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In Tokyo werden Menschen von einer mysteriösen Organisation mit übermenschlicher Kraft umgebracht. Zur gleichen Zeit besucht Rentaro ein alter Schulfreund, der ihm einen Auftrag erteilen möchte. Doch dann wird auch dieser umgebracht! Und Rentaro die Schuld dafür untergeschoben. Er wird des Mordes verdächtigt und ist gezwungen, seine Wachdienstlizenz abzugeben. Plötzlich trifft er auf einen mechanisierten Kämpfer des Globalen-Neogenese-Programms ... Schafft der junge Promoter es, aus diesem Schlamassel wieder herauszukommen?
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Seitenzahl: 307
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Der große Saal des Staatstheaters wurde von einem lieblichen Soprangesang erfüllt. Die wunderschöne Stimme der Sängerin bezauberte die Zuhörer mit glasklaren hohen und sanften tiefen Klängen.
Kenji Hobara saß auf einem schwach beleuchteten Platz und starrte gebannt auf die Bühne. Die Schauspieler waren in Kleider gehüllt, die zu der Geschichte aus dem 17. Jahrhundert passten. Sie sangen und bewegten sich gleichzeitig über die Bühne. Es herrschte eine hoch konzentrierte Stimmung im gesamten Saal.
Die Oper, die gegeben wurde, hieß »Lucia di Lammermoor« von Gaetano Donizetti1. Schottland, gegen Ende des 16. Jahrhunderts: Katholiken und Protestanten liefern sich erbitterte Kämpfe. Lucia Ashton und Edgardo di Ravenswood verlieben sich ineinander und scheinen so eine Brücke zwischen ihren verfeindeten Familien schlagen zu können. Doch in Lucias älterem Bruder Enrico ist der Hass auf die Ravenswoods tief verwurzelt, daher übergibt er seiner Schwester einen gefälschten Brief, der die Untreue Edgardos beweisen soll. Gleichzeitig verspricht er, Lucia an eine reiche Familie zu verheiraten, um an Einfluss zu gewinnen. Edgardo erfährt von Lucias Hochzeit und taucht auf der Feier auf, um Lucia heftige Vorwürfe zu machen. Sie gerät in Bedrängnis und verliert die Kontrolle: Sie ersticht ihren Bräutigam und wählt für sich selbst den Freitod. Als Edgardo die Wahrheit herausfindet, nimmt auch er sich das Leben, um seiner Liebe nachzufolgen …
Was Opernklassiker anging, bevorzugte Kenji wie viele andere eigentlich die Werke von Mozart. ››Lucia di Lammermoor‹‹ von Donizetti war die einzige Ausnahme. Er konnte gar nicht mehr zählen, wie häufig er dieses Stück schon gesehen hatte. Obwohl er die Geschichte auswendig kannte, ging er regelmäßig zu den Aufführungen. So wie heute.
Wenn er es recht bedachte, waren viele der berühmten Opern, die die Zeit überstanden hatten, schreckliche Tragödien. Meist wurde eine Liebe, die zuvor wie ein Felsen in der Brandung gewirkt hatte, von Eifersucht und Misstrauen zerstört.
Kenji schaute sich vorsichtig die Plätze in seiner Umgebung an, wobei er darauf achtete, niemanden zu stören. Der Anblick machte ihn traurig, wenngleich er nachvollziehbar war. Von den 1.800 Plätzen im neuen Staatstheater war gerade mal ein Drittel gefüllt. Vor zehn Jahren hatte der Gastrea-Krieg unzählige Künstler das Leben gekostet, wovon die Unterhaltungs- und Filmindustrie sowie die Kulturschaffenden sich noch lange nicht erholt hatten. Auch die Qualität der Aufführungen war nicht mehr wie vor dem Krieg.
Plötzlich bemerkte er, dass sich jemand leise direkt neben ihn setzte. Ihm stieg ein süßer Geruch in die Nase. Kenji staunte. Die Person neben ihm war vielleicht zehn Jahre alt. Sie trug einen großen Strohhut, der ihr Gesicht verdeckte. Ihr schmaler Körper wurde von einem dünnen einteiligen Kleidchen verhüllt. Vor allem aber fiel an dem kleinen Mädchen der große rosa Teddybär auf, den es fest in seinen Ärmchen hielt.
Warum hat sie sich direkt neben mich gesetzt, wo doch noch so viele andere Plätze frei sind?, überlegte Kenji, während im gleichen Moment das Orchester mit lautem Getöse losspielte. Unter der mitreißenden Begleitung der Instrumente sang Lucia nun ihre »Wahnsinnsarie«. Kenji hatte gar nicht mitbekommen, dass das Bühnenbild sich verändert und der dritte Akt schon begonnen hatte. Die durchgedrehte Lucia war mit dem Blut ihres erstochenen Bräutigams besudelt und die Arie stand kurz vor ihrem Höhepunkt, während Lucia immer noch das blutige Messer in der Hand hielt …
Kenji spürte plötzlich einen Stich in seiner Brust. Der Schmerz breitete sich sofort im ganzen Körper aus. Fast so, als hätte sich ein Klumpen aus seinem Magen den Weg nach oben gebahnt, ergoss sich dickes Blut aus seinem Mund.
Er schaute verwirrt an sich herab. Es erschien ihm fast surreal, dass dort in seiner Brust ein Messer steckte. Er wusste nicht, was geschehen war, und drehte langsam seinen Kopf zur Seite. Das Mädchen mit dem Strohhut, das eben noch friedlich neben ihm gesessen hatte, zog das Messer mit einem schmatzenden Geräusch aus seiner Brust. Anscheinend war die Waffe in ihrem rosa Kuscheltier versteckt gewesen. Sie hatte sich zwischen seine Rippen gebohrt und seinen Herzmuskel zerstört.
»Wa… Wa…« Warum?, wollte Kenji fragen, aber das Mädchen hielt ihm den Mund zu und rückte näher an ihn heran. Es legte den Zeigefinger der freien Hand an seinen Mund und sagte leise: »Psst.« Obwohl es ihn gerade angegriffen hatte, sah es trotzdem noch ungemein niedlich aus. Während er langsam das Bewusstsein verlor, konnte er nicht einmal mehr aufstöhnen. Sein Kopf sackte zur Seite und er verstarb lautlos.
Das Mädchen drehte den Kopf des verstorbenen Mannes wieder der Oper zu und nahm dann seinen Arm. Als es kontrolliert hatte, dass sein Puls endgültig nicht mehr schlug, stand es langsam auf. Auf der Bühne begann gerade das Ende des dritten Aktes. Noch während hinter dem Mädchen das Orchester mächtig aufspielte, verließ die Kleine den Opernsaal.
Draußen wurde das Mädchen von grellem Sonnenlicht und der schwülheißen Luft des japanischen Hochsommers begrüßt. Der Asphalt glänzte von der flirrenden Hitze. Das Mädchen griff zu seinem Mobiltelefon und wählte eine gespeicherte Nummer. »Hier spricht Hummingbird. Auftrag erledigt. Ich kehre zum Nest zurück und erwarte weitere Befehle.«
Saya Takamuras Aufgaben am Morgen begannen damit, ihren Mann und Sohn aufzuwecken, die noch tief im Land der Träume schlummerten. Sie stieg die knarzende Holztreppe nach oben und ging nacheinander in die Zimmer ihrer Familienmitglieder. Ihr Mann war schon älter und schlief deswegen gern und lange. Selbst durch einmal oder zweimal Rütteln wurde er nicht so leicht wach. Aber es gab einen Trick. Sie zog ihm die Decke weg und ließ dann die Tür hinter sich offen stehen. Wenn sie dann das Frühstück vorbereitete, wurden ihr Sohn und ihr Mann wie Zombies aus dem Schlaf gerissen und von dem Geruch zum Esstisch gelockt. Obwohl Vater und Sohn sich kaum ähnlich sahen, würde niemand, der dieses Verhalten beobachtet hätte, noch daran zweifeln, dass sie verwandt waren.
Saya gab etwas Käse und Ei in die Pfanne, um ein Käse-omelett zu braten. Danach schmierte sie das Curry vom Vorabend auf ein Stück Brot, um so einen einfachen Currytoast zuzubereiten. Jetzt konnte sie auch schon ihre beiden Männer sehen, die sich augenreibend zum Frühstück begaben.
Nach dem Essen gab sie ihrem Mann einen Reisball mit Lachs für das Mittagessen mit und brachte dann ihren Sohn zum Bus, der ihn direkt zum Kindergarten fuhr.
Erst jetzt begann der wahre Kampf des Tages: Saya band sich eine Schürze um die Hüfte und warf, nachdem sie den Wetterbericht angeschaut hatte, die aufgetürmte dreckige Wäsche in die Waschmaschine. Nachdem sie den An-Knopf gedrückt hatte, zog sie sich Gummihandschuhe über. Während sie sich die letzten Tage davor gedrückt hatte, war heute endlich der Moment gekommen, dass sie den Schimmel aus den Fugen des Bades kratzen und den Klobereich grundreinigen wollte.
Saya hatte sich innerlich auf eine Heidenarbeit gefasst gemacht, aber überraschenderweise löste sich der Schimmel durch die hohe Luftfeuchtigkeit des japanischen Sommers fast wie von selbst, sodass sie gute Fortschritte machte. Obwohl sie gerade mit einem Schwamm voll Putzmittel Schimmel aus Fugen kratzte, fühlte sie sich plötzlich ungemein gut. Wie selbstverständlich kümmerte sie sich um ihre Familie oder putzte die Wohnung. Vor zehn Jahren hätte sie nie zu träumen gewagt, einmal so glücklich leben zu können.
Als das Waschprogramm durchgelaufen war und die Maschine piepte, ging sie aus dem Bad, nahm die Wäsche und stieß mit dem Fuß die Tür zum Balkon auf. Der Himmel hatte heute eine unbeschreiblich schöne Farbe. Lautlos zogen einige Schäfchenwolken über sie hinweg und das Sonnenlicht fühlte sich angenehm warm auf ihrer Haut an.
Im nächsten Augenblick hörte Saya das Klingeln an der Haustür. Während sie zur Tür eilte, zog sie schnell noch die Gummihandschuhe aus. »Ich komme«, rief sie und riss die Tür auf.
Erschrocken starrte sie den Besucher an. Er wirkte mit seiner Größe von über 1,90 Meter einschüchternd. Obwohl es Hochsommer war, trug er einen dicken Mantel. Auf seiner Nase saß eine Sonnenbrille mit runden Gläsern und an seinem Kinn sprießte ein kurzer Bart. Kurz gesagt sah er nicht wie ein Gast aus, der nur für einen Plausch vorbeigekommen war.
»Ähm …«, fing sie an.
»Du bist Saya Takamura, oder?«, fragte er in monotonem Tonfall und warf ihr einen Papierstapel entgegen, der sich auf dem Boden verteilte.
Saya wollte erst verneinen, aber dann sah sie, dass die Zettel ausgedruckte Fotos waren. Auf jedem einzelnen konnte sie sich selbst in verschiedenen Situationen erkennen.
»Mist!« Als sie kapierte, was diese Fotos zu bedeuten hatten, griff sie schnell in ihre Schürzentasche und zog eine Glock-Pistole hervor.
Doch im nächsten Moment wurde ihr Körper schon gegen die Wand geschleudert. »Argh…«
Plötzlich war in den Händen des Fremden eine Schrotflinte aufgetaucht, aus deren Mündung jetzt weißer Rauch aufstieg.
Saya fasste sich an die Wunde. Die Schrotkugeln hatten sich tief in ihren Bauch gebohrt und ihr tödliche Verletzungen zugefügt. Sie ließ kraftlos die Glock fallen. Dann schaute sie auf und stammelte: »Wer … bist … du?«
Als einzige Antwort betätigte der Fremde erneut den Abzug seiner Waffe und entlud eine zweite Ladung Schrot in den Körper der Frau. Blut spritzte an die Hauswand und Saya sackte leblos zusammen. Der Mann schaute nicht mehr zu, wie sie endgültig auf dem Boden aufschlug, sondern versteckte seine Flinte schnell wieder unterm Mantel und verließ das Gebäude. Als er den Eingangsbereich passierte, steckten schon die ersten Nachbarn ihre Köpfe zur Tür heraus, um zu schauen, was dieser plötzliche Lärm zu bedeuten hatte.
Als er in sicherer Entfernung war, zog der Mann ein Handy aus der Tasche. »Hier spricht Swordtail. Auftrag erledigt. Ich kehre zum Nest zurück und erwarte weitere Befehle.«
»Und dann wollten die Männer gestern beim Gruppendate im letzten Augenblick plötzlich die Rechnung teilen. Kannst du das glauben? Dabei waren die zehn Jahre älter als wir Mädchen!« Mit lautem Gelächter unterhielten sich die Schüler, wobei ihre anzüglichen Erzählungen durch die offenen Fenster des Klassenzimmers laut über den ganzen Schulhof schallten. Es roch schrecklich nach Parfüm, irgendjemand musste sich bei der Menge vertan haben. Bei diesem Gestank konnte man über die Redewendung »Viel hilft viel« ins Zweifeln geraten.
Yuga Mitsugi war bisher in Gedanken versunken gewesen, aber jetzt wurde ihm das Gelaber doch zu nervig. »Ähm …«
»Was denn?« Die fieseste Schülerin der Klasse drehte sich zu ihm um. Sie hatte die Ärmel der blauen Sommerschuluniform der Nukagari-Highschool hochgekrempelt. Ihre Haare waren weißblond gefärbt. In den Pausen trug sie viele Ohrringe, doch beim Klingeln der Schulglocke nahm sie diese stets schnell wieder raus, damit sie vor den Lehrern wie eine anständige Schülerin wirkte. Sie war wirklich bemüht, ihr Image in beide Richtungen aufrechtzuerhalten. Wenn Yuga sich richtig erinnerte, hieß sie Yoshiko Kamuro. Es war wohl ein schlechter Scherz gewesen, dass ihre Eltern sie Yoshiko genannt hatten. Der Name bedeutete »liebe Tochter«, aber tatsächlich war sie nicht nur in der eigenen Klasse dafür
bekannt, dass sie Mädchen, die sie nicht leiden konnte, mit aufs Klo nahm, um sie dort zu bestrafen.
»Das ist eigentlich mein Platz«, meinte er.
»Und?«, fragte Yoshiko, während sie mit ihrem dicken Hinterteil auf seinem Tisch saß und mit den Beinen schaukelte.
»Kannst du vielleicht weggehen? Ich kann meine Bücher so nicht rausholen.«
Plötzlich wurde es still im Klassenzimmer. Yoshikos gesamte Clique starrte ihn an, als würde sie ihn umbringen wollen. Auch die Chefin selbst schaute kurz auf ihn herab, bevor sie sich ein kleines bisschen zur Seite bewegte. Anscheinend war dies das Äußerste, zu dem sie bereit war.
Mit Mühe konnte Yuga seine Bücher für den Unterricht im anderen Klassenzimmer herausziehen. Dann stieg Yoshiko endlich von seinem Tisch herunter und ging wortlos weg.
»Was machst du denn, Mitsugi?«, fragte Shingo Kuromatsu ganz aufgeregt, als Yuga an seinem Platz vorbeiging. Shingo war Yugas bester Freund in der Klasse.
»War irgendwas?«, fragte Yuga.
»War irgendwas?!«, wiederholte Shingo entgeistert und seufzte dann verzweifelt. »Mitsugi, du bist schon vor drei Monaten in diese Klasse gekommen und wir sind doch Freunde, oder? Deswegen solltest du auf mich hören, wenn ich dir sage, dass du dich besser anpassen solltest. Ich kann mir nicht vorstellen, wie du auf der Seishin zurechtgekommen bist …«
Yuga wusste nicht, was er antworten sollte, und dachte: Und was hätte ich sonst in dieser Situation tun sollen? Er hatte sich eigentlich angestrengt, sich zumindest ein wenig an das Schulleben hier zu gewöhnen, aber für Außenstehende wirkte er offenbar immer noch wie ein Fremdkörper.
Was würde sein netter Freund wohl sagen, wenn er herausfinden würde, dass Yuga dank seiner gefälschten Urkunden nur nominell auf der Seishin-Highschool eingeschrieben gewesen und eigentlich keinen einzigen Tag dort zur Schule gegangen war? Oder wenn herauskommen würde, dass er die drei Monate nur an dieser Schule verbracht hatte, um an genau diesem Tag einen Auftrag zu erledigen?
»Nimm mir das nicht übel, Mitsugi«, meinte Shingo. »Aber manchmal machst du den Eindruck, nicht ganz bei uns zu sein. Fast wie ein Außerirdischer, der sich bei uns eingeschlichen hat und heimlich unter uns Menschen wohnt …«
»Du bist echt aufmerksam«, murmelte Yuga.
»Hä?« Shingo starrte ihn verwirrt an.
»Das war doch nur ein Scherz!« Yuga lachte seinen Klassenkameraden an. Im nächsten Moment klingelte sein Mobiltelefon. Es war so weit. Sofort gab er seinen Bücherstapel an Shingo weiter. »Kuromatsu, tut mir leid, aber kannst du schon mal vorgehen?«
»Was? Na, in Ordnung …«
Yuga hatte nicht auf die Antwort seines Freundes gewartet und war stattdessen sofort aus dem Klassenzimmer geflitzt. Er rannte an den Klassenräumen vorbei und erreichte die Lehrertoilette, wo sich nur selten jemand aufhielt. Dann setzte er ein Headset auf und drückte auf sein Smartphone. »Roger. Hier spricht Dark Stalker.«
»Es sind Schwierigkeiten aufgetreten. Wir haben gerade erfahren, dass die Zielperson in einem früheren Shinkansen2 sitzt«, erklärte eine Stimme.
Yuga zog eine Augenbraue hoch und schaute auf seine Armbanduhr. »Wie viel früher kommt der Zug?«
»25 Minuten. Es bleiben keine fünf Minuten, bis der Zug dich passiert. Geh sofort auf Position.«
Yuga musste das nicht zweimal gesagt werden. Er sprang aus der Kabine heraus und rannte die Treppe nahe des Lehrerzimmers nach oben, wobei er sich am Geländer festhielt, um die Kurven besser nehmen zu können. Schnell war er oben angekommen. Er hatte sich einen Ersatzschlüssel für das Schloss zum Dach machen lassen. Blitzschnell schloss er auf. Auf dem Schreiben zu seiner Umschulung hatte gestanden, dass er von Geburt an gebrechlich sei – aber obwohl er gerade fast 50 Meter in einem Wahnsinnstempo gesprintet war, schwitzte er nicht einmal.
Im nächsten Moment läutete die Schulglocke. Sofort konnte Yuga von unten unzählige trappelnde Schritte seiner Mitschüler hören. Mit einem Quietschen öffnete er die Tür und trat in das grelle Licht der Sommersonne. Ohne zu zögern, lief er zu dem großen Wassertank auf dem Dach. Im schmalen Spalt zwischen Tank und Sicherheitszaun steckte ein dünner, länglicher, verschließbarer Koffer. Auch hierfür hatte er einen kleinen Schlüssel dabei. Außer einem Fläschchen Waffenöl kam ein Gewehr zum Vorschein. Es war ein DSR-1-Präzisionsschützengewehr der Firma AMP Technical Services. Obwohl der Lauf und der Munitionsauswurf verkleinert worden waren, blieb das Gewehr in Bullpup-Bauweise ungemein präzise auf weite Distanz und eignete sich daher ideal für Scharfschützen. Das Kaliber von Yugas Waffe war auf .338 Lapua-Magnum-Patronen ausgerichtet und anstelle des Mündungsfeuerdämpfers hatte er vorn einen Schalldämpfer angebracht.
Durch den modularen Aufbau war dieses Scharfschützengewehr wahrlich der Inbegriff von funktionaler Schönheit.
Anscheinend hatte der Unterricht wieder angefangen, denn unter sich hörte Yuga nun den Klang von Instrumenten aus dem Musikraum. Es waren die heroischen Klänge der »Ode an die Freude« aus Beethovens 9. Sinfonie.
Er schaute erneut auf seine Uhr. Es blieben noch zwei Minuten. Schnell nahm er Schussposition ein und richtete sein Gewehr über den Schulhof hinweg auf die Schienen des Shinkansen, die entlang der angrenzenden Berge verliefen. Er öffnete die aufklappbare Abdeckung am Zielfernrohr und klappte einen zweifüßigen Ständer aus. Als Nächstes zog er aus dem Schaft einen weiteren Fuß heraus, um dem Gewehr mit einem dritten Standbein noch mehr Stabilität zu verleihen. Dann steckte er das Magazin in den Magazinhalter und lud die Waffe einmal durch, um die erste Patrone in die Kammer zu transportieren.
Im Zielfernrohr wurden verschiedene Dinge wie Windgeschwindigkeit und Schusswinkel angezeigt. Es war eins der neusten Modelle aus der Herstellung von Carl Zeiss und konnte unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnisse der Außenballistik genauste Informationen anzeigen. Das Ziel würde in einer Entfernung von 2.300 Meter an ihm vorbeifahren.
»Noch 30 Sekunden. Mach dich bereit!«, rief die Stimme aus dem Telefon aufgeregt.
Yuga hingegen wurde innerlich immer ruhiger. Alle Geräusche um ihn herum wurden leiser, bis er nur noch seinen eigenen Herzschlag hören konnte. Er verlangsamte seine Atmung und legte den Finger an den Abzug. Dann schaltete er seine künstlichen Augen ein.
In beiden Augen trat eine künstliche Membran hervor, während tief in ihrem Inneren die Recheneinheit aktiviert wurde und sie so zum Rotieren brachte. Gleichzeitig wurde sein Denkvermögen um das Hundertfache beschleunigt, wodurch sich das Geschehen um ihn herum wie in Zeitlupe abzuspielen schien. Beethovens Meisterwerk verwandelte sich unter seinem Körper in ein undefinierbares Brummen und selbst das Sonnenlicht schien dunkler als normal zu sein. Alles verlangsamte sich so sehr, dass selbst ein Habicht im Sturzflug sich kaum bewegt hätte.
Aus seinem rechten Augenwinkel schob sich in Zeitlupe der Shinkansen heran. Normalerweise wäre er in wenigen Sekunden vorbeigerauscht, aber Yuga konnte jetzt durch jedes einzelne Fenster blicken und die Fahrgäste genau erkennen. Nach Plan sollte die Zielperson hinter dem 25. Fenster sitzen, aber da sie einen früheren Zug genommen hatte, konnte sich dies natürlich auch geändert haben.
Aber da war sie. Hinter dem 25. Fenster saß ein glatzköpfiger Mann mit teurer Zigarre im Mund und schaute grimmig. Yuga hatte das Gesicht von den Einsatzfotos direkt erkannt.
Sofort berechnete sein Auge die genaue Flugbahn, um das Ziel sicher zu treffen. Yugas Körper spannte sich kurz an, als er all seine Wut in die Patrone sendete und den Abzug drückte. Er spürte, wie der Mechanismus sich in Bewegung setzte, als er den Abzug losließ. Im nächsten Moment schlug der Bolzen im Inneren auf die Patrone, womit das Zündhütchen gezündet und die Kugel abgeschossen wurde. Während die Explosion die Waffe durchschüttelte, trat vorn aus dem Schalldämpfer eine Stichflamme aus. Gleichzeitig raste das Geschoss aus der Waffe spiralförmig auf das Ziel im Zug zu. Yuga spürte, wie ein dumpfer Rückstoß seine Schulter durchzuckte. Obwohl alles um ihn herum sehr langsam ablief, hatte die Patrone ein hohes Tempo. Wie vorherberechnet traf sie das Fenster des Shinkansen, zersplitterte die Scheibe und bohrte sich durch die Stirn der Zielperson. Diese kippte leblos zur Seite.
