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Wie fühlt es sich an, als deutscher Soldat in den Straßen von Kabul zu patrouillieren? Wie reagiert man, wenn plötzlich ein Kind mit einer Waffe vor einem steht? Und wie geht man als Soldat mit der ständigen Bedrohung um? In seinem Erfahrungsbericht gewährt der Fallschirmjäger Achim Wohlgethan erstmals einen ungeschönten Einblick in den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. Mit seinem Insiderbericht bringt er uns nicht nur Land und Leute, sondern auch die Probleme der deutschen Armee und der internationalen Afghanistan-Politik nahe. Ein packendes und längst fälliges Buch, das die Diskussion um die gefährliche Auslandsmission der Bundeswehr auf eine neue Basis gestellt hat.
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Das Buch
Wie fühlt es sich an, als deutscher Soldat in den Straßen von Kabul zu patrouillieren? Wie reagiert man, wenn plötzlich ein Kind mit einer Waffe vor einem steht? Und wie geht man als Soldat mit der ständigen Bedrohung um?
Der Fallschirmjäger Achim Wohlgethan erzählt lebendig und kenntnisreich von seinem Alltag in Kabul. Mit seinem Insiderbericht bringt er uns nicht nur Land und Leute, sondern auch die Probleme der deutschen Armee und der internationalen Afghanistan-Politik nahe. Er nimmt uns mit in armselige Krankenhäuser, gefüllte Waffenlager und idyllische Bergdörfer, die von Warlords verwaltet werden. Er erzählt von seiner Hilfe für einen abgeschobenen Jungen aus Frankfurt und von seinen gefährlichen Operationen, die er für geheime Dienste und mit einer niederländischen Spezialeinheit durchführte. Eindrücklich schildert er, dass die Bundeswehr die Gefährlichkeit ihrer Mission bewusst herunterspielt und die Soldaten oft moralisch, politisch und juristisch im Stich gelassen werden.
Mit seinem Erfahrungsbericht gewährt Achim Wohlgethan erstmals Einblick in den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr und liefert politisch brisante Fakten, die die Diskussion um diesen Einsatz in ein neues Licht rücken. Ein packendes und längst fälliges Buch.
Die Autoren
ACHIM WOHLGETHAN, Jahrgang 1966, absolvierte eine zivile Ausbildung zum Hubschrauber-Piloten und kam 1995 als Zeitsoldat zu einem Fallschirmjägerbataillon nach Oldenburg. Nach seinem Einsatz in Kabul wurde er Angehöriger eines Fallschirmjäger-Spezialzuges der »Division Spezielle Operationen« der Bundeswehr. Nach seinem Dienstzeitende arbeitete er weltweit als selbständiger Sicherheitsberater. Er lebt als Autor in Wolfsburg, wo er auch eine eigene Beratungsfirma hat.
DIRK SCHULZE, Jahrgang 1972, trat 1992 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr ein und verpflichtete sich auf 14 Jahre. Er schlug die Offizierslaufbahn ein und nahm an mehreren Auslandseinsätzen der Bundeswehr teil. Er war Angehöriger der ISAF-Vorauskräfte in Afghanistan und zuletzt als Hauptmann und Presseoffizier tätig. Nach seinem Austritt aus der Bundeswehr arbeitete er als Rechercheur und lebt heute als Autor in Hamburg.
Prolog
Abreise nach Kabul und erste Tage im Camp
Gefechtsfeldtourismus und andere deutsche Spezialitäten
Falsche Waffen und ein echter Raketenbeschuss
Mein Beitrag für die Loya Jirga und geheime Dienste
Ich werde niederländischer Kommandosoldat
Geburtstag in den Bergen
Die Stadt der ehrlosen Frauen
Auge in Auge mit afghanischen Kämpfern
Unruhige Tage im Versteck
Selbstmordkommando am Kabul Stadion
Besuch vom Kanzler und ein Ausflug mit dem deutschen General
Abschied von meiner »Familie«
Zurück in der fremd gewordenen Heimat
Bildteil
Nachwort zur Taschenbuch-Ausgabe
Nachtrag zum Abzug aus Afghanistan
Danksagung
Dokumenten-Anhang
Glossar
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
Als ich am Morgen des 11. September 2001 die Wache der Henning-von-Tresckow-Kaserne in Oldenburg passierte, hätte noch niemand ahnen können, wie sich die Welt an diesem Tag ändern würde. Es war ein ganz normaler, eher ruhiger Dienstag. Unser Bataillon, das Fallschirmjägerbataillon 314 innerhalb der Luftlandebrigade 31, wo knapp 3000 Fallschirmjäger ihren Dienst taten, sollte bald aufgelöst werden. Der Dienstbetrieb war bereits auf ein Minimum reduziert. Viele meiner Kameraden hatten schon ihre Versetzung erhalten in die Schwesterbataillone in Varel oder Doberlug-Kirchhain.
Ich ging in den Besprechungsraum, einen gemütlich eingerichteten Gemeinschaftsraum mit den beiden wichtigsten Dingen soldatischen Lebens in einer Kaserne: einer Kaffeemaschine und einem Farbfernseher. Ich setzte mich zu ein paar anderen an den Tisch, um die anstehenden Aufträge für den Tag zu besprechen. Während sich der Raum leerte, weil sich die meisten schon an die Arbeit gemacht hatten, saß ich noch mit ein paar Leuten zusammen. Wie jeden Tag flimmerten dabei irgendwelche Sendungen über die Mattscheibe, aber niemand beachtete sie. Das änderte sich mit einem Schlag, als plötzlich ein Unglück in New York gemeldet wurde: Ein Flugzeug war in einen der Twin Towers des World Trade Centers gestürzt. Wir schauten nicht wirklich interessiert zu.
Die Bilder des rauchenden Wolkenkratzers liefen in Echtzeit über den Fernseher, aber wir hatten keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hatte. Doch plötzlich änderten sich die Bilder, und auch der Ton. Es kamen Schreie aus dem Fernseher, und wir sahen fassungslos, wie die zweite Maschine in dem anderen Turm einschlug. In dem sonst so warmen und geselligen Raum mit der Holztäfelung herrschte plötzlich eisige Stille. Immer mehr meiner Kameraden kamen herbeigeeilt, die Neuigkeiten sprachen sich herum wie ein Lauffeuer. Niemand wagte ein Wort zu sagen. Man konnte hören, wie einige Soldaten atmeten, sichtlich bewegt von dem, was sie sehen mussten: Menschen, die aus großer Höhe verzweifelt in den Tod sprangen. Und jeder konnte sich vorstellen, was im Inneren der Twin Towers ablief, wo Menschen auf Hilfe hofften und schließlich die beiden Türme in sich zusammenbrachen. Alles, was außerhalb des Fernsehers geschah, war in diesem Augenblick völlig unbedeutend geworden, es interessierte niemanden von uns. Irgendwo in einem der Büros klingelte ein Telefon, aber keiner nahm ab. Es war, als gäbe es kein Draußen mehr. Es war, als wäre ein Schlag durch den Standort gegangen.
Das Chaos und die Hektik, die wir im Fernsehen sahen, hatten uns erfasst. Aber auf eine seltsame Art sind die meisten von uns – zumindest äußerlich – sehr ruhig geblieben. Viele dachten wohl über die Tragweite dieses terroristischen Anschlags nach. Uns war klar, dass die Amerikaner sich so etwas nicht bieten lassen würden. Sie würden etwas unternehmen, ja unternehmen müssen, und zwar schnellstmöglich. Gegen wen, das stand damals in den Sternen. Aber wir wussten, dass es eine militärische Antwort geben würde und dass das möglicherweise auch für uns Folgen hätte. »Jetzt gibt’s Krieg«, kommentierten schließlich einige jüngere Soldaten die Szenen auf dem Bildschirm und durchbrachen die bedrohliche Stille. Die älteren, etwas abgeklärten waren sehr still. Sie wussten, dass die Zukunft nicht angenehm werden würde. Als Angehörigen der Luftlandebrigade 31, eines von drei Großverbänden der »Division Spezielle Operationen«, war uns klar, dass wir die deutsche Speerspitze wären, zu welcher Maßnahme auch immer es kommen würde.
Als auf dem Fernseher die ersten Wiederholungsschleifen der zusammenstürzenden Türme zu sehen waren, gingen viele wortlos nach draußen, um mit ihren Familien zu telefonieren. Einige riefen auch im Stab an. Dort war sehr schnell eine Nachrichtensperre ausgegeben worden. Kein Soldat sollte sich gegenüber der Presse äußern; die Bundeswehroberen wollten sich zu den Folgen für ihre Armee bedeckt halten.
Auch mir war sofort klar gewesen, dass deutsche Soldaten irgendwo hingehen würden, um den Amerikanern zu helfen. Was aber würde das konkret für mich bedeuten? In mir tobte ein Gedanken- und Gefühlsgewitter. Einerseits spürte ich den Wunsch, mich zu engagieren und meine Erfahrungen und Fähigkeiten einzubringen. Konnte ich schon nicht den im World Trade Center Gefangenen und Verschütteten helfen, so wollte ich doch andere vor einem ähnlichen Schicksal bewahren, indem ich etwas Sinnvolles gegen den Terrorismus unternahm und mich dabei mit allem, was ich an Kenntnissen zu bieten hatte, einbrachte. Auf der anderen Seite hatte ich auch Angst, Angst vor der Ungewissheit, was die Zukunft bringen und wohin der nun drohende Konflikt führen würde. Ich war hin und her gerissen zwischen Verantwortung meiner Familie gegenüber und der Verantwortung für die »Firma« inklusive untergebener Soldaten und Kameraden, die ich unmöglich im Stich lassen konnte, niemals im Stich lassen würde. Kurz, all die Gefühle und Gedanken, die wir Soldaten der Einfachheit halber in die Schublade stecken, die wir als »Job« bezeichnen. Welche Ausmaße die Antwort auf den Terror annehmen sollte und was letztendlich daraus geworden ist, beschreibt nun dieses Buch.
