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Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Um politische Neutralität im Bildungsbereich ranken sich etliche Irrtümer. Der Autor nimmt sich des Wildwuchses an. Er setzt sich mit Populismus, Digitalisierung und Klimawandel auseinander und konzipiert ein pädagogisches und gesellschaftliches Verständnis der Begriffsfügung. Denn wenn es zu Spannungen zwischen schulischen Inhalten und politischen Weltbildern kommt, dann ist das – so die These – kein Problem der Schule, sondern eines der Politik und im gravierendsten Fall sogar eines der Demokratie.
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Seitenzahl: 204
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Stephan Baumgartner
Bildung und politische Neutralität
Spannungen im Zeitalter der Extreme
ISBN Print: 978-3-0355-2337-9
ISBN E-Book: 978-3-0355-2338-6
1. Auflage 2023
Alle Rechte vorbehalten
© 2023 hep Verlag AG, Bern
hep-verlag.ch
1 Einleitung
2 Gebote, Verbote und Befindlichkeiten
Neutralität als Parteinahme
Politische Neutralität als Fiktion und Grenzbestimmung
Ein politisches Hirngespinst
3 Die Chimäre totaler Indifferenz
Orientierung und Legitimationsgrundlage: Wissenschaft und Demokratie
Über den Fachdiskurs hinaus: Bildung
Wert und Wissen
Haltung bewahren
4 Im Zeitalter der Extreme
4.1 Die epistemische Krise – von den sogenannten Fake News bis zu Verschwörungserzählungen
Wahrheit und Narrative
Verschwörungserzählungen und Verschwörungsgerüchte
Alternative Fakten und Fake News
4.2 Krise der Demokratie – Verführungen des Populismus
Wege ins Autoritäre
Gefährliche Muster: Das Autoritäre und Verschwörungserzählungen
Gefährliche Fehlurteile und ihre Einordnung
Von der Oberfläche in die Tiefe: Positionen schulischer Bildung
Die Macht der Narrative
Psyche und Netz
Zuspitzungen durch KI
4.3 Herausforderungen im Anthropozän
Meinung versus Argument
Reflexion versus Agitation
Überschneidungen mit der epistemischen Krise und der Krise der Demokratie
4.4 Neue Konturen von Bildung
Widerspruch von politischer Neutralität und dem Rekurs auf Erkenntnis und Werte
Widerspruch von intellektueller Souveränität und verbürgtem Wissen
Widerspruch von Selbstermächtigung und Selbstbescheidung
Widerspruch von Anleitung und Eigenständigkeit
Neue Horizonte im Anthropozän
5 Worauf man sich verlassen kann: 10 Schritte
1. Schritt: Quellenkritisches Bewusstsein
2. Schritt: Argumentative Kompetenz
3. Schritt: Fehlerbewusstsein
4. Schritt: Komplexitäts- und Ambiguitätstoleranz
5. Schritt: Fantasie, Empathie und Autarkie
6. Schritt: Sensibilität für Sprache
7. Schritt: Gewahrsein der Macht des Erzählens
8. Schritt: Medienkompetenz
9. Schritt: Demokratieverständnis, sozialpsychologisches Wissen und historisches Bewusstsein
10. Schritt: Sensibilität für ethische und ökologische Fragen
6 Schlussfolgerungen
Gewebe der Abhängigkeiten
Literatur- und Quellenverzeichnis
Über den Autor
«Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durchs Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu sengen.»
– Georg Christoph Lichtenberg –
Die Diskussion über die politische Neutralität der Mittelschulen, die im Kanton Aargau im Jahr 2022 und 2023 Politik, Öffentlichkeit und auch die Schulen selbst beschäftigt hat, mag wie eine Provinzposse anmuten. Sie kann aber ebenso als Reflex auf eine spannungsreiche Zeit gewertet werden, in dem sich gesellschaftlich-politische Entwicklungen wie unter einem Brennglas verdichtet haben.
