Billie von Walberg - Lutz Spilker - E-Book

Billie von Walberg E-Book

Lutz Spilker

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Billie heißt eigentlich Wilhelmine, ist ein junges, lebensfrohes und hübsches Mädchen, das kurz vor dem Abitur steht. Später soll sie studieren und das familieneigene Bankhaus übernehmen. Um jedoch eine absichtlich fehlgeleitete Transaktion zu korrigieren, muss sie in die Vergangenheit reisen und lernt dabei kannibalische Rezepturen und ihren künftigen Ehemann kennen. Wären gewisse Investitionen vor einem halben Jahrhundert bloß anders kanalisiert worden, stünde das familieneigene Geldinstitut jetzt stabil da. Doch leider wurde das Bankhaus als Zielscheibe für familiäre Auseinandersetzungen benutzt und sollte vorsätzlich bankrottieren. Jetzt muss Billie ein neues Leben als andere Person ergreifen, um dadurch den Verlauf der Dinge zu ändern. Sie ist ganz auf sich gestellt. Mithilfe eines alten Buches und den darin beschriebenen Vorgehensweisen könnte die Aufgabe gelingen.

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Seitenzahl: 290

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Ein Roman

von Lutz Spilker

BILLIE VON WALBERG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Softcover ISBN: 978-3-384-03709-1

E-Book ISBN: 978-3-384-03710-7

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Die im Buch verwendeten Grafiken entsprechen den

Nutzungsbestimmungen der Creative-Commons-Lizenzen (CC).

Sämtliche Orte, Namen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind daher rein zufällig, jedoch keinesfalls beabsichtigt.

Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mit Hilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, sind ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Autors oder des Verlages untersagt.

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1 – Wie ein Blitz in der Nacht

Kapitel 2 – Der Dachboden

Kapitel 3 – Unfreiwillig belauscht

Kapitel 4 – In der Bank I

Kapitel 5 – Das Alibi

Kapitel 6 – Tante Lotti

Kapitel 7 – Im Nichts

Kapitel 8 – Der Schürzenjäger

Kapitel 9 – Das Haus am Ende der Straße

Kapitel 10 – Alte Bücher Lügen nicht

Kapitel 11 – Freiwillige vortreten

Kapitel 12 – Das Geständnis

Kapitel 13 – Nach Südtiroler Art

Kapitel 14 – Kein Hahn kräht

Kapitel 15 – Ich bin die Neue

Kapitel 16 – Schleifen und Girlanden

Kapitel 17 – Verliebt, verlobt, verheiratet

Kapitel 18 – In der Bank II

Kapitel 19 – Vertrauen ist gut

Kapitel 20 – Scherben bringen Glück

Charaktere

Über den Autor

Billie von Walberg

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Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1 – Wie ein Blitz in der Nacht

Über den Autor

Billie von Walberg

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Entstehen und Vergehen, Schaffen und Vernichten, Geburt und Tod, Freud und Leid, alles wirkt durcheinander.

Johann Wolfgang von Goethe

Johann Wolfgang Goethe, ab 1782 von Goethe (* 28. August 1749 in Frankfurt am Main; † 22. März 1832 in Weimar, Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach), war ein deutscher Dichter, Politiker und Naturforscher. Er gilt als einer der bedeutendsten Schöpfer deutschsprachiger Dichtung.

Kapitel 1 – Wie ein Blitz in der Nacht

Im Grunde genommen war es bloß eine einzige, breite Straße, die durch den kleinen Ort verlief. Links und rechts davon standen die Wohnhäuser und ein paar Geschäfte. Über festgefahrene, aber nicht asphaltierte Seitenwege gelangte man zu den übrigen Häusern. Sie wurden später gebaut. Dort wohnten die besser gestellten Herrschaften, deren Häuser auch größer, komfortabler und erheblich stabiler waren. Und in einem dieser Häuser wohnte Billie mit ihren Eltern und ihren jüngeren Geschwistern. Eigentlich hieß sie Wilhelmine, aber niemand nannte sie so. Wer würde ein junges Mädchen, das im nächsten Jahr ihr Abitur machen wollte, schon Wilhelmine nennen? Billies Oma mütterlicherseits trug diesen Namen und ihr zu Ehren wurde Billie so getauft. Man versprach sich insgeheim einen Dank in erbschaftlicher Hinsicht. Oma Wilhelmines Dank beschied sich jedoch auf das Besinnen der christlichen Jahresfeste.

Das Haus besaß zwei Etagen und verfügte über genügend Zimmer, um die ganze Familie gemütlich darin wohnen zu lassen. Ringsherum legte Billies Vater schon vor vielen Jahren einen Rasen an und ihre Mutter kümmerte sich um die Blumenbeete. Billies Vater besitzt das Bankhaus in der Kreisstadt – die ›Walberg Bank‹. Dort befanden sich auch die Kirche und das Rathaus, der Bahnhof, die Schule und Billie fuhr dort jeden Tag mit dem Bus hin, wenn er ihr nicht vor der Nase davon rauschte oder sie extrem spät dran war. Ansonsten rannte sie wieder nach Hause und bat ihre Mutter, sie mit dem Auto zur Schule zu fahren. Das kam mindestens fünfmal im Monat vor und niemand verlor darüber noch ein Wort.

Jeden Morgen klopfte irgendjemand an die Badezimmertüre. Wozu die Zeiten irgendwann festgelegt wurden, hatte man scheinbar vergessen. Jede Person hatte eine festgelegte Zeit einzuhalten und in dieser stand ihr das Badezimmer in vollem Umfang zur Verfügung. Wer zu dieser Zeit dringende Bedürfnisse verspürte, musste seine Körperbeherrschung besser trainieren oder eine andere Möglichkeit aufsuchen. Auch die Reihenfolge war allgemein bekannt. Doch an jedem Morgen schien es so, als sei sie gerade erst verkündet worden. Jedenfalls war jetzt Billie an der Reihe. Billie wurde von ihren Eltern nur dann Wilhelmine genannt, wenn es brenzlig wurde, wenn man es todernst meinte und ihr klarmachen wollte, dass das Ende der Fahnenstange erreicht war – dann hieß sie plötzlich Wilhelmine. Das war glücklicherweise sehr selten der Fall.

Billie stand im Badezimmer vor dem Spiegel, ergötzte sich an der allmorgendlichen Randale im Flur und kämmte sorgsam ihr langes blondes Haar, als wohnte sie alleine dort. Der große Spiegel im Badezimmer überdeckte die ganze Front vor den Waschtischen und lud geradezu ein, sich dort von allen Seiten zu betrachten. Billie war ein gutaussehendes Mädchen und bestaunte sich fast jeden Morgen selbst. Ihre Mutter stand derweil in der Küche und bereitete das Frühstück, wie sie es jeden Morgen tat. Ihre Eltern gingen zuerst ins Bad. Dann folgte sie und dann ihre Geschwister.

An jedem Donnerstagnachmittag saß Billies Mutter mit vier ihrer Freundinnen zusammen am großen runden Tisch in der eigens dafür eingerichteten Wohnzimmerecke, die sich Esszimmer nannte. Dort tranken sie Likör, schwatzten flüsternd miteinander und taten stets sehr geheimnisvoll. Es war eine mysteriöse Runde mit okkultem Flair. Gegenseitig legten sie sich die Karten, schauten Woche für Woche in ihre Zukunft und riefen durch fragwürdige Rituale auch Verstorbene herbei, sprachen mit ihnen und erfragten deren Wohlergehen.

Billies Erlebnisse bei den Beisetzungen ihrer Großväter schufen einen gewissen Vorrat, was das Thema Beerdigung angeht. Alle Leute standen trauernd und in dunkler Garderobe um ein Grab und weinten. Die Verabschiedung in das angestrebte, ewige Leben stellte sich Billie stets fröhlicher vor.

Als Kind fürchtete sie sich oft vor diesem Donnerstag, denn irgendwie schien ihr dieses merkwürdige Kaffeekränzchen nicht geheuer zu sein. Auch durfte sie ihre Mutter an diesen Tagen auf gar keinen Fall stören. Hörbares Spielen trotz geschlossener Kinderzimmertüre war an diesen Nachmittagen ebenso unerwünscht, wie ihr plötzliches Erscheinen im Esszimmer. Sie freute sich immer, wenn alle gegangen waren und sie sich wieder frei bewegen konnte. Alleine die Aktivität dieses Kreises versetzte das Haus in eine fast schon unheimliche Atmosphäre. Sie hielten sich an den Händen, murmelten mit gebeugtem Kopf seltsame Formeln und Sprüche, reckten sich dann nach hinten und sanken anschließend nach vorne in sich zusammen. Oftmals holte Billies Mutter das Hexenbrett (Ouija-Board) aus dem Schrank und legte es bedeutsam auf den Tisch. Absolute Ruhe herrschte dann, als ob etwas Wundersames bevorstünde. Das Brett konnte buchstabenweise beziehungsweise mit Ja oder Nein reagieren. Genau genommen reagierte es nie von selbst. Helenes Freundinnen berührten einen Gegenstand mit ihren Fingerspitzen, der sich an einer Seite zu einer Art Hinweispfeil formte und mittels einer unergründlichen Kraft über dieses obskure Brett wanderte. Diese Kraft wurde dann dem Antwortenden zugeeignet. Der Personenkreis am Tisch zählte stets fünf Versammelte. Die Zahl bildet als geometrische Figur einen Drudenfuß oder auch Pentagramm genannt. Es musste irgendetwas Magisches bedeuten. Es bezeichnet die vier Elemente (Luft, Erde, Wasser und Feuer) und addiert den Geist als Fünftes hinzu. Die Damen wollten keine Fragen an Gott oder den Teufel, den Tod oder an ein ewiges Leben stellen. Ihnen erschienen diese Positionen viel zu alltäglich, zu gebräuchlich und zu einseitig. Sie stellten auch keine Fragen an Verstorbene aus jüngerer oder älterer Vergangenheit, persönlichem oder bekanntem Umfeld, sondern richteten ihre Fragen an ein namenloses Universum: Sie nannten es das ›Nichts‹.

Jede der fünf Anwesenden stellte auch an diesem Tag eine Frage und die wurden von Mal zu Mal schwieriger, denn nach den populärsten Themen wurde sich bereits vor langer Zeit erkundigt, als die Runde ihre Geburtsstunde fand. Die Langwierigkeit buchstabenorientierter Antworten und die damit verbundene Fehlerquote wurde mit einer Fragestellung umgangen, deren Antwort sich lediglich auf ein Ja oder ein Nein beziehen konnte.

Billies Vater gehört eine Bank. Im Grunde genommen geht es ihnen also gut, wären da nicht die aktuellen Engpässe, von denen Billie ab und zu etwas mitbekam, wenn sie frühstücken ging und die Treppe zur unteren Etage nahm. Dann verstummte oftmals das Gespräch zwischen ihren Eltern oder wechselte merklich in ein anderes Thema. Aber sie machte sich keine ernsthaften Gedanken darüber, solange sie pünktlich ihr Taschengeld bekam und in ihrem Zimmer tun und lassen konnte, wonach ihr gerade der Sinn stand. Ihre Welt war in bester Ordnung.

Billie wollte im kommenden Jahr Abitur machen. Richtiger wäre es allerdings zu sagen, dass sie es machen soll. Ihr Vater bestand darauf. Er möchte die Bank irgendwann an seine Kinder übergeben und das würde er bloß dann mit ruhigem Gewissen tun können, wenn sie über einen Schulabschluss mit anschließendem Studium verfügen. Billies jüngere Geschwister stünden auch irgendwann in der Reihe der Verantwortung, doch als Erste hatte ihr Vater Billie im Visier. Ihr fünf Jahre jüngerer Bruder Benji und ihre eben erst eingeschulte Schwester Lörchen eigneten sich noch nicht zum Banker und bekundeten alleine von ihren jetzigen Interessen her keine sonderlichen Ambitionen.

Das Frühstück könnte sich für Billie auch wie die Erfrischung eines Langstreckenläufers darstellen. Es gestaltete sich fast immer so, als wäre sie auf der Flucht. Trotz bester Zeitplanung schien sie ständig in Eile zu sein. Ihre Mutter wechselte routiniert zwischen Tisch und Herd, während sich ihr Vater hinter seiner Zeitung vergrub und an seinem Kaffee schlürfte. Billie tobte die Treppe hinunter, bog links in die Küche, bediente sich halb stehend, halb sitzend, schnappte sich ihre Tasche mit den Schulsachen und hastete mit einem flüchtigen Tschüss dem Schulbus entgegen.

Noch vor zehn Minuten trödelte sie in ihrem Zimmer herum, schminkte sich in aller Ruhe, ging an ihrem geöffneten Kleiderschrank entlang, als schritte sie die Front eines Soldatenregiments ab und telefonierte zuvor noch mit ihrer besten Freundin Rembrandt, um modische Fehlgriffe zu vermeiden. Nichts wäre Billie peinlicher, als in einem ähnlichen Outfit wie ihre beste Freundin zur Schule zu gehen. Ihre Freundin hieß eigentlich Marianne, zeichnet jedoch begnadet gut und wurde daher allseits Rembrandt genannt.

Billie musste bloß den Weg bis zur Hauptstraße gehen und den Schulbus nehmen. Während der trockenen Jahreszeiten ließ sich der Weg gut begehen. Die vorbeifahrenden Autos wirbelten ein wenig Staub auf, sonst nichts. In den schnee- und regenreichen Monaten verwandelte sich die Oberfläche dieses festen Wegs in eine Rutschbahn. In dieser Zeit stand Billies Mutter öfter als Fahrdienst parat. Ihr Vater betrachtete sich selbst nie als Chauffeur und stellte weder sich noch sein Auto zur Verfügung.

Billie hetzte auch an diesem Morgen zur Bushaltestelle und sah ihn gerade noch davonfahren. »So ein Mist«, dachte sie, drehte sich geradewegs um und marschierte wieder nach Hause. Ihre Mutter sah sie schon durch das Küchenfenster kommen, griff nach dem Autoschlüssel, lud Billie ein und fuhr dem Bus quasi hinterher. Billies Geschwister besuchten die Schule vor Ort und gingen zu Fuß dorthin.

Die Kreisstadt war nicht weit entfernt. Die Bäuerinnen zogen mit einem Handkarren dorthin, wenn sie ihre Feldfrüchte zum Markt transportierten. Aber das war früher, als die Gegend noch Landwirtschaft pflegte. Mittlerweile wurden die Höfe der Bauern immer seltener und Handkarren kannte Billie nur von Fotos. Den Bus holte ihre Mutter nicht mehr ein. Verträumt saß Billie auf dem Beifahrersitz und dachte an ihren Freund Carlo, dem sie gleich wieder begegnen würde. Er war ihr neuer Schwarm, ihre neue Liebe, ihr neuer Freund. Die ganze Schule war hinter ihm her, aber sie hat ihn bekommen. Selbst Rembrandt gegenüber konnte sie damit strunzen und wurde ihrerseits beneidet. Eigentlich hatte sie sich gar nicht sonderlich um ihn bemüht. Er war mit seiner Familie in den Nachbarort gezogen und besuchte darum dieselbe Schule wie Billie. Er ging sogar in dieselbe Klasse. Und eines Tages stand er da, stellte sich als der Neue vor und suchte sich einen Platz. Billie gab sich so wie immer. Vielleicht ein wenig fraulicher und weniger mädchenhaft. Oft versank sie in ihre eigene Welt, wenn sie mit Rembrandt kicherte, Schabernack trieb und herumalberte. Und dann wurde sie wieder zur keuschen Tochter aus gutem Hause. Carlo gegenüber wollte sie das genierliche Mädchen ein wenig unterdrücken und der ansprechenden Frau in ihr den Vortritt lassen. Und Carlo reagierte wie geplant. Alles geschah wie selbstverständlich: Flirt per Augenkontakt und Verständigung per Zeichensprache. In der nächsten großen Pause kam er schon auf sie zu, verabredete sich mit ihr und von diesem Augenblick an galten sie als ein Paar. Sie konnte sich auf ihn verlassen und umgekehrt war es ebenso.

Billies Mutter hielt mit dem Wagen vor der Schule. Der Unterricht hatte noch nicht begonnen. Ständig fuhren auch andere Eltern ihre Kinder zur Schule. Billie war nicht die Einzige, die ab und zu den Bus verpasste und chauffiert werden musste. Zum bestandenen Abitur würde sie ein eigenes Auto bekommen, hatte ihr Vater versprochen. Sie lernte schon fleißig für den Führerschein und hatte auch schon klare Vorstellungen hinsichtlich ihres ersten Autos.

Billie drehte sich zur Türe und wollte gerade aussteigen, als sie Carlo durch das Wagenfenster mit einer anderen im Arm dort stehen sah. Er machte es wahrscheinlich absichtlich. Hätte er etwas zu verbergen, würde er sich mit der anderen in den letzten Winkel des Schulgeländes verkriechen. Aber er stellt sich sozusagen zur Schau und bringt Billie zur Raserei.

»Fahr weiter, fahr sofort weiter!«, giftete sie ihre Mutter an. »Ich steige hier nicht aus, niemals werde ich hier aussteigen … hast du meinen Kerl da stehen sehen … hält eine andere im Arm«, schrie Billie und konnte sich kaum beruhigen. Ihre Mutter fuhr derweil ein paar Straßen weiter und verstand die Situation immer noch nicht so richtig. »Bin ich hässlich? Bin ich dem gnädigen Herrn nicht hübsch genug? Bin ich fett?«, fragte Billie in die Luft hinein und erwartete von niemandem eine Antwort.

»Kannst du mir einmal sagen, was überhaupt los ist?«, wollte ihre Mutter wissen.

»Hast du ihn nicht gesehen? Stellt sich extra mit dieser … dieser … dorthin, wo ich ihn nicht übersehen kann und grinst mir frech ins Gesicht …!«, kreischte Billie ihre Mutter an.

»Ich habe Carlo mit einem anderen Mädchen dort stehen sehen«, sagte Billies Mutter in beschwichtigender Weise, »aber, dass er dich frech angrinste und das andere Mädchen im Arm gehalten hat, habe ich nicht gesehen«, ergänzte sie.

»Hört das nie auf mit den Kerlen? Muss man die ein Leben lang festhalten?«, fragte Billie mehr oder weniger rhetorisch.

»Ich fürchte, das ist so«, beschwichtigte ihre Mutter sie und hob die Schultern dabei an, als ob sie auf eine Quizfrage keine Antwort geben könnte.

»Aber diese Dreistigkeit, sich einfach dahinzustellen, wo ihn jeder sieht … und dass er mich dabei bis auf die Knochen blamiert … alleine dafür könnte ich ihn lynchen«, brachte sich Billie immer wieder in Rage. Zum Glück saß sie im Auto und lief nicht auf Carlo zu. Ihrem augenblicklichen Gemütszustand entsprechend wäre sie tatsächlich in der Lage, ihm etwas anzutun. »Du bist also gegen mich, gegen deine eigene Tochter?«, fuhr es aus Billie lautstark heraus. »Ich will sofort nach Hause … bring mich bitte sofort heim!«, stampfte Billie mit dem Fuß auf. Ihre Mutter zuckte wortlos mit den Schultern, startete den Motor und fuhr wieder heimwärts. Während der gesamten Rückfahrt sprachen weder Billie noch ihre Mutter kein einziges Wort. Billie knetete ihre Hände, als erdrosselte sie etwas. Ihre Augen bildeten sich sekundenweise zu Schlitzen und ihre Backenmuskeln arbeiteten intensiv.

Als sie daheim angekommen waren, sprang Billie aus dem Wagen, riss die Haustüre auf, rannte die Treppe zu ihrem Zimmer hoch, schmiss ihre Schultasche in die Ecke und warf sich aufs Bett. Dort heulte sie keifend ins Kopfkissen. Es waren keine Worte, es waren nur Laute. Sie wollte ihre Wut herausschreien. Für eine Weile lag sie so da, schlug mit den Fäusten in ihr Kissen und brüllte sich den Zorn von der Seele. Mit viel Fantasie ließen sich Worte wie Rache oder dem wird' ich’s heimzahlen heraushören. Dann stand sie auf und verließ ihr Zimmer. Sie warf die Türe schallend zu, stieg die Treppe zum Dachboden hoch und nahm zwei bis drei Stufen auf einmal. Auch die Türe zum Dachboden schloss sie hinter sich derart geräuschvoll, dass es jeder im Haus mitbekommen musste. Es machte den Eindruck, als wolle sie der ganzen Welt ihren Schmerz mitteilen, dabei war bloß ihre Mutter im Haus und die war Billies eigenwillige Reaktionen auf derlei Geschehnisse schon aus früheren Zeiten gewohnt.

Kapitel 2 – Der Dachboden

Auf dem Zeichentisch des Architekten wurde dieser Raum bestimmt als Dachboden angelegt. Später verwandelte er sich dann zur Rumpelkammer und beherbergte die ausrangierten Gegenstände früherer Zeiten. Eine Lampe mit elektrischem Licht prangte in der Mitte des stärksten Balkens des Giebels. Die kleinen Luken, die sich jeweils an den Frontseiten des Speichers befinden, ließen jedoch genügend Licht durch die matten Scheiben scheinen, um die herumstehenden Dinge erkennen zu können. Im Laufe der Jahre war dort eine Mischung aus Möbelhaus und Flohmarkt entstanden. Die Dachbalken schienen über Spinnennetze fest mit dem alten Trödel verbunden zu sein. Stühle, Tische, Lampen und Schränke, zusammengerollte Teppiche, Spielzeug und Gerümpel aus Zeiten, als Billie noch nicht geboren war oder sich nicht mehr daran erinnern konnte.

Dahin verkroch sie sich immer, wenn sie Kummer hatte. Es war sozusagen ihre Zuflucht, in der sie sich vor der Welt verstecken konnte und sich ihr Schmerz verarbeiten ließ. Dort oben hatte sie ihre Ruhe. Dort oben verblieb sie unbehelligt, oft stundenlang. Mit angezogenen Beinen und den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt, schwor sie Carlo Rache und wünschte ihm alles nur erdenklich Schlechte. Irgendwie spürte sie jedoch tief in ihrem Inneren, dass sie es ihm gar nicht so sehr wünschte, denn irgendwo glimmte noch ein Fünkchen Zuneigung für ihn.

So ließ sie jedenfalls nicht mit sich umspringen. Zuerst musste er spüren, dass sie sich in jeder Form dagegen wehren würde. Wenn er der Ansicht ist, sich in aller Öffentlichkeit mit einem anderen Mädchen zu zeigen und sie umarmen zu müssen, dann soll er das tun – aber ohne Billie. Wie steht sie jetzt da? Er hat sie zum Gespött für die ganze Welt gemacht. Der Lächerlichkeit hat er sie preisgegeben und jeder zeigt nun mit dem Finger auf sie und lacht. Billie kam sich verletzt und wehrlos vor, als ob sie zur Schule gefahren wäre und vergessen hätte sich anzuziehen.

Und dann saß sie da und schluchzte vor sich hin. Der Platz, auf dem sie saß, war augenscheinlich die einzige Fläche, auf der sich nicht der Staub vieler Jahre niedergelassen hatte. Mit dem Rücken lehnte sie gegen die Flanke eines aus der Mode gekommenen Möbels. Hier fühlte sie sich sicher. Es schien so, als fühlte sich Billie von der ausrangierten Einrichtung früherer Tage beschützt. Dort oben war eine Art neutrale Zone. Es herrschte weder Gut noch Böse und weder Recht noch Unrecht. Ruhe kehrte ganz gemächlich bei Billie ein. Aber sie konnte noch lange nicht so klar denken, wie sie es wollte. Jedenfalls zitterte sie nicht mehr so stark und ihr Zorn auf Carlo verflog immer mehr. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, warf ihre Haare stolz nach hinten und atmete tief durch. Doch ständig kamen ihr wieder die Bilder in den Kopf, in denen sie Carlo mit der anderen im Arm dort stehen sah und wieder begann sie laut zu weinen und mit den Füßen aufzustampfen.