Yuga musste nicht länger hinsehen; er fuhr seine übertaktete Wahrnehmung runter und ließ die Zeit um ihn herum wieder im normalen Tempo ablaufen. Sofort konnte er das Dröhnen unter sich wieder als »Ode an die Freude« erkennen. Vom Schuss eben blieb nur ein leichter Schmerz in seiner Schulter zurück. Plötzlich war auch das Sonnenlicht wieder normal hell.
Er sah dem mit gewaltiger Geschwindigkeit davonrasenden Shinkansen hinterher, bevor er langsam aufstand. Dann legte er den Kopf schief und schaute in den blauen Himmel.
»Hast du die Zielperson erledigt?«, fragte die Stimme am Telefon.
»So sieht es zumindest aus«, meinte Yuga. Der Shinkansen war fort, die »Ode an die Freude« im Musikzimmer zu Ende. Yuga atmete tief durch. »Ich kehre jetzt zum Nest zurück«, sagte er. »Dark Stalker meldet: Auftrag abgeschlossen. Ich erwarte weitere Befeh…«
»Wa… Was war das denn … gerade eben?«, fragte da jemand hinter ihm.
Erschrocken drehte sich Yuga um. Hinter ihm stand eine verwirrte Schülerin und starrte ihn mit ungläubigem Blick an. Es handelte sich um Yoshiko Kamuro.
Was macht die denn hier?, fragte Yuga sich kurz, als er hinter ihr die Tür sah, die er offen stehen gelassen hatte. Aufgrund des Zeitdrucks hatte er nicht genug aufgepasst! Es war ihm fast peinlich, dass er vergessen hatte, die Tür ordentlich abzuschließen. Wahrscheinlich hatte Yoshiko den Unterricht geschwänzt, hatte herumgeschnüffelt und dann die offene Tür zum Dach erspäht. Bestimmt war sie neugierig die Treppe hochgestiegen, ohne zu wissen, dass sie bei diesem Abenteuer ihr Leben verlieren würde.
»Du hast es gesehen, oder?«, fragte Yuga kühl, als er langsam auf Yoshiko zuging.
Sie machte einen Schritt zurück. »Wa… Was ist das denn für eine dicke Wumme? Willst du damit was kompensieren?«
Yuga erkannte sofort, dass sie mit diesem Witz nur ablenken wollte. Hätten ihre Knie nicht so geschlottert, wäre er vielleicht auf diesen Bluff reingefallen. Er ging weiter auf sie zu und sie wich zurück, bis sie mit dem Rücken gegen den Sicherheitszaun auf dem Dach gepresst wurde und nicht mehr entkommen konnte.
»Bist du ein Killer?«, fragte sie ihn ängstlich.
»Nein, ein Rächer«, antwortete Yuga. Er zuckte mit den Schultern und schaute hoch in den Himmel. »Es tut mir wirklich leid, aber wenn ich dich laufen lassen würde, wäre unser Plan in Gefahr. Wir kennen uns erst drei Monate, daher bedaure ich wirklich, was ich jetzt tun muss: Stirb.«
Yuga versetzte Yoshiko mehrere Schläge gegen die Brust, die sich mit einem Knacken tief nach innen wölbte. Aus der Nähe konnte er mit diesen Schlägen Knochen zertrümmern, deren Spitzen sich in die Eingeweide des Opfers bohrten und einen schnellen Tod herbeiführten. Mit dem letzten Treffer durchtrennte Yuga endgültig Yoshikos Blutkreislauf. Er fragte sich kurz, was sie wohl dabei gedacht haben mochte.
Wahrscheinlich hatte sie noch gemerkt, wie ihre Beine ins Wanken gerieten, aber bestimmt konnte sie nicht mehr begreifen, warum plötzlich Blut aus ihrem Mund herausschoss. Vorsichtig fing er den leblosen Körper seiner Mitschülerin auf.
Dann sprach er ins Headset: »Nest, es tut mir leid, aber es gab leider eine ungeplante Leiche. Ich werde sie in der Turnhalle im Schrank deponieren. Bitte entsorgt sie, bevor nach dem Unterricht das Reinigungsteam kommt.«
»Ach, verdammt. Warum passiert dir das im…« Bevor die Stimme am Telefon weitersprechen konnte, trennte er das Gespräch. Er legte seine leblose Mitschülerin auf den Boden und schaute sich vom Dach der Nukagari-Highschool aus die Gegend an.
Während der Sommerwind ihn erfasste, überkam ihn eine schreckliche Einsamkeit. Yuga schaute auf seine Fäuste. Warum nur? Ich bin so ungemein stark. Warum bin ich dennoch so ein Misserfolg … Professor?
1italienischer Opernkomponist (1797–1848)
2japanischer Hochgeschwindigkeitszug, der über 320 km/h erreicht
1
Er blickte durch das Fernglas direkt auf das Monster. Es erklomm eine fast senkrechte Wand und sah wie eine Mischung aus Käfer und Oktopus aus. Seine unzähligen Beine mit Saugnäpfen gehörten zweifellos zu einem Weichtier, aber der Körper, aus dem sie herauswuchsen, war von einem gewaltigen Panzer umhüllt, der an einen Helm erinnerte. Weil der Kopf irgendwo darunter war, konnte man nicht erkennen, wo Augen und Gehirn des Wesens lagen. Auf dem lang gezogenen Rücken des Biestes wuchsen lange, spitze Stacheln.
Im nächsten Moment kletterte das Monster mithilfe seiner Tentakel ein weiteres Stück senkrecht am Gebäude nach oben. Rentaro Satomi erschauderte. Die heiße Mittagssonne brannte auf ihn herab und eine Schweißperle lief langsam von seiner Stirn die Wange herunter. Das ständige Zirpen der Zikaden dröhnte ihm in den Ohren, während sich die Hitze der Sonne auf seiner Haut fast unerträglich anfühlte.
Das Gebäude, an dem der Gastrea emporkletterte, war kein Geringeres als der Tokyo Tower1.
»Bruderherz, auf sechs Uhr bläst ein Wind von zehn bis 13 Stundenkilometern.«
Rentaro schaute von seinem Scharfschützengewehr hoch und drehte den Kopf zur Seite. Direkt neben ihm lag ein Mädchen mit blonden Haaren gekonnt mit einem weiteren Scharfschützengewehr in Stellung. Tina Sprout.
Die junge Schützin schaute nicht von ihrem Zielfernrohr auf und behielt das Ziel weiter fest im Blick. Zwischen ihr und dem Gastrea schwebten mehrere schwarze Bits. Sie verhielten sich wie kleine Sensoren für Tinas gedankengesteuertes Interface namens Shenfield und konnten so neben der Windgeschwindigkeit verschiedene weitere Informationen für einen erfolgreichen Abschuss schnurlos an ihr Gehirn schicken.
Rentaro und Tina waren auf einem Gebäude in der Nähe des Tokyo Towers in Stellung gegangen. Obwohl Rentaro sich ein nasses Tuch auf den Kopf gelegt hatte, fühlte er sich, als würde er gerade lebendig geröstet werden. Er wischte sich den unaufhörlich fließenden Schweiß von der Stirn. Die Umgebung flimmerte durch die Hitze.
Obwohl es schönstes Wetter war, war das Gebiet um den Tokyo Tower still und verlassen. Normalerweise gab es hier immer spielende Kinder oder Senioren, die sich auf den Bänken ausruhten. Nun aber war niemand zu sehen. Das war nicht verwunderlich, schließlich hatte die Polizei das Gebiet weiträumig abgesperrt. Überall standen Streifenwagen, und die Polizisten hatten sich mit Schrotflinten bewaffnet, um für den Notfall gewappnet zu sein.
Dennoch schien die Polizei nichts zu unternehmen. Weil die Todesrate der Polizisten bei einem Zusammentreffen mit einem Gastrea so astronomisch hoch war, hatten sich sogenannte private Sicherheitsdienste gegründet, die irgendwo zwischen Polizei und Militär standen und sich auf das Bekämpfen der Gastrea spezialisiert hatten. Dieses Mal waren Tina und Rentaro als Erste am Tatort, um den Gastrea abzuschießen, der sich am Tokyo Tower festklammerte.
Rentaro schaute erneut durchs Zielfernrohr. Für einen erfahrenen Scharfschützen sollte diese Distanz kein Problem darstellen und zum Glück kam auch der Wind aus einer günstigen Richtung, sodass er den Lauf der Kugel kaum beeinflussen würde. Dennoch zitterte Rentaros Zielfernrohr stark, weswegen er mehrere gute Schusschancen vergab. Die eigene Ungeduld machte es ihm zusätzlich noch schwieriger, sich zu konzentrieren.
»Bruderherz!«
Mit Tinas Worten im Nacken drückte Rentaro schließlich den Abzug. Sofort durchzuckte ein heftiger Schmerz seine Schulter. Leider zischte die schwarze Kugel aus Ballanium am Gastrea vorbei und erzeugte nur schräg über ihm ein Pling auf dem Stahl des Turms.
Bevor Rentaro fluchen konnte, öffnete der Gastrea seinen gewaltigen Rückenpanzer und breitete seine Flügel aus. Verdammt. Er will wegfliegen! Rentaro schoss in schneller Folge weitere Schüsse auf das Monster ab, die aber alle nicht trafen, weil der Gastrea sich schon in die Luft erhoben hatte.
Bei dem Gedanken, dass das Biest gleich aus dem abgesperrten Bereich herausfliegen könnte, wurde Rentaro ganz bleich im Gesicht. Doch im nächsten Augenblick bohrte sich eine Kugel in den Körper des Flug-Gastrea im Stadium II. Er geriet ins Trudeln und krachte dann auf den Boden.
Sofort schrien die Polizeibeamten im Umkreis jubelnd auf. Der Gastrea mochte zwar noch nicht tot sein, aber durch die Ballaniumkugel sollte die Regenerationsfähigkeit des Monsters so weit unterdrückt sein, dass es kampfunfähig war.
Rentaro hob den Kopf und schaute zur Seite. Aus der Mündung von Tinas Dragunow-Scharfschützengewehr stieg dünner weißer Rauch auf. Fast so, als würde sie das Gefühl des Abschusses noch etwas genießen wollen, verharrte Tina einen weiteren Moment, bevor sie ihr Gesicht von dem Infra-rotzielfernrohr nahm. Sie wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht und lächelte freundlich. »Keine Angst, Bruderherz. Beim ersten Mal trifft niemand.«
Rentaro schaute beschämt zu Boden. Auch wenn es von ihr lieb gemeint war, fühlte er sich irgendwie schlecht, weil sie so nachsichtig mit ihm umging. Er war in der Kampfkunst nach Tendo ausgebildet und kampferprobt im Umgang mit Pistolen. Enju Aihara, seine Initiatorin, war auf den Nahkampf spezialisiert. Daher war es eigentlich seine Aufgabe als Promoter, den Fernkampf zu übernehmen. Mit Pistolen konnte er auf mittlere Distanz kämpfen, aber was sollte das Team bei Fernkämpfen machen? Weil er seine Fähigkeiten verbessern musste, hatte er also Tina gefragt, ob sie ihm den Umgang mit dem Scharfschützengewehr beibringen könnte. Sehr zu seinem Bedauern machte er aber bisher kaum Fortschritte.
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann mich einfach nicht geduldig auf einen Punkt konzentrieren.« Selbst eben wäre der Gastrea fast weggeflogen und hätte ein gewaltiges Chaos anrichten können.
»Warum genau wolltest du noch mal lernen, mit dem Scharfschützengewehr umzugehen, Bruderherz?«, fragte Tina und schaute ihn dabei mit ihren unschuldigen blauen Augen an.
Rentaro konnte ihrem Blick nicht standhalten und wandte sich ab. »Ich fühle mich dazu irgendwie verpflichtet. Ich weiß nicht genau, aber ich glaube, dass ich einfach noch viel stärker werden muss.«
»Und genau das ist der Grund«, meinte Tina und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Weil du dir nicht im Klaren bist, warum du stärker werden willst, und es auch nicht in Worte fassen kannst, entstehen in dir Zweifel. Der Tod jedes Scharfschützen.«
»Du meinst also, dass es ein psychologisches Problem ist?«
Tina nickte. »Du hast doch auch schon gemerkt, was genau hinter dem Job eines Scharfschützen steckt, Bruderherz.«
Rentaro stöhnte auf. Sie hatte einen wunden Punkt getroffen. Er wusste, dass sie recht hatte. Schon beim ersten Versuch hatte er gemerkt, dass es etwas völlig anderes war, ein Scharfschützengewehr abzufeuern als eine Pistole. Natürlich unterschied sich auch die Schussdistanz, aber viel gravierender war die Tatsache, dass das Leben des Zielobjekts ausgehaucht wurde, ohne dass es den Angreifer vorher bemerkte. Aus diesem Grund fühlte es sich viel mehr nach Mord an als mit einer Pistole. Wenn man einem Feind mit einer Pistole gegenüberstand, konnte man sich notfalls später immer einreden, dass man nur aus reiner Notwehr gehandelt hatte, um so sein Gewissen zu beruhigen. Ein Scharfschütze konnte das nicht. Wenn Rentaro den Abzug drückte, bedeutete es für das weit entfernte Ziel den Tod. Er wusste nicht genau, wie er damit umgehen sollte. Gegen einen Gastrea war das ein geringeres Problem, aber ein Gedanke ließ Rentaro dennoch nicht los: Was wäre, wenn das Ziel ein Mensch wäre? Könnte ich dann schießen?
»Wie kannst du das so einfach?«, fragte Rentaro.
Sie schaute ihn mit großen Augen an. »Mein Leben besteht daraus, eine Scharfschützin zu sein. Hätte ich nicht gelernt, wie man mit der Waffe umgeht und das Shenfield richtig einsetzt, hätte mich Professor Rand abgestempelt und längst entsorgt.«
»Entsorgt?«
»Ich habe nur Gerüchte darüber gehört«, meinte Tina, »aber andere Mädchen, die ihre Mechanisierung nicht nutzen konnten, wurden einfach entsorgt. Ich weiß natürlich nicht genau, was mit ihnen passiert ist, aber es war dennoch ein Antrieb für mich. Hätte ich meine Fantasie nicht versiegelt und aufgehört, darüber nachzudenken, was mir in der Zukunft zustoßen könnte, hätte ich es nie geschafft, diese unvorstellbare Kraft mit meinem Körper verschmelzen zu lassen. Solange sie seelisch nicht kaputtgehen, können Menschen wirklich unglaubliche Dinge überleben.«
»Das ist aber keine Art für einen Menschen, zu leben«, schimpfte Rentaro. Da Tina nicht antwortete, fuhr er fort: »Willst du etwa sagen, dass ich meine Gefühle abtöten und einfach nur den Abzug drücken soll?«
»Nein, Bruderherz«, antwortete sie schließlich. »Du musst für dich selbst einen Grund finden, warum du das Leben der Zielperson rauben darfst. Ich kann dir dabei in keinster Weise helfen. Anders ausgedrückt, du wirst dich selbst mit Training nicht verbessern können, solange du für dich persönlich keine Antwort findest. Es gibt keinen schnellen Weg, um ein guter Scharfschütze zu werden.«
Rentaro und Tina sahen sich einen Moment in die Augen. Ein leichter warmer Wind wehte durch ihre Haare.
Rentaro brach zuerst das Schweigen. »Du bist echt streng, Frau Lehrerin.«
Tina lächelte ihn an. Schweiß lief ihr über die Stirn. »Dabei bringst du mir doch immer so viel bei, Bruderherz. Ich bin so glücklich, dass du auch etwas von mir lernen kannst.« Sie griff erneut zu ihrem Dragunow-Scharfschützengewehr und zeigte nach unten. »Der Gastrea lebt noch. Wir sollten ihn erledigen, bevor er noch mehr Ärger anrichten kann.«
Im nächsten Augenblick hörten sie, wie jemand triumphierend schrie: »Jetzt hast du wohl genug, du Drecksvieh!«
Überrascht blickten die beiden in die Richtung, aus der die Stimme kam. Unten am Tokyo Tower konnten sie ein bekanntes Wachdienstpärchen erkennen, das im wilden Punkerlook gekleidet war: Es waren die Katagiri-Geschwister Tamaki und Yuzuki, mit denen sie in der Dritten Schlacht um Kanto gekämpft hatten. Sie hatten sich auf den abgeschossenen Gastrea gestürzt und schnitten ihn in Stücke.
Heißt das etwa … Rentaro und Tina schauten sich kurz an und riefen dann wie aus einem Munde: »Die schnappen uns den weg!«
2
Es war schon Mitte August. Obwohl während der Dritten Schlacht um Kanto die Temperatur in Tokyo um mehrere Grad gesunken war, war die globale Erwärmung nach wie vor ein ernstes Problem. Wenn sich die derzeitigen Trends fortsetzten, würde das ewige Eis der Tundragebiete schmelzen. Es bestand außerdem die Gefahr, dass dort eingefrorene Tierleichen auftauen würden und das in den Kadavern schlummernde Methangas freigesetzt werden könnte, was unweigerlich zu einer Beschleunigung der Erderwärmung führen würde. Aber vielleicht war der kritische Punkt sowieso schon längst überschriten. Und selbst wenn die Menschen jetzt den CO2-Ausstoß minimierten, würde der Schaden, den frühere Generationen und ihre Industrie angerichtet hatten, nicht mehr rückgängig gemacht werden können.
Die Klimaanlage lief auf Hochtouren, aber gegen die 39 Grad Außentemperatur kam das Gerät kaum an. Es ächzte und stöhnte unter der Belastung. Außer diesem Quietschen war es ruhig im Büro und es lag eine ernste Stimmung in der Luft.
