Blanko - Peter Terrin - E-Book

Blanko E-Book

Peter Terrin

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Beschreibung

Viktor verliert bei einem brutalen Überfall seine Frau und ist nun allein für den gemeinsamen Sohn Igor verantwortlich, um den er sich mit großer Hingabe kümmert. Doch angesichts der traumatischen Ereignisse wächst seine Sorge um Igors Wohlergehen von Tag zu Tag. Schon die Schule ist ja theoretisch ein Gefahrenherd, weshalb Viktor den Jungen mit dem Taxi hinbringt, sicher ist sicher. Aber wie ist es möglich, dass jedermann einfach so das Schulgelände betreten kann? Und was hat es mit Igors eigentümlichem Klassenlehrer auf sich? Durch das zunehmend obsessive Verhalten seines Vaters wird Igor schließlich vom Schulbetrieb ausgeschlossen, aber das kommt Viktors Sicherheitsbedürfnis nur entgegen. Er richtet fortan ihr Leben darauf aus, die eigene Wohnung nicht mehr verlassen zu müssen ... Peter Terrin erzählt die Geschichte eines schleichenden Kontrollverlusts so überzeugend, dass selbst das absurdeste Verhalten schlüssig wirkt. Die übertriebene Fürsorge von Eltern ist genauso ein Phänomen der heutigen Zeit wie unsere wachsenden Probleme, der eigenen Ängste Herr zu werden.

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Seitenzahl: 189

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Peter Terrin

Blanko

Roman

Aus dem Niederländischenvon Rainer Kersten

Dieses Buch wurde mit Unterstützung von Flanders Literatureherausgegeben (flandersliterature.be).

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel»Blanco« im Verlag De Bezige Bij, Amsterdam und Antwerpen.

© Peter Terrin 2003 ©Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2021Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Trevor Payne / ArcangelUmschlaggestaltung: Robert Gigler, München

eISBN 978-3-95438-129-6

Für V.

Am Tag nach Allerseelen wurde Helena begraben.

Viele Leute, die angesichts des stürmischen Wetters der vergangenen Feiertage zu Hause geblieben waren, kamen heute mit ihren Töpfen mit gelben und weißen Chrysanthemen. Viktor fühlte sich beobachtet; die Beerdigung auf dem neu eingeebneten Feld in der Nähe des Eingangs wirkte wie eine PR-Aktion der Friedhofsverwaltung: taufrischer Schmerz, damit auch die Nachzügler ihren alljährlichen Besuch stimmungsvoll begehen konnten.

Die vier Männer ließen den Leichnam in die Erde hinab. Sie waren Fachleute, der Eichenholzsarg sank feierlich in die perfekt rechtwinklig ausgehobene Grube.

Seine Schwester Eveline drückte sich ein Taschentuch vors Gesicht.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Viktor bei den Vorübergehenden auf dem Hauptweg ein gewisses Zögern. Ab und zu erreichte ihn ein Frauenduft, intensiv und blumig, ein Geruch, bei dem Kinder sich jahrelang geborgen und sicher wähnen können.

Helenas Eltern fassten sich verstohlen an der Hand, während sie regungslos in der Reihe verharrten, den Blick ins Unendliche gerichtet. Rechts schloss der Pastor die Augen und murmelte vor sich hin. Mit beiden Händen hielt er eine Bibel, genau vor die Schamgegend. Er hatte Wurstfinger mit schwarz behaarten Knöcheln, einer davon steckte obszön im vergoldeten Buchschnitt. Viktor war sich sicher, dass dieses Bild ihn bis zu seinem Tod verfolgen würde. Ein Menschenleben, so erschien es ihm immer, quoll über von Erinnerungen, die einem von Umständen aufgezwungen wurden.

Der Sarg kam auf dem Boden des Grabes auf. Die vier Männer streckten den Rücken und traten demütig beiseite.

Einen Moment blieb es still. Man wartete auf die Worte des Pastors.

Sonntägliches Gestöckel auf dem Asphalt.

Viktor beugte sich vor. Die Grube hatte kerzengerade Wände und war mindestens zwei Meter tief, sie auszuheben war bestimmt kein Zuckerschlecken gewesen. Er ging in die Knie, um sich das Ganze genauer anzusehen. Die Welt wäre um einiges besser, wenn jeder seine beruflichen Pflichten mit Stolz und Hingabe ausüben würde.

Er spürte Evelines Hand auf seiner Schulter. Schräg über seinem Kopf hörte er sie schluchzen, während er es einfach nicht fertigbrachte, den Blick von dem einsamen Sarg in der Grube zu lösen.

Wer konnte ihm garantieren, dass Helena wirklich da unten lag? Drei Tage zuvor hatte er sie in der Aufbahrungshalle gesehen, mit wiederhergestelltem Gesicht, die Hände wie zum Gebet gefaltet, aber nicht heute, nicht hier. Es war ja bekannt, dass Leichen gestohlen und verkauft wurden, aus den verschiedensten Gründen. Man hörte die abartigsten Geschichten.

Viktor wandte sich an den älteren Mann, der die Trauerfeier bisher mit sicherer Hand geleitet hatte. Wie seine Untergebenen trug er eine dunkelgraue Uniformmütze mit schwarz glänzendem Schirm.

»Sind Sie sicher, dass meine Frau in dem Sarg liegt?«

Nur langsam drang die Frage voll und ganz zu dem Mann durch; statt einer Antwort konnte er nur mit offenem Mund dastehen. Seine Arme kamen hinter dem Rücken hervor und schlenkerten hilflos an seinem Körper.

Neben Viktor ging Eveline nun gleichfalls im herbstlichen Laub in die Knie und umschlang seinen Kopf. Sie drückte ihm ihre Lippen auf Schläfe und Ohr. Sie tröstete ihn, als würde er genauso laut schluchzen wie sie.

Das Restaurant lag inmitten einer Reihe bescheidener Bürgerhäuser. Die Fassade war unauffällig; bis auf eine hoch aufschießende Pflanze in einem Terrakottakübel neben dem Eingang wies nichts auf gastronomische Tätigkeit hin. Nur mühsam konnte Viktor sich des Eindrucks erwehren, dass man die beeindruckende Pflanze speziell für diese Gelegenheit gemietet hatte.

Der Empfang war unpersönlich, und der Gastraum verströmte ein Flair altmodischer Feierlichkeit. Helenas Mutter, die das Restaurant ausgesucht hatte, postierte sich zur Begrüßung als Einzige vor den vergilbten Jagdszenen und dem fadenscheinigen Wandteppich, die Hände auf dem Rücken.

Die Gerichte wurden unter Warmhalteglocken aufgetragen. Als alle Teller auf dem Tisch standen, kam die Restaurantchefin, um zusammen mit den Kellnern im gleichen Moment das Gericht zu enthüllen, aber das Spektakel war wenig beeindruckend und das Essen nur noch lauwarm. Bei einer Cousine am Ende des Tischs fehlte das Gratin dauphinois; sie errötete. Angesichts der Umstände fand niemand es nötig, deswegen zu reklamieren, außer Viktor. Tränen traten ihr in die Augen vor Scham, als die Restaurantchefin ihr den Teller wegnahm.

Es dauerte ein paar Gläser Rotwein, bis die ersten Gespräche in Gang kamen. Links von Viktor saß Eveline, rechts Igor. Sein Sohn hatte die Ente kaum angerührt, nur ein Bündchen Prinzessbohnen war in seinem Mund verschwunden.

Viktor nahm seine Hand.

Bleich und erschöpft blickte der Junge auf. Er legte den Kopf an den Arm seines Vaters und fragte leise, wann sie nach Hause gehen würden.

Nach dem Dessert wurde die Kakofonie schwatzender Menschen so anstrengend, dass es auf diejenigen, die nicht daran teilnahmen, nur noch ermüdend wirkte.

Benommen starrte Viktor aus dem Fenster.

Auf der anderen Straßenseite öffnete ein ungefähr sechzigjähriger Mann sein Garagentor. Zusammen mit seiner Frau holte er Einkäufe aus dem Kofferraum eines japanischen Kleinwagens. Sie arbeiteten zielstrebig im Team und wechselten kein Wort miteinander. Ein weißes Malteser-Hündchen schaute von der Fensterbank des Wohnzimmers brav zu und verschwand, als der Mann das Garagentor zuklappte.

Helena liegt mit dem Kopf auf dem Bordstein. Ihr kastanienbraunes Haar ist zu einem eleganten Knoten geschlungen, eine Aura zart gekräuselter Härchen umgibt die glatte Frisur. Schwere Stiefel haben ihr das Gesicht zertreten, und das Genick ist gebrochen. In der reglosen Nachtluft hält sich ein Geruch nach verbranntem Gummi.

