danach tritt jede höhere psychische Funktion, so auch die willentliche Regulation von Handlungen und Emotionen, in der kindlichen Entwicklung zunächst als sozial vermittelter Prozess und erst dann als eine individuelle Fähigkeit auf: