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Weinkrimi-Reihe komplett im dtv Ein Winzer und sein Sohn verschwinden, einem Weingut werden Strom und Wasser abgestellt, ein anderes geht in Flammen auf. Frank Gatow, der in der Toskana für einen Weinführer fotografiert, bemerkt die Manipulation von Proben. Anfangs ist er nur Beobachter der mysteriösen Ereignisse, aber als der Winzer und sein Sohn nicht wieder auftauchen, wird er selbst zum Verdächtigen. Da kommen ihm zwei Winzerinnen unerwartet zu Hilfe.
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Seitenzahl: 469
Paul Grote
Bitterer Chianti
Kriminalroman
Deutscher Taschenbuch Verlag
Überarbeitete Neuausgabe 2014
© 2014 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Der Band erschien erstmals 2005 im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg.
Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen
Umschlagfotos: gettyimages/massimo colombo und Corbis/Ross Woodhall und Ocean
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
eBook ISBN 978-3-423-42366-3 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21537-4
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Dieser Roman ist
Anna Rodaro und Anna Di Giannantonio
aus Avasinis im Friaul gewidmet.
Montag, 27. September
Die beiden Männer kamen zielstrebig auf ihn zu. Frank ließ die Kamera sinken, duckte sich und kniff die Augen zusammen, dann sah er sich rasch um. Außer ihm war niemand hier oben, kein Mensch weit und breit, und der Weg aus dem Tal herauf in die Weinberge endete genau da, wo er jetzt stand – also konnten sie nur ihn meinen, obwohl … er erinnerte sich nicht, diese Männer jemals zuvor gesehen zu haben.
In ihren dunklen Anzügen sahen sie aus wie Geschäftsleute – waren sie Einkäufer oder Weinhändler, die sich an Ort und Stelle ein Urteil über die Qualität der Weinberge bilden wollten? Dass Spaziergänger sich in diese Einsamkeit verirrten oder von hier oben die Aussicht genießen wollten, wo die steilen Feldwege in Wildwechsel übergingen, war ziemlich ausgeschlossen.
Frank blickte über das satte Grün der Weinberge und die silbern schimmernden Olivenhaine, sein Blick blieb an den Zypressen hängen, die als dunkle Säulen den steinigen Weg unten säumten, der zur Kellerei von Niccolò Palermo führte. Dahinter zog sich Mischwald bis hinauf zum Kamm des nächsten Hügels. Weiter im Westen, wo inmitten längst gemähter Weizenfelder eine Landmaschine Staubwolken aufwirbelte, neigte sich das Land der Ebene zu. Siena war erst von der nächsten Hügelkette aus zu sehen.
Frank hielt sich für einen sehr guten Beobachter; ja, wenn er sich etwas zutraute, dann war es das genaue Hinschauen – nur beim Erkennen fühlte er sich längst nicht mehr so sicher wie früher, als er mit dem Fotografieren begonnen hatte. Statt sofort auf den Auslöser zu drücken, fragte er sich heute immer wieder, vielleicht zu oft, was eigentlich unter der sichtbaren Oberfläche lag. Was also trieb diese Männer so entschlossen den Hügel herauf ? Sie wirkten wenig vertrauenerweckend, und ein ungutes Gefühl beschlich Frank, er roch den Ärger förmlich …
Er hatte die beiden erst entdeckt, als sie aus ihrem Auto gestiegen waren, ihren großen Geländewagen hatte er weder gehört noch kommen gesehen. Jetzt stand dieser direkt vor seinem eigenen Wagen. Wieder hob Frank die Kamera mit dem Teleobjektiv ans Auge – mit der 200er Brennweite und dem dazwischengesetzten Telekonverter, der die Brennweite noch erhöhte, wirkte es wie ein Fernrohr. Einer der beiden Männer stand in merkwürdiger Haltung da und sah durch ein Fernglas zu Frank herauf. Die Gestalten erinnerten ihn jetzt an amerikanische Prediger, wie man sie durch europäische Innenstädte hasten sah, immer einen einheimischen Helfer im Schlepptau. In ihren abgewetzten Anzügen mit Namensschild am Revers, in der Hand altmodische Aktentaschen, schienen sie unbeirrbar ihrem Ziel zu folgen: Seelen für ihre Sekte zu fangen, und wenn sie die erst mal hatten, war es zum Bankkonto der armen Seelen auch nicht mehr weit.
In ihrem Aufzug wirkten die beiden Männer grotesk, ein Antagonismus zur Natur ringsum. Schwarze Anzüge, weiße Hemden, die Gesichter blass, um den Hals schwarze Krawatten wie zu einer Beerdigung – und um sie herum das blühende Leben: späte Sommerblumen in Gelb und Rot, blaue Glockenblumen im weichen, schmeichelnden Licht des Nachmittags und der nach Rosmarin und Lavendel duftenden Hitze. Bestattungsunternehmer? Nein, das war kein passender Vergleich, da war Prediger schon besser. Der eine war wesentlich kleiner als der andere, gedrungen, aber sportlich, eine Kanonenkugel auf zwei Beinen, das Sakko zu eng für den Brustkorb, der Hals zu dick für den Kragen, aber der Mann war nicht fett, beileibe nicht – er schien vielmehr fast nur aus Muskeln zu bestehen.
Die Männer kamen näher, viel zu schnell für die Hitze des Nachmittags und die starke Steigung, und als sie so nah waren, dass Frank fast ihre Gesichter erkennen konnte, knapp zehn Meter mochten es jetzt noch sein, setzten beide, als hätten sie es eingeübt, gleichzeitig ihre Sonnenbrille auf. Mit den obligatorischen Ray-Ban Wayfarers sahen sie jetzt endgültig wie nahe Verwandte der Blues Brothers aus.
Später versuchte Frank immer wieder, sich an ihre Gesichtszüge zu erinnern, aber es gelang ihm nicht, weder als er abends bei den Carabinieri seine Anzeige machte, noch als ihn der Commissario verhörte. Schwierigkeiten hatte er auch mit dem Alter der beiden. Sie mochten etwa so alt sein wie er selbst, Ende dreißig – oder älter? Es war schwer zu sagen.
Die Unbekannten erreichten den Kamm des Hügels, sie waren schneller heraufgekommen, als er es je geschafft hätte, und ohne außer Atem zu geraten. Jetzt waren sie mit Frank auf einer Höhe, ihre Schritte durchbrachen die Stille, Sand knirschte unter harten Sohlen, das Atmen mischte sich mit dem Zirpen der Grillen, die Sonnenbrillen wirkten so undurchdringlich wie die schwarzen Balken über den Augen einer unkenntlich gemachten Person in der Zeitung. Fünf Schritte waren sie entfernt, dann noch vier …
Irritiert beobachtete Frank, wie der Große weiche Lederhandschuhe überstreifte – wozu das, bei dieser Hitze? Frank wich zurück, er spürte eine Welle der Aggression, unwillkürlich packte er mit der linken Hand das Teleobjektiv, hob die Kamera, bereit zur Aufnahme, versuchte zu begreifen, was sie von ihm wollten. Da schoss die Hand mit dem Handschuh auf ihn zu …
An sie konnte Frank sich später genau erinnern – im Gegensatz zu den blassen, nichtssagenden Gesichtern. Braun war der Handschuh, so glänzend wie eine frische Kastanie, feine Nähte, die kaum auftrugen, verdammt teuer, dünnstes Leder, das nirgends eine Falte warf, am Handrücken und über den Knöcheln waren dunkle Flecken. Jetzt hatte Frank die Kamera am Auge –
Zu spät, der Handschuh war schneller, er griff nach dem Objektiv:
»Dammi la macchina!«, hörte Frank den Mann sagen. Die tiefe Stimme kam aus voller Brust, und der breite amerikanische Akzent war unüberhörbar. Er packte das Objektiv und wollte es Frank mit einem Ruck aus den Händen reißen, doch der Trageriemen blieb an Franks Nacken hängen. Frank stürzte nach vorn, prallte gegen den Mann, stieß sich den Kopf an der Kamera, versuchte, sie mit einer Hand festzuhalten und sich mit der anderen abzustützen. Da rutschte der Riemen über seinen Hinterkopf, und er erhielt einen derben Schlag vor die Brust, der ihn zurückwarf. Er strauchelte, fing sich wieder und richtete sich erschrocken auf.
»How do you open that shit?«, hörte er den Mann sagen.
Franks Sorge galt nun weniger sich selbst als der Kamera, entsetzt bemerkte er, wie grob sein Gegenüber an ihr herumfingerte. Empört streckte Frank die Arme aus. »He! Was soll das? Gib den Apparat her!«
Der verdammte Idiot stand im Begriff, sie zu ruinieren. Gleichzeitig kam Frank sich lächerlich vor, wie ein Kind, das heulend die Arme nach seinem Spielzeug ausstreckt. Er stutzte – hatte der Kerl eben nicht sowohl Italienisch als auch Englisch gesprochen?
Der Kleinere ging dazwischen und schlug Frank die Hände weg. »Leva le tue sporche mani di dosso!« Er sprach fehlerfrei italienisch, aber der Akzent war derselbe wie der seines Begleiters.
»Meine Kamera … he, was soll das? Seid ihr verrückt geworden? Give it back … dammela!«, stieß Frank hervor, eher perplex und verständnislos als wütend, aber gleichzeitig dämmerte ihm, dass es sich hier nicht um einen gewöhnlichen Straßenraub handelte.
Kleinkriminelle und Autoknacker bevorzugten Pisa, Genua und die Adria, in touristischen Zentren gab es was zu holen, aber nicht in der Einsamkeit toskanischer Berge. Dass die beiden es nicht auf die Kamera, sondern auf den Film abgesehen hatten, wurde beim nächsten Satz klar.
»Merda! Come cazzo si apre?«, schimpfte der Große.
Fassungslos sah Frank den Mann auf alle Knöpfe drücken und an jedem Hebelchen drehen, als hätte er nie eine Spiegelreflex in Händen gehalten. Das Herumfummeln mit den sporche mani, den dreckigen Händen, wie der Kleinere gesagt hatte, das traf auf ihn selbst zu – seine sporche mani würden die Kamera ruinieren. Es reichte.
»No. Stop!«, stieß Frank wütend hervor. »Ich zeige euch, wie sie aufgeht.« Vielleicht ließen sie von der Kamera ab, wenn er ihnen den Film gab? »Man muss die Entriegelung vom Rückspulknopf nach links drehen und ihn anheben, dann springt die Rückwand auf …«
Weshalb vergriff sich dieser Idiot an seinem Fotoapparat? Frank kapierte es einfach nicht. Kamen jetzt die Amis schon zum Klauen nach Europa? Hielten sie ihn womöglich doch für einen Touristen? Wenn die Burschen nur den Film wollten – na schön, dafür würde er sich nicht die Zähne einschlagen lassen, aber sie sollten verdammt noch mal die neue Kamera in Frieden lassen – er hatte sie eigens für diesen Auftrag gekauft. All das schoss ihm in diesem Moment durch den Kopf.
Frank machte einen Satz auf den Mann zu – und sprang in die Faust des Kleineren hinein, die ihn direkt unterhalb der Rippen traf. Ihm war, als würde die gesamte Luft aus seiner Lunge gepresst, und wie ein leerer Sack klappte er zusammen. Der Große packte Frank am Kragen, der Kleinere half, ihn auf die Beine zu stellen, es fiel ihnen nicht schwer, denn Frank taumelte, rang verzweifelt nach Atem – und dann schlug der Große zu, rechts-links, blitzschnell, distanziert, sachlich und überlegen wie jemand, der in der Trainingshalle tausendmal auf einen Punchingball eingedroschen hat.
Es knallte zweimal, so kurz hintereinander, dass Frank später nicht wusste, ob es ein oder zwei Schläge gewesen waren, sein Kopf wurde hin und her gestoßen, das Gehirn schien zu explodieren, Sternchen überall, die Wucht der Schläge warf ihn zurück, und er fiel und fiel … Verblüfft sah er die Landschaft an sich vorübergleiten, über ihm der Himmel, so blau wie das Meer unten an der Steilküste von Cinque Terre, unendlich und weich und so blau …
Er konnte atmen, aber der Mund war trocken wie Papier, und als Frank schlucken wollte, ließ sich der Unterkiefer kaum bewegen. Das Kinn war geschwollen. Man hatte ihn genau am K.-o.-Punkt getroffen. Weshalb, verdammt? Warum um alles in der Welt hatte ihn dieser Drecksack geschlagen? Nur um die Kamera zu kriegen? Die Fragen schlichen sich einzeln, langsam und leise in den Kopf. Immerhin funktionierte er wieder. Wer war das gewesen? Er hatte die Typen nie im Leben zuvor gesehen, sie weder beleidigt noch provoziert, er hatte niemandem etwas getan. Bei dem Gedanken, dass sie noch da sein könnten, erschrak er. Erst jetzt bemerkte er, dass er am Boden lag.
Wie viel Zeit war vergangen? Frank blinzelte, das Licht kam ihm grell vor, es tat in den Augen weh, aber er musste wissen, ob sie noch da waren. Er fühlte sich kaum in der Lage, sich aufzurichten, aber soweit er sehen konnte, waren sie zumindest aus seiner unmittelbaren Umgebung verschwunden. Warteten sie vielleicht unten am Auto? Kraftlos ließ er den Kopf sinken und schloss die Augen. Dieser Zustand zwischen Schlaf und Wachen war schön. Wenn nur der verfluchte Durst nicht wäre.
Weshalb waren sie wie die Tiere auf ihn losgegangen, und dann gleich so brutal? Er hatte sie lediglich durchs Teleobjektiv beobachtet. Was war mit der Kamera? Wieso liefen die beiden in Anzügen mitten durch Niccolò Palermos Weinberge? Immer mehr Fragen tauchten auf. Antworten fand er nicht, nicht eine einzige. Benommen rollte er sich auf die Seite und starrte in den Sand. Einsamkeit übermannte ihn.
Eine Eidechse lief vor seinem linken Auge vorbei. Sie war unterhalb der Augenbraue in sein Gesichtsfeld getreten, lief über helle Erdbrocken in Richtung Nase, änderte die Richtung, kam zurück. Er fürchtete schon, die Hand heben zu müssen, um sie zu verscheuchen, aber dann verschwand sie hinter welken Grashalmen.
Eine Weile lag er so da, hatte das Gefühl, als wäre sein Kopf in Watte gepackt. Dann probierte er vorsichtig, den Mund auf und zu zu machen. Der Kiefer knackte und klemmte wie ein rostiges Scharnier. Nach einigen Versuchen ging es besser, wenngleich die Bewegung des Unterkiefers grauenhaft wehtat. Nadeln schienen sich in sein Gehirn zu bohren, als er sich aufrichten wollte, den Kopf nur ein wenig hob. Wie hielten Boxer solche Schläge aus?
Der Durst wurde unerträglich, unten im Wagen, in der Kühlbox war Wasser, er hatte heute Morgen einige Flaschen gekauft. Die Vorstellung war wunderbar. Er musste den Berg hinunter, musste trinken, seine Mundhöhle fühlte sich bereits an wie von Dürre aufgerissene Erde.
Da entdeckte er wenige Meter vor sich, halb verdeckt vom Gras, ein schwarzes Etwas, matt schimmernd an einigen Stellen wie Gefieder – ein toter Vogel? Als Frank begriff, was dort lag, stöhnte er gequält auf: Es war die Kamera. Der Kopfschmerz war vergessen, kein trockener Mund mehr. Frank kroch in Panik darauf zu. Sie hatten sie aufgerissen. Wie eine platt gefahrene Schlange lag der Film daneben.
Er sortierte seine Gliedmaßen und setzte sich in den Schneidersitz auf, im Moment die einzig erträgliche Position. Die Kamera nahm er wie ein kleines krankes Tier auf den Schoß. Der Anblick machte ihn traurig. Er liebte Kameras, konnte sich dafür begeistern, wie jeder Handwerker sich für sein Werkzeug begeisterte. Seine Bewunderung optischer Geräte war natürlich größer als die des Mechanikers für seinen Schraubenschlüssel, doch ging sie nicht so weit wie bei einigen Kollegen, die ihre Fotoapparate regelrecht anbeteten. Statt durch den Sucher zu blicken und die Welt in Rechtecke einzuteilen, schaute er lieber mit eigenen Augen. Aber – von irgendwas musste er leben, er konnte nichts anderes als Fotografieren, und es war für ihn die angenehmste Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Und jetzt? Sie hatten das Ding mit brachialer Gewalt traktiert, die beste Kamera, die er je gehabt hatte, war unwiederbringlich zerstört: Sie machte acht Bilder pro Sekunde und war doch leise, sie hatte einen neuen Autofocus-Sensor, die Matrixmessung erfasste auch die Farbverteilung. Er hatte das hochkomplexe Hightech-Gerät mühsam von seinen knappen Honoraren abbezahlt. Und jetzt war die Kamera eine wertlose Blechbüchse. Vielleicht war sogar die Arretierung des Teleobjektivs verbogen …
Mit allem hatte er gerechnet, mit Diebstahl, mit Krankheit, mit einem Autounfall – die Strecke war lang: von Hamburg bis in die Toskana und zurück und hier drei Wochen unterwegs, es würde auf sechstausend Kilometer hinauslaufen, vielleicht sogar auf mehr. Drei Wochen hatte ihm der Verlag für den Chianti-Classico-Weinführer zugestanden, drei Wochen Spesen, ein herrlicher Job nach all dem nervenaufreibenden Kleinkram, der heutzutage für freie Fotografen noch übrig blieb, in Zeiten, wo alles und jeder bereits fotografiert, digitalisiert und archiviert war.
Drei Wochen waren wenig, bei all dem, was es zwischen Florenz und Siena zu sehen gab, und täglich liefen ihm die Augen über. Dabei war die Vorgabe klar: Der Journalist, der den Weinführer schrieb, hatte die Weingüter ausgesucht; jetzt musste er sie abfahren und die Pflichtaufnahmen machen. Das Wie hatte man ihm freundlicherweise überlassen, aber es war pures Glück gewesen. Danach blieb noch ein wenig Zeit für die Kür, für das, was er selbst machen wollte.
Vorsichtig legte Frank die Kamera beiseite und sah sich um – und wäre beim Anblick seines Fotokoffers fast wieder in Ohnmacht gefallen. Sie hatten ihn ausgeschüttet. Die anderen Kameras, Objektive und sämtliches Zubehör lagen über den Boden verstreut im Staub. Sogar die Filter hatten sie aus den Schachteln genommen und in den Dreck geworfen, zwei waren zersplittert. Frank schaute müde ins Tal, sah die Azienda Agricola von Niccolò Palermo, umgeben von Rebflächen, auf die jetzt das sanfte Licht fiel. Rebzeilen in schöner Regelmäßigkeit, wie mit einer gewaltigen Harke über Hänge und Hügelkuppen gezogen, und auch die Olivenplantagen folgten den Erfordernissen des welligen Geländes, die Bäume in Reihen wie topografische Linien entlang der Hänge.
Vor dem Treffen mit dem Winzer Palermo hatte Frank sich wie üblich einen Überblick verschaffen wollen, nur deshalb war er hier heraufgekommen, denn die Totale, die Aufnahme des gesamten Anwesens, würde er exakt von hier aus machen müssen, allerdings am frühen Morgen, denn am Nachmittag hatte er die Sonne gegen sich.
Vorhin war jemand über den Hof der Azienda gelaufen, und obwohl Frank aus einiger Entfernung hinübergesehen hatte, hatte er den Eindruck gehabt, einen jungen Mann ausgemacht zu haben, so leichtfüßig, wie er sich bewegt hatte.
Unten, am Fuß des Hügels, stand noch sein silbergrauer Volvo, anscheinend unbeschädigt. Zum Glück, denn er hatte sich den Wagen von seinem Vater geliehen, der im Austausch dafür Franks Rostschleuder benutzen durfte. Mit seiner eigenen Kiste hätte Frank die Reise hierher nie gewagt. Es war eine Frage der Ehre, dass er seinem Vater den Wagen heil zurückbrachte.
Von dem Geländewagen der beiden Prediger keine Spur. Wahrscheinlich waren sie zur Azienda zurückgefahren und hatten dort vor dem Tor gewendet. Denn von dort mussten sie auch gekommen sein.
Inzwischen war es Abend geworden. An den Besuch bei Palermo, dem Winzer. war nicht mehr zu denken. Außerdem fehlte ihm seine Kamera, mit der er neuerdings die Porträts machte. Erst jetzt fiel Frank auf, dass sämtliche Filme und Datenchips verschwunden waren. Die Aufnahmen des Tages waren also weg, er würde sie noch einmal machen müssen. Bei seinem Zeitbudget eine Katastrophe. Wenigstens hatte er genügend neue Filme und Reservechips im Kühlschrank seines Hotelzimmers liegen.
Frank sammelte seine Ausrüstung ein und trottete missmutig den Weg hinab, wobei er jede unnötige Erschütterung des Kopfes vermied. Beim Wagen angekommen, stellte er fest, dass einem Reifen die Luft fehlte. Wenigstens nur einem, dachte Frank, während er eine Flasche Wasser aus der Kühlbox holte und sie in einem Zug leerte. Dann nahm er die nächste, trank die Hälfte und ließ sich den Rest über Kopf und Nacken laufen. Jetzt ging es ihm besser.
Hatten sie nur die Luft herausgelassen oder auch das Gummi durchstochen? Auf jeden Fall musste er gewechselt werden. Frank krempelte die Ärmel hoch und machte sich an seinem Wagen zu schaffen. Die Gedanken rasten in seinem Kopf. Was sollte das Theater? Hatte er in den letzten Tagen eine Aufnahme von jemandem gemacht, der nicht fotografiert werden wollte, oder versehentlich militärische Einrichtungen abgelichtet? Kaum anzunehmen, dass sich Carabinieri so verhielten, höchstens vielleicht die Geheimpolizei, doch auch die ging eher unauffällig vor.
Frank erinnerte sich an ein ähnliches Erlebnis zu Zeiten des Kalten Krieges. Er hatte gerade mit dem Fotografieren angefangen und war in die Nähe eines Sperrgebietes geraten. Militär überall, Manöver – eine Streife der britischen Rhine Army hatte ihn trotz seines Presseausweises festgenommen, Offiziere hatten ihn mehrere Stunden lang verhört und ihn schließlich den Feldjägern übergeben, die ihn rasch wieder hatten laufen lassen. Er war harmlos, ein Nachspiel hatte die Sache nicht gehabt, für alle Ewigkeit registriert hatten sie ihn allerdings bestimmt, in irgendein Raster passte jeder. Aber niemand hatte ihn misshandelt.
Frank schüttete sich die nächste Flasche Mineralwasser über den Kopf, das Kribbeln der Kohlensäure auf der Kopfhaut ließ ihn endlich wieder klar werden. Er machte sich daran, seine Ausrüstung zu überprüfen – die anderen Kameras waren intakt und nur leicht verschmutzt, die Objektivdeckel hatten Erde und Staub von den Linsen fern gehalten. Er nahm jedes einzelne Teil des Zubehörs in die Hand, die Druckluftpatrone zum Reinigen der Kameras, Filter, Batterien, Blitzgerät, Schraubenzieher, die winzige Taschenlampe, all das Zeug, das er stets mit sich herumschleppte. Es würde eine lange Nacht werden, bis er alles wieder in Schuss gebracht hatte. Seine beste Kamera aber war total hin! Er musste zur Polizei gehen, obwohl er sich nichts davon versprach, sie würde wohl kaum nach den Tätern suchen, geschweige denn sie finden. Ohne Protokoll jedoch würde ihm die Versicherung die Kamera nicht ersetzen. Gab es in Castellina überhaupt ein Kommissariat?
Was hatten die beiden Männer für ein Kauderwelsch gesprochen? Englisch? Italienisch? Beides, mal so, mal so, Englisch und Italienisch mit amerikanischem Akzent. Seltsam, hier oben?
Die Schatten wurden länger, das Blau des Himmels verblasste. Sosehr Frank sonst diese Tageszeit genoss, zum einen wegen der Stille, aber mehr noch wegen des schmeichelnden, flach einfallenden Lichts, das allem weiche Konturen verlieh und die Perspektiven betonte – heute berührte es ihn nicht. Mit brummendem Schädel machte er sich an den Reifenwechsel. Drüben auf der Azienda rührte sich nichts. Niemand war gekommen, niemand hatte die Kellerei verlassen, und außer Vogelgezwitscher und dem Wind in den Bäumen war nichts zu hören.
Die Fototermine morgen würde er absagen müssen. Einen Ersatz für die Kamera zu beschaffen war wichtiger. Fraglich war, ob dieses Modell in Florenz überhaupt zu finden war, unter Umständen musste er nach Rom fahren. Vielleicht konnte er sich vorab telefonisch erkundigen. Zur Not musste er mit den alten Kameras weiterarbeiten. Hoffentlich bekam er Filter in der richtigen Größe, er brauchte sie, denn in dieser Jahreszeit lag viel Dunst in der Luft. Einen Arbeitstag musste er für die Besorgungen einkalkulieren, ein verlorener Tag, den ihm niemand bezahlte. Bereits jetzt grauste ihm vor der Rennerei durch die Fotoläden, und das im überfüllten Florenz.
In diesem Moment fiel ihm siedend heiß ein, dass er sich ja für den Abend mit Giacomo Paese zum Essen verabredet hatte. Er würde vielleicht eine Minestrone löffeln können – bloß nichts zum Kauen –, Polenta wäre weich genug, mit irgendeiner Soße, aber da gab es meistens Fleisch dazu. Ein Risotto mit Steinpilzen oder Meeresfrüchten wäre auch nicht schlecht. Er kannte Paese nicht, aber kaum ein italienischer Winzer war knauserig, keiner ließ sich lumpen, dazu tafelten sie selbst viel zu gern. Aber eigentlich war es schade, in diesem Zustand eine Einladung anzunehmen. Je länger Frank darüber nachdachte, desto besser schien es ihm, abzusagen. Er würde nichts genießen können, außerdem saß ihm der Schreck in den Gliedern.
Auf der Azienda drüben blieben die Fenster dunkel, weder über dem Hoftor noch an der Haustür war ein Licht eingeschaltet worden, und noch immer war kein Laut zu hören. Das Anwesen machte einen verlassenen Eindruck. Da war das zweistöckige Hauptgebäude, wahrscheinlich das Wohnhaus des Winzers, der vielleicht auch noch eine Stadtwohnung besaß, wie viele seiner Kollegen. Links drängte sich ein weiteres Gebäude gegen das Wohnhaus, quer dazu lagen ehemalige Stallungen oder etwas in der Art. Rechts schloss ein großer Schuppen an und nach außen hin etwas, das die Werkstatt oder ein Geräteschuppen sein mochte. Alle Häuser stützten sich gegenseitig wie in einem mittelalterlichen Dorf. Nur die neue flache Halle gegenüber dem Hauptgebäude störte das Ensemble. Sie schmiegte sich an den Hang und schien in den Berg hineingebaut zu sein. Frank vermutete dort die Keller. Tief im Fels lagen die alten Fässer und Flaschen.
Aber wieso standen Autos im Hof, ein Fiat und ein Pickup, wenn niemand da war? Viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um dieser Frage weiter auf den Grund zu gehen, verstaute er den durchstochenen Reifen nebst Wagenheber und lud seine Fotoausrüstung in den Wagen.
Während er langsam auf dem steinigen Weg in Richtung Landstraße zurückfuhr, versuchte er sich immer wieder an die Gesichter der beiden Männer zu erinnern. Ihm kamen abermals die Blues Brothers in den Sinn, Szenen aus dem Film, den er zweimal gesehen hatte. Diese Bilder überlagerten die Erinnerung an die Wirklichkeit, denn den Gesichtern der beiden Männer hatte jeder Ausdruck gefehlt.
Wie anders waren da die Gesichter der Winzer, die Frank seit einigen Tagen fotografierte, die Charakterköpfe der Landarbeiter und Bäuerinnen mit den Spuren eines gelebten Lebens: Furchen, Runzeln, Lach- und Sorgenfalten, sympathische Krähenfüße in den Augenwinkeln, Gesichter wie zerknittertes Pergament, wie Leder oder Olivenholz, Gesichter voller Ernst, Not und Lebensfreude.
Auf der Landstraße begann das Bild der beiden Kerle zu verblassen. Vor Vagliagli bog Frank links ab und nahm die Steigung durch den lichten Wald über den Höhenzug. Die Straße konnte kaum als solche bezeichnet werden. Sie war so voller Schlaglöcher, dass Frank heftig durchgeschüttelt wurde. Jede Bodenwelle war zu spüren. Kurz vor der Chiantigiana lagen links oben im Wald die etruskischen Gräber, zumindest wiesen ein Wegweiser und drei rote Punkte auf der Straßenkarte darauf hin. Ansehen sollte er sich die Stätte zumindest, vielleicht ein lohnendes Objekt zur Illustration des Weinführers? Oder er stellte einen Winzer mit einem Weinglas in der Hand davor. Den Hügel hinunter zu seiner Linken kam Castello di Fonterùtoli in Sicht, Fons Rutolae in der römischen Epoche; auch diese Kellerei stand auf seinem Programm. Geradezu legendär, hieß es, seien die dortigen Weine. Chianti Classico von der elegantesten Art, wie der Gambero Rosso behauptete, Italiens wichtigster Weinführer, der sie mit drei Gläsern bewertet hatte. Aber ob die Weine tatsächlich so großartig waren, entzog sich Franks Kenntnis und seiner Beurteilungsgabe.
Fonterùtoli war längst keine Festung mehr, mit Graben und Wall, eher eine Ansammlung einstmals befestigter Häuser, sehr romanisch, mit eigener Kapelle an dem nach Südwesten ausgerichteten Hang. Alle Siedlungen weitab der Städte waren früher befestigt, denn zwischen Florenz und Siena hatten die Heere der Stadtstaaten sich gegenseitig alle naslang die Schädel eingeschlagen. Das Brummen in seinem Kopf war eine Reminiszenz daran.
Frank parkte oberhalb von Fonterùtoli, um sich die Örtlichkeiten einzuprägen. So wusste er, wann die Sonne richtig stand, und er brauchte nicht lange nach der richtigen Position für seine Bilder zu suchen. Er hatte bereits viel Zeit darauf verwendet, die versteckt liegenden Weingüter zu finden, wenn er an einem Objekt vorbeikam, das er zu fotografieren hatte, fertigte er sofort eine Skizze davon an,
Mit welcher Kamera sollte er arbeiten? Er hatte die beiden anderen Nikons und die kleine Autofocus mit dem 35-mm-Objektiv, eine Polaroid für Stillleben und Porträts, aber ohne sein bestes Stück hatte er das Gefühl, barfuß über Steine laufen zu müssen. Wenn es die Männer auf die Filme und Chips abgesehen hatten, waren dann nicht auch die anderen in Gefahr, die er im Hotelzimmer verwahrte? Er musste sie in Sicherheit bringen, am besten schickte er die Filme gleich morgen ans Labor in Hamburg.
Gewaltsam verbannte er die Überlegungen aus dem ohnehin schmerzenden Kopf und stellte die Skizze fertig. Über das Wetter brauchte er sich keine Sorgen zu machen, Ende September war es relativ beständig, obwohl die Feuchtigkeit zunahm, Nebel konnte aufkommen, mit Regen jedoch war der großräumigen Wetterlage nach kaum zu rechnen. Für den Wein war das ideal, die Winzer waren mit dem Sommer und dem frühen Herbst mehr als zufrieden.
Frank wendete und fuhr auf der Chiantigiana zurück. Sie verband Florenz mit Siena und führte in Nord-Süd-Richtung mitten durch das Kernland des Chianti Classico. Kein Tag, an dem er sie nicht befuhr, kreuzte oder zumindest tangierte. Rechts und links dieser Straße wurden jene Flaschen abgefüllt, die später eine rosa Banderole mit der Aufschrift Chianti Classico DOCG bekamen.
Es ging bergauf, Castellina lag vor ihm in knapp sechshundert Meter Höhe noch immer im Licht, während sich zwischen den Bergen die Schatten streckten. Erste Sterne zeigten sich am wie frisch geputzten Himmel, so schön, dass es fast kitschig wirkte. Sollte er Niccolò Palermo gleich vom Hotel aus anrufen? Frank tastete nach dem Handy in der Brusttasche der olivfarbenen Weste mit den vielen Taschen, die er über dem Polohemd trug. Das Ding war nicht … oh nein, wo war das Handy? Verdammt … Er trat hart auf die Bremse. Hinter ihm quietschte es, jemand hupte wie wild und überholte, Frank erkannte die eindeutige Geste des Alfa-Romeo-Fahrers, aber es interessierte ihn nicht. Wichtig war das verschwundene Mobiltelefon.
Im Fotokoffer war es nicht gewesen, nicht auf der Ladefläche seines Wagens – dann vielleicht im Handschuhfach? Nein, auch nicht. Er stieg aus und durchsuchte den Fotokoffer noch einmal, obwohl er ihn sorgfältig wieder eingeräumt hatte. Jede Linse hatte ihren Platz, jedes Objektiv lag griffbereit, damit er sich auch in absoluter Dunkelheit sofort zurechtfand. Dann konnte das Telefon nur oben auf dem Berg liegen.
Frank sah zum Himmel hinauf. Bald war es dunkel. Es hatte keinen Zweck, jetzt noch einmal umzukehren. Aber was, wenn Christine anrief ? Nun, seine Tochter würde er auch vom Hotel aus erreichen können. Außerdem brauchte er dringend ein Bad und eine Kopfschmerztablette. Die Suche würde er auf morgen früh verschieben, am besten, bevor er nach Florenz fuhr. Und dann würde er auch gleich mit Niccolò Palermo einen neuen Termin für die Aufnahmen vereinbaren. Vielleicht wusste der Winzer, was es mit den beiden Schlägertypen auf sich hatte.
Montag, 27. September
»Dio mio! Mein Gott, wie sehen Sie denn aus?« Laura, die Tochter des Hotelbesitzers, schoss von ihrem Platz vor dem Fernsehapparat im Foyer hoch. So schnell, wie die hochhackigen Schuhe es zuließen, trippelte sie auf Frank zu. »Was ist passiert?«, rief sie und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
Viel zu sehr mit seiner Ausrüstung beschäftigt, war Frank gar nicht auf die Idee gekommen, dass man seine Blessuren sehen konnte. »Ich bin gestürzt, abgerutscht, beim Fotografieren, oben in den Bergen.« Die Ausrede war nicht besonders originell, aber eine bessere kam ihm auf die Schnelle nicht in den Sinn. Wie schlimm sah er aus? Er brauchte einen Spiegel.
Ob Lauras Bestürzung tatsächlichem Mitgefühl entsprang – etwas plump wirkte ihr Ausbruch allemal –, interessierte Frank nicht im Geringsten, im Gegenteil. Sie ging ihm entsetzlich auf die Nerven. Er hatte gehofft, ungesehen an ihr vorbeizukommen, nach dem Schlüssel zu greifen und sich auf sein Zimmer zu schleichen, aber die junge Dame passte ihn ab, sie verfolgte ihn, seit sie wusste, welchem Beruf er nachging.
»Signor Gaaato …«, sie zog seinen Nachnamen absichtlich in die Länge, sie fand ihn »süß«, denn Gatow klang wie das italienische Wort für Kater, »… Sie brauchen Hilfe! Haben Sie Schmerzen?«
Nur wenn ich dich sehe, dachte Frank giftig und wich zurück, als Laura ihm die Wange tätscheln wollte. Sie kam ihm so nahe, dass es sich kaum vermeiden ließ, ihr in den Ausschnitt zu blicken: Wie immer war an der Bluse ein Knopf zu viel offen. Ein anderer Fotograf wäre möglicherweise auf ihren Wunsch eingegangen, Fotos von ihr zu machen, mit denen sie sich bei einer dieser billigen Shows des Fernsehsenders RAI als podesta bewerben wollte, eines der langbeinigen, blond gefärbten Mädchen, die hinter dem Moderator auf einem Podest herumtanzten. Jemand anderes hätte die Situation ausgenutzt, um sie ins Bett zu kriegen, aber Frank hielt sich weder für Helmut Newton, noch stand er auf junge Mädchen. Wenn er sich vorstellte, dass seine Tochter sich genauso affektiert benahm … Sie war ungefähr im selben Alter.
»Mamma!« Der Schrei gellte wie »Feuer!« durchs Hotel, und Frank erstarrte. Was kam jetzt? Als Laura eilig hinter der Rezeption verschwand, warf er einen Blick in den Spiegel.
Jetzt verstand er die Reaktion des Mädchens. Einen derart verheerenden Anblick hatte er nicht erwartet: Die Blutergüsse ließen das unrasierte Gesicht krank erscheinen. Die blauen Augen wirkten matt und glanzlos. Das dunkle Haar, in dem sich erste graue Strähnen zeigten, war zerzaust und hing verschwitzt in die Stirn, am linken Ohr klebte Erde. An der Schläfe war die Haut abgeschürft. Das sonst schmale Kinn wirkte aufgedunsen, die Schwellung als Folge der harten Schläge breitete sich aus, inzwischen tat sogar das Sprechen weh. Die Weste mit den vielen kleinen Taschen für die Utensilien, die er beim Fotografieren brauchte, war so schmutzig wie die Jeans.
Lauras Mutter legte bei Franks Anblick die Hände aneinander, als würde sie ein Stoßgebet gen Himmel schicken. »Signore! Mein Gott, was ist geschehen?«
»Bitte! Es ist nichts, ich bin nur gestürzt, kann passieren.«
»Brauchen Sie einen Arzt? Soll mein Mann Sie hinfahren? Geben Sie mir Ihre Kleidung, wir lassen alles waschen.«
Frank winkte ab. Die Hilfsbereitschaft der Frau erstickte ihn, und letztlich würde er sich verpflichtet fühlen, das Fotoshooting von Laura zu machen, und alles würde nur noch komplizierter. »Ich gehe gleich hinauf, ich müsste nur kurz telefonieren, das Telefon auf meinem Zimmer …«
»Scusi, ich weiß, es ist kaputt, tut mir leid. Der Monteur, Sie verstehen, er hatte keine Zeit, morgen vielleicht, kommen Sie, hier, an die Rezeption, selbstverständlich.«
Laura witterte ihre Chance. »Er kann doch unser Büro benutzen, d’accordo, mamma?« Entschieden zog sie Frank ins Büro hinter dem Foyer. »Hier, ich mache Ihnen den Schreibtisch frei.« Sie schob Papiere beiseite und rückte den Stuhl zurecht, doch statt zu gehen, blieb sie im Türrahmen stehen, bis ihre Mutter sie fortzog.
»Danke, alles bestens, tutto bene, tutto«, rief Frank beiden nach und sackte auf den Stuhl. Die Spannung wich aus seinem Körper, er senkte den Kopf ein wenig und schloss die Augen.
Irgendwie musste er sich mit der Situation arrangieren, ein Umzug war ausgeschlossen, die Redaktion hatte das Hotel gebucht. Er hätte sich ein anderes kaum leisten können, allerdings hatte Lauras Mutter angeboten, ihm das Zimmer einige Tage gratis zu überlassen, wenn er nur die Fotos ihrer Tochter machte. Sie wünschte ihr wohl ein Leben weit weg von ungemachten Betten und zu dünnem Kaffee. Aber der Vater durfte davon bestimmt nichts wissen.
Frank konnte weder ja noch nein sagen, wollte er es sich nicht mit der Hotelbesitzerin verderben. Andererseits würde er sie nach Beendigung seines Auftrags, die besten Weingüter des Chianti-Classico-Gebietes zu fotografieren, nie wieder sehen, genau wie die Winzer, die er fotografierte. Einige würden im Belegexemplar des Weinführers das Foto ihrer Fattoria oder Azienda suchen und es dem Kellermeister zeigen, danach kam das Buch ins Regal. Ob nun er oder sonst jemand die Bilder gemacht hatte, war gleichgültig. Wieso sollte es anders sein als bei all seinen Reportagen zuvor? Beim Porträt allerdings waren die Menschen wichtig, für eine sechzigstel Sekunde, große Blende, Streiflicht – oder besser die Schärfe auf der rechten Gesichtshälfte? Später, auf dem Film oder dem Chip, waren sie längst Material.
Gedanken wie diese kamen Frank inzwischen immer wieder in den Sinn. Weshalb sah er alles so negativ?, fragte sich Frank dann. Arbeitete er zu viel allein, oder schaute er nicht mehr lange und neugierig genug hin? War er zu schnell und zu häufig unterwegs? Er sah viel, verdammt viel, und er konnte sich immer weniger daran erinnern. Tatsächliche Begegnungen wurden selten, Menschen, die ihn bewegten, die Einfluss nahmen, von denen etwas blieb. Je mehr Fotos er von jemandem machte, desto weniger konnte er sich später an ihn erinnern. Deshalb trug er auch nie ein Foto von Christine in der Brieftasche.
Bei diesem Stichwort fiel ihm ein, weshalb er auf dem unbequemen Stuhl saß. Er riss sich zusammen und hämmerte ihre Nummer in die Tasten des Telefons. Doch statt Christine meldete sich seine geschiedene Frau. Instinktiv nahm Frank den Hörer ein wenig vom Ohr, denn sie ging wie immer sofort zum Angriff über.
»Der Unterhalt für September ist zu spät gekommen, wie soll ich bei den Kosten …«
»… dafür hast du bereits das Geld für den Oktober«, konterte Frank und ärgerte sich, dass er überhaupt angerufen hatte. Streit mit seiner Exfrau konnte er in diesem Moment am wenigsten gebrauchen. Wieso war Christine nicht ans Telefon gegangen? Er zögerte. »Gib mir unsere Tochter, ich will nicht diskutieren, Hannelore, bitte.«
»Du bist wieder auf Reisen, statt dich um sie zu kümmern!«
Frank wurde wütend und war schon kurz davor aufzulegen, als er hörte, wie Christine ihrer Mutter den Hörer aus der Hand riss: »Papa? Streitet euch von mir aus, wenn ich nicht da bin. Lass los, Mama, ich rede jetzt mit Papa … nein, du kriegst den Hörer nicht!«
Frank hörte, wie sich seine Exfrau schimpfend entfernte, dann wurde es ruhig. »Sie ist rausgegangen … Papa?«
»Christine? Geht es dir gut?«
»Geht so, du hörst es ja, alles wie immer. Lass mich endlich ganz zu dir ziehen, bitte, ich bin schließlich achtzehn.«
»Nicht vor dem Abitur, das haben wir abgemacht, außerdem … gut, wir reden darüber, wenn du herkommst. Noch zwei Wochen …«
»… und zwei Tage«, unterbrach Christine, »ich habe den Zug nach Florenz schon rausgesucht.« Sie nannte Frank die genaue Ankunftszeit. »Außerdem habe ich zwei Überraschungen …«
Als sie neun Jahre alt war, hatte Frank ihr nach langem Betteln den ersten Fotoapparat geschenkt, mit dreizehn Jahren gewann sie den ersten Schülerwettbewerb, womit die berufliche Perspektive sich abzuzeichnen begann. Sie würde es weiter bringen als er, so viel war sicher. Frank hielt sich selbst für einen guten Fotografen, manchmal auch für einen sehr guten, sie aber war geradezu besessen. Klamotten waren ihr nicht wichtig, die packte sie erst im letzten Moment, und Jungs fand sie langweilig, aber ihre Fotoausrüstung, die sie nach Florenz mitnehmen wollte, lag sicher schon griffbereit. Frank war versöhnt, als er merkte, dass Christine sich auf ihre gemeinsamen Ferien genauso freute wie er. Seinen momentanen Zustand verschwieg er besser. Warum sollte er sie nervös machen? Er habe sein Handy verloren, sagte er und nannte ihr die Telefonnummer vom Hotel. Und er versprach, am Donnerstag wieder anzurufen.
Ohne Christine hätte er seine Ehe nur als einen einzigen gewaltigen Irrtum sehen können. Noch ein knappes Jahr, dachte er, als er aufgelegt hatte und zu seinem Zimmer hinaufging, noch ein Jahr. Welche Überraschungen hatte Christine wohl für ihn? Er seufzte.
Der einzige Wermutstropfen in ihrer Vater-Tochter-Beziehung war Christines entsetzliche Eifersucht. War das immer so bei Scheidungskindern? Seine letzte Freundin hatte sie regelrecht weggebissen. Vielleicht doch keine so gute Idee, sie ganz bei sich wohnen zu lassen? Wenn sie wenigstens einen Freund hätte.
Nachdem er das Gespräch mit seiner Tochter beendet hatte, meldete er sich bei Giacomo Paese, um die Verabredung mit ihm um einen Tag zu verschieben. Dann rief er die Kamerawerkstatt in Florenz an, wo eine automatische Ansage ihn über die Öffnungszeiten aufklärte. Das letzte Telefonat galt Massimo Vanzetti, einem Winzer, der angeblich spektakulär gute Weine machte.
»Non c’è«, sagte die Haushälterin abweisend, »Signor Vanzetti ist für einige Zeit in Mailand.«
Das war keine gute Nachricht. Auf der Liste der Redaktion stand hinter Tenuta Vanzetti sehr wichtig!, mit dem Ausrufezeichen. Das bedeutete, dass der Text ausführlich Bezug auf die Kellerei nahm und dass es zusätzlich zu den üblichen Aufnahmen ein Porträt des Winzers brauchte.
»Aber ich kann die Signora holen«, fuhr die Haushälterin fort. »Einen Augenblick, bitte.«
»Das wird wenig Zweck haben«, entgegnete Frank. Er brauchte den Winzer, den Mann, der den Wein machte, der für die Kellerei stand, für die Tradition, und nicht dessen Frau, höchstens beide gemeinsam, wenn es ein interessantes oder besonders hübsches Paar war, aber die Haushälterin mit der kalten Stimme hatte den Hörer bereits zur Seite gelegt. Frank hörte, wie sich ihre Schritte entfernten, jemand wurde gerufen, es handelte sich offenbar um riesige Räumlichkeiten, so sehr hallte es. Dann vernahm er kurze und energische Schritte.
»Pronto? Sie wünschen?«
Frank zögerte. So eine Stimme hatte er nicht erwartet. Sie klang so energisch, wie ihr Schritt sich anhörte, war dabei durchaus verbindlich und trotz aller Entschiedenheit auch warm. Frank entschuldigte sich, dass er den Termin morgen nicht wahrnehmen könne, der mit ihrem Mann abgesprochen worden war.
»Die Verabredung hat das Consorzio mit mir getroffen«, sagte die Signora entschieden, und ein Hauch von Ärger war zu vernehmen. »Ich führe das Weingut, nicht mein Mann! Die Tenuta Vanzetti firmiert zwar unter seinem Namen, aber für den Wein wie für alles, was hier passiert, bin ich verantwortlich, Signore!«
Jetzt wusste Frank Bescheid. Um die Ehe der Vanzettis war es nicht sonderlich gut bestellt.
Je näher Frank den Menschen kam, ob mit Weitwinkel oder Teleobjektiv, je mehr er seiner Devise folgte: »Rangehen, noch näher – ja, und dann noch einen Schritt«, desto deutlicher zeigten sich die Unreinheiten der Haut unter der Schminke, zugeschüttete Abgründe, verkleisterte Widersprüche und tödliche Langeweile, auf Gesichtern und in Wohnzimmern. Das war ihm oft gar nicht recht, denn er verstand sich als Fotograf und nicht als psychologischer Enthüller. Er wollte Bilder machen, weiter nichts.
»Ihr Kollege, der deutsche Journalist …«
» … Signor Steinhauer …«
»… esattamente. Signor Steinhauer hat das Interview mit mir geführt. Das hätte er Ihnen eigentlich mitteilen müssen.«
Ein schönes Fettnäpfchen. Frank merkte, wie sein Fuß wippte, ein Zeichen, dass er nervös wurde. War sie ungehalten, weil man nur dem Ehegatten die Führung der Kellerei zutraute? Konkurrierten die beiden, stritten sie um den Besitz? Wer weiß schon, was hinter den pittoresken Mauern toskanischer Landhäuser abläuft, dachte Frank, und sein Blick fiel auf das Foto des Castello di Brolio an der Wand gegenüber. Gestern hatte er es fotografiert, leider nur von außen. Die Innenräume im Stil Sieneser Neugotik hatte man ihm vorenthalten, sie wurden renoviert. Andererseits hatte natürlich niemand gern Fremde im eigenen Wohnzimmer, schließlich wohnte die Familie des Grafen Ricasoli dort.
Wie konnte er sich jetzt bei Signora Vanzetti elegant aus der Affäre ziehen?
Die Winzerin nahm ihm die Entscheidung ab. »Mir ist es recht, wenn Sie morgen nicht kommen. Auch übermorgen habe ich keine Zeit, da findet eine wichtige Verkostung in Siena statt. Sie sehen, ich bin sehr beschäftigt. Zum Wochenende hin wäre es mir lieber.«
»Selbstverständlich, Signora, molto piacere, ganz wie Sie wollen, sagen wir …«
»… am Freitag um sieben Uhr dreißig«, unterbrach sie ihn. »Schön, bis dann – ach, wie war Ihr Name?«
»Gatow, Frank Gatow …«
Signora Vanzetti schwieg einen Moment verdutzt, sie schien sich über seinen Namen zu amüsieren, jedenfalls interpretierte Frank ihr Schweigen so. Immer diese blöde Katze. Dabei war das Tier nicht einmal sein animalisches Alter Ego, das war im chinesischen Horoskop die Schlange und ansonsten der Widder, impulsiv und unfähig, auf den Rat anderer zu hören.
»Verstehen Sie etwas von Wein, Signore?«, fuhr Signora Vanzetti dann fort.
Frank zuckte zusammen. So direkt hatte ihn das noch kein Winzer gefragt. Er wusste nicht, was die Signora mit der Frage bezweckte, und wurde verlegen. »Nein. Ich trinke zwar gern …«
»Gut, dann weiß ich Bescheid. Also, bis Freitag, arrivederci.« Ohne seinen Gruß abzuwarten, legte sie auf.
Frank starrte mit offenem Mund auf seinen Terminkalender. Diese Dame war keinen Widerspruch gewohnt. Hielt sich der Gatte deshalb in Mailand auf ?
Frank stieg nachdenklich die Treppe hinauf, eine Hand am Geländer. Das intensiv gemaserte Kastanienholz der Stufen faszinierte ihn heute bei weitem nicht so wie in den vergangenen Tagen. Auch für die Bruchsteine des vierhundert Jahre alten Hauses und das rustikale antike Mobiliar hatte er keinen Blick. Auf halber Treppe erinnerte er sich an den Termin mit Niccolò Palermo und kehrte noch einmal um. Doch im Haus des Winzers ging niemand ans Telefon. Frank wählte die Nummer von Palermos Handy – und erreichte nur die Mailbox.
Frustriert und total erledigt schleppte er sich wieder nach oben, warf die Weste aufs Bett, die Jeans, das durchgeschwitzte Hemd und die Unterwäsche achtlos auf den Boden, ging ins Bad und nahm eine Aspirin. Er blickte in den Spiegel und betastete vorsichtig das geschwollene Kinn. Dann stieg er in die Dusche und drehte das Wasser auf. Er kauerte sich unter den Wasserstrahl, legte die Arme um die Knie und beugte den Kopf nach vorn. Mit geschlossenen Augen spürte er, wie ihm das lauwarme Wasser über den Körper rann.
Langsam kam er zur Ruhe, die Schmerzen ließen nach. Termine ließen sich neu arrangieren, sagte er sich, auch die Kamera und das Objektiv waren letztlich ersetzbar. Allerdings waren zwei belichtete Filme weg und damit die Arbeit auf der Podere Il Palazzino in der Nähe von Gaiole zum Teufel. Da musste er noch mal hin. Aber es ließ sich bestimmt eine Ausrede finden.
Nachdem Frank sich vorsichtig rasiert und frisch gekleidet hatte, ging er zur Polizei. In Castellina war alles nah, auch das Kommissariat in der Via IV Novembre. Dem diensthabenden Beamten, einem jungen Mann in äußerst gepflegter Uniform und mit pomadisiertem Haar, schilderte Frank die Ereignisse des Nachmittags. Doch je länger das Gespräch dauerte, desto mehr verstärkte sich sein Eindruck, dass sein Gegenüber ihm misstraute; das Gespräch wurde zum Verhör, nahm geradezu feindselige Züge an, besonders nachdem Frank erwähnt hatte, wo in Castellina er wohne.
In der Frage, weshalb er so gut Italienisch spreche, schien ein Vorwurf zu liegen.
»Mein Vater war bei einer deutschen Firma in Turin beschäftigt, und ich bin dort auf eine italienische Schule gegangen.«
»Wie lange?«
»Mein Gott, ist das wichtig?«
»Das zu entscheiden überlassen Sie bitte mir!«
»Sechs Jahre lang«, sagte Frank und ärgerte sich bereits, dass er hergekommen war.
»Sie sagten, die Täter fuhren einen Geländewagen?«
»Ja.«
Der Carabiniere zog die Stirn in Falten. »Wenn Sie gesehen haben, dass einer der Männer ein Fernglas in der Hand hatte«, fuhr er in noch schärferem Ton fort, »dann hätten Sie doch auch das Fabrikat des Autos erkennen müssen.«
»Das kann man nur, wenn man die Marken kennt. Mich interessiert das nicht. Bis vor einigen Jahren waren sie eckig, heute sind sie rund, ob BMW, Mitsubishi oder irgendein Franzose, alles dasselbe, das ist Mode.«
»Design«, korrigierte der Carabiniere, »nicht Mode. Welche Farbe hatte das Fahrzeug?«
»Was weiß ich? Grau, dunkel auf jeden Fall, Blau vielleicht, Schwarz, ich weiß es nicht mehr. Gelb auf keinen Fall, auch nicht Grün.«
»Sie wollen Fotograf sein und erinnern sich nicht mal an die Farbe?«
»Bei Gegenlicht sehen Sie nichts, Sie kneifen die Augen zusammen, die Sonne stand flach, Gegenlicht eben, wie der Name sagt, es blendet. Außerdem war ich ein gutes Stück entfernt. Ist das hier ein Verhör?«
»Die Fragen stelle ich! Tutto chiaro, ist das klar? Vorhin haben Sie gesagt, Sie wüssten nicht, wie weit Sie entfernt waren.«
»Ich hab’s nicht gemessen.«
Der Carabiniere zögerte, fixierte Frank böse mit zur Seite geneigtem Kopf. »Kommen Sie sich eigentlich nicht lächerlich vor? Sie nennen mir weder Fabrikat noch Farbe, noch liefern Sie eine vernünftige Beschreibung der angeblichen Täter. Italiener, die Englisch sprachen? Amerikaner mit italienischem Akzent?«
»Sie haben da was durcheinander bekommen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben –«
Der Carabiniere schnitt Frank mit einer Handbewegung das Wort ab. »Und die sollen Sie niedergeschlagen haben? Erzählen Sie mir eine andere Geschichte.«
»Sie müssen sich schon mit der hier begnügen.«
»Sie sagen, Sie hätten die Männer beobachtet, wie sie den Berg heraufkamen. Da hatten Sie doch ausreichend Zeit, sich die Gesichter einzuprägen, und mir wollen Sie weismachen, Sie würden die beiden nicht wiedererkennen?« Der Carabiniere kniff die Augen zusammen. »Schwarze Anzüge? Grotesk, völlig absurd, kein Mensch läuft hier so herum.«
Frank wurde das Gefühl nicht los, dass der Mann partout nicht überzeugt werden wollte, außerdem schielte er ständig zu dem Fernseher in der Ecke. Soeben hatte eine dieser Shows begonnen, in denen Laura auftreten wollte. Der Carabiniere schien fasziniert.
Frank musterte ihn unauffällig. Eigentlich ein ganz hübscher Kerl. Ihn hätte er sofort beschreiben können: dunkle Augen, umrahmt von langen Wimpern, eine leicht nach rechts gebogene Nase, die rechte Augenbraue länger als die linke.
Was zum Teufel hinderte ihn nur, die Gesichter der Prediger zu beschreiben?, fragte sich Frank. Nicht einmal an ihre Frisuren oder die Haarfarbe erinnerte er sich. Aschblond, mittelbraun oder grau? Doch, das Haar war sehr kurz.
Er hätte dem Carabiniere etwas über das Schwarz der Anzüge erzählen können oder über die Sonnenbrillen, die die Augenbrauen und Gesichtszüge sowie die Form der Nase irgendwie verschwinden ließen … Er hatte versucht, die Brillengläser zu durchdringen, die Augen zu erkennen, eine menschliche Regung. Die Augen waren es, die sprachen, darauf hatte er sich konzentriert, aber er hatte lediglich sein Spiegelbild in den Gläsern gesehen. Der Polizist mit dem albernen Abdruck seiner Uniformmütze im Haar hätte es nicht kapiert. Frank räusperte sich unüberhörbar.
Der Carabiniere riss sich vom Bildschirm los, blickte Frank tadelnd an und nahm wichtigtuerisch die kaputte Kamera in die Hände. »Die hat man Ihnen entrissen und so zugerichtet, nur um an den Film zu kommen? Nein. Alles, was Sie sagen, ist unglaubwürdig.«
Frank nickte. »So ist es.«
Die plötzliche Zustimmung verwirrte den Polizisten. »Ich, äh … ich will Ihnen sagen, wie es wirklich war. Sie ist Ihnen hinuntergefallen, und Sie wollen eine neue. Wir kennen das. Touristen behaupten immer wieder, dass sie von Italienern bestohlen wurden, und in Wirklichkeit betrügen sie ihre Versicherung. Das ist eine Beleidigung für uns alle. Und ich soll Ihnen auch noch helfen? Niemals!«
Was für ein Idiot, dachte Frank. »Warum sollte ich als Fotograf meine beste Kamera zerschlagen?«
»Woher soll ich wissen, dass Sie Fotograf sind?«
Wütend knallte Frank seinen Presseausweis auf den Schreibtisch. Der Carabiniere warf einen skeptischen Blick darauf.
»Vielleicht wollen Sie ein neueres Modell haben? Das wäre plausibel.«
»Es gibt keine bessere als diese Kamera!«, entfuhr es Frank. Entweder war sein Gegenüber strohdumm oder der Mann verfolgte eine bestimmte Absicht. Frank zwang sich zur Ruhe, der Fuß zuckte schon wieder. »Die ist keine drei Monate alt, Objektiv und Kamera sind zusammen glatt viereinhalbtausend Euro wert. Da werde ich nicht …«
»Viereinhalbtausend Euro? Das hat nicht einmal mein Auto gekostet. Wissen Sie, Signore, ich glaube Ihnen nicht. Außerdem haben Sie keine Zeugen. Sie behaupten, dass Sie überfallen wurden. In Florenz oder Pisa vielleicht, aber auf dem Weinberg von Niccolò Palermo?«
»Sie können das überprüfen.«
»Das werden wir auch, verlassen Sie sich darauf, und wenn ich persönlich hinfahre. Wenn Sie wirklich eine Verabredung mit Palermo gehabt hätten, dann wäre er auch da gewesen. Er ist die Zuverlässigkeit in Person. Ihr Handy wollen Sie auch noch verloren haben? Signore!«
»Es steht Ihnen nicht zu, meine Aussagen zu bewerten. Sie sollen sie zu Protokoll nehmen.«
»Und Sie haben mir nicht zu erzählen, wie ich meine Arbeit zu machen habe«, gab der Carabiniere barsch zurück.
Frank verschränkte die Arme vor der Brust. Weshalb machte der Kerl ihm Schwierigkeiten? War es primitive Freude an der Macht? Wenn er einen Versicherungsbetrug voraussetzte, wollte er dann mitverdienen? Keinen Cent, sagte sich Frank, nicht ums Verrecken. Er musste die Angelegenheit jetzt zu Ende bringen. Nur – Härte mochte zu Hause angebracht sein, aber bei Italienern erreichte man damit das Gegenteil. Er machte einen Vorstoß, diesmal in die richtige Richtung.
»Ich bin hier, um Ihre Winzer zu fotografieren, Signore, die Winzer des Chianti Classico, ihre Weine, die Natur, Hotels, Restaurants … Alle verdienen Geld durch meine Arbeit, und Sie wollen mir Steine in den Weg legen?« Bastoni sagte man auf Italienisch, erinnerte sich Frank, Knüppel, und nicht Steine, und korrigierte sich. »Das werden Ihnen die Winzer kaum danken. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich an das Consorzio zu wenden, an den Grafen …«
Der Hinweis auf das Consorzio, die Vereinigung der Winzer des Chianti Classico, zeigte Wirkung. Sie waren einflussreich, und der Graf war bekannt. Brav schob der Carabiniere den Presseausweis zurück. »Mich hat ausschließlich das Gesetz zu interessieren.«
»Und mich meine Arbeit«, unterbrach ihn Frank. »Ich bin am Freitag mit dem Grafen Solcari verabredet. Ich werde ihn fotografieren, und dafür brauche ich diese Kamera, beziehungsweise eine neue.«
»Sie fotografieren nur Kellereien und Weinberge?«
Frank nickte. Was sollte diese Frage nun schon wieder?
