18,99 €
Der Ex-Fallschirmjäger Achim Wohlgethan ist als Mitarbeiter im Außendienst für den Deutschen Bundeswehrverband nahezu täglich in halb Deutschland an Liegenschaften der Bundeswehr im Einsatz. Er kennt die Sorgen und Nöte der Soldatinnen und Soldaten, die Probleme, Mängel, verkrusteten Strukturen und politischen Fehler aus erster Hand. Seine Analyse zeigt, was in der Truppe und den einzelnen Einsatzbereichen, der Führungskultur und beim Commitment der Politik im Argen liegt und warum wir uns mit dieser Bundeswehr nicht sicher und gut verteidigt fühlen können. 100 Milliarden sind ein Tropfen auf den heißen Stein – zumal die Herausforderungen der neuen Bedrohungslage sowie die internationalen Aufgaben innerhalb der NATO die Bundeswehr künftig immer stärker fordern werden. Achim Wohlgethan beschreibt das Versagen der Politik und bei der Nachwuchsgewinnung sowie den katastrophalen Umgang mit Veteranen. Er berechnet die wahren Kosten für eine einsatzfähige Bundeswehr und gibt der Politik eine konstruktive To-do-Liste an die Hand.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Blackbox Bundeswehr
Achim Wohlgethan, geboren 1966 in Wolfsburg, diente als Fallschirmjäger bei der Bundeswehr. Endstation Kabul, der Tatsachenbericht über seinen Einsatz in Afghanistan, war 2008 monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Wohlgethan lebt als Autor und Sicherheitsberater in Wolfsburg.
Martin Specht, geboren 1964, ist Buchautor, Ghostwriter und Journalist. Er berichtete von den Kriegsschauplätzen im Irak, Afghanistan, Ruanda, dem Kongo, Sudan, Liberia, Mali, dem Balkan, sowie aus zahlreichen Ländern Lateinamerikas und dokumentierte im Auftrag der Vereinten Nationen die Folgen eines Erdbebens in Pakistan und eine Hungersnot in Niger. Er ist Verfasser mehrer Sachbücher (Amazonas, Narco Wars, Kolumbien) und Ghostwriter des Spiegel-Bestsellers Mythos Fremdenlegion. Martin Specht lebt in Medellín, Kolumbien.
Achim Wohlgethan ist für den Deutschen Bundeswehrverband nahezu täglich in Kasernen im Einsatz. Er kennt die Sorgen und Nöte der Soldatinnen und Soldaten, aber auch die Probleme und Mängel bei Ausbildung und Ausrüstung, die verkrusteten Strukturen und politischen Fehlentscheidungen aus erster Hand. Seine Analyse zeigt, was in den einzelnen Einsatzbereichen, der militärischen Führungskultur und bei der Politik im Argen liegt. Der Zustand der Bundeswehr, so sein erschreckender Befund, ist so schlecht, dass er gegen das Grundgesetz verstößt. Eine Armee, die für Friedenszeiten ausgestattet wurde und Funkgeräte auf dem Stand von 1982 benutzt, kann den Herausforderungen der neuen Bedrohungslage sowie den internationalen Aufgaben innerhalb der NATO nicht genügen. Es ist höchste Zeit, die wahren Kosten für eine einsatzfähige Bundeswehr zu berechnen und öffentlich über ihr Selbstverständnis zu debattieren. Mit dem 100-Milliarden-Paket der Bundesregierung wird es nicht getan sein.
Achim Wohlgethan und Martin Specht
Die 100-Milliarden-Illusion – Was unsere Truppe jetzt wirklich braucht
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Redaktion: Ulrich WankRedaktionsschluss: 6. Februar 2023Alle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: total italic - Thierry Wijnberg, BerlinUmschlagmotive: © iStock / kh_artAutorenfotos:Achim Wohlgethan: © Achim WohlgethanMartin Sprecht: © www.martinspechtphotos.comE-Book powerded by pepyrusISBN 978-3-8437-2898-0
Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.
Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.
Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Die Autoren / Das Buch
Titelseite
Impressum
Einleitung
Wir. Sind. Blank.
Die langjährige Vernachlässigung der Bundeswehr
Geld allein wird es nicht richten
1. Glück ab mit dem »Gefechtshelm Zwischenlösung«
Einsatzbekleidung
Gefechtshelm
Sturmgewehr
Fazit
2. Der Zustand der Bundeswehr verstößt gegen das Grundgesetz!
Wie kommt die Bundeswehr an ihr Geld?
Wo fließt die Kohle hin?
3. Totale Pleite im Beschaffungswesen
Was bedeutet das für die Einsatzbereitschaft?
Allheilmittel externe Berater?
4. NH90: Geld zurück!
Wieso sind Hubschrauber so wichtig?
Ein Hubschrauber, den man nicht benutzen soll
Der Fall 78+18
Konsequenzen, welche Konsequenzen?
Warum unbrauchbares Material nicht einfach zurückgeben?
5. Wir? Dienen? Deutschland?
Soldaten ohne Uniform
Ein halber Bleistift pro Mann oder die verfehlte Grundausbildung
Wer geht zur Bundeswehr?
Zu jung, zu ungeeignet: Die Bundeswehr sucht mit allen Mitteln Rekruten
Zu viele Häuptlinge, zu wenig Indianer?
6. Hilfe, der Heimatschutz!
Die Bundeswehr als Katastrophenhelfer
Ein bewaffneter Heimatschutz?
Irrweg Freiwilliger Heimatschutz
7. Outsourcing »Verantwortung und Sicherheit«
Das Problem des Outsourcing
Wenn Zivilisten für die Bundeswehr fliegen
Eine Armee, die von Zivilisten bewacht wird
Sicherheit im zivilen Bereich der Bundeswehr
Die Bundeswehr lässt fahren: der BwFuhrparkservice
Die Privatisierung und die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr
8. Operation Einkaufsliste
Drohnen
Das Drama um die F-35
Future Air Combat System
Main Ground Combat System
Luftabwehrfähigkeiten
9. Operation Einkaufsliste / Alles Übrige
Führungsfähigkeit: Das Problem mit der Kommunikation
Das Kommando Cyber- und Informationsraum
Einsatzbereitschaft null? Der Schützenpanzer Puma
Marine
Künstliche Intelligenz
10. Zwei-Klassen-Ausrüstung, zweitklassige Ausbildung
Der Letzte macht das Licht aus: Was eine »Betreuungseinrichtung« über die Bundeswehr aussagt
Das Beispiel der Einzelkämpferausbildung
Ausbildung ist Vorbereitung
Für diese Bundeswehr in den scharfen Einsatz?