Da die beschriebenen Ereignisse schon eine Weile zurückliegen, mögen die Leser und Leserinnen es mir nachsehen, dass die im Buch geschilderten Dialoge unter Umständen nicht im exakten Wortlaut wiedergegeben werden. Da ich während meiner Zeit in Afghanistan Tagebuch geführt habe, sind die Gesprächsinhalte alle verbürgt. Zum Schutz der Betroffenen wurden alle vorkommenden Personen, die nicht Personen des öffentlichen Lebens sind, anonymisiert.
Ich widme dieses Buch allen, die als Soldaten in solchen oder ähnlichen Einsätzen täglich ihr Leben riskierten und riskieren, sowie deren Angehörigen. Insbesondere den Lebenspartnern, die in den Monaten der Einsätze »ihre« Soldaten nicht im Stich
lassen. Mein besonderer Dank gilt meiner »Familie«, den Niederländischen Korps Commando Troepen und dort der Kompanie 104 des zweiten und dritten Einsatzkontingents, denen ich vier Monate angehörte und mit denen ich zahlreiche Operationen durchführte. Gleichzeitig soll das Buch ein Gedenken für die Soldaten aller Nationen sein, die in solchen Einsätzen ihr Leben ließen.
Es zeichnete sich sehr schnell ab, dass es auf Afghanistan hinauslaufen würde. Weil die Amerikaner den Drahtzieher der Anschläge, Osama bin Laden, dort vermuteten, marschierten sie im Oktober 2001 in das Land am Hindukusch ein und stürzten die Taliban. Derweil setzte in unserem Nachbarbataillon in Varel bereits hektische Betriebsamkeit ein. Ausgewählte Soldaten erhielten eine erste Vorausbildung, damit sie als Vorauskräfte so schnell wie möglich in das Einsatzland verlegt werden konnten. Der Rest der Truppe verfolgte interessiert diese Vorbereitungen. Würden wir ebenfalls betroffen sein? Wäre es eine gute Idee, sich freiwillig zu melden?
Meine Überlegungen wurden immer wieder von neuen Entwicklungen überschattet. Vom 27. November bis 5. Dezember 2001 tagte in Bonn die »Petersberger Konferenz«, auf der die größten ethnischen Gruppen Afghanistans eine »Vereinbarung über provisorische Regelungen in Afghanistan bis zum Wiederaufbau dauerhafter Regierungsinstitutionen« beschlossen. Auch die Voraussetzungen für einen Einsatz internationaler Truppen wurden zügig geschaffen. Schon am 20. Dezember 2001 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 1386. Diese sah vor, für einen Zeitraum von sechs Monaten eine sogenannte Sicherheitsbeistandstruppe in Kabul zu stationieren, also eine Friedenstruppe zur Aufrechterhaltung der Sicherheit. Wir waren beeindruckt, wie schnell reagiert wurde. Nur zwei Tage nach der Verabschiedung der UN-Resolution folgte der deutsche Bundestag. Am 22. Dezember erteilte er das Mandat für die Beteiligung am ISAF-Einsatz. ISAF – das steht für »International Security Assistance Force«, ist also eine Schutztruppe im Friedenseinsatz, aber nicht zu verwechseln mit den Blauhelmen. Hinter vorgehaltener Hand wurde spekuliert, dass die Bundesregierung die Beteiligung an einem Afghanistan-Einsatz wohl als das geringere Übel ansah, wusste man doch nicht, was die Amerikaner sonst noch planten. Im Nachhinein kann man sagen, dass das eine weise Entscheidung war – denn sonst wäre die Bundeswehr im Irak direkt in ihren Untergang marschiert.
Am 31. Dezember verlegten die Vorauskräfte in Richtung Hindukusch. Wenig später flog das niederländisch-deutsche Vorauskommando ebenfalls ab. Es wurde live auf allen Nachrichtensendern übertragen. Ich saß vor dem Fernseher und sah meine Kameraden Interviews geben. Die meisten von ihnen kannte ich sehr gut. Nun beschloss ich, selbst aktiv zu werden. Noch am selben Tag setzte ich mich vor meinen Computer und schrieb einen Antrag, ebenfalls nach Afghanistan verlegt zu werden. Ich wollte mich aktiv beteiligen und nicht nur vor dem Fernseher sitzen und zusehen.
Außer der Herausforderung, der Neugier und meiner Eignung war der finanzielle Anreiz kein unwesentlicher Aspekt gewesen, mich für diesen Einsatz zu begeistern. 93 Euro pro Tag gab es an Gefahrenzulage, bei einer Einsatzdauer von sechs Monaten kam da ein stolzes Sümmchen zusammen. Das Problem war nur, dass unser Bataillon ja gerade aufgelöst wurde und es schwierig war, eine passende Stelle für mich zu finden, die es zu besetzen galt. Allerdings hatte man mir versprochen, eine meinen Fähigkeiten entsprechende Verwendung zu finden, wenn ich dann vor Ort wäre. Offiziell wurde ich schließlich als Stabsdienstsoldat und Kraftfahrer nach Kabul kommandiert. Mir selbst war das völlig egal gewesen. Wichtig war mir nur, dass es überhaupt losging.
Um in das erste Kontingent Kabul kommen zu können, musste ich noch die notwendige sogenannte Kontingents-Ausbildung für Auslandseinsätze nachweisen. Da die Mühlen der Bürokratie bekanntlich langsam mahlen, dauerte es noch ein paar Wochen, bis es endlich so weit war. Am 18. März 2002 stand ich zusammen mit einem guten Dutzend anderer zukünftiger deutscher ISAF-Soldaten in Hildesheim und erhielt bei der Panzerbrigade 1 meine obligatorische neuntägige Ausbildung – für den Kosovo! Was sicherlich optimal gewesen wäre für einen Einsatz, wenn dieser auch im Kosovo stattgefunden hätte, nur ging es für mich ja ans andere Ende der Welt. Doch die Bundeswehr wusste sich zu helfen und fügte meinem offiziellen Befähigungsausweis ein Papier hinzu, wonach in Vorbereitung auf den ISAF-Einsatz in Afghanistan auch rechtliche Grundlagen und Landeskunde unterrichtet worden seien. Am Tag dieser nicht unwichtigen Einführungen muss ich geistig abwesend gewesen sein, denn ich kann mich an keinen einzigen Vortrag zu diesen Themen erinnern. Gut im Gedächtnis habe ich allerdings ein achtseitiges Papier zum Thema »Afghanistan«, das vom »Amt für militärisches Geowesen« stammte und uns allen kommentarlos in die Hand gedrückt wurde. Das musste wohl als Info über das, was mich und meine Kameraden dort erwartete, genügen.
Danach wurde ich zurück zu meiner Brigade nach Oldenburg geschickt und erfuhr, dass meine Reise am 11. April 2002 losgehen würde und mit der Heimkehr des ersten Kontingents am 30. Juni enden sollte. Ich war froh, endlich ein fixes Datum zu haben, und bereitete mich vor: Ich regelte persönliche Angelegenheiten und verabschiedete mich von meiner Familie und von Freunden. Es konnte mir schließlich niemand garantieren, dass ich sie jemals wiedersehen würde.
In der Kaserne Köln/Mechernich, wohin ich einen Tag vor dem Abflug verlegt wurde, ließ ich zusammen mit den anderen Soldaten, die nach Kabul verlegt wurden, die nötigen Prozeduren über mich ergehen. Wahnsinn, wie viel Papierkram da erledigt werden muss. Die Bürokratie in einer Armee, besonders in der Bundeswehr, ist unglaublich. Alles muss in mehrfacher Ausfertigung vorliegen, das Ausfüllen der Dokumente wird zum Staatsakt. Sogar die Packweise der mitgeführten Ausrüstung wird genau vorgeschrieben, und zwar bis auf solche Details, was man in welcher Hosentasche seiner Tarndruck-Feldhose haben muss: in der linken Hosentasche Gehörschutz und Mückenschleier, in der rechten ein olivgrünes Bundeswehr-Taschentuch, in der linken Seitentasche unter anderem ein Verbandspäckchen und in der rechten – ironischerweise entgegen den internationalen Bestimmungen für die Luftsicherheit – ein an einer Schnur befestigtes Fallschirm-Kappmesser. Auch der Inhalt der Mehrzwecktasche und die Verstauung der ABCSchutzmaskentasche waren genauestens festgelegt.
Am letzten Abend vor dem Abflug zog ich mit meinen Kameraden durch die Kneipen Kölns. Die Wirte wussten schon, zu was für einem »Verein« wir gehörten, denn diese Praxis hat vor Auslandseinsätzen gute, alte Tradition. Mit gutem Grund. Uns allen war bewusst, dass es in den nächsten Monaten in puncto Freizeit, Entspannung und Party schlecht aussehen würde. Also ließen wir noch mal ordentlich »die Sau raus« und zogen bis morgens in der Früh um die Häuser. Auf Einzelheiten möchte ich nicht näher eingehen, nur so viel: Ich habe es genossen! Am nächsten Morgen standen etwa fünfzehn müde Soldaten am Terminal und ließen die Abfertigungsprozeduren über sich ergehen. Vom Start bekam ich schon nicht mehr viel mit, da mein »schwerer« Kopf schon leicht nach vorne geneigt war. Und so holte ich während des 6,5-stündigen Fluges etwas Schlaf nach.