Plötzlich schiebt ihre Zunge das blutige Stück Fleisch aus dem Mund, das sie einem der Autodiebe aus dem Arm gebissen hat. Sie bricht in unbändiges Lachen aus. Hinter dunklen Fenstern wird Licht angeschaltet. Leute im Pyjama schieben Vorhänge beiseite und greifen zum Telefon, mindestens zehn Anwohner zugleich! Helena muss sich die Hand auf den Bauch legen, so sehr muss sie lachen.

Viktor fuhr hoch, ohne jedes Bewusstsein für Ort und Zeit. Die Leselampe brannte noch. Schnell erkannte er das Schlafzimmer, die Kohlezeichnung einer Schneelandschaft, den Rattanstuhl mit der Trauerkleidung, das Buch in den Händen.

Dann wie ein Schlag ins Gesicht die Erinnerung.

»Papa?«

Zögernd öffnete sich die Tür.

»Warum schreist du so, Papa?«

Igor hatte geweint, man hörte ein Schluchzen in seiner Stimme.

»Na, komm.«

Schnell zog Igor vor dem Dunkel des Flurs die Tür hinter sich zu. Er trippelte über den kalten Fußboden und sprang aufs Bett, worüber Viktor unwillkürlich lächeln musste.

»Komm unter die Decke.«

Der Junge zögerte, sich auf den Platz seiner Mutter zu legen, doch Viktor hielt die Steppdecke hoch und nickte ihm aufmunternd zu.

Viktor ließ die Leselampe brennen, bis Igor ruhig schlief. Danach starrte er in die Schneelandschaft, die sich über dem Fußende des Betts vage abzeichnete. Er lauschte der Stille der Nacht. Er versuchte, an nichts zu denken, doch dazu war seine aufgewühlte Fantasie einfach nicht fähig.

Um Viertel nach acht wurde Viktor von der Türklingel geweckt. Das Licht im Zimmer war dämmrig, vermutlich ein grauer Tag draußen. Er blieb regungslos liegen, in der seltsamen Position, die er im Schlaf eingenommen hatte. Sein Arm verlangte kribbelnd nach Blut.

Erst als es ein drittes Mal klingelte, schlüpfte er in die Kleidung, die er über den Stuhl gehängt hatte, und schlurfte durch den langen Flur zur Sprechanlage.

Es war Eveline.

Sie umarmte ihn innig, sah ihm forschend in die Augen. »Hast du ein bisschen geschlafen?«

»Ich glaub schon«, antwortete er. »Und du?«

Eveline zuckte die Schultern und seufzte.

»Schläft Igor noch?«

»Nein«, rief Igor heiser.

»Muss er heute nicht in die Schule?«

»Es ist noch zu früh. Die kommen schon ein paar Tage ohne ihn aus.«

In der Küche legte Eveline ihren Mantel ab und setzte Kaffee auf. Sie hatte ein Vollkornbrot mitgebracht, lecker und dazu noch gesund. Sie öffnete Schränke und Schubladen, auf der Suche nach Essen und Geschirr für das Frühstück. In den vergangenen Tagen hatte Igor bei Opa und Oma geschlafen, jetzt fand Eveline es offenbar an der Zeit, dass sie sich um ihren Neffen und ihn kümmerte.

»Das brauchst du nicht«, sagte Viktor, als sie sich auch noch ans Abwaschen machte.

»Du bist mein Bruder.«

Die Erwiderung kam so schnell, dass es sich anhörte, als habe sie sich vorbereitet, sich dieses einfache und aufrichtige Argument vorher zurechtgelegt, ein Argument, gegen das er nichts einwenden konnte.

Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter. Ihre Augen waren stärker geschminkt als sonst, aber das konnte die Ringe darunter nur schwach überdecken.

Viktor dachte an früher, als sie sich in einer Tour in den Haaren gelegen hatten, eine furchtbare Zeit voller Bosheit und Missgunst, die nicht zufällig mit ihrer Pubertät und dem Studium zusammengefallen war. Danach war es Schritt für Schritt besser geworden. Im Bewusstsein, nun mal Geschwister zu sein, waren sie offener füreinander geworden, wuchsen zusammen und respektierten ihre gegenseitigen Eigenarten. Dies alles vollzog sich weitgehend unausgesprochen, wodurch eine tiefe Verbundenheit entstand, die möglicherweise nie mehr enden würde.