Die Bundeswehr in Mali
Das erschütterte Selbstverständnis der Truppe
11. Veteranen: Kampf nach dem Einsatz
Alleingelassen
»Einsatzschädigung« – und dann?
12. Spitzendienstgrade: Interne Negativauslese?
Lauter Generäle – und keine Truppen
Immer gut dastehen
Die Unterstützung der Ukraine
Schlusswort: Keep it simple
Manchmal muss man improvisieren
Zu spät, zu teuer, mit Mängeln
Gesucht: Eine Konzeption für die Bundeswehr
Danksagung
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Einleitung
Im Februar 2022 veränderte sich die Welt. Der russische Überfall auf die Ukraine hatte die Bundesregierung und die Bundeswehr kalt erwischt. Angesichts des Einmarsches der Invasionsarmee, der Bombardements und der zerstörten Städte tauchte die Frage nach der eigenen Sicherheit auf. Dadurch geriet die Bundeswehr in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Und das, was dabei ans Licht kam, war erschreckend und zutiefst besorgniserregend. »Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da. Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können, sind extrem limitiert«, sagte Generalleutnant Alfons Mais. Er ist Inspekteur des Heeres und damit der höchste Vorgesetzte der, meiner Ansicht nach, wichtigsten Teilstreitkraft. Der Heeresinspekteur bezog sich in seiner Aussage in erster Linie auf den Munitionsvorrat der Bundeswehr. Im Verteidigungsfall würde der gerade mal für einen bis fünf Tage ausreichen. In den Vorgaben der NATO wird jedoch ein Munitionsbestand für mindestens 30 Tage Kampfhandlungen gefordert. Was sich tagtäglich in der Ukraine ereignete und das, was gleichzeitig über den Zustand der Bundeswehr bekannt wurde, war so alarmierend, dass Bundeskanzler Scholz in seiner berühmten Rede vom 27. Februar 2022 von einer bevorstehenden Zeitenwende sprach: »Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.« Explizit ging der Kanzler auch auf den Zustand der Bundeswehr ein: »Das Ziel ist eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt. Ich habe bei der Münchener Sicherheitskonferenz vor einer Woche gesagt: Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind. Darum geht es, und das ist ja wohl erreichbar für ein Land unserer Größe und unserer Bedeutung in Europa. Aber machen wir uns nichts vor: Bessere Ausrüstung, modernes Einsatzgerät, mehr Personal – das kostet viel Geld. Wir werden dafür ein Sondervermögen Bundeswehr einrichten.« Es wurde beschlossen, 100 Milliarden in die Modernisierung der Streitkräfte zu investieren. Einmalig und schuldenfinanziert. Mit dem Geld sollen neue Waffensysteme und Ausrüstung angeschafft werden.
Ich hatte schon damals meine Zweifel, ob das klappt. Ich kenne die Bundeswehr nämlich gut. Ich habe in zwei Auslandseinsätzen in Afghanistan als Fallschirmjäger gedient und schon damals – 2002, 2003 und 2004 – die Erfahrung machen müssen, dass in der Bundeswehr ein ziemliches Chaos herrscht. Bei verschiedenen Einsätzen und Aufträgen habe ich erlebt, wie das kleinkarierte Gerangel um Dienstgrade und Kompetenzen verhinderte, dass wichtige Ausbildungsinhalte an die Realität in verschiedenen Einsatzländern angepasst wurden. Während meiner Afghanistan-Einsätze musste ich immer wieder zähneknirschend mit ansehen, wie die bundesdeutsche Bürokratie mich und meine Kameraden in Gefahr brachte und uns das Leben noch schwerer machte, wo es schon schwer genug und kaum zu bewältigen war. Im Einsatz litten wir unter inkompetenter Führung und mangelhafter Ausrüstung und sahen, wie leichtfertig mit dem Leben und der Gesundheit der Soldaten umgegangen wurde.
Nach meinen Afghanistan-Einsätzen verließ ich enttäuscht die Bundeswehr. Ich machte in Israel eine Ausbildung zum Personenschützer, gründete eine Beratungsfirma und schrieb drei Bestseller über meine Erlebnisse in Kabul, Kundus und – bereits 2011 – den Zustand der Bundeswehr. Der Truppe fühlte ich mich weiterhin verbunden. Vielleicht ist ja etwas dran, dass die Kameradinnen und Kameraden irgendwie zur Familie werden – und seine Familie lässt man nicht im Stich. Ich bekam ja immer noch mit, wie schwer sie es hatten. Der Afghanistan-Einsatz dauerte an, er lief nicht gut – und dann wurde auch noch an allen Ecken und Enden gespart und Personal abgebaut. Durch Zufall und durch Gespräche mit »alten Wegbegleitern« erfuhr ich Anfang 2021 von einer Stellenausschreibung des Deutschen BundeswehrVerbandes. Ich fand, dass die Arbeit für den Bundeswehrverband gut zu mir passte, auch weil ich in der Tätigkeit eine Möglichkeit sah, mich ganz konkret für die Interessen der Soldatinnen und Soldaten einzusetzen. Ich nahm die Stelle an. Der Bundeswehrverband ist beinahe so alt wie die Bundeswehr selbst. Er wurde im Juli 1956 gegründet, die Bundeswehr im Jahr davor. Einfach gesagt hat der Verband die Aufgabe, die Interessen der Soldaten und zusätzlich all derjenigen zu vertreten, die ebenfalls etwas mit der Bundeswehr im weiteren Sinne zu tun haben. Dazu gehören Zivilangestellte, Reservisten und ebenso die Angehörigen von Soldaten. Braucht man eine solche Organisation, wenn man bei der Bundeswehr beschäftigt ist? Ja, absolut! Der Bundeswehrverband kümmert sich eigentlich um alles, worum seine Mitglieder bitten. Juristische Probleme, Beförderungen, Versetzung auf andere Dienstposten, Pensionsansprüche – das komplette Alltagsgeschäft. Doch der Bundeswehrverband widmet sich auch den großen Themen, die die Bundeswehr betreffen. So setzte er sich – erfolgreich – für die Gleichstellung von Frauen in der Truppe ein und öffnete ihnen Zugang zu Bereichen in allen Waffengattungen.
Während die von Bundeskanzler Scholz ausgerufene Zeitenwende im Laufe des Jahres 2022 immer mehr im Zeitlupentempo verlief, war ich im Rahmen meiner Tätigkeit beim Deutschen Bundeswehrverband in zahlreichen Standorten und Kasernen im Bundesgebiet unterwegs. Es gehört zu meinen Aufgaben, für den Bundeswehrverband neue Mitglieder zu gewinnen und den Soldatinnen und Soldaten meine Arbeit zu erläutern. Dadurch habe ich einen ziemlich direkten Zugang zu vielen Bereichen der Truppe, die ansonsten für Zivilisten verschlossen sind. Für die ist die Armee eine Blackbox. Man weiß, dass sie da ist, aber nicht, wie es im Inneren aussieht. Da viele Soldatinnen und Soldaten wissen, dass ich selbst gedient habe, und oft auch meine Bücher kennen, nehmen sie kein Blatt vor den Mund. Sie erzählen mir von ihren Problemen und wo sie der Schuh drückt. Während in Berlin darüber beraten wurde, was mit den 100 Milliarden geschehen soll, hörte ich ihnen zu. Im Verteidigungsministerium tat sich aber nicht viel. Monatelang wurden weder dringend benötigte Ausrüstung noch ein Großwaffensystem oder Munition bei der Rüstungsindustrie geordert. Alle gaben sich der Illusion hin, dass man für 100 Milliarden eine neue Bundeswehr bekommen würde. Aber wann? Über Zeiträume wurde kaum gesprochen. Ich spürte die Enttäuschung in der Truppe. Deshalb beschloss ich, ein neues Buch zu schreiben. Ich will die Sorgen und Nöte der Soldatinnen und Soldaten endlich einmal zur Sprache bringen, aber auch einem breiten Publikum erläutern, welcher Gefahr wir uns durch eine nicht einsatzbereite Bundeswehr aussetzen. Aus vielen kleinen Einzelgesprächen und Informationen ergab sich so für mich das erschütternde Gesamtbild der Defizite und Versäumnisse, unter denen die Bundeswehr leidet.
Dadurch kam ich auch auf den Titel des Buches »Blackbox Bundeswehr«. Anders als in der zivilen Luftfahrt sind militärische Luftfahrzeuge nicht mit einer sogenannten Blackbox, einem Flugdatenschreiber, ausgestattet. Bei Zivilflugzeugen ist es internationaler Standard, alle Daten – darunter die Gespräche der Piloten im Cockpit – aufzuzeichnen und sie in einer »absturzsicheren« Blackbox zu speichern. So eine Blackbox kann nach einem Absturz selbst noch vom Meeresgrund geborgen werden und lässt sich meistens immer noch auslesen. Ähnliches gilt für Feuer und Explosionen, die sie übersteht. Militärflugzeuge und Helikopter haben so etwas grundsätzlich nicht, da man verhindern will, dass der Gegner Daten erhält. Sollte ihm – beispielsweise nach einem Abschuss – eine Blackbox in die Hände fallen, hätte er relevante Informationen wie »Wo ist die Maschine gestartet?«, »Welche Route ist sie geflogen? Wie hoch?«. Das erschwert die Aufklärung von Flugunfällen im militärischen Bereich. Man kann einige Daten aus internen Speichern auslesen, aber längst nicht so viele wie in der zivilen Luftfahrt. Ich musste bei der Wahl des Titels »Blackbox Bundeswehr« natürlich daran denken. Es gibt aber noch etwas anderes: die für Außenstehende verschlossene Blackbox, die sprichwörtliche schwarze Kiste, in der alles Mögliche enthalten sein kann. Sie steht für das Prinzip der Undurchsichtigkeit, der möglichen Verschleierung. Daneben haben wir die Blackbox als Kontrollfunktion. Sie dient der Wahrheitsfindung. Man kann beides sinngemäß auf die Bundeswehr übertragen: Einmal im Sinne von Zugang zu Informationen, um die Sicherheit des Systems Bundeswehr zu gewährleisten, und dem entgegengesetzt die Verschleierung der Tatsachen, die Undurchsichtigkeit von außen. Im Laufe des Buches werde ich immer wieder aufzeigen, worum es den Verantwortlichen letztendlich geht – und eigentlich gehen sollte.
An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass ich dieses Buch unabhängig von meinen Aufgaben im Deutschen Bundeswehrverband geschrieben habe. Ich schreibe nicht im Auftrag des Bundeswehrverbands und möchte umgekehrt auch nicht als »Sprachrohr« für den Verband gesehen werden. Was ich in diesem Buch sage, ist meine private Meinung. Es sind die Ansichten eines ehemaligen Soldaten, der sich aber immer noch einer »großen Familie« zugehörig fühlt. Es ist mir wichtig, mit den Möglichkeiten, die sich durch die Veröffentlichung zusätzlich zu meiner Arbeit bieten, die Interessen der Soldatinnen und Soldaten zu vertreten.
Der desaströse Zustand der Bundeswehr war eigentlich schon lange vor dem 27. Februar 2022 bekannt. Periodisch veröffentlicht das Verteidigungsministerium einen Bericht zur materiellen Einsatzbereitschaft der Hauptwaffensysteme der Bundeswehr. Unter Hauptwaffensystemen versteht man Helikopter, Schiffe, Flugzeuge, Panzer und ähnliches Großgerät. Im Bericht II/2021 wird der Zeitraum von Mai bis Oktober behandelt. Fazit: Von den 71 Hauptwaffensystemen sind nur etwa 77 Prozent einsatzbereit, bei den Hubschraubern liegt die Einsatzbereitschaft sogar nur bei etwa 40 Prozent, weniger als 30 Prozent der Kriegsschiffe der Marine sollen für anspruchsvollere Einsätze zu gebrauchen sein. Die durchschnittliche materielle Einsatzbereitschaft von Kampffahrzeugen wird mit 71 Prozent angegeben. Von einer vollen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr kann also keine Rede sein. In den Vorjahren – 2019 wurden 76 Prozent Einsatzbereitschaft angegeben – sah es auch nicht besser aus. Interessant ist, dass diese Berichte bis zum Jahr 2019 öffentlich zugänglich waren, seitdem aber in zwei Teile gesplittet wurden. Der allgemein gehaltene offene Teil I ist auf der Website des Bundesverteidigungsministeriums (BMVg) einsehbar. Der detailliertere Teil II wird als geheim eingestuft und unter Verschluss gehalten. Begründet wird dies mit den Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland und damit, dass »damit auch dem Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten Rechnung getragen wird«. In meinen Augen ist dies eine zweischneidige und nicht ganz aufrichtige Argumentation. Dem Schutz der Soldatinnen und Soldaten – und natürlich auch den nationalen Sicherheitsinteressen – würde am allermeisten funktionsfähiges, einsatzbereites Material helfen. Dass man wichtige Details über die mangelnde materielle Einsatzbereitschaft des Geräts unter Verschluss hält, lässt sich natürlich bequem damit begründen, dass potenziellen Gegnern der Einblick in die Defizite der Truppe verwehrt werden soll. Andererseits wird so aber auch eine öffentliche Diskussion vermieden, in der die verantwortlichen Politiker und Vorgesetzten in der Sache detailliert Rede und Antwort stehen müssten.
Die Interessen der Bundeswehr und der Menschen, die in ihr dienen, werden in Friedenszeiten nicht sehr ernst genommen. Das zeigte sich auch am unrühmlichen Ende des Afghanistan-Einsatzes. Ich habe die Bilder vom Flughafen Kabul im August 2021 im Fernsehen gesehen. Die ISAF-Truppen (International Security Assistance Force) zogen überstürzt ab, es handelte sich um eine Evakuierungsmission. Ich kannte den Flughafen noch von meinem ersten Einsatz, als ich im Camp Warehouse stationiert war. Ich fragte mich: Warum? 20 Jahre lang war die Bundeswehr in Afghanistan, 59 Soldatinnen und Soldaten sind dort gefallen, Hunderte verwundet worden – doch was haben wir erreicht? Der hektische Abzug gab kein gutes Beispiel von der Entschlossenheit des Westens, seine Werte zu verteidigen. In der Truppe sah man das genauso. Ihr Gefühl, als Verlierer dazustehen, wurde leider durch das Verhalten der deutschen Regierung gegenüber ihren Soldaten noch verstärkt. Bei der Begrüßung des zurückkehrenden deutschen Afghanistan-Kontingents waren weder Bundeskanzlerin noch Verteidigungsministerin anwesend.
100 Milliarden Euro für neue Ausrüstung und Waffen sind ja schön und gut, doch es gibt Versäumnisse, die viel schwerer wiegen. Der Umgang mit dem Ende des Afghanistan-Einsatzes hat dazu geführt, dass unter den Soldatinnen und Soldaten das Vertrauen in die politische Führung verloren ging. Wenn ich sie darauf anspreche, ernte ich oftmals Gelächter. »Du weißt doch selbst, wie das läuft: viel Geld für den Wasserkopf und wenig oder nichts für uns.« Mit dem »Wasserkopf« sind die Bürokratie und ineffiziente externe Berater gemeint. Trotz aller Zeitenwende-Bekenntnisse vermissen die Soldatinnen und Soldaten den Rückhalt derer, die sie im Ernstfall in den Einsatz schicken. Laut einer Anfrage des Verteidigungsausschusses an das BMVg stieg die Zahl der Reservistinnen und Reservisten, die den Dienst mit der Waffe verweigerten, in den ersten acht Monaten des Jahres 2022 von zehn auf 190. Sie hat sich also beinahe verzwanzigfacht. Viele Soldaten, mit denen ich spreche, sagen, dass sie unter den herrschenden Bedingungen nicht bereit sind, in Auslandseinsätze zu gehen. »Altgediente« reichen einen Antrag auf »Kriegsdienstverweigerung« ein, um dem System zu entfliehen oder einfach nur, weil sie sich nach vielen Jahren nicht mehr mit der Bundeswehr identifizieren können. Lässt sich das alles wirklich mit 100 Milliarden Euro beheben?
Ich stelle die Frage einmal anders: Verwandelt die einmalige Investition von 100 Milliarden Euro die Bundeswehr wirklich in eine einsatzbereite Armee, mit der sich im Ernstfall auch das Land verteidigen und Krieg führen lässt? Oder handelt es sich hier nicht etwa nur um eine weitere – wenn auch kostspielige – Illusion, dass Geld allein es schon richten werde? Finanzielle Mittel hat die Bundeswehr auch vorher schon gehabt. Zwar nicht genug, aber auch nicht gerade wenig. Im Jahr 2021 betrug der Etat der Bundeswehr circa 47 Milliarden Euro. Doch davon wurden gerade einmal acht Milliarden für die Anschaffung von Ausrüstung verwendet, obwohl aus dem Bericht über die materielle Einsatzbereitschaft hervorgeht, dass gerade die an allen Ecken und Enden fehlt. Statistisch waren im Jahr 2020 die Rüstungsausgaben der Bundesrepublik die siebthöchsten der Welt. Es kann also nicht nur am Geld liegen, wenn die Truppe blank dasteht. Lediglich dadurch, dass man noch mehr Geld hineinschießt, lassen sich wohl kaum sämtliche Defizite beseitigen. Anders gesagt: Wer es mit 47 Milliarden nicht hinbekommt, der wird es mit 100 Milliarden wohl auch nicht besser machen. Ich wage sogar zu behaupten, dass mit einem größeren Budget alles noch viel schlimmer werden wird. Ich werde zeigen, dass die Beschaffung von Material und Waffensystemen derart bürokratisch und kompliziert gehandhabt wird, dass kaum etwas davon rechtzeitig bei der Truppe ankommt. Mich treibt eine weitere wichtige Frage um, nämlich ob sich der fehlenden Motivation der Kameradinnen und Kameraden wirklich mit einer Milliardenzahlung abhelfen lässt. Meiner Ansicht nach braucht es dazu wesentlich mehr: tief greifende strukturelle Reformen und vor allem den gesellschaftlichen und politischen Willen, diese auch nachhaltig umzusetzen. Der preußische General und Militärtheoretiker Carl von Clausewitz brachte es auf den Punkt: »Die beste Strategie ist immer recht stark zu sein, erstens überhaupt und zweitens auf dem entscheidenden Punkt. Daher gibt es kein höheres und einfacheres Gesetz für die Strategie, als seine Kräfte zusammenzuhalten.« Obwohl das zur Zeit der Befreiungskriege im 19. Jahrhundert gesagt wurde, gilt das bis heute. Auch ich habe als Soldat gelernt, dass vor dem Beginn einer Mission die Bestandsaufnahme der Mittel und Kräfte steht, die ich zur Verfügung habe, um meinen Auftrag zu erfüllen. In Afghanistan hatten wir von allem zu wenig. Heute scheint das in erschreckender Weise auf die gesamte Bundeswehr zuzutreffen. Wenn man zu Beginn eines Auftrags erkennt, dass die Mittel nicht ausreichen, muss man melden: »Auftrag nicht durchführbar.« Sonst wird die Mission zur gefährlichen Illusion. Es wäre die Pflicht der militärischen Führung, diese Bestandsaufnahme so durchzuführen und die Ergebnisse weiterzugeben. Bislang wird das bis auf wenige Ausnahmen nicht gemacht. »Blackbox Bundeswehr« ist diese dringend benötigte Bestandsaufnahme.
Fahrzeuge, die nicht fahren, Flugzeuge, die nicht fliegen, Schiffe, die nicht in See stechen, um die Worte des Bundeskanzlers abzuwandeln, davon hat die Bundeswehr genug. Doch für mich ist nicht das mängelgeplagte Großgerät ausschlaggebend für den Zustand einer Armee, sondern der einzelne Soldat oder die Soldatin. Diese Menschen sind die Truppe! Darum möchte ich meine Betrachtung über den Zustand der Bundeswehr auch gerade bei ihnen beginnen. Besonders in diesem Punkt müssen wir genau hinschauen, wenn wir über die Blackbox Bundeswehr und deren Zustand sprechen. Was wird ganz konkret dem einzelnen Soldaten – oder der Soldatin – vom Dienstherrn an die Hand gegeben, damit er seinen Auftrag erfüllen kann? Da wären zunächst einmal so grundlegende Ausrüstungsgegenstände wie Einsatzbekleidung, Helm und Waffe. Diese drei Dinge braucht jeder Soldat zwingend. Laut Bundeswehr ist er damit so ausgestattet, dass er seinen Auftrag unter allen klimatischen Bedingungen erfüllen kann. Ich werde hier exemplarisch an den Beispielen Einsatzbekleidung, Gefechtshelm und Sturmgewehr aufzeigen, wie es in Wirklichkeit darum bestellt ist.
Infanteristen führen ihre Einsätze im Gelände durch. Dabei sind sie in unterschiedlichen Klimazonen mitunter extremer Hitze, aber auch extremer Kälte und Nässe ausgesetzt. Vom Konzept her will die Bundeswehr ihre Soldaten weltweit einsetzen können, darum müssen sie auf die speziellen Gegebenheiten im jeweiligen Einsatzgebiet vorbereitet sein. Dazu hat sie eine Reihe von Uniformen verschiedener Tarnmuster und zusätzliche Bekleidung in ihrem Bestand. Schutz gegen Kälte oder Hitze oder Nässe, Schneebekleidung, tropentaugliche Uniformen, schwere und leichte Kampfstiefel und so weiter. Bis hin zu Socken und Unterwäsche ist für den Soldaten alles da – oder sollte es zumindest sein. Tatsächlich ist dies jedoch nicht der Fall. Ich werde noch ausführlich darüber berichten, dass es bei der Einkleidung von Rekruten zu langwierigen Verzögerungen kommt, die einen reibungslosen Ablauf der Grundausbildung unmöglich machen. Rekruten, wird manch einer sagen, da kann es schon mal zu Engpässen kommen, damit muss man eben leben. Doch bei Soldaten im Auslandseinsatz sieht die Sache anders aus. So stellte die Wehrbeauftragte des Bundestages Eva Högl nach einem Besuch beim Kontingent der Bundeswehr in Litauen mit Befremden fest: »Hunderte von Kontingentsoldatinnen und -soldaten leisten jeden Tag ihren Dienst in Litauen professionell und engagiert und haben dafür jede erdenkliche Anerkennung verdient. Gleichzeitig hat die Battlegroup das Material zur Verfügung, um ihren Auftrag hier in Litauen zu erfüllen und einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung des NATO-Bündnisgebietes zu leisten. Jedoch gibt es auch hier noch Nachholbedarf und Handlungsaufträge, die ich mit nach Berlin nehmen werde. Beispielsweise wurde mir in der Gesprächsrunde mit den Vertrauenspersonen berichtet, dass alle hier eingesetzten Soldatinnen und Soldaten ihre Winterbekleidung, die sie vorher im Rahmen des VJTF-Auftrages [der schnellen Eingreiftruppe der NATO] noch erhalten hatten, für diesen Einsatz wieder abgeben mussten. Das ist bei Temperaturen von zum Teil unter –20 Grad, die hier im litauischen Winter vorkommen, nicht hinnehmbar und auch aus meiner Bewertung sehr unverständlich.« In der Tat ist dieses gravierende Versäumnis bei der Planung eines wichtigen Auslandseinsatzes überhaupt nicht nachzuvollziehen. Die Führung der Bundeswehr muss sich auf alle Eventualitäten einstellen, wenn sie sich und ihre Einsatzkräfte vor fatalen Überraschungen bewahren will. Darum, so sollte man meinen, wäre es auch klug und umsichtig, wenn das Kontingent der Bundeswehr, das in den Wintermonaten in Litauen eingesetzt wird, mit entsprechendem Kälteschutz in diesen Einsatz geht. In Litauen – nahe Finnland – können im Winter durchaus arktische Temperaturen herrschen. Jeder Infanterist, der bei diesen Wetterverhältnissen draußen seinen Dienst verrichtet, weiß: Richtige Ausrüstung ist überlebenswichtig.
»Es gibt kein schlechtes Wetter, sondern nur die falsche Kleidung«, den Spruch bekommen schon Pfadfinder zu hören, und die Logik, die darin liegt, versteht sich von selbst. Umso schwerer ist es zu verstehen, dass den Bundeswehrsoldaten in Litauen, die an der wichtigen Ostflanke der NATO eingesetzt sind, diese Kälteschutzausrüstung in den Wintermonaten 2021 fehlte. Vielen Kameraden bleibt in so einer Situation nichts anderes übrig, als sich fehlende Ausrüstung selbst zu kaufen. Ich habe in meiner aktiven Dienstzeit insgesamt mehrere Tausend Euro in Equipment investiert, weil das dienstlich gelieferte Zeug entweder zu nichts taugte oder einfach nicht verfügbar war. Besonders in den Afghanistan-Einsätzen zeigten sich die Grenzen des Materials. Wer Wert auf Beweglichkeit – die im Kampfeinsatz zwingend nötig ist – und geringeres Gewicht legte, kaufte sich seine Sachen kurzerhand selbst. Ich erinnere mich noch an die Handschuhe, die die Bundeswehr ausgibt. Sie schützen nicht nennenswert vor Kälte oder Nässe und sind nicht sehr benutzerfreundlich. Wenn ich mit derart behandschuhten Fingern etwas auf einem Tablet oder Funkgerät – beides Werkzeuge eines modernen Soldaten – eingeben soll, habe ich keine Chance. Vom geringen Abzugsgewicht eines Scharfschützen- oder Präzisionsgewehrs, für das man sprichwörtlich Fingerspitzengefühl braucht, mal ganz zu schweigen. Ein ewiges Thema für jeden Soldaten sind auch die Kampfstiefel. Infanteristen marschieren viel. Gutes Schuhwerk ist darum von elementarer Bedeutung, und jeder weiß, dass man es einlaufen muss. Wenn es also erst kurz vor einem Auslandseinsatz ausgegeben wird, kann man das Einlaufen vergessen. Am besten, man zieht die Stiefel gar nicht erst an und nimmt die, die man sich schon gekauft und eingelaufen hat. Blasen an den Füßen im Einsatz braucht man nun wirklich nicht. Was ich hier erzähle, ist in der Truppe bekannt, und die meisten Kameradinnen und Kameraden werden mir beipflichten. Dass viel Privatausrüstung verwendet wird, zeigt sich übrigens, wenn man sich Bilder aus den Auslandseinsätzen ansieht und darauf achtet, wie zusammengewürfelt und uneinheitlich manche Einheiten gekleidet sind. Jeder erfahrene Soldat nimmt eben einfach das, was für ihn am besten funktioniert. Weil sie um die Mängel wissen und an der Sicherheit ihrer Soldaten interessiert sind, tolerieren die meisten Vorgesetzten diese Praxis. Damit könne man ja – abgesehen von den hohen Kosten, die der Soldat selbst tragen muss – leben, wird jetzt manch einer sagen, doch es gibt da einen Dämpfer. Aus Versicherungsgründen ist es Soldaten nicht gestattet, private Ausrüstung – also solche, die nicht von der Bundeswehr ausgegeben und zertifiziert wurde – in Dienst und Einsatz zu benutzen. Jeder Soldat ist durch seinen Dienstherrn im Schadens- und schlimmstenfalls Todesfall versichert. Dadurch steht der Soldat vor dem Dilemma: Bringt er sich und seine Kameraden durch minderwertige – oder ganz fehlende – Ausrüstung in Gefahr, oder handelt er verantwortungsvoll im Sinne der Auftragserfüllung und riskiert damit, dass er oder seine Angehörigen im Schadensfall ohne Hilfe dastehen? Ich erinnere mich an eine tragische Episode aus meiner aktiven Dienstzeit bei den Fallschirmjägern. Ein Kamerad kam bei einem Sprungunfall ums Leben. Wie bei solchen Vorfällen üblich, wurde von den Spezialisten der Bundeswehr eine Untersuchung gemacht. Aus den von mir erwähnten Gründen trug der Kamerad nicht die dienstlich gelieferten Stiefel. Auch als Fallschirmjäger muss man ja nach dem Absetzen erhebliche Distanzen zu Fuß und mit Gepäck zurücklegen, darum achtete jeder auf vernünftiges Schuhwerk. Jedenfalls weigerte sich die Versicherung, in diesem Fall zu zahlen. Der Kamerad war gerade zum zweiten Mal Vater geworden und hinterließ eine junge Familie. Wir sammelten daraufhin im Verband, und es kam eine stattliche Summe zusammen, aber verglichen mit der Versicherungsleistung waren es Peanuts. Was ich hier beschreibe, sind beileibe keine Einzelfälle, sondern Alltag in der Bundeswehr. Darum sind die meisten Einheiten dazu übergegangen, in ihren Sanitätsbereichen mindestens einen Satz dienstlich gelieferter Ausrüstung vorzuhalten, den sie im Ernstfall dem Verwundeten schnell überziehen. In Afghanistan hatte unser Sanitäter zu diesem Zweck immer noch einen zusätzlichen dienstlich gelieferten »Plattenträger« – die Weste, mit der keramische Platten zum Schutz vor Geschossen und Splittern getragen werden – mit dabei. Wirklich benutzt hat das schwere Ding in meiner Einheit kaum jemand. Manchmal wurden auch einfach die Platten herausgenommen, um beweglicher zu sein. Wie ich hier zu erklären versucht habe, besteht das Problem nicht nur in fehlender, sondern auch in mangelhafter, ungeeigneter Einsatzkleidung. In einer Bundeswehr, die weltweit einsatzbereit sein will, sollte also jeder Soldat ständig über mindestens einen Satz der entsprechenden Einsatzbekleidung und der persönlichen Ausrüstung verfügen. Das wäre zumindest nötig, wenn die Bundeswehr ihrem eigenen Anspruch gerecht werden will. Dass dringender Handlungsbedarf besteht, wurde dann auch im Verteidigungsministerium erkannt. Am 8.4.2022 erließ die damalige Bundesverteidigungsministerin Lambrecht einen »Tagesbefehl zur persönlichen Vollausstattung bis 2025«. Darin heißt es unter anderem: »Zu Ihrer Feldbekleidung erhalten Sie den Kampfbekleidungssatz Streitkräfte. Dieses Paket aus 25 Einzelteilen befähigt Sie für Einsätze in allen Klimazonen und Witterungen. In Zukunft passt Ihre persönliche Ausrüstung zu jedem Auftrag, an jedem Ort«. Und: »Die Verbesserung Ihrer persönlichen Ausrüstung hat für uns oberste Priorität. Der Dank gebührt all den kreativen Köpfen in unserem Geschäftsbereich, die sich mit Nachdruck für den Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten einsetzen. Die Beschaffungsentscheidung vom gestrigen Tage ist das Ergebnis von kreativen Lösungen, Initiative und dem Mut, neue Wege zu gehen.