Tina, Enju und Rentaro standen Schweißperlen auf der Stirn. Sie saßen brav nebeneinander auf der Couch. Die Nachmittagssonne schien in das Büro der Tendo Security GmbH. Die Mitarbeiter saßen alle an dem Glastisch, der eigentlich für Gespräche mit Kunden gedacht war. Tatsächlich wurde er nur selten für seinen eigentlichen Zweck genutzt.
Kisara Tendo hatte eine Schürze über ihre Schuluniform gezogen, als sie mit einem Tablett hinter dem Vorhang zum Küchenbereich hervorkam. Auf ihm standen vier Teller, die sie jetzt auf dem Glastisch verteilte. Das Essen vor Rentaro hatte einen süßlichen Geruch und dampfte warm in sein Gesicht. Sofort meldete sich sein hungriger Magen und knurrte.
Nachdem Kisara ihren eigenen Teller vor ihren Platz gestellt hatte, setzte auch sie sich hin und klatschte in die Hände. »Dann wünsche ich euch allen guten Appetit!«
Rentaro und Enju griffen schon zu ihren Löffeln, als Tina aufgeregt rief: »Einen Moment mal!« Sie schaute die Anwesenden ratlos an und zeigte dann auf ihren Teller. »Ähm … Was genau soll das eigentlich sein?«
Rentaro und Enju schauten ebenfalls runter zu dem Etwas auf ihren Tellern. Dort lag eine spindelförmige leicht violette Knolle.
»Na, was wohl …«, sagte Kisara. »Das ist eine Süßkartoffel. Das ist nun wirklich keine exotische Zutat, oder?«
»Da… Davon rede ich gar nicht«, meinte Tina. »Ich bin eher entsetzt. Ist das wirklich alles, was wir heute zu essen bekommen?«
Kisara legte nachdenklich den Kopf zur Seite. Dann klatschte sie erneut in die Hände. Mit den Worten »Warte kurz!« sprang sie auf und huschte in die Küche.
Tina atmete erleichtert auf. »Also wirklich, Tendo. Ich dachte schon, das wäre ernst gemeint.«
Schon kam Kisara wieder und stellte klirrend einen Becher vor Tina auf den Tisch. »Bitte sehr. Leitungswasser. Davon kannst du so viel haben, wie du möchtest.«
Tina sah sie ernst an. »Ähm … Macht die Firma wirklich so wenig Geld?«
»Wir sind total abgebrannt«, antwortete Kisara.
»U… Und was steht morgen auf dem Speiseplan?«, fragte Tina vorsichtig nach.
»Tofusuppe mit Sojasprossen. Dazu Nudeln. Außerdem habe ich vom Bäcker kostenlos Brotreste bekommen«, erklärte Kisara.
»Und den Tag danach?«
»Gebratene Sojasprossen mit Brotresten.«
»Und dann?«
»Brotreste.«
Das klang ja immer verzweifelter!
»U… Und was gibt es in vier Tagen?«
Kisara hatte freudig auf diese Frage gewartet. Stolz klopfte sie sich auf die Brust und lächelte. »In vier Tagen essen wir zur Abwechslung fried breadcrumbs.«
»Das sind doch nur gebratene Brotkrumen!«, schrie Tina entsetzt auf. »Ich bin immer noch Amerikanerin! Du kannst mich nicht so einfach mit ein wenig Englisch reinlegen!«
Kisara schlug genervt auf den Tisch. »Was soll ich denn machen?! Diesen Monat hatten wir keinen erfolgreich abgeschlossenen Fall. Eigentlich wollte ich heute Beefsteak essen, aber weil Satomi so ein Trottel ist, wurde mein ganzer Plan zunichtegemacht. Und dabei warst du doch dabei, um auf ihn aufzupassen, Tina!«
Rentaro kratzte sich verlegen am Kopf. Der Vorwurf war berechtigt. Wie hatte er nur zulassen können, dass die Katagiri-Geschwister ihnen die Belohnung wegschnappten? So mussten die Angestellten der Tendo Security GmbH auch heute hungern.
»Aber warum haben wir eigentlich immer so wenig Geld?«, warf Enju ein, während sie langsam mit dem Zeigefinger die Kartoffel auf ihrem Teller hin und her rollte.
Rentaro griff den Faden auf: »Sag mal, Kisara, was ist aus der Belohnung für die Dritte Schlacht um Kanto geworden?«
Eigentlich hatte die Tendo Security GmbH drei große Fälle hintereinander abgeschlossen: den Terrorvorfall um Kagetane Hiruko, die Vereitlung eines Attentats auf Fräulein Seitenshi und die Dritte Schlacht um Kanto. Für jeden hatten sie eine nicht gerade geringe Belohnung erhalten.
Aus irgendeinem Grund zuckte Kisara zusammen und wurde ganz rot im Gesicht. Dann schaute sie zur Decke. »Ich habe es bisher vor dir geheim gehalten, Satomi, aber zwei Monate vor dem Fall um Kagetane Hiruko konnten wir die Miete nicht mehr zahlen … Daher habe ich mir Geld geliehen.«
»Wo?« Rentaro hatte schon eine beunruhigende Vermutung.
Kisara zeigte beschämt mit dem Finger zur Decke. Über ihnen im vierten Stock befand sich die Kofu Finance GmbH, ein illegaler Geldverleiher. Sie erklärte weiter: »So ein Trottel wie Satomi hat davon ja keine Ahnung, aber auf Schulden muss man Zinsen und sogenannte Zinseszinsen zahlen … Wenn ich mir zum Beispiel eine Million Yen leihe, dann muss ich in zehn Tagen dank der Zinsen von zehn Prozent eine Million plus 100.000 Yen zurückzahlen. In weiteren zehn Tagen werden dann aus einer Million und 100.000 Yen plötzlich eine Million und 210.000 Yen …«
Tina verbarg ihr Gesicht in den Händen und begann zu weinen. Rentaro schloss kurz die Augen. Tut mir leid, Tina. Es tut mir so leid, dass unsere Firma so am Ende ist. Dann fragte er: »Was hast du für das Geld als Pfand hinterlassen?«
»Deine Organe«, entschlüpfte Kisara blitzschnell die Wahrheit.
»Was?«