Stein des Anstosses für die Diskussion war die Maturarbeit dreier Badener Kantonsschüler, deren Ergebnisse für den FDP-Grossrat Adrian Schoop Anlass genug waren, in einem Postulat die Prüfung der politischen Neutralität der Aargauer Mittelschulen zu fordern. Formuliert ist im Postulatstext der Verdacht, «dass Schulleitungen und Lehrpersonen ein strukturelles Problem mit der geforderten politischen Neutralität haben.»[1] Der promovierte Jurist Schoop beruft sich dabei auf die erwähnte Maturarbeit, in deren Rahmen eine Befragung von 530 Schülerinnen und Schülern ergeben habe, dass der Unterricht politisch als linkslastig wahrgenommen werde. «Das Resultat», so Schoop in seinem Postulat alarmistisch, sei «erschreckend»:
Die Befragten nehmen die Schulen nicht als politisch neutral wahr. In den Fächern Geschichte, Deutsch, Englisch oder Geographie sind ein Drittel oder mehr der Schülerinnen und Schüler der Auffassung, dass die Inhalte «eher links» geprägt sind. So bewerten beispielsweise rund 61.5 % der Schülerinnen und Schüler ihre Deutschlehrpersonen als «links» oder «eher links».[2]
«Bedenklich» sei, «dass die Lehrpersonen ihre politische Meinung im Rahmen des Unterrichts kundtun und diese nicht als solche deklarieren.»[3] Eingebettet wurde dieser Vorwurf in die Beobachtung angeblich politischer Aktivitäten der Mittelschulen wie Klima- oder Frauenstreiks oder die gemäss Bundeskanzlei unzulässige Verwendung des Gendersterns. Der Regierungsrat soll deshalb, so die Forderung, «repräsentative Daten erheben», um festzustellen, ob sich die in der Badener Maturarbeit dargestellte Sachlage erhärten lasse. Der Schluss des Postulatstexts liest sich für die Lehrerschaft an den Mittelschulen wie eine Drohung: «Kommt auch diese Erhebung zum Schluss, dass die politische Neutralität der Schulen systematisch verletzt wird, so wird der Regierungsrat aufgefordert, Massnahmen zur Wiederherstellung der politischen Neutralität an den Aargauer Mittelschulen zu ergreifen.»[4] Wie genau eine solche «Wiederherstellung der politischen Neutralität» auszusehen hätte, lässt der Text offen. Gefragt in einem Nebelspalter-Interview nach den Konsequenzen bei einem festgestellten «Linksdrall» der Kantonsschulen, blieb Schoop vage und sprach von «Auslegeordnung» und «Bewusstseinsbildung bei den Schulleitungen und Lehrpersonen».[5] Deutlicher in ihrer Vorstellung waren die Jungfreisinnigen, die gemäss der Aargauer Zeitung in einer Mitteilung eine mögliche Massnahme festgehalten haben: «Es müsse alles darangesetzt werden, dass die Kantonsschulen als öffentliche Bildungsstätte wieder ‹auf den Pfad des Rechtsstaates› zurückfinden, schreiben sie. ‹Auch vor personellen Konsequenzen darf dann nicht zurückgeschreckt werden.›»[6]
Der Regierungsrat hat die Bereitschaft zur Entgegennahme des Postulats unter Berufung auf das Reglement der EDK über die Anerkennung von gymnasialen Maturitätsausweisen (MAR) erklärt und sich dabei explizit auf die Gesellschaftsreife berufen. Ferner hält das Schreiben des Regierungsrats mit Blick auf die Kontroversität von Unterrichtsinhalten fest:
Um einen Überblick zu erhalten, ob die Auseinandersetzung mit aktuellen Themen und politischen Fragestellungen einseitig oder vielschichtig erfolgt und ob die Pluralität von Meinungen respektiert wird, soll, wie es das Postulat fordert, eine repräsentative, auf wissenschaftlichen Kriterien basierende Umfrage an den Kantonsschulen durchgeführt werden, die sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrpersonen einbezieht.[7]
Mit der Untersuchung soll eine externe Institution beauftragt werden. In der Sitzung des Grossen Rates vom 28. Juni 2022 wurde das Postulat nach einer einstündigen Diskussion mit 75 gegen 54 Stimmen überwiesen.
Mein persönliches Empfinden angesichts dieses klaren Misstrauensvotums aus der Politik mitsamt seinem Medienecho schwankte irgendwo zwischen humoristischer Gelassenheit und Unbehagen. Diese erste gefühlsmässige Einschätzung hat tieferliegende Gründe, denen ich nachgespürt habe und die mich zur Überzeugung geführt haben, dass gegen diese Art von Auffassung und Argumentation energisch Widerspruch eingelegt werden muss, und zwar nicht aus Gründen eines intuitiven Abwehrreflexes zum Schutz eines Berufsstands – als Deutschlehrperson stand ich selbst im Zentrum des Personenkreises, gegen den der Verdacht «linker» Indoktrination ausgesprochen wurde –, sondern aus der Warte eines professionellen Berufsverständnisses und eines intellektuellen Anspruchs, den ich auch von Politikern einfordere. Die Kreise, die das Postulat und die entsprechende Untersuchung ins Leben gerufen haben, müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, entweder ein sehr verkürztes Bildungsverständnis zu besitzen oder zwecks politischer Instrumentalisierung zumindest vorzugeben, ein solches zu haben. Notwendige Differenzierungen sind im Argumentarium des politischen Begehrens eingedampft zugunsten einer Vorschlaghammer-Rhetorik. Denn es wird eine Begriffsfügung ad absurdum und auf Abwege geführt, was eher ein Problem der Politik als eines der Bildungseinrichtungen dokumentiert.
Erste Indizien für diese Fehlschlüsse finden sich in den Antwortschreiben der beiden Kantonsschulen auf dem Platz Aarau an den zuständigen Bildungsdirektor Alex Hürzeler. So hält bereits das Schreiben der Lehrerschaft der Alten Kantonsschule Aarau den Kontrast von normativen Bestimmungen gegenüber einer überdehnten Vorstellung von Pluralismus fest:
Zweifellos haben Lehrpersonen politisch und konfessionell neutral zu unterrichten, das ist keine Frage. Dennoch ist klar zu unterscheiden zwischen einer übergriffigen politischen Ideologisierung im Unterricht und der Vermittlung eines Werte-Kompasses, der Menschenrechte, demokratische Grundwerte und rechtsstaatliche Prinzipien umfasst. Es gehört zu den Aufgaben von Lehrpersonen, im Unterricht Kontroversen Grenzen zu setzen, die diese Grundwerte infrage stellen.[8]
Noch eingehender wird der Widerspruch von Unterrichtsinhalten und Bildungsauftrag gegenüber einer politischen Einordnung im Schreiben der Lehrerschaft der Neuen Kantonsschule Aarau zum Ausdruck gebracht:
Das dem Entscheid des Regierungsrats zugrundeliegende Postulat Schoop scheint davon auszugehen, dass an den Mittelschulen eine «linke» Indoktrination stattfindet. Dem Postulat ist zu entnehmen, dass eine Auseinandersetzung mit Themen wie dem Klimawandel oder der Gleichstellung der Geschlechter als «links» zu bewerten und daher an den Mittelschulen zu unterlassen seien. Eine solche Auffassung widerspricht direkt den Rahmenlehrplänen für die Maturitäts- und Fachmittelschulen, die etwa eine Offenheit gegenüber sich verändernden traditionellen Rollenbildern zum Ziel machen, oder die Schülerinnen und Schüler in ihrer «Fähigkeit und ihre[r] Neigung zum interkulturellen Verständnis sowie zum rücksichtsvollen Umgang mit anderen Menschen, mit der Natur und der vom Menschen gestalteten Umwelt» gefördert sehen wollen. An diesen Werten orientieren wir uns im Unterricht und im Umgang mit den Schülerinnen und Schülern. Es handelt sich dabei weder um «rechte» noch um «linke» «Meinungen», sondern um die Werte einer demokratischen, liberalen und pluralistischen Gesellschaft, als deren Errungenschaft die heutigen staatlichen Mittelschulen erachtet werden können.[9]
Es gilt also festzuhalten, dass die politische Forderung unvermittelt den geforderten Lehrauftrag in Misskredit bringt. Mit der Etikettierung von Inhalten als «links» oder «rechts» leisten sich Politikerinnen und Politiker einen kolossalen Denkfehler. Es fehlt an unerlässlicher Differenzierung. Der politische «Verdacht» gegenüber dem Bildungswesen ist deshalb argumentativ seltsam unstimmig. In einem nicht von polemischem Getöse freien Beitrag in der AZ hat der politische Gegner, SP-Co-Präsident Cédric Wermuth, richtigerweise von einer Verwechslung von «Ursache und Wirkung» geschrieben: «An den Kantonsschulen werden diese ‹linken› Themen diskutiert, weil die Debatte aktueller Probleme unserer Gesellschaft Teil des Lehrplanes ist.»[10] Und er beruft sich schliesslich auf die Faktizität von «Themen»: «[D]ie Probleme mit Umweltzerstörung, nicht erfüllten Frauen- und Menschenrechten und ungezügeltem Wirtschaftswachstum gibt es tatsächlich.»[11]
In einem Artikel der Aargauer-Zeitung unterscheidet Sarah Bütikofer, Projektpartnerin bei Sotomo, Themen und Einstellungen und versucht damit die schiefe Ausgangslage zu berichtigen: «Weil sich eine Lehrerin mit dem Frauenstreik oder ein Lehrer mit Biodiversität auseinandersetzt, sei das keine Verletzung der politischen Neutralität an der Schule. […] ‹Politikfelder an sich können keiner politischen Position zugeordnet werden.› Es gebe folglich keine linken beziehungsweise rechten Themen, sondern vor allem linke, rechte, liberale oder konservative politische Positionen.»[12] Diese Differenzierung zeigt zumindest die Richtung, in die eine profunde Auseinandersetzung gehen müsste. Denn es zeichnet sich in Umrissen der Unterschied von Wissensgebieten und politischer Haltung ab.
Es ist die falsche Vermengung von Unterrichtsthemen und Politik, die zu Fragen führt, die weiterführen als die meist negativ bestimmten Grenzziehungen aus juristischer Sicht, die den Rahmen des Erlaubten bei Fragen der politischen Neutralität abstecken. Und sie führt auch weiter als die Auslegungen des für diese Thematik nach wie vor massgebenden Beutelsbacher Konsenses. Denn berührt ist damit ein Verhältnis von Bildung und Politik, das schwierig auszuloten ist. Um aber die unstatthafte Politisierung von Inhalten abzuwehren, ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesen Verhältnissen unabdingbar. Denn der Vorwurf hat sich auf ein angeblich «strukturelles Problem» bezogen und betraf letztlich missliebige Bildungsinhalte respektive deren angebliche Überrepräsentation im schulischen Curriculum.
Das vorliegende Essay verficht die These, dass in einem Zeitalter der Extreme diese Spannungen zunehmen. Insofern werden die Aargauer Vorgänge nicht als zufälliges Einzelereignis einer bestimmten politisch-gesellschaftlichen Konstellation gewertet, sondern als Symptom eines tieferliegenden Konflikts, der keineswegs auf eine Region der Schweiz oder ein Land begrenzt ist. Dieser Konflikt rührt von einer doppelten Krise her, so die hier vertretene These. Einerseits hat er seine Wurzeln in einer epistemischen Verunsicherung, einer Erosion des Vertrauens in Wahrheitsvorstellungen und Erkenntnisgenese, die im Zuge einer Pluralisierung von Foren der Meinungsbildung stattgefunden hat; andererseits sind es politische Extreme, antidemokratische Kräfte, die in den vergangenen Jahren enorm Auftrieb erfahren haben und durch die Konsense demokratischen Zuschnitts zunehmend infrage gestellt werden. Beide Krisen ihrerseits sind vom Digitalisierungsschub nicht zu trennen. Während Erstere hierzulande eine gewisse Rolle spielt, ist eine politische Bedrohung wie sie in anderen westlichen Demokratien zu konstatieren ist, glücklicherweise nicht erkennbar. Dieser überprovinziellen Relevanz gilt dennoch das hauptsächliche Interesse dieses Essays.
Entsinne ich mich zurück an meine eigene schulische Vergangenheit und stelle mir die Frage nach der «politischen Neutralität» dieser Bildungseinrichtungen – ich habe Schulen im Kanton Zürich besucht –, komme ich aus grundsätzlichen Überlegungen zum Schluss, dass die Aargauer Diskussion einiges ignoriert. Zwar gab es in meiner eigenen Biografie wenige Lehrpersonen, deren politische Einstellung offenkundig war, die einer marxistischen Utopie nachhingen oder eine antiamerikanische Haltung pflegten, aber die Anschuldigung einer Systematik, eines strukturellen Problems, lässt sich daraus nicht zimmern. Denn so klar die politische Haltung einiger Lehrpersonen war, so unverkennbar waren die Unterrichtsinhalte durchgehend aus sachlichen Erwägungen gestaltet. Es scheint mir deshalb einen eklatanten Widerspruch zu geben in der Politisierung von Inhalten, die wissenschaftlichen Lehrmeinungen folgen und bezeichnenderweise keinen appellativen Charakter besitzen. Ein weiterer Widerspruch wird evident, wenn ich mich an meinen eigenen intellektuellen Werdegang erinnere. Mitnichten war ich ein indoktrinierbares «Objekt». Vielmehr erweckten bei mir und meinen Mitschülerinnen und Mitschülern allzu offenkundige politische Haltungen eine Form spätpubertärer Aufmüpfigkeit, in der gegenteilige und kontrastive Ansichten erprobt wurden. Echte Erkenntnis – wobei nicht geleugnet werden soll, dass sich Lernvorgänge auch behavioristisch oder interaktionistisch abspielen können – ist meines Erachtens auf konstruktivistisches Lernen angewiesen und vollzieht sich auf andere Weise als in der planen Übernahme von «Meinungen», nämlich im vertieften Verständnis, im eigenen Durchdenken, im Schaffen eines eigenen Zugangs, einer eigenen «politischen» Welt. Autarkie ist dafür unabdingbar und damit auch eine Entfesselung der Selbstbestimmung – wohin denn auch immer die Reise gehen mag. Die unterschwellige Neuauflage eines Nürnberger Trichters im pädagogischen Verständnis ist fehl am Platz.
Sich dieser Mängel des Postulats bewusst, versucht der vorliegende Text, Klärung zu leisten hinsichtlich der Frage des Verhältnisses von Bildung und politischer Neutralität und woher der (falsche) Verdacht in der beschriebenen Causa gerührt hat, dass es dabei ein strukturelles Problem gebe. Ich würde sogar noch weitergehen und behaupten, dass die politische Neutralität zwangsläufig ein Merkmal qualitätsvollen Unterrichts sein muss. Denn eine Verletzung der Neutralität hiesse zum Vollstrecker des Meinungshaften zu werden. Guter Unterricht entspricht der Forderung politischer Neutralität, weil er ansonsten ideologisch vereinnahmt wäre. Das Essay ist deshalb auch ein Plädoyer gegen die «Doktrin des Meinungshaften», von der die Kantonsschulen in der politischen Rhetorik erfasst werden. Ebendiese Politisierung und dieser Bedeutungsgewinn des Meinungshaften sind Zeichen einer tieferliegenden Krise. Diese Krise ist aber – so die These dieses Essays – keine des Bildungssystems, sondern eine, die die Politik erreicht hat. Denn Schulen sind nicht Orte, an denen junge Menschen einer Meinung zugetrieben werden sollen, sondern Orte, die befähigen und ermächtigen, sich selbst eine solche zu bilden. Aber die Basis dafür soll nicht Ideologie, sondern Wahrheit sein – so schwierig denn auch immer Letztere zu bestimmen sein mag. Aber an diese Vorstellung muss sich das Bildungswesen klammern – auf die Gefahr hin, dass – frei nach Lichtenberg – die «Fackel der Wahrheit» die Bärte der Meinungsträger versengt. In der Frage der politischen Neutralität prallen zwei unterschiedlich ausdifferenzierte Teilsysteme der Gesellschaft – Politik und Bildungseinrichtungen – aufeinander. Macht und Wahrheit.
In diesem Essay soll diese Vertrauenskrise als Chance begriffen werden, zukunftsträchtigen Bildungsvorstellungen Kontur zu verleihen und Grundsatzfragen zu klären. Werden die allzu naiven Vorstellungen auf dem politischen Parkett aus dem Weg geräumt, wird der Blick freigegeben auf sehr weitreichende Perspektiven. Zielpunkt ist dabei keine negative, sondern eine positive Bestimmung der politischen Neutralität, eine Qualität, der nachzukommen Lehrpersonen beflissen sein sollten. Dass ich damit anderes im Sinn habe als einst bestimmte Akteurinnen und Akteure im Aargauer Bildungsdiskurs versteht sich von selbst. Es scheint mir, dass so der Schwung der politischen Forderung zielführend aufgenommen wird, dieselbe aber auch theoretisch ins Leere läuft, weil sie in ihrer eigenen Widersprüchlichkeit zerrieben wird. Die von Sotomo im Auftrag der Aargauer Regierung durchgeführte Studie untermauert die hier vertretene Sichtweise in mehrfacher Hinsicht empirisch.
Das Essay entfaltet die Thematik in Form einer Annäherung an die Extreme, die schon angesprochen worden sind. Schulen sind Fenster in die Welt und denken nationale und globale Verhältnisse mit. Es geht wohl nur sehr selten und wohl nie ausschliesslich um das Klein-Klein der Lokalpolitik. Der weite Fokus des Essays, die Entgrenzung auf globale Massstäbe, trägt dieser schulischen Ausrichtung Rechnung, dass ihre Inhalte eben grundsätzlich, existenziell und eher global anstatt lokal sind und politisch geprägte Auseinandersetzungen sich an den «grossen» Fragestellungen entzünden. Die Annäherung an international beobachtbare extreme mediale oder politische Verhältnisse dient zudem der Erörterung grundsätzlicher Spannungen und Friktionen, kurzum der Verdeutlichung. Damit wird keineswegs der Anspruch erhoben, diese Verhältnisse einfach auf schweizerische oder Aargauer Verhältnisse übertragen zu können, aber gewisse Tendenzen und Probleme werden dadurch erst augenfällig. Ebenso sichtbar wird das verkürzte politische Bildungsverständnis, das in den Medien manchmal allzu eilfertig kolportiert wird.
Die Orientierung an Grenz- und Streitfällen entspricht der gängigen Vorgehensweise in der Erörterung von Fragen der politischen Neutralität im Bildungsbereich, um Grenzen, meist juristischer Art, ziehen zu können. In einem ersten Schritt werden diese Überlegungen denn auch der weitergehenden Vertiefung des Themas vorangestellt. Mit Blick auf den Beutelsbacher Konsens, juristische Überlegungen oder die Debatte in Deutschland im Umgang mit der AfD werden einige Grundzüge eines Verständnisses von politischer Neutralität umrissen, um dann in der Folge unter Rekurs auf die im Aargau durchgeführte Sotomo-Studie den Blick auf soziale und pädagogische Fragen zu weiten («Gebote, Verbote und Befindlichkeiten»). Anschliessend werden zentrale Kategorien in den Blick genommen, um einen Kompass zur Orientierung an die Hand zu geben («Die Chimäre totaler Indifferenz»). Angesprochen sind Wissenschaft, Wissen, Bildung, Werte und demokratische Prinzipien als prägende Leitlinien, die scharf gegenüber Ideologien und autoritären Begründungsmustern und Logiken abgegrenzt werden müssen. Beleuchtet werden aber auch die spannungsreichen Verhältnisse, in die diese orientierungsstiftenden Leitlinien gegenüber politischen Phänomenen treten können – theoretisch. Im zentralen Kapitel «Im Zeitalter der Extreme» werden die gegenwärtigen Spannungen von Bildung und politischer Neutralität angesichts der angesprochenen Krisen in den Blick genommen. Das, was ich epistemische Krise nenne, betrifft den Zugang zu und die Genese von Erkenntnissen, was durch neue mediale Möglichkeiten verändert worden ist und problematischen Phänomenen Vorschub leistet. Die Rede wird hier von Wahrheit und Narrativen, von Verschwörungserzählungen und -gerüchten ebenso sein wie von Fake News und der vermeintlichen Aufspaltung der Realität in alternative Faktenlagen. Unmittelbar damit verbunden und häufig in Allianz mit dieser Erosion der Wirklichkeitsbezogenheit treten demokratische Zerfallserscheinungen auf, seien es populistische Phänomene oder tiefgreifendere Transformationsprozesse von Staaten Richtung Autoritarismus. Bildung ist in diesen Zusammenhängen eine Bastion nicht nur der Demokratie, sondern auch der ureigensten intellektuellen Autonomie. Es wird sich in der Auseinandersetzung mit solchen Extremerscheinungen ein Konzept von Bildung herausschälen, das Wertbezogenheit und die Bedeutung von Erkenntnis – etwas pathetischer könnte man von Wahrheit sprechen – akzentuiert. Ebenso wird zu zeigen sein, dass diese Bildungsvorstellung nichts mit einem falsch verstandenen Pluralismus im Sinne einer Repräsentation der politischen Arena mit ihren Stimmungs- und Meinungsmachern zu tun hat. Gesonderte Aufmerksamkeit werden dabei die umgepflügten medialen Bedingungen und die Angewiesenheit des Menschen auf Fiktion und Narration erhalten.
Eingebettet werden diese Perspektiven ins Zeitalter des Anthropozäns und des unabwendbar scheinenden Klimawandels. Denn dadurch tauchen am Horizont neue Fragen auf, die die grundsätzliche Vernetztheit des Menschseins betreffen und damit verbunden ethische Komplikationen. Ebenso wird durch das Thema der Ökologie nochmals in nuce deutlich, was sich auch anhand der anderen Themenfelder abzeichnet. Es wird zu zeigen sein, dass politische Neutralität nur in der «Tiefe» der Erkenntnis sinnvoll hergestellt werden kann und sie wenig mit dem Verlieren in der «Breite» des Meinungshaften zu tun hat. Dass aber diese «Tiefe» durch die ihr eigene Komplexität Meinungsvielfalt nach sich zieht, ist eine conditio sine qua non. Genauso wenig heisst das aber, dass «anything goes» zur Maxime erhoben wird. Denn die «Tiefe» bedingt, dass falsche Annahmen im Sinne der Logik und wissenschaftlicher Argumentation ausgeschlossen werden.