« Im Tagesbefehl der Verteidigungsministerin wird ganz klar der Anspruch bekräftigt, jeden Soldaten weltweit einsetzen zu wollen. Dass dadurch hohe Anforderungen an deren persönliche Ausrüstung gestellt werden, habe ich bereits erläutert. Gleichzeitig werden Mängel und Versäumnisse eingeräumt. Seit 2002 ist eine private Firma mit der Einkleidung der Soldaten beauftragt. Nach einer Umstrukturierung nennt sie sich heute Inhouse-Gesellschaft Bw-Bekleidungsmanagement GmbH. In der Privatwirtschaft würde man angesichts von »Mängeln und Versäumnissen« wohl zu dem Schluss kommen, dass die Firma es nicht hinbekommt. Vielleicht sprach Christine Lambrecht aus diesem Grund davon, dass man »neue Wege gehen wolle«? Es wäre nur konsequent und folgerichtig. Doch weit gefehlt, im Juni 2022 wurden die bestehenden Verträge zwischen dem Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw, im folgenden Bundesamt oder Beschaffungsamt) und der Inhouse-Gesellschaft Bw Bekleidungsmanagement (BwBM) GmbH durch einen Änderungsvertrag erweitert. Aus dem 100-Milliarden-Sondervermögen sollen nun etwa 2,3 Milliarden für Bekleidung und persönliche Ausrüstung ausgegeben werden. Nach »neuen Wegen«, sprich anderen Anbietern, wurde offensichtlich nicht lange gesucht. Begründet wird die rasche Entscheidung damit, dass man wegen begrenzter Produktionskapazitäten und Rohstoffknappheit schnell habe handeln müssen. Teil des Paketes ist die Anschaffung von 313.000 Gefechtshelmen.
Der »Gefechtshelm Streitkräfte« wird von der Firma Rheinmetall gefertigt und soll in der gesamten Truppe getragen werden. Neben dem ballistischen Schutz aus Verbundstoffen und Kevlar, der eine hohe Beschussfestigkeit garantieren soll, ist dabei wichtig, dass die Soldaten einen Aktivgehörschutz unter dem Helm tragen und ein Nachtsichtgerät montieren können. Beim Aktivgehörschutz handelt es sich um einen Kapselgehörschutz, der Umgebungsgeräusche – darunter auch den Knall von Schüssen oder Explosionen – herausfiltert und lediglich die menschliche Stimme durchlässt. Das System ist mit der Sprechfunkverbindung der Soldaten koppelbar. Im Einsatz ist das eine wichtige Verbesserung, da gerade die Kommunikation zwischen den einzelnen Truppenteilen – beispielsweise, wenn es sich um Luftunterstützung oder ein koordiniertes Vorgehen handelt – elementar ist. Es ist so gedacht, dass es unter dem Helm getragen wird und der Soldat die Hände zum Kämpfen frei hat. Es sind mittlerweile sehr leistungsfähige und leichte Varianten dieser Systeme auf dem Markt. Im Sommer 2020 wurde von der Bundeswehr der Auftrag zur Beschaffung von 8.000 Sprechsätzen mit Gehörschutzfunktion vom Typ ComTac XPI des Herstellers 3 M Peltor vergeben. Das Problem: Diese Geräte passen nicht unter den Gefechtshelm der Truppe. Will man sie also einsetzen, braucht man zwingend auch einen neuen Gefechtshelm. Die Einführung eines solchen, mit dem die Sprechsätze kompatibel sind – so der 11. Rüstungsbericht vom Sommer 2020 –, werde zwar angestrebt, doch frühestens von da an gerechnet in zwei Jahren möglich sein. Explizit wird in dem Rüstungsbericht auch darauf hingewiesen, dass die zeitliche Planung nur unter dem Vorbehalt aufrechterhalten werden könne, wenn es keine weiteren juristischen oder technischen Probleme bei der Beschaffung geben wird. Wer die Bundeswehr kennt, liest hier zwischen den Zeilen, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit sowohl mit dem einen wie dem anderen zu rechnen ist. Dazu braucht man sich nur anzuschauen, wie es um den neuen Gefechtshelm der Fallschirmjäger steht. Im Juli 2021 stellten einige Abgeordnete der FDP eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung, in der es um die Ausstattung der Bundeswehr mit dem »Gefechtshelm springende Truppe« ging. Aus der Antwort wurde deutlich, dass es einen gravierenden Engpass gab, der sogar die anstehende Sprungausbildung zu unterbrechen drohte. Der »Gefechtshelm springende Truppe« ist der einzige im Bestand der Bundeswehr, der für den Fallschirmsprung mit automatischer Auslösung zertifiziert ist. Was ist nun an Gefechtshelmen für die Fallschirmjägertruppe so grundsätzlich anders als an denen der übrigen Truppenteile? Anforderungen wie die ballistische Schutzfunktion, Sprechsets mit Aktivgehörschutz, die Montage von Nachtsichtgeräten und Schienen an der Außenseite, an denen weiteres Equipment befestigt werden kann, sind identisch. Der Unterschied besteht in der Beschaffenheit des Riemensystems, mit dem der Helm unter dem Kinn befestigt wird. Bei einem Absprung mit dem Fallschirm wirken ganz andere Kräfte auf Helm und Befestigung, als dies bei einem Einsatz am Boden der Fall ist. Findet ein Absprung aus sehr großer Höhe statt, kommen sogar noch extreme Temperaturschwankungen sowie Belastungen durch höhere Fallgeschwindigkeit dazu. Aus diesen Gründen sind die Verschlüsse des Riemensystems des »Gefechtshelms springende Truppe« aus Metall anstatt aus Kunststoff gefertigt. Die Helme der Fallschirmjäger werden alle vier Jahre gewartet, um Unfälle und Fehlfunktionen zu vermeiden. Bereits vor mehr als zehn Jahren hat die