Ihr Kopf lag immer noch auf den Armen und die ruhten auf ihren Knien. Sie öffnete ihre Augen und sah plötzlich inmitten all der anderen Sachen rechts neben sich eine kleine Schatulle stehen. Eine seltsame Atmosphäre entstand und Billie wunderte sich, dass sie nicht erschrak. Ihr war die Situation keineswegs geläufig, doch auf eigenartige Weise gewohnt – fast schon vertraut. Sie griff vorsichtig nach dem fremden Behältnis und stellte es neben sich hin. Aus dunklem Holz war die Schatulle und sie besaß einen Deckel. Die abgeschrägten Flächen des kleinen Behälters erinnerten sehr an die Form eines Sarges. Lediglich die Schnitzereien und Einlegearbeiten lenkten davon ab. Billie fasste allen Mut zusammen und hob den Deckel an. Sie ließ ihn gleich wieder los. Es passierte nichts. Die Schatulle ließ sich problemlos öffnen. Der Deckel war nicht klappbar, er war nicht an Scharnieren befestigt. Er ließ sich anheben wie eine Grabplatte. War das nun ein gutes oder ein böses Zeichen? Billie betrachtete den kleinen Kasten, ohne ihn an sich zu nehmen. Sie stieß mit dem Finger dagegen, als ob sie der Schatulle ein Lebenszeichen abfordern wollte. Aber nichts passierte. Die kleine Kiste bewegte sich nicht. Unsicherheit nistete sich bei Billie ein. War die Schatulle sonst nie da oder wurde sie von ihr übersehen? War sie wirklich so unaufmerksam? Diente die Schatulle vielleicht einmal ihrer Oma als Schmucketui? Und warum besaß das kleine Kästchen eine derart eigenartige Form? Bestimmt wurde sie von Hand gearbeitet und ist schon uralt. Aber was mag darin sein? Was wird darin aufbewahrt und was könnte passieren, wenn Billie den Deckel einfach abnimmt und nachschaut? Der Deckel war problemlos abzunehmen, also kann von innen nichts herauskommen, was verschlossen bleiben sollte.

Billie warf einen Blick auf die Schatulle, ließ sie aber auf dem Boden stehen. Vorsichtig schob sie sie über den Boden unter ihre angewinkelten Beine genau vor sich hin. Sie betrachtete den kleinen Kasten wie ein erlegtes Monster mit einem gewissen Stolz und nickte selbstbestätigend. Entweder wollte sie ihr Gesicht schützen oder sie wollte einer möglichen Gefahr nicht direkt ins Auge sehen, aber sie drehte ihren Kopf zur Seite, hob den Deckel an und setzte ihn mit angehaltenem Atem neben der Schatulle ab. Nichts geschah. Langsam drehte sie ihren Kopf zurück, senkte ihren Blick, schaute in das Innere der Schatulle und erblickte einen flachen Gegenstand in der Größe einer Spielkarte mit Griff. Die Form erinnerte sie sehr an einen Handspiegel, den sie selbst auf ihrer Frisierkommode liegen hat. Ihrer bestand jedoch nicht aus Gold. Der Gegenstand in der Schatulle allerdings. Auch die Ornamente stimmten mit denen der Schatulle überein. Beides gehörte offensichtlich zusammen und wurde wohl auch von einer Hand geschaffen. Beherzt griff Billie nach dem Gegenstand, drehte ihn herum und schaute für den Bruchteil eines Augenblicks in ihr eigenes Gesicht und befand sich schon im nächsten Moment inmitten einer johlenden Menschenmenge.

Billie hielt sich auf dem Marktplatz von Rouen im Frankreich des Jahres 1412 auf. Ein brennender Scheiterhaufen war der Anlass der jubelnden Ansammlung. Dutzende Leute tummelten sich dort und es herrschte eine eigenartige Stimmung. Ein offensichtlich noch recht junges Mädchen schrie sich vor Schmerzen die Seele aus dem Hals und befand sich an einen Holzpfahl gefesselt inmitten des lodernden Flammenmeeres. Billie hatte Angst. Sie wusste nicht, was mit ihr passiert, sie kannte kein einziges Gesicht und sie wollte niemanden fragen. Sie verlor jegliches Zeitgefühl und konnte noch nicht einmal ungefähr abschätzen, wie lange sie schon auf dem Marktplatz verweilte. Nach wie vor hielt sie den Spiegel in der Hand. Sie dachte mit Sehnsucht an ihr Zuhause, schaute völlig verstört in den Spiegel und beförderte sich wieder auf den Dachboden, und zwar an dieselbe Stelle wie zuvor.

Den Spiegel hielt sie immer noch in der Hand. Irgendetwas hat sie in den Spiegel hineingezogen und nach einer Weile wieder dorthin zurückgebracht, wo sie herkam. Sie saß da und war völlig verwirrt. Niemand konnte ihr jetzt helfen und mit niemandem konnte sie darüber sprechen. Selbst Rembrandt würde sie für total verrückt erklären. Also beschloss sie, ihr Erlebnis für sich zu behalten.