Abschliessend wird ein Bildungsverständnis umrissen («Worauf man sich verlassen kann: In 10 Schritten»), das sowohl dem Gedanken der politischen Neutralität Rechnung trägt als auch zukunftsweisend ist, weil es all die Friktionen und Spannungen, die beschrieben werden sollen, mitdenkt. In der «Schlussfolgerungen» werden die Überlegungen nochmals eingebettet in die grossen zeitdiagnostischen Fragen und die Aargauer Verhältnisse, die den Ausgangspunkt und Anstoss des Nachdenkens über Bildung und politische Neutralität dargestellt haben. Abschliessend werden die Überlegungen nochmals pointiert anhand zweier Beispiele im Zusammenhang mit der Klimawandeldebatte.
Der essayistische Zugang ist dem aus disziplinärer Warte aus gesehen «heimatlosen» Thema geschuldet, das juristische und pädagogische Fragen streift, auf zeitdiagnostische Einschätzungen Bezug nehmen muss, aber auch immer wieder an konkrete Inhalte und Diskurse gekoppelt werden kann. Und obwohl sich das Essayistische im Mäandrieren und Ausschweifen niederschlägt, wird dennoch eine dezidierte Parteinahme betrieben, allerdings keine eines Links-Rechts-Schemas, sondern eine, die das Bildungsversprechen der Schulen vor politischen Übergriffen bewahrt.
Dass ich dabei gehäuft auf literarische Referenzen zurückgreife, ist nicht nur meinem Werdegang und meiner Spezialisierung auf die Literaturwissenschaft geschuldet, sondern auch meiner tiefen Überzeugung, dass die literarische Fiktion uns ebenso wie die reale Welt über Phänomene Auskunft zu geben vermag und ein Erkenntnismittel ist.
«Erkenntnis lässt sich nicht von anderen lernen. Erkenntnis muss aus dem eigenen Ich hervorgehen.»
– Zuhangzi –
Auseinandersetzungen über die politische Neutralität im Bildungsbereich entzündeten sich in der Vergangenheit vorwiegend in didaktischen Fragen der politischen Bildung oder in Einzelfällen, in denen Grenzverletzungen zur Debatte standen. So gab es etwa 1970 im Aargauer Grossen Rat eine Debatte wegen zwei Lehrpersonen, die der Verbreitung maoistischer Lehren und der Anregung, den Militärdienst zu verweigern, beschuldigt wurden.[13] Auch über Lehrmittel, etwa des Geschichtslehrwerk «Gesellschaften im Wandel» des Lehrmittelverlags Zürich, gab es schon Diskussionen.[14] Dem spezifisch deutschen Diskurs über die Ausgestaltung politischer Bildung verdankt die Diskussion massgebliche Impulse, die bis heute wegweisend in der Erörterung des Themas sind. Besondere Bedeutung erlangte der sogenannte Beutelsbacher Konsens, Ergebnis einer Tagung der Baden-Württembergischen Landeszentrale von 1976. Die drei in Beutelsbach festgehaltenen Punkte widerspiegeln eine Art pragmatischen Minimalkonsens vor dem Hintergrund langjähriger und teilweise energisch geführter Theoriestreitigkeiten.[15]
Im Wortlaut beinhaltet dieser Konsens ein «Überwältigungsverbot», dem zufolge es nicht gestattet ist, «den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‹Gewinnung eines selbstständigen Urteils› zu hindern.»[16] Das erste Verbot wendet sich also gegen alle Formen der Indoktrination. Die zweite Forderung betrifft die Kontroversität und fokussiert damit die Problematik drohender Indoktrination weiter und ergänzt sie um einen ebenso wichtigen wie häufig falsch verstandenen Aspekt: «Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.»[17] Diese Forderung verlangt, «Optionen» nicht zu unterschlagen und «Alternativen» zu erörtern, weil ansonsten der «Weg zur Indoktrination» beschritten würde.[18] Dieses Gebot der Kontroversität kann in dem Sinne missverstanden werden, dass es die Lizenz bietet, alle politischen Äusserungen als gleichwertige Interpretationszugänge zu behandeln.[19] Dass jedoch diesem Pluralismus Grenzen gesetzt und die Grundlage dieses Konsenses «die Orientierung an der freiheitlichen Verfassung voraussetzt», wurde in den nachfolgenden Interpretationen des Konsenses immer deutlicher.[20]
Das letzte Gebot ergibt sich als Handlungsorientierung organisch aus den ersten beiden: «Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen.»[21]
Dieser Konsens beschränkt sich darauf, in erster Linie die Mündigkeit der Schülerinnen und Schüler und die intellektuelle Ermächtigung derselben zu konturieren. Angesichts der Spannungen mit populistischen Phänomenen werden vor allem die Grenzen des Kontroversitätsgebots sichtbar.