Eveline war jetzt dreiunddreißig und lebte wieder allein. Acht Jahre lang war sie mit dem Falschen zusammen gewesen. Viktor war sechsunddreißig. Helena lag noch keine vierundzwanzig Stunden unter der Erde.

Der Heizkörper knackte, im brodelnden Wasser stießen die Eier siedend gegen die Wand des Kochtopfs.

»Trotzdem will ich nicht, dass du morgen kommst«, sagte Viktor ruhig. »Nicht wegen so was.«

Eveline nickte, trocknete weiter ab und verstaute sorgfältig alles an seinem Platz. Nach dem Frühstück stellte sie Igor unter die Dusche und legte Anziehsachen für ihn zurecht. Sie ging mit dem Staubsauger durch die Wohnung. Um halb elf trank sie mit Viktor eine letzte Tasse Kaffee. Auf dem Küchentisch fasste sie seine Hand.

Nach drei Tagen relativer Ruhe in seinem fünften Stock stand Viktor wie festgenagelt auf dem Bürgersteig. Es war acht Uhr morgens, und die Stadt raste wie eine infernalische Maschine.

Igor brachte ihn wieder in Bewegung und lotste ihn.

Einmal im Strom der Passanten, wurde die Hektik erträglicher, jedenfalls weniger anstrengend für die Augen. Der instinktive Impuls, sich vor dem frenetischen Autoverkehr, der zwischen den hohen Fassaden schrill widerhallte, die Ohren zuzuhalten, blieb.

Die ganze Zeit über liefen sie zwischen denselben Personen. Auf der anderen Straßenseite bewegte die Menge sich in entgegengesetzter Richtung. Ein fantastischer Dokumentarfilm über Verhalten und Eigenschaften großer Gruppen von Lebewesen hatte ihn gelehrt, dass sich so etwas automatisch ergibt, dass sowohl Stare als auch Flamingos, Heringe und Menschen über wundersame Organisationsinstinkte verfügen, sobald die Umstände dies erfordern.

In unmittelbarer Umgebung war Viktor der einzige Erwachsene mit einem Kind an der Hand. Die meisten hasteten zur Arbeit. Auch viele Schüler. Er war verblüfft, wie genau die aktuelle Mode befolgt wurde: überall weite Hosen, Bonbonfarben und strubbelige Gelfrisuren, und obwohl die Jungen und Mädchen sich damit zweifellos höchst individuell vorkamen, wirkte das Ganze auf Viktor wie eine Uniform.

Bei der zweiten Kreuzung bogen sie links ab. Sobald sie den Weg Richtung Zentrum verlassen hatten, ließ das Gedränge auf dem Bürgersteig nach.

In einem Hauseingang las ein zerlumpter Mann Zeitung, während er auf unappetitliche Weise an einem belegten Brötchen knabberte. Er lag auf der Seite, auf den Ellenbogen gestützt, sodass es aussah, als liege er auf dem Sofa und nicht auf kaltem Stein.

Plötzlich zog Igor Viktor am Arm.

»Da!«

Er zeigte auf eine Straßenbahnhaltestelle am Fuß des Kirchturms, rund hundert Meter entfernt.

»Da ist es!«

Viktor spürte, dass Igor sich von ihm losmachen wollte.

Vor seinem inneren Auge blitzte das Bild von Helena auf, wie sie mit traurigem Lächeln in der Tür stand. Sie hatte ihm erzählt, dass Igor sich seit ein paar Tagen zu groß dafür fühlte, an der Hand seiner Mutter zu gehen. Sobald die Leute an der Haltestelle in Sicht kamen, riss er sich los und ging zwei Meter vor ihr.

Viktor umklammerte Igors Hand noch fester.

»Hiergeblieben!«, fuhr er ihn an.

»Ich wollte dir nur zeigen, wo es ist.«

»Das sehe ich schon selbst.«

Neben dem verglasten Unterstand verabschiedeten sie sich. Igor flog seinem Vater um den Hals und küsste ihn auf die Wange. Viktor roch Trinkjoghurt in seinem Atem, was ihn bis ins Mark rührte. Er ließ sich von Igor feierlich versprechen, dass er in der Schule gut aufpassen werde.