Die Landung auf dem Luftumschlagplatz in Termez, einer usbekischen Provinzstadt keine zehn Kilometer vor der nördlichen Grenze zu Afghanistan, verlief unspektakulär. Von hier muss man in eine C 160 Transall steigen, um weiter nach Kabul oder Bagram zu reisen. Das ist nicht ganz ungefährlich. Niemand weiß genau, wie viele Raketen es in Afghanistan gibt, ob und wann sie gegen Flugzeuge gerichtet werden. Deshalb sind sämtliche Maschinen mit sogenannten Flares ausgestattet, die im Falle eines Raketenbeschusses ausgestoßen werden. Diese Täuschkörper lösen sich automatisch, wenn das Flugzeug mit einer Rakete oder von einem aktiven Radar vom Boden aus angepeilt wird, und bieten der wärmesuchenden Munition ein Ersatzziel. Mit entsprechend mulmigem Gefühl im Bauch setzte ich mich nach einer relativ ruhigen Nacht im Zeltlager des Luftumschlagpunktes in die Transall. Mir standen vierzig Minuten Flug in die afghanische Hauptstadt bevor, vierzig Minuten voll lebensgefährlichen Risikos: Wir flogen über eine unwirtliche und lebensfeindliche Sandwüste unter uns. Falls wir notlanden müssten, hätten wir weder Waffen noch Essen noch irgendwas dabei. Wären wir beschossen worden, wären wir nach einer Notlandung jeder kleinen Bande völlig wehrlos ausgeliefert gewesen. Das dumme Gefühl in meinem Bauch verstärkte sich von Minute zu Minute. Mir schwante, dass dieser Einsatz eine Grenzerfahrung werden würde.
Einen guten Vorgeschmack lieferte der Anflug auf Kabul. Der Flughafen Kabuls, der Kabul International Airport oder auch »KIA«, liegt nämlich in einem engen Talkessel. Die Ausläufer des 2199 Meter hohen Berges Rawash gehen bis ans Ende der Landebahn. Als ausgebildeter Hubschrauberpilot hatte ich einen Höllenrespekt vor der Herausforderung und verfolgte gespannt, wie der Pilot den Steilabstieg, ja beinahe Sturzflug bewältigte, um den Bergen nicht zu nahe zu kommen. In der Maschine breitete sich Nervosität aus, nun wurde es ernst. Meine Gedanken waren längst am Boden. Ich fragte mich, wie ich schnell an meine Ausrüstung komme. Diese verfluchte Hilflosigkeit, hier jedem Verrückten oder Terroristen wehrlos ausgeliefert zu sein, war zermürbend. Als Fallschirmjäger war mir eingebläut worden, niemals ohne Waffe irgendwohin zu gehen, und für Afghanistan schien mir dieser Grundsatz erst recht sinnvoll. Diese Ahnung verstärkte sich noch, als ich beim Blick aus dem Fenster etwas mehr vom Flughafen sehen konnte: Überall lagen zerstörte Flugzeuge und Tankfahrzeuge herum, die vor sich hin rosteten, daneben Wracks von abgeschossenen Militärfahrzeugen und Panzern – kein sehr vertrauenerweckender Anblick. Auch dem Allerletzten in der Maschine war nun schlagartig klar geworden, dass wir uns mitten in einem Kriegsgebiet befanden.
Noch während die Maschine rollte, wurde die Heckrampe geöffnet. Sofort breiteten sich die einströmende trockene Hitze und der Staub aus, der sich auf unsere Haut legte und in unseren Atemwegen einnistete. Dabei wurde der unglaubliche Gestank dieser Stadt glücklicherweise von dem Kerosingeruch der Turboprop-Motoren überdeckt – noch! Über der Stadt hing eine dichte Smogglocke, die den uralten Autos und unzähligen Feuern geschuldet war. Weil es kaum Strom gibt, aber Energie zum Heizen oder Kochen benötigt wird, zünden die Afghanen einfach alles an, was nur irgendwie zum Brennen gebracht werden kann. Als wir ausstiegen und alle zusammen einem Feldwebel in einen sicheren Bereich folgten, hatte ich meine erste Extremerfahrung mit dieser Stadt: Ein stechend süßlicher, alles überdeckender Geruch stieg mir in die Nase. Mein ganzes Leben werde ich diesen bestialischen Gestank nicht mehr vergessen können.
In dem abgesperrten Bereich wurden wir alle vom Personalfeldwebel namentlich erfasst. Ich stand etwas unruhig dabei und versuchte, irgendwo unsere Waffencontainer zu erspähen. Leider Fehlanzeige. Sie waren wohl noch nicht ausgeladen worden. Ich würde mich wohl oder übel auf unseren bewaffneten Begleitschutz verlassen müssen. Als wir zu den Bussen geführt wurden, war ich wirklich schockiert. Es waren stinknormale, zivile Charter-Busse! Wir nannten sie »Jingle-Trucks«, weil sie von oben bis unten mit Verzierungen aus Holz sowie Ketten und Glöckchen in jeder Form und Größe behängt waren. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Wie Touristen auf einer Ferieninsel sollten wir völlig schutzlos mitten durch eines der gefährlichsten Krisengebiete der Welt gekarrt werden. Wenigstens wartete am Ausgang des Flughafens ein Wolf, der typische Bundeswehr-Jeep, mit zwei Soldaten auf uns, um als Eskorte vorauszufahren. Wenn das mal als Sicherung reichte …
Bei der Fahrt ins Camp Warehouse herrschte Totenstille im Bus. Alle waren in Gedanken versunken oder schauten neugierig aus dem Fenster. Mir fiel ein, welche Unter-der-Hand-Informationen über die angespannte Sicherheitslage ich von Kameraden bekommen hatte. Ich versuchte verzweifelt, unsere Fahrt im Jingle Truck mit dem Risiko sowie den Kenntnissen aus meiner militärischen Ausbildung in Einklang zu bringen. Und so schaukelten wir in unserem Bus unter Glöckchenklingeln über die Jalalabadroad in Richtung Camp. Ein Jahr und zwei Monate fuhren die ungepanzerten Busse der Bundeswehr weiter. Dann, am 7. Juni 2003, sprengte sich ein Selbstmordattentäter auf genau dieser Straße in seinem Taxi in die Luft. Ein Bundeswehrbus, das Ziel dieses Anschlags, wurde dabei völlig zerstört. Vier Soldaten kamen ums Leben, 29 wurden zum Teil schwer verletzt und haben teilweise bis heute mit den gesundheitlichen und psychischen Folgen zu kämpfen. Erst danach änderte die Bundeswehr ihre Taktik und setzte für den Transfer zwischen Flughafen und Camp Warehouse gepanzerte Fahrzeuge ein. Wer auch immer für die Entscheidung verantwortlich war, den Terroristen so unbekümmert ein Ziel anzubieten und gegen jegliche militärische Grundsätze zu handeln – ich hoffe inständig, dass er mit dieser Schuld leben kann und niemals den Müttern dieser Kameraden begegnen wird.
Mein Bauchgefühl beruhigte sich, als wir das Camp Warehouse erreichten und durch das Haupttor fuhren. Was ich sah, glich einem Ameisenhaufen. Soldaten und Fahrzeuge verschiedenster Nationen kreuzten unseren Weg, überall zwischen den Zelten und Containern liefen beschäftigte Menschen herum, dazu ein Stimmengewirr aus allen möglichen Sprachen wie im biblischen Babel. Ich erkannte Uniformen und Flaggen aus Spanien, den Niederlanden, Österreich, der Türkei, Bulgarien, Rumänien, Schweden und Dänemark. Sie alle gehörten zur KMNB – jener »Kabul Multinational Brigade«, in der ISAF-Soldaten aus aller Herren Länder im von der Bundeswehr aufgebauten Camp Warehouse gemeinsam ihren Dienst taten. Das versprach eine interessante Arbeit zu werden, mit so vielen unterschiedlichen Soldaten. Doch mich interessierten zunächst nur drei Dinge, und zwar in exakt dieser Reihenfolge: Wo ist mein Bett? Wo ist das Klo? Wo bekomme ich Kaffee her?
Dann erregte das einzige feststehende Gebäude meine Aufmerksamkeit: ein viergeschossiger, älterer und langgezogener Zweckbau, der direkt an der Jalalabadroad im vorderen Bereich des Camps lag. In dieser ehemaligen Straßenmeisterei war der Stab der KMNB untergebracht. Direkt vor dem Gebäude machte sich jemand durch Winken bemerkbar: mein bester Kamerad und Freund Alex. Wir hatten vor meiner Abreise öfter miteinander telefoniert, und so wusste ich, dass er als Verbindungsmann zu den Spezialkräften im Stab abgestellt war. Ich hoffte inständig, dass wir zusammen eingesetzt würden. Zumindest hatte ich ihn vorab darum gebeten, sich nach einem interessanten Aufgabengebiet für mich umzusehen, damit ich nicht als Kraftfahrer mein Dasein fristen musste. Nach der freudigen Begrüßung eiste er mich erst mal aus dem Tross der anderen Neuankömmlinge los und tat etwas ganz Großartiges: Er übergab mir sein Gewehr, ohne große Worte. Endlich war ich nicht mehr auf den irgendwo verschüttgegangenen Waffencontainer angewiesen und konnte mir ganz entspannt von Alex das Lager zeigen lassen.