Sie musste sich die erlebte Situation zunächst aber selbst bewusst machen, und zwar Punkt für Punkt. Das alles konnte kein Zufall sein. Dahinter verbarg sich bestimmt ein raffinierter Zauber, ein unbekannter Fluch oder irgendein in Vergessenheit geratenes Ritual. Da war sich Billie ganz sicher. Irgendeinen Bezug muss es jedoch haben, denn so etwas passiert nicht per Zufall. Hatte es religiöse Gründe? Jeanne d’Arc war schließlich sehr gläubig. Oder war es mit dem Feuer in Verbindung zu bringen? Reinigendes Feuer, Flammen, Glut und Hitze? Es könnte alles Mögliche sein. Ihre Haarfarbe, ihre Sprache … Billie verstand die Sprache. Aber jeder dort sprach Französisch. Sie lernt zwar in der Schule Französisch, dennoch könnte sie nicht ein einziges Wort von dem verstehen, was damals gesprochen wurde. Aber sie hat alles verstanden – jede Silbe. Die Sprache der damaligen Zeit steht in keinem Verhältnis zu dem Französisch, das heutzutage gelehrt wird.

Sie hielt den Spiegel fest in ihrer Hand, schaute erneut hinein und befand sich exakt wieder an derselben Stelle wie schon zuvor. Da stand sie wieder zwischen den Leuten aus dem Norden Frankreichs, verstand deren Sprache und wurde in diesem Augenblick ein Teil dieser Welt. Warum sie von einigen Personen regelrecht angeglotzt wurde, konnte sie sich nicht erklären. Vielleicht wegen des Spiegels? Niemand besucht eine öffentliche Veranstaltung mit einem Spiegel in der einen und einem Koffer in der anderen Hand. Vielleicht war es einer Frau in diesem Ort sogar verboten, einen Spiegel in der Öffentlichkeit zu tragen? Billie wäre am liebsten wieder auf dem Dachboden, anstatt sich auf einem Marktplatz im Norden Frankreichs des 15. Jahrhunderts zu befinden. Hier gehörte sie nicht hin und hier fühlte sie sich auch nicht wohl. Sie wusste nicht mehr ein noch aus und hoffte bloß, dass alles nur ein böser Traum sei und sie möglichst schnell daraus erwacht. War es vielleicht verboten, innerhalb einer Stunde oder eines Tages zweimal in den Spiegel zu schauen und musste man daher zur Strafe den Rest seines Lebens an dem Ort verbringen, an dem man sich befand? Vielleicht war das der Fluch? Billie war außer sich. Schuld an allem war nur der Spiegel und dem wollte sie gerade ihre Meinung sagen. Sie hielt ihn vor ihr Gesicht, um ihn anzuklagen und saß in derselben Sekunde wieder auf dem Dachboden.

»Jetzt bloß nicht wieder in den Spiegel schauen«, dachte sie und legte den Spiegel in die Schatulle. Wie lange war sie weg? Sie wusste es nicht. Sie trug zwar jetzt wieder eine Uhr, aber vor jeder Reise in eine andere Welt schien sie ihr vom Arm zu fallen. Es schien, als zöge Billie sie vorher aus.

War sie wenige Augenblicke, eine Stunde oder noch länger weg? Sie wusste es nicht und konnte es auch nicht einschätzen.

Sie musste herausfinden, wie lange sie jeweils woanders war. Sie musste erneut in den Spiegel schauen. Aber woher nahm sie die Gewissheit, wieder dort zu landen, wo sie zuletzt war? Vielleicht war das zweimalige Erscheinen auf dem Marktplatz in Rouen ein Zufall? Billie wusste es nicht. Sie musste das Risiko eingehen. Sie schaute auf ihre Uhr und merkte sich die Zeit. Dann griff sie nach dem Spiegel, schaute hinein und stand erneut in der Menge der dortigen Meute, die immer noch in Richtung Scheiterhaufen blickte, ihre Fäuste drohend in die Luft stemmte und übelste Parolen brüllte. Billie roch das Feuer, schmeckte die Luft und spürte die Menschen um sie herum. Sie konnte sie anfassen, ihnen auf die Füße treten, sich dafür entschuldigen, um es gleich wieder zu tun. Ein wenig übermütig wurde sie schon, denn sie wähnte sich in Kürze wieder davon. Tatsächlich bewegten sich einige Leute auf sie zu und vermittelten einen düsteren Eindruck. Ganz wohl war Billie nicht mehr in ihrer Haut. Näher und näher kam der Pöbel und war durch das Erlebnis mit dem Scheiterhaufen ohnehin schon sehr aufgestachelt. Billie konnte nicht noch weiter rückwärtsgehen, weil dort der Scheiterhaufen stand und der glühte noch spürbar. Ein knapper Meter trennte sie noch von der Glut und es wurde bedrohlich heiß. Wieder machte sie den Spiegel für ihre brenzlige Lage verantwortlich und schrie ihn an. Sie nahm ihn hoch, schaute hinein und plötzlich befand sie sich wieder mit dem Rücken gegen den alten Schrank lehnend auf dem Dachboden in Sicherheit. Es passierte wahrhaftig. Sie war wirklich dort und alles geschah nicht nur in ihrer Fantasie. Ihr Herz raste noch und Schweiß stand ihr vor Aufregung ebenfalls auf der Stirn. Noch vor wenigen Augenblicken trug sie einen Koffer sowie die Garderobe und eine Frisur der damaligen Zeit und jetzt erschien sie wieder in ihrer gehabten Kleidung mit ihrer gewohnten Mähne. Doch irgendetwas hatte sie vergessen, das merkte sie. Aber was war es bloß? An was wollte sie sich erinnern? Billie schaute sich fragend um. Und dann sah sie die Uhr an ihrem Arm und es fiel ihr wieder ein. Sie wollte sich die Dauer ihrer Abwesenheit merken. Sofort schaute sie nach. Doch wie viel Zeit war mittlerweile vergangen? Sie saß doch schon eine Weile da und überlegte. Billie konnte es nicht einschätzen. Vielleicht zwei, vielleicht drei oder sogar vier Minuten? Dann wäre sie jedes Mal zwischen 20 und 25 Minuten woanders gewesen. Jedenfalls konnte sie jetzt ihre Abwesenheit einschätzen. Aber warum war sie gerade dort? Was war der Grund für ihre Reise dorthin? Ebenso gut hätte sie es nach China, Afrika oder in die Zeit der Wikinger ziehen können? Sie wurde jedoch stets auf den Marktplatz von Rouen transportiert und sah dort den brennenden Scheiterhaufen. Sie konnte auch die dort anwesenden Personen berühren und besaß offensichtlich die Möglichkeit, sich der Szenerie völlig anzupassen. Sie gehörte für diesen Augenblick in diese Welt und wurde von jeder anderen dort tatsächlich existierenden Person ohne Einschränkungen akzeptiert.

Aber warum war sie gerade bei der Verbrennung der Jungfrau von Orleans anwesend? Hat sie der Spiegel gezielt dorthin gesteuert oder war sie es mittels ihrer Gedanken selbst? Würde sie der Spiegel an den Ort bringen, an den sie jeweils dachte? Und plötzlich fiel Billie ein, dass sie erst vor einigen Tagen mit Jeanne d’Arc zusammentraf, wenn auch bloß im Geschichtsunterricht. Auch die Tatsache, dass die anstehende Klassenfahrt dorthin gehen sollte, brachte ihr die gesamte Situation näher. Jedenfalls ließ sie das Thema nicht mehr los und es ging ihr noch lange im Kopf spazieren. Das könnte also der Schlüssel zu ihrer Reise sein, aber es stellt keine Gewissheit dar. Sie müsste es steuern können, erst dann wäre es perfekt. Dann besäße sie ein beneidenswertes Utensil. Wohin ließe sich einmal reisen? Wohin wollte sie schon immer und wobei wollte sie gerne zusehen? Inmitten einer grölenden Meute auf einem Marktplatz zu stehen und der Verbrennung eines fast gleichaltrigen Mädchens beizuwohnen, entsprach keineswegs ihrem dringlichsten Wunsch.

Merkwürdigerweise erinnerte sie sich lediglich an ähnliche Situationen der Zeitgeschichte, denn alle anderen wirkten erheblich weniger spektakulär. Erst wenn es irgendwo ein Gemetzel, eine Schlacht oder eine Fehde gab, erzeugten diese Geschehnisse eine historische Relevanz und wanderten in die Geschichtsbücher und in Billies Gedächtnis.

Beispielsweise wäre Billie – alleine der historischen Bedeutung wegen – gerne bei der Geburt Alexander des Großen zugegen gewesen. Aber wo hätte sie sich dort aufhalten sollen? Auf dem Marktplatz in Rouen konnte sie sich in der Menschenmenge bewegen und stach als Einzelperson nicht hervor. Sie befand sich im Schutz der Menge und somit in Sicherheit. Niemand kümmerte sich um sie. Einige fragende Blicke trafen sie, aber es bestand zu keiner Zeit Anlass zur Sorge, solange sie niemandem auf die Füße trat. Die Kreuzigung Jesu wurde beispielsweise kaum dokumentiert. Es ist so gut wie nichts darüber bekannt. Die anwesenden Soldaten oder die trauernden Frauen entsprangen einst der Fantasie des jeweiligen Malers. Ihre Anwesenheit bei einem möglichen geschichtlichen Ereignis erschien ihr nicht geheuer. Sie musste über absolute Gewissheit verfügen und sich komplett integrieren können. Sagen, Mythen oder andere vage Begebenheiten hatten in diesem Repertoire keinen Platz. Sie durfte nicht auffallen, nicht stören und keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Eine x-beliebige Szene in einem Park wäre ihr recht. Dort könnte sie entlang des Weges flanieren und zöge keinerlei mürrische Blicke auf sich.