»Keine, äh, wie soll ich sagen, Menschen, äh, ich meine Mädchen, junge … äh …?«
»Aktfotografie, meinen Sie?«, beendete Frank den Satz, um dem jungen Mann entgegenzukommen.
»Ja, äh, genau, das … meine ich.«
»Nein«, sagte Frank entschieden, »das ist nicht mein Thema.«
Der Carabiniere war nicht überzeugt, aber seine aufgesetzt strenge Miene machte einem gequälten Lächeln Platz. Er brauchte Zeit für den Wechsel. »Sie haben mich falsch verstanden, Signore. Ich möchte beim Abfassen des Protokolls lediglich Unklarheiten vermeiden, die Ihnen hinderlich sein könnten. So ist das zu verstehen.«
Endlich, dachte Frank, endlich hatten sie eine gemeinsame Sprache gefunden. Eine Viertelstunde später trat er mit dem Protokoll in der Tasche auf die Straße. Mittlerweile war die Nacht heraufgezogen, und die Anspannung ließ Frank frösteln. Scheinwerfer rissen die Rocca, die mittelalterliche Festung Castellinas mit dem gewaltigen Turm, aus der Schwärze der Nacht. Sie wirkte wie aus dem Himmel herausgeschnitten und hatte sich seit sechshundert Jahren, als diese Steine aufeinandergeschichtet worden waren, nicht verändert. Oben am Himmel funkelten die Sterne. Es wirkte wie eine Glocke, die sich über die Stadt und die Umgebung stülpte.
In der Festung befand sich auch das Rathaus, ehemals ein etruskisches Museum. Die Toskana war von den Etruskern besiedelt worden, die den Weinbau bereits vor den Römern praktiziert hatten. Sicher hatten andere, unbekannte Völker lange zuvor hier gelebt, von denen allerdings weder Pfeilspitzen noch Gräber gefunden worden waren. Mit den Besichtigungen würde er auf Christine warten. Und vorher musste der Weinführer fertig sein.
Wie sollte er das nur schaffen? Der Nachmittag fehlte ihm bereits, die Aufnahmen vom Vormittag mussten wiederholt werden, und den morgigen Tag würde er mit Besorgungen in Florenz vergeuden, das waren zwei ganze Tage.
Das Pflaster der Via delle Volte, des überdachten Wehrgangs, glänzte im Schein der schmiedeeisernen Laternen, die ein blasses Licht auf harte Hauswände aus Bruchstein warfen. Mörtel bröckelte von einigen Fassaden. In den Schatten der Stützmauern und Bögen lebte die Vergangenheit auf. Frank hätte sich nicht gewundert, wäre eine Gestalt mit wehendem Umhang hinter der nächsten Ecke hervorgetreten, die Florentiner Klinge in der Hand, einen Hut mit Feder auf dem Kopf. Aber es waren lediglich Gitter, Simse und angeschlagene Kapitelle, die bizarre Schattenspiele schufen.
Die Erinnerung an den schrecklichen Nachmittag verblasste. Lau strich ihm die Luft über die Wangen, er hörte das silberne Zirpen der Grillen. Die Nacht empfand er als gnädig, nichts war genau umrissen, die Dunkelheit verdeckte, sie beschwichtigte seine angespannten Nerven, in ihr herrschte eine andere Zeit. Sie schuf Raum für Ruhe und Phantasie, so wie jetzt, wo sie es ihm leicht machte, sich in eine vergangene Epoche hineinzufühlen, zumindest bis morgen früh.
Frank strebte auf eine Bar zu, als neben ihm ein Mann in dunklem Anzug eilig aus einem Torbogen ins Licht trat. Frank war sofort hellwach. Er beschleunigte seinen Schritt und folgte dem Unbekannten mit klopfendem Herzen. Als der Mann sich misstrauisch umdrehte, drückte Frank sich in einen Torbogen. Seine Nerven hatten ihm einen Streich gespielt. Dieser Mann glich weder vom Gang noch von der Statur her einem der Männer, die ihn zusammengeschlagen hatten. Schließlich stieg der Verfolgte in einen Fiat mit Mailänder Kennzeichen und fuhr davon.
Frank stöhnte, vergrub die Hände in den Hosentaschen und schlenderte zurück zur Bar. Ein paar ältere Männer saßen draußen, Einheimische, sie redeten laut und lebhaft und rauchten. An Essen war nicht zu denken, dazu schmerzte sein Kiefer noch zu sehr; vielleicht einen Kaffee, einen Espresso, dazu einen Sambuca mit Kaffeebohnen und dann ins Bett.
Ein paar Männer am Nebentisch sprachen über eine Verkostung. War es dieselbe, die auch Signora Vanzetti erwähnt hatte? Es schien sich um ein wichtiges Ereignis zu handeln. Die Männer erwähnten Kellereien wie Rocca delle Macìe, Castellare und Il Palazzino und debattierten lautstark darüber, wer wohl das Rennen machen würde, und das alles mit einem Enthusiasmus, den Frank sonst nur von Fußballfans kannte.
Jemand richtete das Wort an ihn, aber sein hilfloses Schulterzucken machte den Streithähnen klar, dass er als Schlichter der Frage, welcher Winzer besser abschneiden würde, nicht taugte. Woher sollte er wissen, ob die Weine von Dievole besser waren als die von Bonelli?
»Die kann man nicht vergleichen«, sagte jemand, »aber die 98er Riserva von Nittardi verfügt über ein größeres Potenzial als die von Santa Chiletta.« Bossi, das sei überhaupt das Größte, ah, Bossi! Aber an den Torquato von Niccolò Palermo reiche der lange nicht ran.
Frank horchte auf. »Arbeitet jemand von Ihnen dort, bei Palermo, meine ich?«
Ein kleiner Mann, weit über die sechzig, sprang auf. »Si, si, signore, ich. Ich war sein capomastro. Niccolò macht wunderbare Weine, als sein ehemaliger Vorarbeiter kann ich das beurteilen. Die Erde da ist Gold wert.«
»Aber Sie waren heute Nachmittag nicht auf dem Gut, oder?«
»Nein, ich bin nur noch selten dort, nur wenn wir probieren und die Assemblage zusammenstellen, verstehen Sie?«
Frank nickte, obwohl er in den letzten Tagen lediglich mitbekommen hatte, dass ein Chianti Classico nicht nur Sangiovese enthielt. Aber was es genau damit auf sich hatte, wusste er nicht.
»Was Besseres als den Roccato gibt es nicht«, rief einer der Tischgenossen dazwischen. »Der Gambero hat ihm nicht umsonst drei Gläser verliehen.«
»Der Veronelli hat ihn nicht so gut bewertet«, warf ein anderer ein. »Die pure Marmelade, aber der Maroni …«
»Dass ihr den Unsinn immer noch glaubt«, sagte Palermos ehemaliger Vorarbeiter. »Alles Betrug, die Jury war gekauft, das ist immer so bei Weinführern, alles Schiebung. Verlasst euch lieber auf die eigene Nase.«
Gleichgewicht, Struktur, Tannine, Säurewerte – über alles wurde heftig diskutiert. Frank hörte mit halbem Ohr zu, er verstand nichts von der Materie. Das alles in dem Weinführer zu erklären war Sache des Journalisten.
Frank nippte an seinem Espresso, bestellte einen zweiten und einen dritten Sambuca und starrte in die Nacht. Sterne, Stimmen, zuschlagende Autotüren, fernes Gelächter und hart klingende Schritte. Er stand auf, um zu zahlen, doch die Männer am Nebentisch hatten seine Zeche bereits übernommen und wünschten ihm eine gute Nacht.
Aus einem Delikatessenladen fiel schwacher Lichtschein, und Frank betrachtete die Auslage. Ein Regal diente als Rückwand des Schaufensters. Auf einer Breite von drei Metern drängten sich Weinflaschen in vier Reihen übereinander. Alle hatten dieselbe Form, doch kaum ein Etikett glich dem anderen.
Davor lagen in großen Körben diverse Schinken, vom Wildschwein, cinghiale, und der Sinta-Senese-Rasse, von ihr auch die finocchiona mit Fenchel, die echte Salami, dazu in Blättern eingewickelte und verschnürte Würste. Käselaibe trugen die Aufschrift Pecorino al Tartufo, Pecorino mit Trüffeln, und dolce dell’Amiata. Frank genoss den Anblick, das Wasser lief ihm im Munde zusammen.