Ich war stark beeindruckt, wie weit das Camp schon aufgebaut worden war. Die Infanteriekräfte hatten wirklich herausragende Arbeit geleistet, obwohl sie sich nur nebenbei um die interne Infrastruktur hatten kümmern können. Denn mit ihren eigentlichen Aufgaben – wie Wache, Patrouille und die QRF (Quick Reaction Force) zu bilden, also die Schnelleinsatzkräfte für den Fall eines Zwischenfalls außerhalb des Lagers – waren sie bereits voll ausgelastet. Bei unserem Spaziergang durch das Lager berichtete Alex, dass sein Plan geklappt hatte: Er hatte erwirkt, dass ich zusammen mit ihm im Stab der KMNB arbeiten durfte. Meine Ausbildung und mein fließendes Englisch, das für die multinationale Zusammenarbeit in der Zentrale der KMNB sehr hilfreich war, hatte die Vorgesetzten überzeugt. Der einzige Wermutstropfen war der feine Sand, der überall hinwehte. Ich war noch nicht mal eine Stunde in diesem Land, und es knirschte bereits zwischen meinen Zähnen und der Sand rieb sich zwischen Körper und Hemd.
Ich bekam endlich mein Gepäck und wurde in den Bereich geführt, in dem ich die kommenden Monate arbeiten sollte. Dass ich schon wenig später in anderer Mission und unter fremder Flagge unterwegs sein würde, konnte ich damals noch nicht ahnen. Da ich nun offiziell zum Stabspersonal gehörte, kam ich in ein Zelt mit sieben anderen Soldaten, alles Fernmelder und Versorger aus den verschiedensten Standorten in Deutschland. Ich war froh, dass ein paar Bekannte darunter waren, zum Beispiel Wolli. Wir hatten bereits die Vorausbildung gemeinsam durchlaufen, waren gemeinsam hierher geflogen und verstanden uns gut. Ich schaffte meine Ausrüstung ins Zelt und begann, mein Moskitonetz zu befestigen und die kleine Spalte am Zelt zuzukleben, damit die Skorpione, Schlangen und vor allem die allgegenwärtigen Kamelhaarspinnen nicht zu sehr auf Tuchfühlung mit mir gingen. Was leider nicht ganz zu vermeiden war, wie ich später merkte. Kam man nachts von der Patrouille oder irgendeinem anderen Einsatz zurück und schaltete das Licht im Zelt ein, wuselte praktisch der ganze Fußboden von dem unappetitlichen Getier. Und die Viecher waren wirklich riesig! Kein angenehmer Gedanke, sie morgens in einem Schuh zu finden.
Am Abend, nachdem ich mich mit meiner WG auf Zeit bekannt gemacht hatte, atmete ich durch und setzte mich mit Alex auf einen Kaffee zusammen. Die neuen Eindrücke hatten mich praktisch sprachlos gemacht. Auch Alex fiel auf, wie still ich an diesem Abend war. Als ich schließlich in mein Zelt ging, mich auf mein Feldbett legte und versuchte, innerlich etwas zur Ruhe zu kommen, sank ich schnell in einen tiefen und traumlosen Schlaf. Was die kommenden Monate für mich bringen sollten und wie stark diese Eindrücke noch übertroffen werden würden, konnte ich in diesem Moment nicht ahnen.
Ausgeruht ging ich am nächsten Morgen zur OPZ, zur Operationszentrale der KMNB im Stabsgebäude. So eine OPZ ist Herz und Hirn eines jeden Einsatzes, so gut wie alle Informationen laufen dort zusammen. Die gesammelten Erkenntnisse der täglichen Arbeit wurden auf der großen Lagekarte verarbeitet. Umso erstaunter war ich, dass es keine Zugangskontrolle gab. Obwohl mich noch niemand kennen konnte, hatte ich einfach durch die langen Flure und dann direkt in die OPZ hineinspazieren können. Scheinbar glaubte man, dass die Kontrollen am Tor zum Lager ausreichend seien und nur Menschen im Lager sein konnten, die auch dorthin gehörten. Darunter waren auch viele Locals, also Einheimische, die für die Bundeswehr arbeiteten. Als Dolmetscher, als Handwerker, als Hilfskraft in der Küche zum Beispiel. Irgendjemand hatte wohl beschlossen, ihnen so viel Vertrauen zu schenken, dass sie problemlos auch in Sicherheitsbereiche gelangten. Plötzlich kam ein Local herein und leerte die Mülleimer. Ich fasste mir an den Kopf. Hatte niemand daran gedacht, dass er oder seine Kollegen dabei ohne weiteres Einblicke in die geheimen Lagekarten mit allen Aufklärungsergebnissen hatten? Abgesehen davon sprachen die meisten Sprachmittler, die wir als Übersetzer angeheuert hatten, ausgezeichnet Deutsch und bekamen natürlich unseren ganzen Funkverkehr mit. Ich behielt meine Beunruhigung für mich und ließ mich in meine zukünftige Arbeit einweisen.
Am kommenden Tag ging meine eigentliche Arbeit in der OPZ des Stabes los. Um die große Lagekarte in der Mitte des Raumes standen Offiziere aus allen beteiligten Nationen dieses »Friedenseinsatzes«. Es waren Verbindungsoffiziere, die den Kontakt zu den anderen Truppen sicherstellten. Schwerpunktvertreter waren bei uns die Briten und die Österreicher, aber auch ein Verbindungsoffizier der amerikanischen Special Forces war vor Ort. Meine neue Aufgabe war die eines »Watchkeepers«, also die rechte Hand eines Schichtleiters zu sein, in meinem Fall ein Offizier der österreichischen Jagdkommandos. Diese Einheit ist das österreichische Gegenstück zum deutschen KSK, der Eliteeinheit »Kommando Spezialkräfte«, allerdings gibt es die österreichische Spezialeinheit schon ein paar Jahrzehnte länger. Ich notierte die eingehenden Meldungen und leitete auf Befehl des österreichischen Offiziers hin die ersten Maßnahmen ein. Auch unterstützte ich ihn bei den Vorbereitungen für die sogenannten LvU, die Lagevorträge zur Unterrichtung, bei denen jeden Morgen der deutsche General, der Verantwortliche der KMNB, auf den neuesten Stand gebracht wurde. Dabei werden maximal drei Problempunkte angesprochen, die es zu lösen gilt und für die im Anschluss entsprechende Aufträge erteilt werden.
Schnell bildeten Dean, so hieß der Verbindungsmann der US Special Forces, Alex und ich ein Dreigestirn, wir verstanden uns wirklich super. Die ersten Aufklärungsergebnisse der Amerikaner erhielt ich immer direkt über Dean. Von der kühlen Sachlichkeit und Professionalität der anderen Nationen war ich angenehm überrascht. Man merkte ihnen an, dass sie über jahrelange Einsatzerfahrungen verfügten und sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen ließen. Sie wussten einfach, was wichtig war und was nicht.
Bereits nach wenigen Tagen begann ich mit dem Aufbau meines eigenen Netzwerks. Verbindungen und Beziehungen schaden bekanntlich nur dem, der sie nicht hat. Außerdem wollte ich wissen, was außerhalb des Camps so läuft. In meiner dienstfreien Zeit sprach ich mit Kameraden, die auf Patrouille waren. Deren Eindrücke aus der Stadt waren wichtige Informationen für mich, die mir halfen, die Lage vor Ort einzuschätzen. Schwieriger war es, mit den Einheimischen in Kontakt zu treten. Erstens waren die weit weg in ihren Wohngebieten, zweitens hatten wir sehr unterschiedliche Sprachen und Kulturen, und drittens bin ich Fremden gegenüber erst mal eher misstrauisch. Aber durch Plaudereien mit den im Camp beschäftigten Locals bekam ich doch etliche Kontakte und Einblicke. Viele der Locals waren in der damaligen DDR geschult worden, unser Sprachmittler war sogar in Deutschland als Kampfpilot ausgebildet worden, in den siebziger Jahren.
Als mein internes Netzwerk stand, wollte ich endlich eigene Erfahrungen sammeln. Raus in die Stadt, in die wirkliche Welt, weg von diesem »Autistenclub« im Stabsgebäude, wie einige inzwischen witzelten. Alex organisierte einen kleinen Ausflug in die Stadt für mich, sodass ich mir erstmals einen Einblick in diesen verwinkelten, verworrenen Millionenmoloch Kabul verschaffte. Von den Eindrücken war ich wie erschlagen. Zu dieser Zeit dominierten im Stadtbild noch die Eselskarren und die Frauen in ihren blauen Burkas. Aber ich sah auch eine Menge düster aussehender Gestalten mit harten und verschlossenen Gesichtern, allesamt bewaffnet. Wie in Deutschland beinahe jeder sein Handy dabeihat, war es hier die Kalaschnikow. Die Gesichter faszinierten mich. Was diese Menschen wohl schon alles erlebt hatten in der wechselvollen Geschichte Afghanistans? Auch Kriegsinvalide sah ich sehr viele, dazu Kinder, Frauen und Männer mit amputierten Gliedmaßen und Verbrennungen. Vor allem die Beine waren betroffen. Kabul hatte in seiner jüngeren Geschichte oft den »Besitzer« gewechselt, und alle Parteien hatten wahllos Landminen eingesetzt, um ihre Geländegewinne zu sichern. Es tat mir wirklich leid um diese Menschen, gerade die unschuldigen Kinder, die beim Spielen zu Krüppeln geworden waren.