In der politischen Bildung werden Positionen von Parteien explizit thematisiert, worin dieser Themenbereich einen Sonderfall in Lehrplänen darstellt. Denn ich vertrete die These, dass im «Normalfall» von gutem Unterricht die Meinungsbildung in zahlreichen Fächern geradezu paradigmatisch aufgeschoben oder ausgeklammert wird. Im Zentrum stehen vielmehr der Nachvollzug von Erkenntnissen, die selbstständige Einsicht in Themenfelder, deren Vielschichtigkeit und Ambivalenz oder kreative Zugänge etc. Im Bereich der politischen Bildung wird hingegen die Meinungslandschaft selbst zum Lerngegenstand.
Deshalb ist es ebenso wenig erstaunlich, dass gewisse Widersprüche in diesen Auseinandersetzungen manifest werden. 2018 hat die Alternative für Deutschland (AfD) in einigen Bundesländern die Aktion «Neutrale Schule» gestartet, weil die Partei das Neutralitätsgebot wegen AfD-kritischer Lehrpersonen verletzt sieht. Initiiert wurde eine Meldeplattform, um Lehrkräfte zu denunzieren, die in den Augen der Partei eine linke Indoktrination betreiben. In einer Publikation des Deutschen Instituts für Menschenrechte nimmt der Jurist Hendrik Cremer ausführlich zu diesen Vorwürfen Stellung und kommt zum Schluss, dass sich ausgehend vom Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses und dem parteipolitischen Neutralitätsgebot «nicht ableiten [lässt], dass von Parteien eingenommene rassistische Positionen als gleichberechtigte legitime politische Positionen darzustellen sind».[22] Entsprechend gerieten solche Positionen in Widerspruch mit dem «Grundsatz der allen Menschen gleichermaßen zustehende[n] Menschenwürde und de[m] damit einhergehenden Grundsatz der Rechtsgleichheit»[23]. Und, so konkludiert Cremer: «Bildung und insbesondere politische Bildung ist nicht in dem Sinne neutral, dass sie wertneutral wäre.»[24] Eine Diskussion dürfe deshalb niemals mit der Infragestellungen dieser Werthaltungen und Grundsätze enden.[25] Diese Einschätzung erfolgt vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, die gezeigt habe, «dass die freiheitliche demokratische Grundordnung eines Staates zerstört werden kann, wenn rassistische Grundhaltungen nicht rechtzeitig auf energischen Widerstand stoßen und sich so verbreiten und durchsetzen können».[26] Lehrpersonen hätten im Sinne ihres Berufsauftrags sogar die Pflicht, sich gegen solche Positionen auszusprechen, «auch wenn es sich um Positionen politischer Parteien handelt».[27] Dass es sich bei der AfD um rassistische und rechtsextreme Positionierungen handelt, leitet Cremer nachvollziehbar aus ihrem Programm, ihrer Strategie und Äusserungen von Führungspersonen und Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern ab, die bis zu «offen ausgesprochenen Drohungen» einer «gewaltsamen Machtergreifung zur Erreichung ihrer politischen Ziele» reichen.[28] Nicht von ungefähr wird die Partei vom deutschen Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuft. Das Oxymoron einer Neutralität als Parteinahme kondensiert semantisch diesen dem Neutralitätsgebot innewohnenden Widerspruch, dass sich die Unparteilichkeit auf Zonen eines demokratischen Spielregeln unterliegenden Konsenses beschränkt. Ganz in diesem Sinne haben 46 Lehrpersonen des Hamburger Goethe-Gymnasiums in einer Stellungnahme zur AfD-Aktion «Neutrale Schule in Hamburg» festgehalten: