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Zodiac Libra bedroht mit seinem tödlichen Virus die Stadtgebiete von Sendai. Die Machthabenden vermuten, dass Tokyo hinter dem Auftauchen des Gastrea steckt - und drohen mit Krieg. Seitenshi flieht aus dem eigenen Palast und erteilt Rentaro den Auftrag, den Spion Litvintsev zu schnappen und die beiden Forschungsobjekte zurückzuholen, mit denen Libra gerufen werden konnte. Doch wird Rentaro das rechtzeitig schaffen, bevor der Krieg ausbricht?
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Seitenzahl: 159
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Glasklar schoss das Wasser aus der Götterstatue im hohen Bogen durch den Himmel, bevor es in das Brunnenbecken stürzte. Durch den Sprühregen roch die sommerliche Luft frisch und feucht.
Die junge, komplett in Weiß gekleidete Frau kniete sich neben den Brunnen, zog einen Handschuh aus und ließ ihre Hand langsam durch das angenehm kühle Wasser gleiten. Unter der welligen Oberfläche konnte sie auf dem Boden alte und verrostete Yen-Münzen erkennen. Wie ein kleines Mädchen spielte sie mit der Hand im Wasser. Es kam ihr fast vor, als würden alle Leiden der Welt in diesem klaren Becken fortgespült werden.
Der Moment der Entspannung währte nicht lange. Hinter ihr schlurfte jemand über den Kies und eine Stimme sagte: »Es wird Zeit, Fräulein Seitenshi.«
»Haben Sie die Aufenthaltsorte des Haupts von Scorpion und des Rings des Salomo ausfindig machen können, Herr Kikunojo?«, fragte Seitenshi, Staatsoberhaupt der Stadtgebiete von Tokyo, ohne sich umzudrehen.
»Wir sind derzeit noch auf der Suche«, antwortete ihr treuer Ratgeber.
»Können wir Herrn Satomi den Auftrag immer noch nicht erteilen?«, wollte Seitenshi wissen.
»Was diese Sache angeht«, sagte der alte Mann, »bin ich grundsätzlich dagegen, diesem Halunken die Aufgabe zukommen zu lassen.« Wütend zog er seine Augenbrauen zusammen.
Seitenshi stand auf und wandte sich zu dem großen Mann mit dem weißen Bart um. »Wäre es taktlos von mir, zu fragen, welchen Grund Sie dafür haben?«
»Dieser Kerl ist ein einfacher privater Wachmann. Sie verlassen sich ohnehin schon zu sehr auf seine Dienste.«
»Bestehen wirklich keine Zweifel, dass Helfer von Andrei Litvintsev in die Stadtgebiete von Tokyo eingedrungen sind?«, wollte Seitenshi wissen.
»Daran besteht kein Zweifel. Wahrscheinlich sind es sogar einige.«
»Zuerst steht aber diese Konferenz auf dem Plan.«
Kikunojo nickte wortlos.
»Übertreiben Sie es bitte nicht.« Seitenshi schloss kurz die Augen und öffnete sie dann mit neu gefasster Zuversicht. »Lassen Sie uns gehen.«
Neben Kikunojo lief sie über einige Steinplatten. Hinter einem fein gemähten Rasen und akkurat geschnittenen Bäumen erhob sich eine gewaltige Mauer aus strömendem Wasser. Als sie sich direkt davorstellte, teilte sich das Wasser und ein Durchgang kam zum Vorschein. Unscheinbare Sensoren hatten die Gebieterin wahrgenommen und den Motoren den Befehl erteilt, den Weg frei zu machen.
Als Nächstes durchschritten die beiden eine Gartenlaube. Als Seitenshi auf der anderen Seite des künstlichen Wasserfalls herauskam, wurde sie von einem plötzlichen Windstoß überrascht, sodass sie ihren Hut festhalten musste. Der Wind wehte durch das flache Gras und man konnte hören, wie er hier und da Blätter mitriss.
Seitenshi blickte unter ihrem Hut hervor. Es war kein einziges Wölkchen am Himmel zu sehen. Stattdessen ragte vor ihr nun der alte Palast Akasaka in das strahlende Blau. Er war seit dem Gastrea-Krieg um mehrere Abschnitte erweitert worden, aber das leicht gräuliche Weiß der Granitmauern und die Symmetrie des Gebäudes hatten sich nicht verändert.
Das Staatsoberhaupt schritt an den schwarz gekleideten Wachen vorbei, die um den gesamten Palast herum positioniert waren. Das Gebäudeinnere erinnerte Seitenshi in seiner Pracht und Schönheit an ihren eigenen Palast. Eine Wache führte sie und ihren Angestellten zu einer großen Tür, über der ›Raum des weißen Phönix‹stand.
»Dies ist der Moment der Wahrheit«, erinnerte Kikunojo sie.
»Die nächsten Ereignisse werden also die Zukunft Tokyos bestimmen«, murmelte Seitenshi. Sie legte ihre in den Seidenhandschuhen schweißnassen Hände auf die Brust und konnte spüren, wie ihr Herz raste. Mach jetzt keinen Fehler, sagte sie zu sich selbst. Du musst besonders aufpassen, weil das alles ausgemachte Schlitzohren sind, die jeden deiner Fehltritte ausnutzen würden.
Sie atmete noch einmal tief durch. Dann drückte sie die große Tür auf, die sich mit einem lauten Knarren öffnete.
Als sie eintrat, verstummten sofort die Stimmen im Raum. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Da sie sich darauf vorbereitet hatte, konnte sie unerschrocken weitergehen.
Das Innere des Raumes war nach dem Vorbild französischer Gebäude aus dem 18. Jahrhundert eingerichtet und strahlte eine fast unangenehme Stille aus. An der Decke befand sich ein beeindruckendes Deckengemälde, in die Vorhänge waren Goldfäden eingearbeitet. Der ganze Raum war in grauweißen und goldenen Farben geschmückt. Über ihnen hing ein gewaltiger Kronleuchter, der bestimmt über 800 Kilo schwer war und den Raum leicht erhellte.
Kikunojo zog an einem großen Tisch einen Stuhl zurück, auf den Seitenshi sich langsam setzte.
»Mussten Sie sich etwa so lange frisch machen, Fräulein Seitenshi?«, fragte eine Stimme aus der Dunkelheit, die sich darüber lustig zu machen schien, dass die Frau als Letzte erschien.
Wut stieg in ihr auf. Aber sie musste ihre Gegenüber wie Gäste behandeln. Deshalb bemühte sie sich weiterhin um Freundlichkeit. »Es tut mir sehr leid, dass ich mich verspätet habe, Präsident Saitake. Fahren Sie bitte fort.«
Sogen Saitake, Staatsoberhaupt der Stadtgebiete von Osaka, trug wie immer eine löwenartige Mähne. Er schaute kurz auf, dann schnaubte er laut.
Seitenshi sah sich die anderen Anwesenden am Tisch an: alles prominente Gestalten, allesamt viel älter als sie. Sie konnte einen leichten Seufzer nicht unterdrücken. Um sie herum saßen die Staatsoberhäupter von Osaka, Sendai, Hakata und Hokkaido. Sie war auf einem Spitzentreffen der Staatsoberhäupter der fünf Gebiete Japans. Dies war gleichzeitig das erste Treffen dieser Art in der Geschichte. Es war noch nicht abzusehen, ob sich daraus vielleicht so etwas wie ein japanisches G5-Treffen entwickeln könnte. Fest stand hingegen, dass die Hauptverantwortung dafür bei Tokyo lag, das für das erste Treffen die Präsidentschaftsrolle übernahm.
»Jedenfalls geht es um das Problem mit der japanischen Flagge!« Einer der Männer war aufgesprungen und hatte auf den Tisch geschlagen.
Wenn sich Seitenshi recht erinnerte, kam er aus Hakata und hieß … »Können Sie mir erklären, was Sie damit meinen, Premierminister Kaihoko?«
Masamori Kaihoko hatte braun gebrannte Haut und einen breiten Unterkiefer. Seine Haare waren schon zur Hälfte ergraut. Die dicken Augenbrauen waren sein Markenzeichen. »Unsere Flagge ist zurzeit die Hinomaru«, empörte er sich. »Aber der rote Kreis erinnert zu sehr an die knallroten Augen der Gastrea und beunruhigt somit die Bürger meines Gebiets. Ich bin deswegen der Meinung, dass man ihn gelb färben sollte. Meinetwegen auch eine andere Farbe.«
»Wie wäre es mit einem schwarzen Kreis? Unser Land ist bekannt als Ballaniumhersteller, daher wäre ein schwarzer Kreis doch passend«, meinte ein weiterer Mann am Tisch. Es war der neue Premierminister von Hokkaido, der erst vor Kurzem diesen Posten übernommen hatte. Er spielte mit seinem schwarzen Monokel, während er sich gleichzeitig durch den Bart strich. Sein längliches Gesicht erinnerte an eine Gottesanbeterin.
Nun mischte Seitenshi sich ein. »Premierminister Jusoji, es gibt einen Grund dafür, dass unsere Vorfahren diese Flagge verteidigt haben. Wir sollten die Traditionen nicht vergessen und in Ruhe darüber nachdenken.«
»Sollen wir dafür etwa die Gefühle und Ängste unserer Bürger außer Acht lassen?«, fragte Kaihoko.
»Wenn ich mich recht erinnere, steht bei Ihnen die nächste Wahl kurz bevor, Premierminister Kaihoko«, sagte Seitenshi. »Aber wenn man sich solch populistischen Meinungen hingibt, dann wird die eigene Politik konfus und komplett unberechenbar. Schließlich steht hierbei das Ansehen des ganzen Landes auf dem Spiel.«
Der Chef der Stadtgebiete von Hakata öffnete den Mund, schloss ihn dann aber schnell wieder. Seine Augenbrauen zuckten wütend. Er grummelte leise: »Was sind Sie für eine Göre.«
Seitenshi ließ sich von dieser Beleidigung nicht einschüchtern und erwiderte ruhig: »Es freut mich, dass Sie meinen Standpunkt verstanden haben.«
Es konnte also klappen! Sie war tatsächlich in der Lage, auf Augenhöhe gegen diese älteren Politiker zu kämpfen.
Im nächsten Moment hob Saitake seinen Arm und sagte mit tiefer Stimme: »Dann bin ich jetzt dran. Es geht um das Kassiopeia-Projekt …«
Jetzt geht es los, dachte Seitenshi und unterbrach schnell: »Was das Projekt angeht, würde ich es gern so schnell wie möglich in die Tat umsetzen.«
Beim Kassiopeia-Projekt sollten mithilfe des Schildvortriebsverfahrens Tunnel gebohrt werden, um die fünf Gebiete von Tokyo durch Bahnstrecken zu verbinden. Es war ein Kernstück von Seitenshis Politik und gleichzeitig ein persönlicher Wunschtraum von ihr. Sie würde fast alles dafür geben, das Projekt umzusetzen.
Seitenshi blickte ihre Gegenüber nacheinander an und erklärte: »Eine Bahnverbindung würde nicht nur unsere Wirtschaft beflügeln, sondern wäre auch ein Zeichen der Einheit und ein Symbol dafür, dass wir uns von den Angriffen der Gastrea nicht kleinkriegen lassen, was den Einwohnern unserer Gebiete neuen Mut geben sollte.«
»Ich bin dagegen«, warf einer der Männer ein. Die Stimme bewirkte, dass sich Seitenshis Nackenhaare aufstellten. Es war fast nur ein Murmeln gewesen, das der bisher schweigsame Premierminister der Stadtgebiete von Sendai da von sich gegeben hatte. Er hatte schneeweiße Haare und Augenbrauen, aber sein Kopf war oberhalb der Ohren schon kahl geworden. Das breite Gesicht und die kleinen Augen ließen ihn wie einen Gorilla aussehen, der nun argwöhnisch in ihre Richtung sah.
Ungewollt streckte Seitenshi ihren Hals nach vorn. Sie war von gefährlichen Personen umgeben: Sogen Saitake stand immer noch unter Verdacht, hinter dem Attentatsversuch auf sie zu stecken. Masamori Kaihoko wirkte zwar nicht so angriffslustig wie Saitake, ging aber dennoch ungemein aggressiv vor. Tsukihiko Jusoji war gerade erst Staatsoberhaupt geworden und deswegen ein unbeschriebenes Blatt. Vor allem aber bereitete ihr ein Mann Sorgen: Muramaro Ino, Premierminister der Stadtgebiete von Sendai.
Ino fuhr wichtigtuerisch fort: »Ich halte das nicht für realistisch. Was denken Sie denn, wie lange es dauern und vor allem, wie viel Geld das Projekt kosten würde? Sie haben gut reden, aber wir anderen wären bei der Einweihungsfeier bestimmt schon senile Tattergreise.« Wahrscheinlich sollte der letzte Satz ein Witz sein, aber aufgrund der angespannten Stimmung verzog keiner der Anwesenden auch nur die Miene.