Die Straßen waren eng. Es war ein einziges Schieben und Drängeln, bis wir auf einen großen Platz kamen, auf dem Hunderte von Menschen ihren Geschäften nachgingen. Mir fiel auf, dass keine einzige Frau allein unterwegs war. Es musste mindestens ein männlicher Begleiter dabei sein, und wenn es nur der dreijährige Sohn auf dem Arm war. Offene, etwa 15 Zentimeter tiefe Gräben durchzogen die Straßen. Der Fäkaliengestank machte mir schnell klar, dass dies die Kanalisation Kabuls war. Dass er sich mit dem Geruch nach fauligem Obst mischte, machte die Sache nicht gerade besser. Auf einmal kamen Kinder an unser Fahrzeug, die erschreckend erbärmlich aussahen. In Deutschland wären sie wohl sofort vom Jugendamt abgeholt worden, so verdreckt und unterernährt waren diese Würmchen. »Biscuit, Biscuit?«, riefen sie immer wieder und suchten Körperkontakt zu uns. Ich war voller Mitleid, doch zugleich war mein militärischer Verstand alarmiert. Was wäre, wenn jemand diese Nähe ausnutzt und uns eine Handgranate in den offenen Wagen wirft? Was, wenn wir im Gedränge aus Versehen jemanden angefahren hätten? Wäre die Menschenmenge rachsüchtig über uns hergefallen? Ich wusste es nicht und war heilfroh, dass alles gutging.
Abends lag ich noch lange in meinem Feldbett wach und versuchte, die Eindrücke zu verdauen. Auf den Kulturschock war ich nicht vorbereitet gewesen, die Bilder hatten mich in meinem Innersten berührt und sind mit nichts zu vergleichen, was ich jemals sah. Darauf hatte mich kein Urlaub in einem armen islamischen Land vorbereiten können. Gleichzeitig fühlte ich mich wie in einer Geschichte aus Tausendundeiner Nacht und war beeindruckt von der Mentalität des afghanischen Volkes. Die Afghanen lagen ein- bis zweihundert Jahre zurück in der Zeit, aber sie schauten voller Zuversicht in die Zukunft. Diese Menschen nahmen ihr Schicksal in die eigenen Hände und warteten nicht lange auf Hilfe von außen. Sie packten mit einem Fleiß an, wie ich es mir nicht hatte vorstellen können. Überall sah man Männer, die Häuser ausbesserten, an den Straßen arbeiteten und dabei ein ausgeprägtes Improvisationstalent an den Tag legten. Ich gewann an diesem Tag eine hohe Achtung vor dem afghanischen Volk.
Die Tour in die Stadt hatte mich so stark beeindruckt, dass ich die kommenden Tage meine Umgebung regelrecht nervte. Ich wollte noch mehr von Kabul sehen, war von dieser Stadt fasziniert und angewidert zugleich. Die Verantwortlichen erkannten glücklicherweise recht schnell, dass es auf Dauer keine gute Idee wäre, mich nur in der OPZ einzusetzen. Alex trug ein Übriges dazu bei, mir die größtmögliche Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Er hatte sich bei den Österreichern für mich engagiert, und deren Major wurde schließlich mein »Retter«: Er setzte mich bei den österreichischen Jagdkommandos ein. Endlich würde ich eine meinen Fähigkeiten entsprechende Aufgabe haben.
Solche Kommando- oder auch Spezialeinheiten sind keine neue Erfindung in Zeiten des globalen Terrors, sie haben eine lange Tradition. Denn schon immer brauchten militärische Führer Spezialisten, die besondere Aufträge ausführen konnten. Klar, man denkt zuerst an die beiden Weltkriege, aber tatsächlich sind die ersten Spezialeinheiten schon in den Büchern Mose erwähnt worden, sie sind einfach eine militärische Notwendigkeit. Jedenfalls war für mich ganz logisch, dass die Österreicher mich sehr genau unter die Lupe nahmen und nach unseren Standardverfahren befragten, sie wollten sich ja kein zusätzliches Problem einhandeln.
Nach erfolgter Prüfung wurde ich abgestellt, sie bei ihrem nächsten Auftrag zu unterstützen, der Aufklärung der Evakuierungsrouten. Wir sollten herausfinden, wie das gesamte Kontingent aus dem Land gebracht werden könnte, falls die Sicherheitslage es erfordern würde. Bevor man irgendwo reingeht – und das gilt erst recht für ein völlig fremdes Gebiet –, muss man sich sehr genau darum kümmern, wie man wieder heil rauskommt. Das hatte ich schon in meiner Ausbildung gelernt. Insofern war ich ganz schön verwundert, dass diese Fragestellung bislang offenbar eine geringe Priorität gehabt hatte.
Wir sahen drei Möglichkeiten, aus dem Land rauszukommen: Variante A, die erste Option, war der Überlandweg nach Bagram. Dort, etwa 60 Kilometer nördlich von Kabul, war ein ehemaliger Flugplatz der Russen, der nun der größte amerikanische Stützpunkt im Land war. Die Rote Armee hatte während ihrer Besatzungszeit diesen Stützpunkt als Alternative zum Kabul International Airport (KIA) gebaut, um die geografischen Nachteile des Flughafens Kabul im Kampf gegen die Mudjaheddin auszugleichen. Variante B wäre der Flughafen Kabul selbst gewesen, dafür hätte aber das ganze Personal durch einen Teil der Stadt gemusst. Ganz schön unpraktisch und gefährlich also, wenn es hart auf hart kommen würde. Die letzte Chance, Variante C, wäre eine gemeinsame Evakuierungsoperation mit den Amerikanern gewesen, die uns aus der Luft unterstützen und nach Bagram hätten verlegen sollen. Unser Auftrag umfasste nun die Aufklärung dieser drei Möglichkeiten.
Die Auskundschaftung der örtlichen Infrastruktur, Straßen und Wege war dabei ebenso wichtig wie die Einschätzung, wo es durch feindliche Kämpfer oder andere Unwägbarkeiten zu Problemen kommen könnte. Ganz oben auf der Liste standen dabei die verdammten Minen. Und davon gab es in diesem Land scheinbar mehr als von den Sandkörnern, die sich überall in der Kleidung und den Körperöffnungen festsetzten und die auch den Geräten und Fahrzeugen arg zu schaffen machten. Unsere Aufgabe war, jede noch so kleine Erkenntnis über die Örtlichkeiten in die Karten einzuzeichnen. Skizzen und unsere eigenen Aufzeichnungen auf Diktiergeräten ergänzten die Maßnahmen.
Es sollte schon am nächsten Morgen losgehen. Ich nutzte die Zeit und vertiefte mich auf meinem Feldbett in die Unterlagen. Anhand der Karte lernte ich den geplanten Weg nach Bagram auswendig, um in Notfällen schnell reagieren zu können. Ich überprüfte anschließend meine Ausrüstung, vor allem meine Waffen und die Munition. Aber auch Verpflegung und Wasser, es musste für mindestens zwei Tage ausreichen. Wichtig waren auch die Batterien. Man glaubt kaum, wie hoch heutzutage der Stromverbrauch eines Soldaten ist: Funk, Navigationsgeräte, Laserzielgeräte, man schleppt Unmengen von Batterien mit sich herum. Spät am Abend fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Ich wachte ständig auf und überlegte, ob ich irgendwas vergessen hatte. Gedanklich war ich bereits voll in der kommenden Operation und ging sie Punkt für Punkt durch, drückte alle Informationen in mein Unterbewusstsein, damit ich mich im Gefahrenfall richtig verhielt.
Früh am Morgen starteten wir mit unserem Trupp aus acht Personen in Richtung Bagram. Schon nach wenigen Minuten erreichten wir die »Route Bottle«, die Verbindungsstraße zwischen Bagram und Kabul, und begannen mit der Dokumentation. Den wichtigsten Straßen in und um Kabul war von der ISAFFührung entweder eine Farbcodierung oder ein kurzer, einprägsamer Name zugewiesen worden, um angesichts der Sprachbarrieren die Orientierung zu erleichtern. In der Gruppe wurde es immer stiller. Bald wurde klar, dass dieser Auftrag zum Scheitern verurteilt war. Östlich der Straße stieg das Gelände relativ schnell immer steiler an, bis auf etwa 3500 Meter Höhe. Das zunächst flache Land im Westen war durchzogen von Wadis, ehemaligen Bachbetten. Im Sommer, bei der Schmelze der Gletscher, rauscht das Wasser mit extrem hohen Geschwindigkeiten zu Tal und wäscht die Betten der meistens nur friedlich dahinplätschernden oder sogar versiegten Bäche tief aus. So tief, dass sich ganze Truppen in diesen Wadis verstecken können. Hatten sie auch, wir fanden in diesen natürlichen Gräben unvorstellbar viele Panzerfahrzeuge. Dahinter begann eine Bergkette, die auf Höhen von etwa 2000 Meter anstieg.
Auf einer dieser Höhen entdeckten wir ein sehr stabiles Gebäude mit einer großen Antenne darauf. Je näher wir kamen, umso deutlicher konnten wir erkennen, dass es sich um eine Bunkeranlage handelte. Als wir nur noch wenige Hundert Meter entfernt waren, kamen zwei bewaffnete Afghanen auf uns zu und machten uns unmissverständlich klar, dass wir nicht näher kommen sollten. Links vom Bunker sahen wir ein überschweres Maschinengewehr, das aber nicht besetzt war. Nach dem Austausch von Zigaretten, einer international anerkannten Währung, gewährten uns die Afghanen schließlich doch Zugang zu dieser Anlage. Im Gebäude fanden wir ein Funkgerät, und beim Blick aus dem Fenster wurde uns auch klar, was es von hier aus zu kommunizieren gab: Uns bot sich ein wunderbarer Ausblick auf die Route Bottle und den Flughafen Kabuls – ein idealer Beobachtungspunkt also. Im weiteren Verlauf der Straße stießen die beiden Bergketten rechts und links bis an die Straße heran. Wenn sich nur ein oder zwei Panzer, von diesem Observationsposten alarmiert, dort aufbauen würden, wäre der Weg nach Bagram abgeschnitten. Die Option einer Überlandevakuierung war damit schon mal abgehakt.
Als wir weiterfuhren, sahen wir bereits nach etwa zehn Kilometern zwei T-55-Panzer an einem solchen Nadelöhr. Wir konnten nicht erkennen, ob die beiden Panzer in Betrieb oder funktionsfähig waren, aber es gab Bewegung neben den Fahrzeugen. Unsere Stimmung sank tiefer und tiefer. Wir waren keine 20 Kilometer weit gekommen und hatten schon eine Menge Entmutigendes gesehen. Dazu gehörten auch fantastische Möglichkeiten, einen Hinterhalt für uns zu legen. Die vielen Höhleneingänge in den Bergen im Westen und Osten waren dazu ideal. Doch das Schlimmste waren die roten Farbmarkierungen rechts und links der Straße: Minen! Diese kleinen roten Kreuze am Wegrand zogen sich bis unmittelbar vor Bagram hin. Es gäbe für uns keine Möglichkeit, überhaupt von der Straße runterzugehen, um woanders eine Stellung zu beziehen. Insgesamt kamen wir an sechs Checkpoints der Afghanen vorbei. Wir fragten die mit schweren Maschinengewehren ausgerüsteten Männer, in wessen Auftrag sie dort standen. Ob sie tatsächlich zur afghanischen Armee gehörten, wie sie behaupteten, kann ich nicht sagen. Wir waren diesbezüglich eher skeptisch. Die Aufstellung, Ausbildung und auch Ausrüstung dieser Armee durch die ISAF war zu diesem Zeitpunkt nämlich noch nicht besonders weit fortgeschritten.
Kurz vor Bagram kamen wir dann in eine bewohnte Gegend. Es gab dort viele flache Gebäude, auf deren Dächern wir Flugabwehrkanonen und unzählige Bewaffnete neben der Straße entdeckten. Uns fiel sofort auf, dass diese Menschen hier feindselig auf uns reagierten. Aus Kabul waren wir dies nicht gewohnt, dort kamen wir einigermaßen mit der Bevölkerung zurecht, hier aber schlugen uns eisige Kälte, Misstrauen und offenkundige Ablehnung entgegen. Vielleicht hatte es ja damit zu tun, dass die Amerikaner hier stationiert waren. Mir war schon aufgefallen, wie unterschiedlich die beteiligten ISAF-Nationen mit der Bevölkerung umgingen. Die Zivilbevölkerung trat uns in den verschiedenen Sektoren Kabuls ganz unterschiedlich gegenüber. Das ISAF-Kontingent in Kabul war damals eine multinationale Truppe mit über 20 000 Soldaten, die auf mehrere Standorte innerhalb der Stadt verteilt waren. Wo die Briten und Franzosen das Sagen hatten, traten uns die Bewohner irgendwie verschlossener, ja beinahe reserviert gegenüber.
Wir hatten genug gesehen. Nun, vor den Toren des möglicherweise rettenden Flughafens in Bagram, konnte ich mit Gewissheit sagen, dass wir keine Chance hatten. In einem bewaffneten Konflikt mit 2300 bis 2500 deutschen Soldaten über die Route Bottle nach Bagram zu gelangen, war ausgeschlossen. Selbst mit massiver Unterstützung der Amerikaner aus der Luft wäre dies mehr als fraglich gewesen. Abgesehen davon konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Amerikaner überhaupt ISAF-Partner unterstützt hätten, solange auch nur ein eigener Soldat von ihnen noch zu evakuieren gewesen oder in Gefechte verwickelt wäre. Ist ja klar, dass die eigenen Kräfte immer vorgehen. Außerdem ging es ja nicht darum, nur ein paar Soldaten oder eine Kompanie zu evakuieren. Es ging um knapp 21 000 Soldatinnen und Soldaten aus mehreren Nationen, die in der Mausefalle sitzen würden.
Meines Wissens sind die Evakuierungsmöglichkeiten bis heute ähnlich miserabel. Wenn ich die Berichterstattung im Fernsehen verfolge, dann frage ich mich, warum sich nicht Journalisten oder die vielen selbsternannten Militärexperten des Themas annehmen. Stattdessen lassen sie sich von den Presseoffizieren mit Allgemeinplätzen abspeisen, dass man zuversichtlich hinsichtlich einer Evakuierung sei. Selten so gelacht, kann ich dazu nur sagen. Wie bitte soll das gehen? Wie soll man mittlerweile etwa 3000 deutsche Soldaten, verteilt auf inzwischen vier Stützpunkte, aus diesem Land retten? Und das, wenn zurzeit lediglich sechs Hubschrauber zur Verfügung stehen, die aufgrund der technischen Grenzen nicht über alle Berge kommen. Die Besatzung eines Hubschraubers besteht aus vier Mann (zwei Piloten, ein Bordmechaniker und ein Luftraumspäher), im Bedrohungsfall kommen noch zwei MG-Schützen dazu. Demnach konnte jeder Hubschrauber im Evakuierungsfall maximal zehn zusätzliche Personen aufnehmen.
Die deutsche Politik, das Verteidigungsministerium macht einen großen Fehler, wenn sie leichtfertig ihre Soldaten einer solchen Bedrohung aussetzt. Vielleicht hätten die Herren mal ins Geschichtsbuch schauen sollen. Dann wäre ihnen der Leidensweg der Briten eine Warnung gewesen. 1842 floh die einstmals stolze Kolonialarmee vor den afghanischen Stammeskriegern von Kabul nach Pakistan. 16 000 Mann, zum Teil mit Angehörigen, versuchten, mit den afghanischen Kämpfern im Nacken über die Grenze zu kommen. Nur ein einziger Mann erreichte Pakistan lebend. Mehr tot als lebendig berichtete der Militärarzt William Brydon von unvorstellbaren Massakern an den Soldaten und Zivilisten. Nicht ohne Grund sprachen wir in der Truppe immer vom »Kessel Kabul«. Wir wussten, dass wir keine Chance hätten, wenn die instabile Sicherheitslage in einen bewaffneten Konflikt umschlüge. Und wir wussten, dass die Situation dem Bundestagsmandat der Bundeswehr in diesem Land widersprach. Unser militärischer Auftrag bestand nämlich eindeutig auch gerade darin, uns selbst im Bedarfsfall evakuieren zu können, wie auch die »Bundesdrucksache 14/7930« unmissverständlich festlegt.
Eine sichere Evakuierung war absolut unmöglich, weil uns dafür die Mittel und Wege fehlten. Wir fühlten uns von der Politik, die ja den finanziellen Rahmen für die Bundeswehr vorgibt, im Stich gelassen. Da schickte sie uns nach Afghanistan und wollte die immensen Kosten für Hubschrauber, Fahrzeuge, gepanzerte Verbände, die für eine sichere Evakuierung unweigerlich anfallen, nicht auf ihre Kappe nehmen. Diese Doppelzüngigkeit macht mich bis heute wütend. Wenn es der Wille der Bundesregierung ist, sich mit internationalen Einsätzen der Bundeswehr zu profilieren, dann soll sie bitte schön auch die entsprechenden finanziellen Rahmenbedingungen für entsprechende Sicherheitsvorkehrungen schaffen. Im Kosovo-Konflikt zum Beispiel wäre die sichere Verlegung der Soldaten im Evakuierungsfall kein Problem gewesen. Tja, war halt quasi »um die Ecke« und entsprechend billiger. Dabei waren in den vergangenen Jahren immer wieder deutsche Politiker im Kessel Kabul zu Besuch und konnten sich selbst ein Bild von der Lage machen. Aber sie haben wohl alle ihren Scholl-Latour nicht aufmerksam gelesen. In »Der Fluch des neuen Jahrtausends. Eine Bilanz«, erschienen im Februar 2002, hat er bereits eindrücklich auf die geografisch schwierige Lage für Truppen in Afghanistan hingewiesen und sich oft zu den Schwierigkeiten einer Evakuierung geäußert. Zumindest Leute mit etwas militärischem Sachverstand (die es wenn schon nicht in der Politik, dann doch wenigstens in der Bundeswehr oder im Verteidigungsministerium geben müsste) wussten um die Lage – und nichts Entscheidendes passierte.
Auf dem Rückweg nach Kabul fuhren wir über die weiter westlich zur Route Bottle gelegene Route Horseshoe. Das Bild ähnelte dem der Hinfahrt. Es gab allerdings mehr Ansiedlungen und noch mehr Panzer. Diese Option entfiel also ebenso wie die Bottle, zumal der Zugang zu dieser Straße aus Kabul nur über den nördlichen Stadtbezirk möglich war, also wieder ein Nadelöhr. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte: Eine Überlandroute war nicht realisierbar, ohne dass wir auf das Übelste zusammengeschossen worden wären.
Endlich erreichten wir nach achtstündiger Erkundungsfahrt wieder die Stadtgrenzen von Kabul, und ich fühlte die enorme Anspannung von mir abfallen. Obwohl wir uns nur wenig außerhalb der Fahrzeuge bewegt hatten, waren wir alle körperlich völlig am Ende. Endlich konnten wir die schweren Bristol-Schutzwesten ausziehen. Diese Westen schützen sogar vor Beschuss aus einem Maschinengewehr, allerdings hat diese Sicherheit auch ihren Preis. Das Gewicht! Schwere Titanplatten sorgen dafür, dass die Geschosse gebremst und anschließend von den Kevlarfasern aufgehalten werden. Zu den 15 Kilogramm der Weste kam noch die Munition, insgesamt kamen ganz schnell mehr als 20 Kilo zusammen. Kein Wunder, dass am Anfang alle Nackenschmerzen hatten, weil das ganze Gewicht auf den Schultern lastete. Schlimmer war aber, dass unter der engen Weste Luftzirkulation praktisch ausgeschlossen war. Bei 30 Grad und mehr im Schatten hatte der Kreislauf also ordentlich zu tun.