Dreimal drehte Viktor sich um und winkte. Die Gesichtszüge des blonden Jungen verblassten, Viktor konnte nur noch die Hand unterscheiden, die aus der Tasche der Daunenjacke herausfuhr und beherzt zurückwinkte.

Ungefähr zwanzig weit Meter musste Viktor sich auf seine Schritte konzentrieren: So gelang es ihm, die in ihm aufwallende Rührung zu unterdrücken.

Die Sonne brach durch die Wolken. Der schwarze Anzug, den er seit der Beerdigung jeden Tag trug, saugte das Licht auf und wärmte ihm Schultern und Rücken.

Vor dem Hauseingang von eben verunzierte fettiges, zusammengeknülltes Papier den Fußweg. Der Obdachlose hatte sein Brötchen verputzt. Mayonnaise klebte ihm an Schnauzer und Kinnbart, und einen Moment musste Viktor an einen Hund denken, einen dummen, aber gefährlichen Hund, der einen lange und scheinbar gleichgültig beobachtete, um plötzlich, wie aus dem Nichts, gemein anzugreifen.

Viktor war am Eingang beinah vorüber, als der Obdachlose mit einem merkwürdigen Grinsen die Zähne bleckte. Erst eine Ecke weiter, zurück im Gedränge, ging Viktor auf, worin das Merkwürdige dieses Grinsens gelegen hatte: Der Mann hatte makellose, strahlend weiße Zähne.

Vielleicht war er erst kürzlich auf der Straße gelandet.

Vielleicht hatte er sich bewusst für die Obdachlosigkeit entschieden, um einer begüterten, aber hektischen Existenz zu entfliehen.

Zu Hause setzte Viktor Kaffee auf. Nachdenklich stand er vor dem Fenster. Der Himmel war tiefgrau verhangen, nur hier und da sah man vereinzelt hellere Partien, die schnell über einen hinwegzogen. Vier verspielte Möwen hingen fast regungslos in der Luft, verfolgten einander in schwindelerregenden Manövern, um dann wieder elegant stehen zu bleiben.

Vielleicht war der Mann überhaupt kein Obdachloser. Vielleicht hatte der Mann üble Absichten und spielte den Obdachlosen nur, um keine Aufmerksamkeit zu erregen und ungestört seine finsteren Machenschaften zu verfolgen.

Viktor spürte ein Ziehen im Bauch. Warum um Himmels willen hatte der Mann ihn angegrinst? Ausgerechnet ihn …?

Sein Mantel hing immer noch über dem Stuhl.

Der Fahrstuhl war gerade besetzt. Viktor wartete einen Moment.

Er öffnete die Tür zum Treppenhaus und lief, vier, fünf Stufen gleichzeitig nehmend, nach unten.

Im dritten Stock mahnte er sich zur Ruhe. Das Treppengeländer war eiskalt, zwischen den kahlen Wänden hallte seine Anwesenheit wider. Was mache ich hier eigentlich?, dachte er. Warum gehe ich nicht einfach zurück nach oben?

Inzwischen war der Fahrstuhl frei. Seine Fingerspitze hing unschlüssig über der Fünf, drückte dann aber doch auf die Null.

Im Menschenstrom kam Viktor nur mühsam voran, er wechselte auf die Fahrbahn, wich wütenden Radfahrern aus, spurtete ein Stück. Er hatte das Ende der Straße noch nicht erreicht, als er schnaufte wie eine Lokomotive und seine Beine sich anfühlten wie Pudding.

Ein Stück entfernt sah er die Wartenden an der Straßenbahnhaltestelle, aber keinen zehnjährigen Jungen in Daunenjacke.

Der Hauseingang von eben war leer, das dreckige, zerknüllte Papier verschwunden. Hatte der Mann es nach seinem kleinen Auftritt ordentlich weggeräumt? Spuren verwischt?

Während er sich der Haltestelle näherte, musterte er die Wartenden, einen nach dem anderen. Zu seiner Erleichterung kam ihm keiner bekannt vor. Wahrscheinlich war Igor, kurz nachdem sie sich verabschiedet hatten, in die Straßenbahn eingestiegen. Das ist möglich, ging Viktor mit einem Mal durch den Kopf, aber keineswegs sicher.

