Black Bullet – Light Novel, Band 6 - Saki Ukai - E-Book

Black Bullet – Light Novel, Band 6 E-Book

Saki Ukai

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Beschreibung

Seit Rentaro der Mord an seinem Schulfreund angehängt wird, ist er auf der Flucht. Gemeinsam mit Hotaru, der Initiatorin seines Freundes, versucht er, die wahren Täter aufzudecken. Bei ihren Nachforschungen stoßen sie auf eine Gastrea-Leiche mit einem merwürdigen Zeichen. Dieses Zeichen führt sie direkt zu einer Organisation, die nichts weniger im Sinn hat, als die Weltherrschaft zu erlangen ...

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Um eine Welt in einem Sandkorn zu sehn

Und einen Himmel in einer wilden Blume,

Halte die Unendlichkeit in deiner flachen Hand

Und die Ewigkeit in einer Stunde.

– William Blake

1

Atsuro Hitsuma, Polizeikommissar im Präsidium, kam ins Verhörzimmer. Er war spät dran.

Shigetoku Tadashima, ein kompakt gebauter Polizeihauptmeister mittleren Alters von der Polizei in Magata, war die Unzulänglichkeiten seines Vorgesetzten langsam satt. Dennoch verbeugte er sich kurz.

»Wie sieht es aus?«, fragte Hitsuma, während er sich langsam mit dem Mittelfinger die silberfarbene Brille hochschob.

»Am besten sehen Sie es sich selbst an, Herr Hitsuma.«

Im benachbarten Verhörzimmer hinter dem Einwegspiegel saß ein etwas älterer Mann, der gerade verhört wurde. Seine Wangen waren von der Sonne dunkel gebräunt, seine Haare schon zur Hälfte ergraut. Seine Augen schienen in dem aufgedunsenen Gesicht zu versinken. Die vielen Jahre als Kommissar hatten Hitsuma gelehrt, den Charakter einer Person direkt vom Gesicht abzulesen. Auf den ersten Blick sah dieser Mann aus, als hätte er es faustdick hinter den Ohren. »Wer ist das?«, fragte Hitsuma.

»Das ist Yuki Iwama. 56 Jahre alt. Taxifahrer«, erklärte Tadashima. »Laut Augenzeugenberichten hat er zwei Personen vom Tatort in seinem Taxi mitgenommen, die wie Rentaro Satomi und Hotaru Koro aussahen. Aber auf unsere Nachfragen hat er nur behauptet, dass er sich nicht an die beiden erinnern würde.«

Hitsuma wunderte sich. »Müsste er als Taxifahrer nicht ein Fahrtenbuch führen, in dem steht, wo und wann er mit seinem Taxi unterwegs war?«

»Eigentlich schon«, stimmte Tadashima zu. »Aber die Taxifirma, für die er arbeitet, wirbt damit, den niedrigsten Preis im ganzen Raum Tokyo anzubieten. Aus diesem Grund sind sie gezwungen, tief greifende Sparmaßnahmen durchzuführen.«

»Was sagt Ihnen Ihr Gefühl, Herr Tadashima?«, fragte der Vorgesetzte.

»Wahrscheinlich schuldig«, antwortete Tadashima knapp.

Hitsuma verschränkte die Arme. »Das können wir aber leider offenbar nicht aus ihm herauskitzeln.«

»Was ist mit dem Zeugen?«, warf Tadashima ein. »Iwama wurde doch am Tatort gesehen, oder?«

»Ja, schon. Aber leider nur flüchtig«, sagte Hitsuma. In seiner Stimme lag Zweifel. Und noch etwas anderes.

Tadashima war als einer der Ersten am Tatort gewesen. Das Wohnhaus, in dem die Gastrea-Pathologin Ayame Surumi gewohnt hatte, ähnelte wahrhaftig den alten Zeichnungen der buddhistischen Höllen. Die Überlebenden berichteten, dass sie von zwei »Reifenmonstern« angegriffen worden waren. Kurz darauf hatten die Einsatzkräfte auch schon zwei reifenartige Maschinen gefunden, auf die diese Beschreibung zutraf. Bei beiden war der Motor zerstört worden.

Die Bilder der zerstückelten Leichen hatten sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Er schüttelte den Kopf, um die Erinnerung abzuschütteln. »Die Pathologin, die Rentaro Satomi dort besucht hat, wurde in ihrem Bad ermordet«, sagte er. »Da sie zu dem Zeitpunkt offenbar schon eine Weile tot war, kommen die beiden als Täter nicht infrage. Jemand anderes muss der Mörder sein. Kurz darauf haben wohl auch schon diese seltsamen Geräte begonnen, die Bewohner niederzumetzeln. Wieder einmal scheint Rentaro Satomi es gewesen zu sein, der die Anwohner gerettet hat. Vor allem aber der Fahrstuhl stellt uns vor weitere Fragen. Die Kabel wurden durchtrennt, weswegen die Kabine ins zweite Untergeschoss gestürzt ist. In ihr haben wir eine Leiche gefunden. Der Leichnam war schwer beschädigt, aber in ihm wurden mehrere Maschinen entdeckt. Verdammt. Ich werde noch wahnsinnig. Warum tauchen immer dort Leichen auf, wo Rentaro Satomi sich aufhält?«

»Haben Sie denn dafür keine Erklärung, Herr Tadashima?« Hitsuma musterte ihn kühl.

Obwohl der Polizist sich von der Kälte im Blick seines Vorgesetzten irgendwie bedroht fühlte, versuchte er, vorsichtig seine Gedanken zu ordnen: »Wahrscheinlich gibt es außer uns noch irgendeine Organisation, die diese beiden aufzuhalten versucht. Aber für mich bleibt unverständlich, was Rentaro Satomi überhaupt vorhat. Sie haben einen Arzt namens Kakujo besucht und sich dort als Verwandte der Toten ausgegeben, was nur den Schluss zulässt, dass sie mit einem genauen Plan bei ihm aufgetaucht sind. Vielleicht versuchen sie sogar, irgendwie Beweise für Rentaros Unschuld zu sammeln. Aber wie steht das im Zusammenhang mit dem Mord an einem privaten Wachmann?«

Hitsuma sagte nichts.

Das Schweigen verunsicherte Tadashima nur noch mehr. Er schlug vorsichtig vor: »Eventuell sollten wir eine öffentliche Untersuchung einleiten.«

»Das können wir leider nicht«, wies Hitsuma den Vorschlag wie einen schlechten Scherz zurück. »Wir haben nach dem Vorfall im Magata Plaza Hotel bekannt gegeben, dass Rentaro Satomi in den Fluss gestürzt und dabei ums Leben gekommen ist. Wenn herauskäme, dass er stattdessen fröhlich durch die Stadtgebiete von Tokyo spaziert und uns zum Narren hält, würde die Polizei von Tokyo zum Gespött des ganzen Gebiets werden. Wir müssen ihn heimlich einfangen und dann so tun, als hätten wir ihn aus dem Fluss gefischt.«

Tadashima runzelte die Stirn. Doch Hitsuma bemerkte den Zweifel seines Kollegen nicht – er starrte durch den Einwegspiegel, hinter dem der Verdächtige weiter verhört wurde. »Es könnte alles so einfach sein … Wenn dieser Taxifahrer einfach alles ausplaudern würde«, murmelte er in scheinbar gelangweiltem Tonfall. Doch irgendwie lag etwas Unheilvolles in seiner Stimme.

Erst gegen zwei Uhr nachts ließ die Polizei ihn gehen. Als Yuki Iwama durch den Vordereingang des Reviers hinauslief, strich die feuchtheiße Nachtluft ihm unangenehm übers Gesicht. Jetzt steckte er wirklich in Schwierigkeiten! Er setzte sich in sein Taxi und drehte den Zündschlüssel um. Der wachhabende Polizist hatte gesagt, dass sie ihn erneut befragen würden, sobald sie mehr Informationen gesammelt hätten. Höchstwahrscheinlich würden sie auch Kontakt zu seinem Arbeitgeber aufnehmen.

Yuki war komplett erschöpft und nicht in der Stimmung, weiterzuarbeiten, weswegen er direkt nach Hause fuhr. Zu dieser Uhrzeit bestand die Chance, dass seine Frau noch wach war. Er hatte ihr eine E-Mail geschickt, aber bisher keine Antwort erhalten. Eigentlich war er deshalb sogar ein wenig erleichtert. Zweifelsohne würde sie ihn mit Fragen löchern, sobald sie erfuhr, dass er von der Polizei zum Verhör festgenommen worden war. Dennoch durfte er seiner Liebsten auf keinen Fall verraten, was für Gäste er durch Tokyo gefahren hatte.

Endlich erreichte er sein Haus, das in einem stillen Wohngebiet Tokyos lag. Überrascht stellte er fest, dass im Innern Licht brannte. Leicht besorgt parkte er das Auto auf dem Stellplatz und ging zum Gartentor. Auf dem Gras stand noch der Rasenmäher, der anscheinend nicht weggeräumt worden war. Das war besonders verwunderlich, da seine Frau sonst so ordentlich war, dass sie nicht einmal im Haus Gegenstände unaufgeräumt liegen ließ.

Die Haustür war nicht abgeschlossen. Yuki drückte den Türgriff runter und zog die Tür auf, die dabei laut quietschte. Im Eingangsbereich lagen Schuhe verstreut und es gab eine Dreckspur, als wäre etwas Schweres ins Haus gezogen worden. Es wirkte fast, als wäre seine Frau bei der Gartenarbeit niedergeschlagen und danach von dem Angreifer ins Haus gezerrt worden … Yuki wurde ganz unbehaglich zumute bei den düsteren, paranoiden Gedanken, die ihm plötzlich durch den Kopf gingen. Er streckte schnell eine Hand durch die Vordertür wieder nach draußen und drückte zweimal auf die Klingel. Sofort schallte es laut durchs Haus. Keine Reaktion.

Dann hörte er ein dumpfes Geräusch aus dem hell erleuchteten Wohnzimmer hinter dem Flur. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und sein Atem ging stoßweise. Yuki hatte nun keinen Zweifel mehr daran, dass hier etwas nicht in Ordnung war. Er kippte schnell die Blumen samt Wasser aus der Vase im Flur, um sie als Schlagwaffe mitzunehmen. Die Schuhe behielt er an und schritt langsam über den Holzfußboden.

Als er sich dem Wohnzimmer näherte, begriff er, was sich hinter dem Geräusch verbarg: Es war das Stöhnen einer gefesselten Person. Yuki fasste sich vor dem Wohnzimmer ein Herz und sprang in den hellen Raum.

Augenblicklich blieb er wie angewurzelt stehen. »Izuho!«, rief er.

Auf dem Wohnzimmerboden lag seine Frau. Arme und Beine waren mit Klebeband gefesselt und in ihrem Mund steckte ein Knebel. Wie ein Paket verschnürt versuchte sie verzweifelt, ihm etwas zuzurufen.

Er machte aufgeregt einen Schritt auf sie zu – als jemand von hinten seinen Arm packte und diesen hinter seinem Rücken verdrehte. Gleichzeitig spürte er, wie etwas seine Kehle Nacken gepresst wurde. Es war kalt und scharf. Höchstwahrscheinlich war das ein Messer.

»Nicht umdrehen«, ermahnte ihn eine tiefe Männerstimme.

Yuki verkrampfte am ganzen Körper. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Ein Raubüberfall, dachte er kurz, dann fragte er: »We… Wer sind Sie und was wollen Sie?«

Die Stimme in seinem Rücken antwortete gelassen: »Das kann ich dir gern verraten, aber dann müsste ich dich und diese Frau danach leider umbringen. Ich möchte von dir nur eine Sache wissen: Wo genau hast du Rentaro Satomi und Hotaru Koro abgesetzt?«

Das ist kein Raubüberfall, war sich Yuki jetzt sicher. Der Kerl ist auf der Jagd nach diesem Wachdienstpaar! Er machte dennoch keine Anstalten, auf die Frage zu antworten.

»Du allein darfst über deine Zukunft entscheiden«, fuhr der Mann fort. »Entweder du verrätst mir, wo die beiden geblieben sind – oder ich werde es gewaltsam aus dir herausholen.«

»Gewaltsam?«, stammelte Yuki.

»Ich fange mit den Fingernägeln an«, erklärte der Fremde. »Zusammen mit den Fußnägeln sind das 20 Stück. Und zwar rede ich hier nicht von deinen, sondern von denen der Frau. Wenn ich damit fertig bin, gehe ich zu den Fingern über. Du kannst frei entscheiden, wann du bereit bist, mir etwas zu erzählen.«

Yuki ließ die Vase aus seinen Fingern gleiten, die im nächsten Moment krachend auf dem Boden zersprang. Obwohl sich die Klinge leicht in seine Kehle bohrte, schüttelte er den Kopf. Unter Tränen wimmerte er: »Hö… Hören Sie bitte auf. Nur das nicht.«

»Na, dann weißt du ja, was du zu tun hast, oder?«, fragte der Mann.

Yuki entschuldigte sich in Gedanken leise bei Rentaro: Es tut mir wirklich leid. Aber ich kann nicht anders. Dann verriet er: »16. Bezirk von Tokyo. Das illegale Wohngebiet in Nagatoro.«

»Vielen Dank«, flüsterte die Stimme ihm ins Ohr.

Einen Augenblick später verschwand der Druck an Yuris Kehle. Nach einem kurzen Moment drehte er sich langsam um.

Von dem Eindringling war nichts mehr zu sehen. Wir sind gerettet!, ging ihm durch den Kopf, als er auch schon erschöpft auf seine Knie sank.

Eine weitere Untersuchungsbesprechung im Magata-Polizeirevier ging zu Ende. Hitsuma aß gerade sein wenig schmackhaftes Bento*, das die Mitarbeiter nach der Sitzung bekommen hatten, als sein Telefon klingelte. Er sah den Namen des Anrufers auf dem Display, stand auf und ging in eine Ecke, wo er ungestört reden konnte. Dann nahm er das Gespräch an: »Swordtail? Warum rufst du nicht Nest, sondern direkt mich an? Ist es wirklich so wichtig?«

»Der Taxifahrer hat mir verraten, wo er die beiden rausgelassen hat«, sagte die tiefe Stimme am anderen Ende. »16. Bezirk von Tokyo. Im illegalen Wohngebiet in Nagatoro.«

»Gut gemacht«, sagte Hitsuma. »Ich werde sofort Maßnahmen einleiten. War das alles?«

Einen Augenblick antwortete Swordtail nicht. Es klang fast so, als würde er sich auf die Lippen beißen. Dann presste er hervor: »Stimmt es wirklich, dass Hummingbird von den beiden erledigt wurde?«

»Ja«, antwortete Hitsuma knapp.

»Tja, bei ihrem Charakter kann ich mir das schon irgendwie vorstellen. Pah, ich habe mir eh gewünscht, dass ich mehr Aufträge bekomme. Daher kommt mir ihr Tod sehr gelegen.«

»Pass auf«, ermahnte Hitsuma ihn. »Diese Gegner sind mit normalen Mitteln nicht zu bezwingen.«

»Verstanden«, antwortete Swordtail und trennte die Verbindung.

Hitsuma starrte nach dem Gespräch noch einige Zeit auf den Handybildschirm. Wenn das nichts wird, muss Swordtail ran. Ich hatte eigentlich nicht vor, ihn gegen so jemanden wie Rentaro Satomi einzusetzen, aber er würde mir die Köpfe der beiden bestimmt auf dem Silbertablett servieren. Schnell hielt Hitsuma sich die Hand vor den Mund, um ein Grinsen zu verbergen. Während er sich umdrehte, konnte er aber ein kurzes Kichern nicht unterdrücken.

2

»Vielen Dank!«, rief die Stimme ihm hinterher.

Rentaro Satomi schob den Ladenvorhang zur Seite und ging mit Hotaru Koro hinaus. Das Straßenlicht am Badehaus war schon erloschen, weswegen es draußen zunächst schrecklich düster wirkte. Aber schnell hatten seine Augen sich an das wenige Licht des nächtlichen Sternenhimmels gewöhnt, das die Straße schwach erleuchtete. Sein Körper war noch ganz warm.

Hotaru schien guter Laune zu sein. Ihre roten Wangen zeugten noch von dem angenehmen Bad. »Ich hab mich gewundert, warum du so plötzlich in ein Badehaus wolltest«, sagte sie. »Aber das war wirklich sehr schön im heißen Wasser.«

Rentaro musste lachen. »Solange es Ihrer Majestät gefallen hat, bin ich glücklich.« Als er so mit ihr scherzend durch die verlassene Straße ging, fühlte er sich den Umständen entsprechend gar nicht mal so schlecht.

Er sah auf die Uhr. Es war schon nach zwei Uhr nachts. Er hatte sein Hemd in der Münzwaschmaschine im Badehaus gewaschen. Jetzt fühlte es sich irgendwie zu klein an. Fast, als wäre er in der kurzen Zeit im Bad plötzlich gewachsen. Hotaru hatte ihr Tanktop mit einem Nähset geflickt und den Blutfleck ausgewaschen. Solange man die Leute nicht mit der Nase drauf stieß, würde niemand den ausgeblichenen Fleck bemerken.

Sieben Stunden waren seit dem erbitterten Kampf gegen Hummingbird vergangen. Natürlich konnte Rentaro sich mit den frischen Verletzungen nicht normal im großen Badebecken entspannen, sich aber dennoch Schweiß und Dreck mit einem Handtuch vom ganzen Körper waschen, während er darauf achtete, nicht von den wenigen anderen Badegästen beobachtet zu werden. Auch außerhalb des Bades kam er nicht zur Ruhe. Zwar hatte er die Schusswunde, die er im Kampf gegen Hummingbird hatte hinnehmen müssen, ausreichend versorgt, aber bei jedem Schritt hatte er Angst, dass sie sich erneut öffnen könnte. Normalerweise hätte er nicht versucht, seine Wunde selbst zu versorgen, sondern wäre direkt in eine Klinik gefahren. Doch als Flüchtiger konnte er dieses Risiko natürlich nicht eingehen.

»Hast du nie mit Suihara zusammen gebadet?«, fragte er seine Begleitung.

Hotaru starrte ihn unbehaglich an. »Warum fragst du mich so was? Bist du etwa … Bist du etwa mit deiner Initiatorin zusammen in eine Badewanne gestiegen?«

Rentaro kratzte sich verlegen am Kopf. »Ähm, sie hat mich damit so lange genervt, dass ich nicht anders konnte. Verdammt. Andere Familien machen so was also gar nicht. Sie hat mich reingelegt.«

Hotaru seufzte und schaute ihn fast mitleidig an. »Rentaro, wirst du nur bei kleinen zehnjährigen Mädchen scharf? Bist du etwa dieser gefürchtete Perversling, der in meiner Nachbarschaft verschrien ist, weil er sich die Höschen von Mädchen über den Kopf stülpt und damit nachts um die Häuser zieht? Vielleicht solltest du dich lieber weniger auffällig verhalten.«

»Moment mal«, protestierte er. »Wie kommst du denn darauf?« Hotaru sah schnell zur Seite. »Und warum schaust du jetzt so verschämt weg?«

Sie verzog nur ihr Gesicht und gab keine Antwort.

Gerade wollte Rentaro nachhaken, als ein Passant an ihnen vorbeiging. Vielleicht war es nur Einbildung, aber Rentaro hatte das Gefühl, als hätte der Fußgänger ihm direkt ins Gesicht geschaut. Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Dann zog er eine Sonnenbrille und zwei Lederhandschuhe aus seiner Tasche, mit denen er seine Augen und die pechschwarze Hand aus Hyperballanium versteckte. Er hatte kurz vorher mit Hotaru beschlossen, dass es besser sei, Gesicht und künstliche Hand zu verbergen.

Am vorherigen Tag waren die beiden erst zum Shidao-Universitätsklinikum und danach zur Wohnung einer Gastrea-Pathologin namens Surumi gegangen. Dort waren sie von Hummingbird angegriffen worden. Zwar wussten sie bisher nicht, wie die Angreiferin sie gerade dort hatte aufspüren können, aber am wahrscheinlichsten war, dass die beiden von irgendeinem Passanten in der Stadt erkannt worden waren. Eine andere Möglichkeit war, dass eine Überwachungskamera sie aufgezeichnet hatte. Ein Überwachungssystem aus unzähligen Kameras in den Gebieten von Tokyo hielt ständig Ausschau nach Hitzemustern, die zu Gastrea passten. Sobald der Suchalgorithmus des Systems eine solche Bedrohung wahrnahm, wurden automatisch alle privaten Sicherheitsdienste per Eilmeldung alarmiert. Würde man dieses Gastrea-Suchprogramm nur leicht abändern und ein spezielles Gesichtserkennungsprogramm einspeisen, wäre es bestimmt möglich, auch Verbrecher oder Flüchtige wie Rentaro ausfindig zu machen. Eine Sonnenbrille sollte dagegen sofortige Abhilfe schaffen. Aber …

»Verdammt! Das ergibt doch keinen Sinn!«, schimpfte Rentaro plötzlich und nahm die Brille genervt wieder ab. Er konnte nicht nur mitten in der Nacht mit der dunklen Sonnenbrille nichts mehr erkennen, sondern sah dadurch auch noch viel verdächtiger aus.

Neben ihm schien das Mädchen der gleichen Meinung zu sein und gab schroff zurück: »Mit deinen schwarzen Klamotten bist du schon auffällig genug.« Hotaru verfiel offenbar wieder in ihr altes Sprachmuster.

Rentaro erinnerte sich, wie sie vor dem Kampf gegen Hummingbird aneinandergeraten waren.

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich nur mit dir unterwegs bin, um dich als Köder für die Feinde zu benutzen. Tatsächlich hast du diese Aufgabe gut erfüllt. Es tut mir sehr leid, aber du bildest dir nur ein, dass es zwischen uns so etwas wie Kameradschaft gibt. Ich kann dich nicht ausstehen!«, hatte sie ihn angeschrien. »Wenn du andere Leute retten willst, warum hast du Kihachi dann nicht geholfen?«

Hotaru schien an das Gleiche denken zu müssen. Sie hatten seitdem kein längeres Gespräch geführt. Wortlos liefen sie durch eine Einkaufsstraße, in der sämtliche Rollläden der Geschäfte geschlossen waren. Nur das Geräusch ihrer Schritte hallte leise von den Wänden wider.

Nach einiger Zeit sagte Hotaru zögernd: »Als ich zurückbleiben sollte und nicht auf dich gehört habe, bin ich hoch ins nächste Stockwerk, wo schon alle Anwohner ermordet worden waren. Diese Leute hatten doch auch alle Eltern, Geschwister oder Kinder, nicht wahr?« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass irgendjemand zu so etwas in der Lage ist.« Sie war ihrer Illusionen beraubt.

»Na, dann weißt du ja jetzt, gegen was für Kerle wir kämpfen müssen«, sagte Rentaro.

Plötzlich durchbrach eine Sirene die Stille. Die beiden sahen sich an. Dann schüttelte Hotaru ihre Traurigkeit ab und spähte mit scharfen Augen durch die Dunkelheit, um herauszufinden, woher das Geräusch kam. Man konnte hören, wie es sich langsam näherte. Rentaro war an diesen Sound schon gewöhnt: Es war eine Polizeisirene.

Schnell drückten die beiden sich in eine kleine Gasse, um sich dort zu verstecken. Sie hielten den Atem an. Es roch nach altem Bratenfett.

Kurze Zeit später rasten wie erwartet zwei Polizeiwagen an ihnen vorbei. Sicherheitshalber streckte Rentaro erst mal nur den Kopf aus der Gasse heraus, aber da die Wagen nicht sofort wendeten, traten sie wieder auf die Straße. Anscheinend hatten sie noch mal Glück gehabt. Da die Streifenwagen in Eile gewesen waren, hatten sie wohl ein anderes Ziel, das nichts mit ihnen beiden zu tun hatte.

»Ähm, in der Richtung geht’s doch zu unserem Versteck, oder?«, fragte Hotaru in diesem Moment.

Rentaro zuckte zusammen. »Aber das …« Er hätte ihre Vermutung gern widerlegt, aber da hatten sich ihre Worte schon zu tief in seine Gedanken gebohrt. Wenn sie recht hatte, dann wäre es jetzt eine äußerst dumme Idee, zurück zum bisherigen Versteck zu laufen. Normalerweise hätte er es als Verfolgungswahn abgetan – aber in ihrer aktuellen Lage durften sie sich keinen Patzer erlauben. Schließlich würden sie dann bestimmt festgenommen und unausweichlich schuldig gesprochen werden.

»Gibt es hier irgendein hohes Gebäude?«, fragte er.

»Nein. Aber ich kann ja nachschauen.« Kaum hatte sie das gesagt, leuchteten ihre Augen dunkelrot auf und sie huschte in die Höhe davon.

Schnell sah Rentaro sich in der Gegend um. Nicht weit entfernt konnte er Hotaru auf einer der Straßenlaternen stehen sehen, die hier in regelmäßigen Abständen aufgestellt waren. Es lief ihm eiskalt den Rücken herunter. Auch wenn die Straße mitten in der Nacht verlassen war, so konnte jederzeit ein Auto oder Fahrrad vorbeifahren. Normalerweise reichte schon ein Kind der Verdammnis, das seine Kräfte einsetzte, um die meisten Bewohner Tokyos in Panik zu versetzen und laut aufschreien zu lassen. Ganz schnell wurden dadurch andere Anwohner angelockt, sodass sich schon bald eine kleine Gruppe zusammenscharen würde.

Als wäre Hotaru sich dieser Tatsache nicht bewusst, zeigte sie in eine Richtung und rief ihm lauthals zu: »Ich kann noch nichts sehen. Ich gehe noch näher ran.« Sie sprang mit Kraft – und war einen Wimpernschlag später auch schon auf der nächsten Laterne gelandet.

Langsam schloss Rentaro seinen Mund wieder, den er eigentlich zum Protest geöffnet hatte. Widerstrebend sah er ihr hinterher.

So ging dieses nervenaufreibende Schauspiel noch einige Minuten. Dann blieb Hotaru plötzlich stehen. Rentaro bemerkte fast zeitgleich, dass etwas nicht stimmte. Die Fenster und Wände des Häuserblocks direkt vor ihnen leuchteten immer wieder blau und rot auf. Es bestand kein Zweifel: Die Blaulichter der Streifenwagen wurden von den Gebäudewänden reflektiert. Und es waren nicht nur ein oder zwei Wagen.

Mit einem Klacken der Schuhsohlen auf dem Asphalt landete Hotaru wieder direkt neben ihm. Sie sagte: »Ich hab’s gesehen.«

»Sind es viele?«, fragte er.

Sie nickte knapp und fuhr dann fort: »Wir müssen das Versteck aufgeben. Hier ist es viel zu gefährlich.«

Rentaro hatte vorgeschlagen, das dreckige Badezimmer im Versteck nicht zu benutzen und stattdessen zum Baden ins Badehaus zu gehen. Er hatte sich nichts Besonderes dabei gedacht. Es war alles nur ein glücklicher Zufall gewesen. Diese arglose Entscheidung hatte ihm und Hotaru wahrscheinlich das Leben gerettet. Wären sie im Versteck geblieben, hätte die Polizei sie sicherlich überrascht und gefangen genommen.

Schnell liefen sie die Straße, die sie gekommen waren, wieder zurück. Sie hatten kein konkretes Ziel vor Augen; sie mussten nur möglichst weit von den Polizeiautos wegkommen.

Plötzlich beschlich Rentaro ein ganz ungutes Gefühl, als auch schon unerwartet ein weiterer Polizeiwagen, wahrscheinlich als Verstärkung, auf die beiden zuraste. Dieser hatte weder Blaulicht noch Sirene an, weswegen die beiden ihn erst bemerkten, als er schon erschreckend nah an sie herangekommen war. Wenn sie jetzt schnell in eine Seitengasse hechteten, würde das auf die Polizisten im Wagen mehr als verdächtig wirken.

Rentaro drückte Hotarus Hand. Sie sah ihn kurz überrascht an, dann schien sie zu verstehen, was er wollte. Sie hielt seine Hand genauso fest. Er raunte ihr zu: »Wir gehen möglichst normal weiter.« Aus dem Augenwinkel konnte er sie nicken sehen.

In der ruhigen Nacht hörte man nichts außer den herannahenden Polizeiwagen. Er war nur noch etwa 20 Meter entfernt. Rentaro senkte den Kopf. Die Scheinwerfer beleuchteten ihn von der Brust an abwärts. Der Lärm der über den Asphalt jagenden Reifen war nun so laut, dass es Rentaro beinahe das Trommelfell zerriss. Aus irgendeinem Grund wurde der Streifenwagen plötzlich langsamer, als er an ihnen vorbeifuhr. Ungewollt senkte Rentaro seinen Kopf noch tiefer. Jetzt war der Polizeiwagen auf gleicher Höhe …

Fährt er vorbei?

Doch dann: das Quietschen bremsender Reifen und das Klacken sich öffnender Türen.

Rentaro schloss die Augen und betete: Oh Gott! Bitte nicht.

Er drehte sich einen winzigen Moment um.

Zwei Polizisten mit Taschenlampe in der Hand folgten ihnen. Einer rief: »He, ihr beiden!«

Obwohl Rentaros Beine zitterten, beschleunigte er seinen Gang und versuchte so zu tun, als hätte er nichts gehört. Er gab Hotaru schnell ein Handzeichen, in die nächste Gasse abzubiegen. Sie nickte. Sie hatten sich nicht abgesprochen, schienen sich aber dennoch zu verstehen.

»Hotaru!«, rief er, als er die beiden Polizisten nicht mehr sehen konnte.

Sie nickte und legte ihren Arm um seine Hüfte. »Halt dich fest.«

Im nächsten Augenblick wurde er mit einer derart gewaltigen Beschleunigungskraft in die Höhe gerissen, dass es sich anfühlte, als würden seine Eingeweide von innen nach außen gestülpt. Mithilfe ihrer entfesselten Kräfte sprang Hotaru von Wand zu Wand. Rentaro versuchte, sich nicht auf die Zunge zu beißen, während seine Sicht verschwommen wurde.

Als er kurze Zeit später auf einem Dach abgesetzt wurde, war der einzige Grund, warum ihm nicht schwindelig war, der, dass er diese Achterbahnfahrt normalerweise in den Armen einer noch viel schnelleren Initiatorin ertragen musste.

Er schaute vom Dach. Unten konnte er die zwei Polizisten sehen, die verdutzt durch die Gasse tappten, in der gerade zwei Menschen verschwunden waren.

Rentaro legte den Kopf zurück und dachte schnell nach, während ein lauwarmer Wind ihm durchs Haar strich. Schon bald würden die Polizisten per Funk durchgeben, dass sie zwei Personen gesehen hatten, die Rentaro Satomi und Hotaru Koro ähnelten. Dann würde es im ganzen Gebiet nur so von Polizeikräften wimmeln. Sie mussten so schnell wie möglich von hier verschwinden!

»Dieser alte Taxifahrer hat also doch verraten, wo wir uns versteckt haben«, murmelte Hotaru traurig.

Tatsächlich hatte Rentaro das Gleiche gedacht, als er sah, dass ihr Versteck aufgeflogen war. Aber er hatte versucht, diese Gedanken so schnell wie möglich zu unterdrücken.

»Selbst wenn – dann ist es eigentlich unsere Schuld«, meinte er. Sie hätten ja auch die Möglichkeit gehabt, den Taxifahrer durch Drohung oder Bestechung ruhigzustellen. Aber Rentaro und Hotaru hatten einfach auf seine Ehrlichkeit vertraut. Aus diesem Grund lag die Schuld allein bei ihnen. Ganz egal, wie die Sache nun endgültig ausgegangen war.

»Es ist aber traurig«, hauchte Hotaru.

»Das stimmt«, gab Rentaro zu. Er sah ihr kurz in die Augen. Sie glitzerten feucht im Mondlicht, und sie lächelte ihn traurig an. Er spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Dass eine Initiatorin, die irgendwo zwischen Mädchen und Frau, zwischen Mensch und Gastrea steht, ein so gefährliches Lächeln haben kann …

Schnell wandte er den Blick ab. Er durfte nicht zulassen, dass ihr Gesicht ihn noch weiter verzauberte.

Rentaro drückte den Türgriff runter, woraufhin sich die schwere, verrostete Eisentür unter lautem Quietschen öffnete.

Sie befanden sich in einem großen Raum mit weißen Wänden, der bis auf zwei Pfeiler komplett leer war. Auf dem weißen Marmorboden lag eine dicke Staubschicht. Rentaro versuchte, mit seinem Fuß den Staub vom Boden wegzuwischen, um sich hinsetzen zu können, doch sofort war er von einer dichten Staubwolke umhüllt und musste kräftig husten. Nun bereute er, dass er zuvor beim Einkauf nicht an Atemschutzmasken gedacht hatte. Er keuchte: »Na ja, zumindest sind wir hier erst mal sicher.«

Er vergewisserte sich erneut, dass die alte Fabrikruine wirklich verlassen war, und schloss dann den verrosteten Rollladen am Deckenfenster, um das Mondlicht auszusperren. Es wurde merklich düsterer im Gebäude. Tatsächlich wurde ihm in der Dunkelheit etwas bange – aber davon durfte er sich jetzt nicht beeindrucken lassen! Würde man von draußen den Schein der Taschenlampe erkennen, könnte ein Passant die Polizei informieren, sodass er und Hotaru schon wieder eine neue Bleibe würden suchen müssen. Er richtete die Taschenlampe Richtung Decke, um zumindest ein wenig Licht im Raum zu verteilen, und lehnte sich an einen der Pfeiler.

Hotaru ließ sich plumpsend neben ihm nieder und maulte unzufrieden: »Ohne Kissen kann ich aber nicht einschlafen.«

»Freu dich lieber, dass wir ein Dach über dem Kopf haben«, gab Rentaro zurück. Er hatte darüber nachgedacht, eventuell kurzzeitig ein Hotelzimmer zu mieten, aber nach reiflicher Überlegung hatte er diese Idee wieder verworfen. Die Polizei war schließlich nicht dumm. Sobald sie niemanden im Versteck vorfänden, würden sie als Nächstes Ermittler zu den umliegenden Hotels schicken. Eventuell gab es sogar schon Fahndungsfotos, sodass die beiden sich lieber von normalen Unterkünften fernhalten sollten.

»Was machen wir denn jetzt?«, wollte das Mädchen wissen.

»Ich weiß nicht …«, gab Rentaro zu und blickte zum Nachdenken an die Decke. »Mich interessiert vor allem die Gastrea-Leiche mit diesem Sternabzeichen. Gastrea-Leichen werden doch nach einiger Zeit vernichtet, aber erst mal sollte sie aufbewahrt werden. Das müssen wir untersuchen.«

Hotaru nickte. »Rentaro, ich möchte auch über diese Killerin namens Hummingbird reden …«

»Da habe ich dir auch etwas zu erzählen«, verriet er ihr. »Auf ihrem Oberschenkel gab es auch so ein Pentagramm, wie wir es auf dem Bild von der Gastrea-Leiche gesehen haben. Aber auf ihrem Abzeichen waren zwei Flügel und nicht nur einer.«

Hotaru riss die Augen auf. »Ist das wahr?«

»Ja.«

»Was hat das bloß zu bedeuten?«, wunderte sie sich.

»Das weiß ich auch nicht«, sagte Rentaro. Und damit hatten sie auch schon alle Hinweise aufgezählt, die sie bisher gesammelt hatten. Das Gespräch erstarb. Man konnte die Zikaden zirpen hören.

Plötzlich legte sich etwas Weiches und Warmes auf Rentaros rechte Hand, die er auf dem Boden abgestützt hatte.

Es war Hotarus Hand. »Ich habe jemanden getötet.« Sie hatte mit dem rechten Arm ihre Knie umschlossen und zog sie ganz eng an sich.

»Hotaru«, fing Rentaro an. »Die Angst vor dem Morden ist ein ganz normales Warnsignal deines Verstands. Wenn du dich darüber hinwegsetzt, gerät deine ganze Welt aus den Fugen.«

»Aber was wäre, wenn ich einfach keine Angst hätte?«, fragte sie.

»Dann wärst du kein normaler Mensch«, erklärte Rentaro. »Du wärst eine teuflische Mörderin oder ein unaufhaltsames Monster … Man kann es unterschiedlich nennen, aber im Grunde ist es niemals etwas Gutes.«

»Ach so. Vielen Dank. Das werde ich mir merken«, sagte Hotaru lakonisch – aber sie hatte einen ernsten, melancholischen Blick in den Augen. Von der Seite gesehen verschmolz ihr Gesicht für Rentaro langsam mit dem des anderen Mädchens, das mit ihm zusammenwohnte.

Schnell schüttelte er den Kopf, um diesen Gedanken loszuwerden. »Sag mal, Hotaru. Darf ich dich etwas Blödes fragen?«

»Was denn?«

»Selbst durch deine verstärkten Regenerationskräfte würdest du durch eine Kugel in den Kopf kurzzeitig sterben, oder?«, fragte er.

Sie schaute ihn an. »Ich hätte keinen Puls mehr, meine Pupillen würden sich weiten und mein Herz würde stehen bleiben. Meinst du das mit Sterben?«

»Ähm«, zögerte Rentaro. »Gibt es so etwas wie … einen Himmel?«

Hotaru rollte kurz mit den Augen und schüttelte dann tief seufzend den Kopf.

Rentaro fühlte sich sofort angegriffen. »Wa… Was guckst du denn so?«

»Das ist wirklich eine doofe Frage. Du bist der Erste, der mich so einen Unfug fragt.« Sie fand, dass damit alles gesagt sei – aber als sie zu ihm rüberschielte, schien er mehr hören zu wollen. Also fragte sie: »Bist du religiös?«

»Nö, eigentlich nicht.«

»Na, dann kann ich’s dir ja verraten«, sagte sie kühl. »Da ist nichts. Es ist einfach nur dunkel und ich verliere jegliche Wahrnehmung. Im Grunde ist es, als wäre ich bewusstlos.«

»Warum hast du mich gefragt, ob ich religiös bin?«

»Schließlich wärst du sonst enttäuscht gewesen, dass es kein Himmelreich oder Ähnliches gibt.« Sie lächelte kurz. In ihrer Stimme lag Ironie. »Oder aber es gibt doch etwas und ich darf es nur nicht betreten. Schließlich ist der Himmel allein den Menschen vorbehalten, oder? Und ich bin kein Mensch.«

3

Von draußen trommelte ein leichter Regen gegen das Fenster. Schon ab dem frühen Morgen war der Himmel unangenehm bewölkt gewesen. Der zuständige Beamte blinzelte wiederholt mit seinen müden Augen, schien aber ansonsten wach zu sein. Er hatte ein nettes Gesicht, aber durch seine ungepflegte Frisur sah er älter aus, als er eigentlich war. Er hatte sich eben als Shibata vorgestellt. Nun sagte er: »Also seid ihr beiden extra so früh hergekommen, nur um Gastrea Nr. 4490 anzusehen?«

»Ist das etwa ein Problem?«, fragte Rentaro.