»Ich weiß nicht, wie gut Sie informiert sind, Premierminister Ino«, sagte Seitenshi, »aber unsere Technologie hat in den letzten Jahren gewaltige Fortschritte gemacht. Wenn die Bohrungen aus beiden Richtungen von Tokyo und Sendai aus starten, sollten wir schon bald zwei Gebiete von Japan verbunden haben.«
»Hm… Aber dennoch …« Ino machte eine übertrieben abweisende Geste und schien nicht von seiner Meinung abzubringen zu sein.
Würden die fünf Gebiete mit einem Schienennetz verbunden werden, sollte das die Transportkosten enorm senken. Profitieren würden Hokkaido mit seinen landwirtschaftlichen Erzeugnissen, das hoch industrialisierte Osaka und natürlich Tokyo, weltweit führend in Abbau und Veredelung von Ballanium. Diese Stadtgebiete könnten so ihre Waren leichter in andere Gebiete schicken. Auch Landwirtschaft und Industrie von Sendai würden profitieren, aber Ino schien an der Denkweise festzuhalten, dass die eigene Unabhängigkeit auf Dauer wichtiger war als ein kurzzeitiges Wirtschaftswachstum.
Seitenshi konnte sich einige zynische Gedanken nicht verkneifen. Vor zehn Jahren war Japan noch ein geeintes Land gewesen – aber im Jahr 2031 war von diesem Zusammengehörigkeitsgefühl so gut wie nichts mehr übrig. Dennoch wollte sie in ihrer Regierungszeit erreichen, dass die fünf Gebiete irgendwie wieder zusammenfanden und Japan sich erneut vereinigte. Leider bestand die größte Hürde auf dem Weg zur Verwirklichung ihres Traums wahrscheinlich nicht nur aus den feindlichen Gastrea.
Schließlich lief es ganz nach Inos Plan. Es kam nicht einmal zu einer Abstimmung über das Kassiopeia-Projekt. Stattdessen wurde das erst einmal verschoben. Es war von vornherein klar gewesen, dass nicht alle Angelegenheiten auf diesem ersten Treffen würden geklärt werden können – aber wer sollte darüber entscheiden, wenn nicht die hier Anwesenden?!
Nachdem Themen wie Makroökonomie, Energieprobleme und Klimaerwärmung abgehakt waren, neigte die Konferenz sich langsam dem Ende zu, als Ino, der wieder lange Zeit still gewesen war, sagte: »Übrigens …« Anscheinend hatte er auf diesen eher ruhigeren Moment gewartet. »Fräulein Seitenshi, in den Stadtgebieten von Tokyo soll es etwas mit dem Namen ›Erbe des Siebengestirns‹ geben.«
Seitenshi riss die Augen weit auf und warf einen schnellen Blick zu Kikunojo, der direkt neben ihr stand. »Woher haben Sie diese Information?«
Ino lächelte kalt. »Meine Region beschäftigt natürlich auch einen Geheimdienst. Ich halte es eigentlich für Unsinn, aber meine Informanten sagen mir, dass die Stadtgebiete von Tokyo einen mysteriösen Gegenstand, das sogenannte Erbe des Siebengestirns, besitzen. Ich habe auch gehört, dass man damit Gastrea im Stadium V und somit Zodiac-Gastrea rufen können soll. Könnte diese Geschichte etwa wahr sein?«
»Darauf kann ich nicht antworten«, erwiderte Seitenshi schroff.
Inos Augen glühten. »Was soll das heißen? Wenn es Unsinn ist, dann sagen Sie es mir ruhig, damit ich darüber lachen kann.«
»Ich kann dazu wirklich nichts sagen«, wiederholte Seitenshi.
»Ach! Dafür, dass Sie so von der Einheit der fünf Gebiete Japans schwärmen, haben Sie aber erstaunlich viele Geheimnisse vor uns.« Ino blickte sie vorwurfsvoll an.
Seitenshi zögerte. Sie hatte das ungute Gefühl, dass sich dieses Gespräch schnell in ein Verhör verwandeln konnte. »Es tut mir sehr leid, aber ich kann keine Staatsgeheimnisse Tokyos verraten«, beendete sie die Unterhaltung barsch. Dennoch war sie innerlich unruhig. Aber sie konnte in diesem Fall keine Rücksicht darauf nehmen, dass das Thema alle Anwesenden beunruhigt hatte.
Schließlich endete die Konferenz, ohne dass Ino weitere Informationen aus ihr hatte herausholen können. Doch diese kleine Unstimmigkeit zwischen den beiden Staatsoberhäuptern sollte einige Tage später zu einer großen Angelegenheit werden, die die Welt erschütterte.
»Weiterarbeiten! Sofort zurück auf den Posten!«, hallten die Schreie des Aufsehers durch die Minenschächte.
Sofort nahm der Arbeiter seinen Steinbohrer wieder in die Hand und positionierte ihn auf dem Boden. Beim Drücken des Gashebels bebte die Erde. Man konnte genau hören, wie das Gestein unter dem Bohrer zerbarst. Andere Arbeiter schlugen unaufhörlich mit ihren Meißeln aus Ballanium gegen die Wände. Durch den Krach wurde dem Arbeiter schwindelig und er musste eins seiner Augen zupressen. Dank der hohen Temperatur und Luftfeuchtigkeit war das Arbeiten in der Mine sehr unangenehm. Immer wieder wischte er sich den Schweiß von der Stirn.
Er schaute sich im schwachen Licht der Glühbirnen um. Die anderen Minenarbeiter waren genauso gekleidet wie er. Immer wieder warfen sie kleinere und größere Gesteinsbrocken auf das Förderband. Tief im Schacht verlor man schnell jegliches Zeitgefühl dafür, ob über einem gerade die Sonne schien oder es finstere Nacht war.
Hitoshi Kamisu kam sich fast vor, als würde er sich in einem von Menschen angelegten Bodentrichter eines Ameisenlöwen* befinden. Mit seinen Kollegen hielt er sich in einer Ballaniummine auf, außerhalb der Monolithenmauern im unbetretbaren Gebiet. 2021, vor dem Ausbruch des Gastrea-Krieges, hatte Hitoshi noch als Kosmetikimporteur gearbeitet, aber aufgrund des Krieges seinen Job verloren. Da es seitdem überall Gastrea gab, mussten selbst Transportflugzeuge gesetzlich von Kampfmaschinen privater Sicherheitsdienste vor Vogel- und Insekten-Gastrea beschützt werden. Infolgedessen war das komplette Importgewerbe zusammengebrochen, da die Kosten-Nutzen-Rechnung in den meisten Fällen einfach nicht mehr aufging. Die Kosmetikbranche war da keine Ausnahme gewesen.
Hitoshi erinnerte sich daran, wie sein Lehrer in der Schulzeit immer gesagt hatte, dass in dieser Welt nicht die stärksten oder schlausten Lebewesen überleben würden, sondern die, die sich am besten ihren Umständen anpassen könnten. Wenn er sich recht erinnerte, beruhte diese Theorie auf Darwin. In diesem Sinne hatte sich durch den Gastrea-Krieg plötzlich sein ganzes Leben verändert, aber er hatte es dennoch nicht geschafft, sich entsprechend anzupassen. Eigentlich hatte er ausreichend Ersparnisse gehabt, um einen Neuanfang zu wagen. Doch er hatte sich lange gefragt, was er machen sollte. Und bevor er sich versah, hatte er statt einer neuen Herausforderung nach zehn Jahren des Abwartens ungewollt den kompletten Ruin gewählt. Nachdem er sich Geld von einem Geldverleiher der Yakuza geliehen hatte, das er nicht zurückzahlen konnte, wurde er verschleppt und fand sich kurz darauf in seinem neuen Leben als Minenarbeiter wieder.
Seine Arbeit hatte zwar keine Aussicht auf eine strahlende Zukunft, war aber dafür sehr simpel. Mit dem Fahrstuhl, der eigentlich kaum mehr als ein großer Korb war, fuhr er ins dritte Stockwerk unter der Erde, wo er in der engen Dunkelheit arbeiten musste.
Irgendwie konnte er den Metallträgern immer noch nicht vertrauen, die die Minenschächte vom Einstürzen abhielten. Seine Kollegen hatten ihm zwar gesagt, dass ein Einsturz so gut wie nie vorkäme, aber da er sich hier in einem illegalen Bau einer Yakuza-Organisation befand, wusste er natürlich nicht, wie sehr hier moderne Technik zum Einsatz kam.