Neben der schweigsamen Gruppe, dort, wo er sich von Igor getrennt hatte, kam er zu Atem. In seiner Manteltasche spürte er sein Handy, aber es war sinnlos, jetzt schon in der Schule anzurufen.

Er bestellte ein Taxi.

Kaum zwei Minuten später hielt eins direkt vor ihm, abrupt, mit quietschenden Reifen. Die Frau in der Zentrale hatte Wort gehalten und dem Fahrer eingeschärft, dass es dringend sei.

Viktor stieg ein, nannte den Namen der Grundschule und knallte die Tür zu. »Besser über die Schnellstraße ums Zentrum herum«, sagte er, »da ist weniger Verkehr.«

Der Taxifahrer, ein schüchterner Mann, der sich in der Behaglichkeit seines Übergewichts versteckte, brummte zustimmend.

Die Fahrt dauerte zwanzig Minuten. Sie schossen an Riesenplakaten mit attraktiven Frauen vorbei, fuhren eine Weile gleichauf mit einem Zug voll neuer Autos. Die ganze Zeit über steuerte der Mann mit der Linken, die Rechte auf seinem Oberschenkel. Vom Geruch nach Toilettenspray, der ihm vom Armaturenbrett aus entgegenschlug, wurde Viktor speiübel.

Das schmiedeeiserne Schultor war unbewacht, auch in unmittelbarer Umgebung sah Viktor nur herbeiströmende Eltern und Kinder. Auf der anderen Seite des Schulhofs erkannte er zwei plaudernde Lehrer, gänzlich uninteressiert an dem, was um sie herum passierte. Igor konnte er nirgends entdecken. Viktor beschloss, sich im Sekretariat zu erkundigen, wo eine Dame mit Pagenschnitt ihm mit größtem Mitgefühl zuhörte. Sie dachte kurz nach und schaute dann auf die Uhr über der Tür. In drei Minuten würde die Schulglocke läuten, dann traten die Kinder nach Klassen geordnet an. Sie brauchte nicht nachzusehen, welche Klasse Igor besuchte, durch die jüngsten Ereignisse wusste sie es auswendig: die 4d. Sie bot Viktor einen Stuhl an und Kaffee, doch er lehnte dankend ab und ging wieder nach draußen.

Systematisch durchkämmte sein Blick die Menge der tobenden Kinder.

Igor konnte er nirgends entdecken.

Das strenge Klingelzeichen ertönte, im Handumdrehen war der Schulhof verlassen. Die farbigen Linien markierten Spielfelder. Viktor sah eine Wollmütze, die Bommel war im Netz eines Basketballkorbs hängen geblieben.

Wie eine Nonne führte die Dame ihn durch die langen Flure, stets ein paar Schritte vor ihm. Unter den Fenstern zu den Klassenräumen hingen die Garderoben voller Winterjacken. Fast überall riefen Lehrer Namen auf. Wortlos folgte er ihr eine breite Treppe hinauf. In der 4d war der Lehrer gerade dabei, einen Satz an die Tafel zu schreiben. Die Kinder redeten durcheinander, auf der Suche nach dem richtigen Heft. Viktor konnte die Dame gerade noch vom Anklopfen abhalten: Igor saß in der zweiten Reihe, ruhig, fast heiter. Er hielt seinen Füller im Anschlag. Erst auf das Zeichen des Lehrers kopierte er den Satz, konzentriert, die Zungenspitze zwischen den Lippen.

Viktor irrte durch den Supermarkt, immer noch aufgewühlt. Er legte Einkäufe in seinen Korb, ohne zu wissen, was er eigentlich genau brauchte. Die Aufeinanderfolge gefüllter Regale hatte auf jeden Fall etwas Beruhigendes.

Bei einem Turm gestapelter Cornflakes hielt er inne, und erst nachdem er sich im Stillen feierlich versprochen hatte, von nun an Igor auf dem Weg in die Schule zu begleiten, kam sein Körper wieder in Bewegung.

Die Wohnung begrüßte ihn mit wohltuender Wärme. Er stellte seine Schuhe in die Garderobe und hängte seinen Mantel auf. Er fühlte sich erschöpft und beschloss, jetzt schon zu Mittag zu essen, obwohl es erst zehn nach elf war. Er machte sich ein Omelett mit Tomaten, aber der Eiergeruch raubte ihm jeden Appetit.