Nachdem wir erst mal unser ganzes Material zur Auswertung in der OPZ der KMNB abgegeben hatten, machte sich schnell Ernüchterung breit. Die Annahme, dass die von uns ausgekundschafteten Routen keinesfalls geeignet waren zur Evakuierung eines so großen Verbands, hatte sich vollends bestätigt und wurde auch von den Offizieren des internationalen Einsatzverbands bestätigt. Nachdem ich meine Waffen und meine Ausrüstung gereinigt hatte und auf dem Feldbett lag, ließ ich die Eindrücke des Tages nochmals Revue passieren. Es war frustrierend gewesen, diese Strecke mit eigenen Augen gesehen zu haben. Ich konnte nur inständig hoffen, dass niemals eine solche Evakuierung würde durchgeführt werden müssen. Das Selbsterlebte war überwältigender als meine ungute Vorahnung oder eine reine Lageeinschätzung am Kartentisch.
Drei Tage später kündigte sich der stellvertretende Kommandeur der Luftlandebrigade bei uns an. Er hielt am Standort in Oldenburg die Stellung und wollte sich informieren, wie es seinen in Kabul eingesetzten Soldaten erging, und ein bisschen was von der Stadt sehen. Für solche Besuche hatte sich bereits nach wenigen Wochen in diesem Land eine Sightseeingtour etabliert, in deren Genuss alle Besucher kamen. Die Route führte für gewöhnlich an einem markanten Punkt, dem »Hotel Kabul« vorbei, direkt in den inneren Stadtbezirk mit seinen Märkten. Es lag in unmittelbarer Nachbarschaft zum Regierungsviertel und hatte einst vielen Staatsgästen als Unterkunft gedient. Doch dann war es bei einem Sprengstoff-Anschlag auf Ahmad Massud, einen wichtigen Führer der Nordallianz im Kampf gegen die Taliban, zur Hälfte zerstört worden und bot so ein eindrucksvolles Bild der widerstreitenden Mächte in diesem Land. Dann ging es weiter vorbei am Stadion und meist zum Hotel Interconti hinauf, das einen sehr guten Ausblick über die ganze Gegend bot. Der Rückweg führte über den Südteil der Stadt zum alten Königspalast und dann über das Königsgrab zurück ins Camp Warehouse. Ich mochte diese »Gefechtsfeldtouristik« überhaupt nicht. Sie machte nur Arbeit, war sinnentleert und brachte überflüssige Risiken. Alex und ich sollten den Personenschutz für den Herrn Oberst übernehmen und erkundeten im Vorfeld die Route. Die Tour wurde auf unsere Erkenntnisse hin in zwei Punkten geändert, weshalb wir uns etwas wohler fühlten.
Nachdem wir den Herrn Oberst vom Flughafen abgeholt hatten und er durchs Camp geführt worden war, stand am Folgetag die obligatorische Sightseeingtour auf dem Programm. Kabul zeigte sich von seiner besseren Seite. Es wehte eine leichte Brise, und der entsetzliche Gestank und die Smog-Glocke waren an diesem Tag halbwegs erträglich. Wir hatten das Botschaftsviertel durchfahren und fuhren nun in den nördlichen Bereich Kabuls, zum Königspalast. Der Major, der unsere kleine Reisegruppe begleitete und den Fremdenführer spielte, stieg mit dem Oberst aus, weil dieser die Zerstörungen am Palast näher in Augenschein nehmen wollte. Sie waren keine zehn Meter von den Fahrzeugen entfernt stehen geblieben, als ich von rechts einen Afghanen in Polizeiuniform auf uns zukommen sah. Alex sicherte die beiden Offiziere im Nahbereich und ich nach rechts über die Straße, der Afghane fiel damit in meinen Sicherungsbereich. Seine nagelneue Uniform und der sehr gepflegte Bart stachen mir sofort ins Auge. In meiner Ausbildung hatte ich gelernt, dass Selbstmordattentäter sich vor einem Anschlag sehr pflegen, da sie ja bald Allah gegenübertreten wollen. Außerdem musste der Träger einer Polizeiuniform nicht unbedingt ein Angehöriger der afghanischen Polizei sein, Uniformen wurden dort von allen möglichen Leuten getragen. Ich war also alarmiert. Je näher er kam, umso misstrauischer wurde ich und behielt ihn genau im Auge. Seine Kleidung lag eng an, ich konnte keine Waffen oder einen Sprengstoffgürtel darunter erkennen, auch in seinen Händen hielt er nichts. »Achte immer auf die Hände, denn die Hände töten!«, hatte ich gelernt.
Ich stand im Low Ready, also mit der Schulterstütze des Gewehrs an meiner Schulter und die Gewehrmündung auf den Boden gerichtet – eine Position, aus der heraus man schnell reagieren und notfalls schießen kann. Mit einem kurzen Nicken bestätigte mir Alex, dass er den afghanischen Polizisten ebenfalls gesehen hatte. Ich hatte ihm nur ein kleines Zeichen geben müssen, wir waren ein eingespieltes Team. Der Afghane war nun nur noch etwa drei Meter von mir entfernt und ging freundlich lächelnd an mir vorbei. Dann verharrte er kurz, drehte sich um und kam wieder auf mich zu. Dabei redete er in seiner Muttersprache auf mich ein. Ich verstand kein einziges Wort, konnte ihn aber durch mein Gewehr etwas auf Distanz halten und achtete genau auf seine Hände. Mir war sofort aufgefallen, dass mit ihm etwas nicht stimmte: Seine Augen waren glasig, er redete so viel und so verwaschen wie ein Wasserfall und schwankte leicht. Dieser Mann stand offensichtlich unter Drogen. Viele meiner Kameraden hatten mir bereits erzählt, wie die Drogenbekämpfung in diesem Land funktioniert: Vernichtung durch Konsum. Davon hatten sie sich bei ihren gemeinsamen Patrouillen mit der afghanischen Polizei, den »Joint Patrols«, überzeugen können. Die ihnen angebotenen Haschzigaretten und Opiumpräparate schlugen sie natürlich aus, schließlich wollten sie klar denken können. Und was wäre es für ein Skandal gewesen, wenn bekiffte oder gar von harten Drogen vollgedröhnte Afghanen und Deutsche in einem ganz anderen Sinne als »Joint Patrols« gemeinsam auf Patrouille gewesen wären. Die Gruppenführer räumten das enorme Sicherheitsrisiko aus, indem sie unter Drogen stehende Afghanen vom Dienst ausschlossen.
Dieser afghanische Polizist musste das Drogenverbot irgendwie umgangen haben. Als er merkte, dass ich nicht auf ihn einging und ihn zum Weitergehen aufforderte, zog er völlig unvermittelt eine russische Makarov-Pistole. Verdammt, er hatte dieses Ding schneller aus dem Hosenbund gezogen, als ich es ihm zugetraut hätte. Die Mündung der Pistole drückte er direkt auf meine Brust. Er war so high, dass er absolut unzurechnungsfähig war und womöglich auch abgedrückt hätte, wenn ich nicht schnell reagiert hätte. Instinktiv riss ich meine Waffe hoch und stieß ihm die Mündung meiner Waffe ins Gesicht. Während er auf die Knie sank, schrie ich laut »Waffe«, damit jeder in meiner Umgebung wusste, was los war. Ich fixierte ihn, indem ich mein linkes Bein auf seinen Oberkörper presste, und nahm die Makarov auf, die er hatte fallen lassen. Das Magazin war voll, und sogar eine Patrone war im Lauf, die Waffe war entsichert. Er hätte nur abdrücken müssen, und ich wäre Geschichte gewesen.
Bei seiner Überprüfung fanden Alex und ich tatsächlich Ausweispapiere, die ihn als Polizisten auswiesen, unterzeichnet von einem afghanischen Oberst und mit Stempeln drauf. Da kamen auch schon der Oberst und der Major und erkundigten sich, was passiert war. Der Oberst forderte mich auf, dem Mann aufzuhelfen und ihm seine Waffe zurückzugeben. Alex entlud das Magazin und hielt ihm seine Pistole hin, doch plötzlich brach ein wildes Chaos aus. Der Mann glaubte wohl, dass wir ihn erschießen würden, sobald er seine Waffe zurücknahm. Er drehte regelrecht durch, zeigte wild gestikulierend auf mich und verweigerte vehement unter allerlei afghanischen Kraftausdrücken die Annahme seiner eigenen Pistole. Ich fühlte schon wieder meinen Adrenalinpegel ansteigen, langsam hatte ich die Schnauze voll von dem Mann. Ich schrie zurück und forderte den Mann auf, mit diesem Affentheater aufzuhören. Der aber drehte völlig durch und versteckte sich wie ein kleines Kind hinter Alex, der ihm noch immer seine Waffe entgegenhielt. Jetzt glitt die Situation völlig ins Groteske ab, fast hätte ich laut loslachen müssen. Ich konnte mich aber gerade noch beherrschen, denn das wäre ein Gesichtsverlust für den armen Mann gewesen und die Situation hätte wieder eskalieren können. Was blieb mir also anderes übrig, als dem Afghanen zu verstehen zu geben, dass er sein Waffe nehmen und endlich abhauen sollte?