Bundeswehr die Einführung eines neuen Gefechtshelms für die Fallschirmjägertruppe beschlossen, um den neuen Anforderungen – Aktivgehörschutz, Nachtsichtgerät und so weiter – Rechnung zu tragen. Man machte sich auf die Suche nach geeigneten Modellen und fragte bei der Rüstungsindustrie nach. Offensichtlich ohne den gewünschten Erfolg, denn spätestens im Sommer 2021 stand die Fallschirmjägertruppe vor dem Verlust ihrer Einsatzfähigkeit, weil nicht mehr genug Helme für die Sprungausbildung vorhanden waren. Noch schlimmer: Nicht nur Fallschirmjäger, sondern auch Soldaten mit erweiterter Grundbefähigung (sogenannte EGB-Kräfte) werden mittels Fallschirmsprung an ihre Einsatzorte verbracht. Dazu gehören beispielsweise Joint Fire Support Teams und Mörserkräfte. Erstere koordinieren vom Gefechtsfeld aus über Funk Luft- und Artillerieunterstützung, Letztere leisten mit eigenen Mörsern Feuerunterstützung. All diese Einheiten sind Bestandteil der Division Spezielle Operationen. Besonders weil die Bundeswehr 2023 eine Führungsrolle in der schnellen Eingreiftruppe der NATO – der Very High Readiness Joint Task Force, kurz VJTF – übernehmen wird, müssen diese Kräfte einsatzbereit sein. Wohl auch um die Einsatzfähigkeit der für die VJTF 2023 vorgesehenen Truppenteile in puncto Sprechsatz mit Aktivgehörschutz und Nachtkampffähigkeit zu erhalten, entschloss sich die Bundeswehr zu einer Zwischenlösung. Sie orderte bei der Firma Rheinmetall den tatsächlich so benannten »Gefechtshelm Zwischenlösung«, der auch unter der Bezeichnung »Gefechtshelm Spezialkräfte schwer« bekannt ist. Der entsprach nun allen Anforderungen – nur war er eben nicht für den Absprung mit dem Fallschirm zertifiziert! Die Bundesregierung äußerte sich dazu wie folgt: »Der Fallschirmsprungdienst wird über das vorhandene Helmsystem für den Sprungdienst sichergestellt.« Im Klartext bedeutet das, dass die Fallschirmjäger mit dem altbekannten »Gefechtshelm springende Truppe« abgesetzt werden, der aber, wie wir mittlerweile wissen, nicht mit den neuen Sprechsätzen kompatibel ist. Um ihren Auftrag erfüllen zu können, müssten sie demnach nach der Landung den Helm wechseln und den »Gefechtshelm Zwischenlösung« aufsetzen. Vielleicht hat sich irgendwer im Verteidigungsministerium Gedanken darüber gemacht, wie man die »Gefechtshelme Zwischenlösung« getrennt von den Fallschirmjägern ins Einsatzgebiet – das sich höchstwahrscheinlich im Kampfgebiet befindet – bringen könnte. Hierfür käme ein Abwurf mittels Lastenfallschirm infrage. Dann müssten die Kameraden am Boden nur noch die Abwurfstelle finden und schnell den Helm wechseln – schon wären sie im Sinne der VJTF einsatzbereit. Die einsatzbezogene Nutzung des »Gefechtshelms Zwischenlösung« ist unter diesen Voraussetzungen genauso schwachsinnig, wie es sich anhört. Das muss schließlich auch jemandem in der Bundesregierung aufgefallen sein, denn als Nächstes wurde über eine Nachzertifizierung des neuen Helms für den Sprungeinsatz nachgedacht. Dazu äußerte sich wiederum die Bundesregierung wie folgt: »Eine nachträgliche Zulassung dieses bereits gelieferten Gefechtshelmes für den Fallschirmsprung hätte unter Beachtung des vorliegenden Konstruktionsstands zu erfolgen. Dieser umfasst einen relativ filigranen Kunststoffverschluss des Kinnriemens sowie eine Auslösevorrichtung, die bei Belastung den Kinnriemen löst. Sofern der Gefechtshelm als Ausrüstungsartikel nicht im Rahmen der erteilten Musterzulassung des Fallschirmsystems betrieben werden kann, ist bei der Feststellung der Nichtbeeinträchtigung der Verkehrssicherheit des Fallschirmsystems eine nachträgliche Zulassung durch das Luftfahrtamt der Bundeswehr grundsätzlich möglich.« Beinahe zehn Jahre lang war niemand auf diese naheliegende Idee gekommen. Erst unter dem Druck, einsatzfähige Kräfte für die schnelle Eingreiftruppe der NATO stellen zu müssen, ging es dann plötzlich doch. Noch absurder wurde das Ganze dadurch, dass es sich bei dem »Gefechtshelm Zwischenlösung« um das Modell »Batlskin Viper« des US-Herstellers Galvion handelt. Rheinmetall hat mit der amerikanischen Firma eine Vertriebspartnerschaft in Deutschland. Der Helm wird bereits seit Jahren bei den US-Luftlandetruppen eingesetzt. Warum er in Deutschland erst noch aufwendig erprobt und zertifiziert werden muss, wenn eine schnelle Lösung gefordert ist, um die Einsatzfähigkeit der Fallschirmjägertruppe zu erhalten, verstehe ich beim besten Willen nicht. Und wie die Bezeichnung »Zwischenlösung« nahelegt, handelt es sich eben bei alldem nicht um eine durchdachte Lösung des eigentlichen Problems. Warum hat man nicht einfach hingeschaut, was bei anderen Armeen – in diesem Fall den Fallschirmjägern der US-Army – funktioniert, und es dann einfach von der Stange gekauft? Gerade wenn kurzfristig einsatzbereites Material benötigt wird, wäre dies die beste – und kostengünstigste – Lösung. Ich staunte darum nicht schlecht, als ich dann im Juni 2022 erfuhr, dass im Änderungsvertrag zwischen dem Beschaffungsamt und der Inhouse-Gesellschaft Bw Bekleidungsmanagement GmbH die Anschaffung von 313.000 »Gefechtshelmen Zwischenlösung« vereinbart worden war. Zunächst einmal, so die Bundesregierung, sollen damit die Soldaten und Soldatinnen der VJTF 2023 ausgestattet werden. Damit ist nach mehr als zehn Jahren Hin und Her aus der Zwischenlösung wohl eine endgültige geworden. Jetzt spricht man vom »Gefechtshelm Streitkräfte«. Vorerst jedenfalls, denn man weiß ja nie, was den Experten im Beschaffungsamt der Bundeswehr noch einfallen wird.