»Nein, eigentlich nicht«, sagte Shibata. »Ich müsste aber einmal eure Wachdienstlizenz sehen.«

»Hier ist meine«, reagierte Hotaru sofort und übergab ihm ihren Ausweis.

Shibata sah amüsiert aus. Rentaro zuckte kurz zusammen. Zwar war das keineswegs vorgeschrieben, aber normalerweise würde natürlich der Promoter stellvertretend für das Team seine Lizenz vorlegen. Da aber seine eigene Lizenz von Fräulein Seitenshi eingezogen worden war, stammelte er: »Ich, ähm … Ich habe meine heute Morgen zu Hause liegen lassen.«

»Ach, das erklärt alles«, erwiderte Shibata gelassen. »Die Lizenz der Initiatorin reicht natürlich auch. Bitte unterschreibt hier.«

Hotaru schnappte sich den Stift und unterschrieb. Dann schaute sie hoch. Rentaro folgte ihrem Blick.

Nun standen sie hier, am frühen Morgen, in dieser Gastrea-Leichenhalle. Rentaro war schon mal bei Sumire im Universitätsklinikum in einer ebensolchen gewesen – aber dies hier war eine ganz andere Geschichte. Shibata saß auf einem einfachen Stuhl hinter einem Schreibtisch. Dahinter war ein langer Gang, der von einem schweren Eisengitter abgesperrt wurde. Irgendwo schien durch einen Spalt Luft hereinzukommen – man konnte deutlich den Wind pfeifen hören. Da hier Leichen aufbewahrt wurden, war das ganze Gebäude klimatisiert. Ein kalter Hauch wehte über Rentaros Haut. Hotaru neben ihm strich sich mit beiden Händen wärmend über die Arme.

Shibata steckte einen Schlüssel in die schwere Eisentür und schloss auf. Anscheinend war die Tür leicht angerostet, da sie beim Öffnen schrecklich quietschte. Unter Führung von Shibata gingen Rentaro und Hotaru in den weiten Gang. An der Decke hingen blaue LED-Lampen, die die Umgebung in ein unheimliches Licht tauchten. Ihre Schritte auf dem harten Fußboden hallten laut von den Wänden wider.

Rentaro wandte sich an Shibata. »Ähm, warum gibt es denn dieses Eisengitter? Hier sollten doch eigentlich nur tote Gastrea aufbewahrt werden, oder?«

»Wir haben schon die schrecklichsten Dinge erlebt«, antwortete Shibata. »Zum Beispiel tot geglaubte Gastrea, die doch noch ein wenig Leben in sich hatten und wieder lebendig wurden. Auch kommt es vor, dass sich in den Bäuchen Gastrea-Junge befinden, die erst später herausplatzen. Aus diesen Erfahrungen haben wir natürlich gelernt.«

Das hätte ich nicht gedacht! Rentaro war überrascht. Wahrscheinlich war die Gefahr einer Pandemie mit Ursprung in diesen Leichenschauhäusern deutlich höher, als er erwartet hatte!

Kurze Zeit darauf trat Shibata durch eine Tür. Die beiden folgten ihm. Es wurde noch einige Grad kälter als im Gang. Der Raum war gerade mal 16 Quadratmeter groß und an den Wänden waren unzählige große Schubladen angebracht. Fast erinnerte das Zimmer an einen Tresorraum mit unzähligen Schließfächern – nur dass die Schubladen hier doppelt so groß wie die in einer normalen Leichenhalle für Menschen waren. Undin irgendeiner von diesen Schubladen befindet er sich, überlegte Rentaro. Der Gastrea von dem Foto aus Dr. Surumis Wohnung. Der Gastrea mit dem Sternsymbol …

Während die beiden Gäste aufgeregt zuschauten, suchte Shibata die Zettel an den Schubladen ab, um die richtige Leiche zu finden. Dann winkte er sie zu sich heran. Mit Schwung zog er die gefundene Schublade auf, aus der ein kalter Windstoß Rentaro durchs Gesicht wischte. Es kam ein offener Eisensarg zum Vorschein, in dem ein ausgewachsener Mensch locker hätte liegen können. Aber als sich der Kältenebel verzog, lag dort …

»Hm?«, wunderte sich Shibata.

Der Sarg war leer.

»Oje. Das ist aber komisch.« Verdutzt blätterte Shibata einen Ordner an der Tür durch. Dann sagte er: »Oh, ihr seid etwas zu spät gekommen. Gerade mal vor 30 Minuten ist der Entsorgungsbeauftragte gekommen, um die Leiche abzuholen.«

»Der Entsorgungsbeauftragte?«, fragte Rentaro.

»Also wirklich, ihr Wachleute«, sagte Shibata. »Wisst ihr denn wirklich nicht, wie Gastrea-Leichen entsorgt werden?«

»Haben Sie ein Problem damit?«, fuhr Rentaro ihn schroff an.