Der Oberst und der Major schauten verwundert zu, wie ich versuchte, den Polizisten zu fassen zu kriegen, und wir immer im Kreis um Alex herumliefen, der Afghane schreiend vorneweg und ich schreiend hinterher. Es war Slapstick pur. Anscheinend hatte ich eine Art Fernbedienung für den Afghanen erfunden: Nahm ich die Waffe hoch, heulte er theatralisch los, nahm ich sie runter, beschimpfte er mich auf das Übelste und zeterte wie ein Rohrspatz. Das ging so eine halbe Ewigkeit, bis auch Alex die Schnauze voll hatte und ein zufällig vorbeikommendes Taxi anhielt. Wir warfen die Pistole auf den Rücksitz, den Mann hinterher und bedeuteten dem Fahrer mit leichten Schlägen auf das Dach, dass er losfahren sollte. Die Lage war endlich gelöst, nicht ganz nach Lehrbuch – aber in welcher Armee gehören schon Zweikämpfe à la Tom und Jerry zur Grundausbildung?
Als das Taxi losfuhr, atmete ich erst einmal tief durch und drehte mich um. Zwei völlig entgeisterte Gesichter – der Oberst und der Major – und ein schmunzelndes, natürlich Alex, sahen mich an. »Alles in Ordnung?«, wollte Alex wissen. Noch während ich bejahte, setzte schon plötzlich und heftig das Donnerwetter ein. Der Oberst, vermutlich sauer wegen der Unterbrechung seiner schönen »Sightseeing-Tour«, fuhr mich an: »Haben Sie noch nie was von den RoEs gehört?« Was für eine Frage. Die »Rules of Engagement«, also die Regeln des Einsatzes, konnte ich beinahe im Schlaf auswendig. Sie waren groß und breit in der Taschenkarte abgedruckt, die jeder Soldat mit sich führte. Und ich wusste sehr genau, was darin geschrieben stand. Dass ich nämlich das Recht hatte, mich »jederzeit und überall gegen einen Angriff zu verteidigen«.
Wenn eine Pistolenmündung auf meiner Brust kein Angriff war, dann wusste ich auch nicht. Der Oberst sah die Sache offensichtlich anders. Er überlegte ernsthaft, diesen Vorfall wegen eines Verstoßes gegen die Richtlinien für die Anwendung von Gewalt dem General zu melden, ließ er mich wissen. Ich konnte nicht glauben, was er da von sich gab. Seiner Meinung nach hätte ich mit der Person reden sollen, um die Situation zu entschärfen. Ich dachte nur, wie hätte ich mit dieser Person reden sollen? Auf Dari oder Paschtu etwa? Mit der Pistole auf meiner Brust wäre ich sehr gespannt auf den Dialog gewesen, der sich dabei entwickelt hätte. Die Person, zu deren Schutz wir ja abkommandiert waren, klagte uns an, dass wir unseren Auftrag konsequent und unter hohem persönlichem Risiko ausführten?
Ich entgegnete dem Oberst nicht, dass ich den »Rules of Engagement« zufolge in so einer Lage sofort meine Schusswaffe hätte einsetzen können und dürfen. Ich hielt einfach den Mund, um diese Situation nicht auch noch eskalieren zu lassen. Natürlich auch, weil ich gegen den Oberst garantiert den Kürzeren gezogen hätte. So ließ ich den Sermon über mich ergehen – von jemandem, der vor noch nicht einmal 24 Stunden in dieses Krisengebiet eingeflogen worden war. Ich hatte schon öfter die Erfahrung gemacht, dass gerade in der hohen und höchsten Führungsebene ein ausgeprägtes Gutmenschendenken zu finden war. Eine Einstellung, die vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte durchaus nachvollziehbar, hier aber einfach fehl am Platze und sogar höchst gefährlich war. In diesem Land ließ sich eben nicht alles mit gesundem Menschenverstand und Appellen an die Vernunft regeln. Hier liefen die Uhren ein bisschen anders.
Von Kameraden wusste ich, dass es seit Einsatzbeginn immer wieder zu Problemen wegen unterschiedlicher Einschätzungen gekommen war. Der Bundeswehrführung musste an einem guten Image in der Bevölkerung gelegen sein. Und das drohte schon mal auf Kosten der Sicherheit ihrer Soldaten zu gehen. Ein General der ersten Kräfte wollte beispielsweise verbieten, dass die minengeschützten Fahrzeuge, die sogenannten Dingos, mit aufgerüstetem Maschinengewehr benutzt werden, weil das von den Afghanen als aggressive Geste aufgefasst werden könnte. Und das, obwohl historisch und kulturell bedingt Waffen im Alltag der Afghanen das Normalste auf der Welt sind und nicht wenige mit Revolver oder Gewehr durch die Gegend laufen. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass man sich mit einer angemessenen Ausrüstung gegenüber den Afghanen den nötigen Respekt verschaffte. Auch wenn man das Maschinengewehr, das vom Fond des Dingo aus bedient wird, gar nicht einsetzen will, sollte man es gerade in schlecht einschätzbaren Situationen immer installieren. Es eignet sich nämlich hervorragend dafür, den Feind in Deckung zu zwingen, also niederzuhalten, während der Konvoi sich aus der unmittelbaren Gefahr herausbegibt.
Ich stellte also auf »Durchzug« und wartete stoisch ab. Auch Alex sah aus, als wollte er sich diesen Schwachsinn nicht länger anhören. Vermutlich hatte er auch schon eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt, und da sie negativ ausfiel, mischte er sich nicht ein. Selbst der Major versuchte, den Oberst zu beruhigen. Ich war nach diesem Zwischenspiel einfach nur enttäuscht. Ich hatte meinen Auftrag erledigt, professionell und mit der geringsten Eskalationsstufe, und wurde von meiner Schutzperson als hirnloser Rambo hingestellt! Noch als wir zurück im Camp Warehouse waren und ich mich um die Nachbereitung kümmerte, arbeitete es in mir, und ich fragte mich ernsthaft, welchen Fehler ich denn begangen hatte. Ich reinigte meine Waffe und kam für mich zu dem Ergebnis: keinen!
Wie oft ich diese vollkommen mechanisch ausgeführten Tätigkeiten wie Waffe reinigen und Ausrüstung überprüfen in meiner Zeit beim Militär durchgeführt habe, kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen. Allerdings sind mir diese Tätigkeiten zu meiner zweiten Natur geworden, bis heute und sogar im Zivilleben. Selbst bei kleinen Gängen vor die Tür überprüfe ich meine »Ausrüstung« und vergewissere mich lieber zweimal, ob ich alles, was ich brauche, dabeihabe. Diese Routinen kann man einfach nicht mehr ablegen. Besonders, wenn man sie unter so speziellen Begleitumständen wie in Afghanistan verinnerlicht hat, wo diese Prozesse ja eine Art Lebensversicherung sind. Mir ist zum Beispiel bis heute zuwider, über offene Rasenflächen zu laufen, wegen der Minengefahr. Rasen und Minen – die beiden Dinge scheinen unwiderruflich und untrennbar in meinem Kopf zusammen abgespeichert zu sein. Niemand von meinen Verwandten, Freunden oder Bekannten, die nicht in ähnlichen Situationen waren, versteht, warum ich noch heute ungern über eine Wiese gehe. Ich habe von vielen anderen gehört, dass sie aus Einsätzen solche Macken mitgebracht haben. Ein Soldat hat sich, wenn er nachts zu Hause in seiner Privatwohnung auf Toilette musste, automatisch erst mal komplett angezogen – weil er das von Camp Warehouse so gewohnt war. Er hätte ja schlecht in Unterhose aus seinem Zelt krabbeln und durch die eiskalte Nacht zu den Sanitäreinrichtungen marschieren können. Einige ertappen sich dabei, wie sie beim Stadtbummel immer die nächstmögliche Deckung ausspähen, um bei einem Beschuss schnell reagieren zu können.
Haben wir alle einen Schaden erlitten? Sind wir alle nicht normal? Meine Meinung ist: ja, und zwar aus dem einfachen Grund: Dieser Einsatz in diesem Land war eine extreme Erfahrung. Besonders für einen Mitteleuropäer, im Durchschnitt nicht älter als 25 Jahre. Meine Tante hat fast ihre gesamte Verwandtschaft im Zweiten Weltkrieg verloren. Als ich zum Militär gehen wollte, versuchte sie es mir auszureden. Bis heute erzählt sie von den schrecklichen Erlebnissen der Bombennächte und den Briefen, in denen ihr mitgeteilt wurde: »… gefallen für Führer und Vaterland …« Mit wem sollte ich, mit wem können wir Soldaten über unsere Erfahrungen reden, wenn wir von den Einsätzen nach Hause kommen? Viele Soldatinnen und Soldaten wollen ihre Familie in Deutschland nicht über Gebühr mit »Schauergeschichten« beunruhigen. Wer versteht in Deutschland, was wir erlebt und gesehen haben?
Bei den Amerikanern wird in aller Regel niemand nach einem mehrmonatigen Auslandseinsatz erst mal in den Urlaub geschickt, wie das bei der Bundeswehr Usus ist, und zwar aus ganz pragmatischen Gründen: Die Soldaten, die oft nonstop gearbeitet haben, sollen ihre vielen Urlaubstage abbauen. Angehörige der amerikanischen Armee hingegen werden noch ein bis zwei Wochen in die Nachbereitung am Standort integriert, damit die Anpassung leichter fällt. Kein von hundert auf null wie bei uns. Belastend kommt für die Heimkehrer hinzu, dass einige abrupt ins Privatleben abkommandierte Soldaten sich wie überflüssige Eindringlinge vorkommen, da die Familie in den sechs Monaten ohne Vater ihre Arbeitsaufteilung völlig geändert hat und sie plötzlich nicht mehr ins Gefüge hineinpassen. Eine schreckliche Situation für beide Seiten. Gerade in diesem Bereich merkt man die Unerfahrenheit der politischen und militärischen Führung gegenüber diesen Problemen.