Jeden Morgen wurde er aus dem Bett geschmissen und musste nach einem kurzen, geschmacklosen Frühstück bis zum Abend schuften, bevor er müde auf seine Schlafmatte fiel. Schon bei der Ankunft waren ihm Uhr und Handy abgenommen worden, auf denen er die Zeit hätte nachschauen können, weswegen er sich auf sein inneres Zeitgefühl verlassen musste. Derzeit sagte ihm sein Bauch, dass es zwischen 13 und 14 Uhr sein musste.
Besonders deprimierend an der Arbeit war, dass man für eine einzige Feinunze Ballanium, also ungefähr 31 Gramm, ganze 100 Kilo Gestein abbauen musste. Zudem kam es häufiger vor, dass er mitten in der Nacht im Bett hochfuhr, weil er draußen das Grollen eines wilden Gastrea hörte. Zwar bewachten private Sicherheitsdienste die Mine rund um die Uhr – aber gleich und gleich gesellt sich gern, und deswegen waren die Wachleute, die von den Yakuza angeheuert wurden, meistens auch keine besonders netten Kerle. Manchmal bestand ihre Aufgabe mehr darin, die Arbeiter von der Flucht abzuhalten, als wilde Gastrea abzuwehren. Außerdem hatten alle in der Mine längst begriffen, dass die Wachleute nur wegen des Geldes hier waren. Würde wirklich ein mächtiger Gastrea auftauchen, würden die Beschützer wahrscheinlich eher ihre eigene Haut als das Leben der Minenarbeiter retten.
»He! Wie oft muss ich dir das noch sagen? Weiterarbeiten!«, schimpfte der Aufseher.
Hitoshi schnalzte leise mit der Zunge und machte sich wieder an die Arbeit.
Doch im nächsten Moment gab es ein dumpfes Donnern, das die Erde erschütterte. Die Lampen an der Decke flackerten und Staub regnete herab. Hitoshi dachte gerade, dass irgendwo in der Mine eine Sprengladung gezündet worden sein musste, als schon ein erneutes Donnern den Schacht zum Beben brachte und weitere Brocken von der Decke fielen. Langsam breitete sich Aufregung unter den Arbeitern aus. Kalter Schweiß bildete sich auf Hitoshis Stirn. Sein Herz raste. Er hatte ein ganz ungutes Gefühl.
Das Donnern hielt an und wurde immer lauter. Das siebte Krachen fühlte sich wie ein heftiges Erdbeben an. Hitoshi konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und stieß sich beim Sturz die Hüfte. Das Geräusch schien sich weiter zu nähern. Es war fast so, als wären es …
»Sind das etwa Schritte?«, rief plötzlich jemand verunsichert. Diese Unsicherheit breitete sich rasend schnell unter den anderen Arbeitern aus, die kurz darauf komplett von Panik übermannt wurden. »Flieht!«, schrie ein weiterer Arbeiter – aber die Gruppe hatte sich längst in Bewegung gesetzt.
Trotz des Gekreisches des Aufsehers, die Arbeiter sollten sofort an ihre Plätze zurückkehren, konnte er sich gegen die aufgewühlte Welle aus Menschen nicht wehren, die über ihn hinwegrollte. Der kleine Aufzug quoll von Fahrgästen über. Hitoshi schaffte es gerade noch, sich mit hineinzuqueschen. Die Kette quietschte, während sie den Korb langsam nach oben zog. Die Angst, die Decke könnte im nächsten Moment einstürzen, ließ selbst die tapfers-ten Männer in der Mine zu Angsthasen werden, die nur noch diesem Schicksal entkommen wollten.
Was ist das?, fragte Hitoshi sich panisch. Was genau geht hier vor sich?
Endlich erreichte der Aufzug die Oberfläche. Wild riss der Mob die Absperrwand zur Seite und kletterte aus dem Fenster des kleinen Turms, in dem der Aufzug über Kurbeln nach oben gezogen wurde.
Hitoshi wurde vom grellen Sonnenlicht geblendet und stöhnte auf. Anscheinend hatte sein Bauchgefühl recht gehabt: Es war Mittagszeit. Doch im nächsten Augenblick wurde die Sonne verdeckt und es war dunkel. Was war das?! Er schaute hoch zum Himmel.
Und da war es. So gewaltig groß, dass Hitoshi es kaum einordnen konnte.