Im Wohnzimmer blätterte er durch die Zeitung.

Der Mann einer Tagesmutter begrapschte dreijährige Kinder und sogar jüngere. Die Frau wollte es nicht wahrhaben. Ein Bungalow, roter Backstein, niedriges Dach mit graugrünen Moosflecken. Gras und hohe Fichten drum herum. Nichts ahnende Nachbarn.

Später lag Viktor ausgestreckt auf dem Bett, Hände hinter dem Kopf. Die sonnigen Perioden wurden immer länger. Langsam schob sich das Sonnenlicht über die Wand, wurde schwächer und leuchtete dann wieder blendend auf. Irgendwo am Himmel hörte man das leise Sirren eines Linienflugzeugs.

Er starrte auf die Schneelandschaft am Fußende.

Helena hatte sie gekauft, als sie hier frisch eingezogen waren.

Die Landschaft war von anrührender Schlichtheit. Papier und Holzkohle, ein paar treffsicher gesetzte Linien, die einen Hang andeuteten, über den ein Pfad zu einem Dorf am Horizont führte. In der Bildmitte zwei Figuren, schwarze Striche, gedrungen, durchgefroren.

Manchmal sah es so aus, als stapften sie von Viktor davon Richtung Dorf, manchmal, als kämen sie auf ihn zu. Mal Mann und Frau, mal zwei Kinder, die trotz schneidender Kälte ein Lied sangen. Manchmal schweigende Männer, gebückt unter einer Nachricht, die sie überbringen mussten.

Manchmal war es, als blieben sie stehen und wüssten nicht, was sie tun sollten.

»Hackbällchen in Tomatensoße!«, rief Eveline durch die Sprechanlage. Als sie hereinkam, hielt sie stolz zwei Schüsseln in die Höhe: »Mit Kartoffelpüree!«

Igor sprang begeistert vom Sofa und folgte ihr in die Küche, wo sie das Essen in die Bratröhre schob.

»Alles frisch gemacht«, rief sie. »Plötzlich hatte ich Lust, mal was ganz Altmodisches zu kochen.«

»Ich wusste gar nicht, dass du das kannst, was Altmodisches kochen.«

»Du hast deine Schwester eben immer unterschätzt.«

Viktor war ihr dankbar: Igor konnte eine gesunde Mahlzeit gebrauchen. Gleichzeitig störte es ihn, dass sie unangemeldet hereinplatzte.

Er hörte, wie sie Igor leise ausfragte. Wie es ihm gehe, und in der Schule, und Papa. Igor erzählte, Papa habe ihn am Schultor abgeholt. Ja, das fände er schon ein bisschen komisch. Aber schlimm fände er es nicht, nein.

Eveline deckte den Tisch im Wohnzimmer, als sei sie die Herrin des Hauses. Sie schaltete eine Stehlampe an und fragte nach Teelichtern. Viktor gab keine Antwort. Stur blickte er auf den Bildschirm. Wollte sie ihn nicht verstehen?

Fünf Minuten später stellte sie schweigend die Teller auf den Tisch. Von dem herrlichen Duft lief ihm das Wasser im Mund zusammen, aber er wandte den Blick nicht vom Fernseher. Er nahm sich vor, auf dem Sofa sitzen zu bleiben und sie mit Igor allein essen zu lassen.

Was um Himmels willen hatte sie erwartet?

Was stellte sie sich eigentlich vor?

Da kam sie zu ihm und küsste ihn auf die Wange. »Guten Appetit«, flüsterte sie. Er gab keinen Mucks von sich. Ihr Gesicht blieb dicht bei seinem. Sie gab ihm noch einen Kuss, streichelte Igor über den Kopf und verließ die Wohnung.

Der Tisch war für zwei Personen gedeckt. Igor lächelte mit dicken Backen, Messer und Gabel für den nächsten Happen bereit. Viktor eilte auf die Toilette und weinte stumm in seine Hände.

In der Nacht musste Igor sich zweimal übergeben. Der Junge hing über der Kloschüssel, Viktor rieb ihm den Rücken; an der Spannung der Schulterblätter konnte er das An- und Abschwellen des Brechreizes spüren.

Hinterher wusch er Igor das Gesicht und zwang ihn, ein Glas Wasser zu trinken. Der Junge war völlig erschöpft, die Augen fielen ihm zu, noch bevor das Glas leer war.

Wieder im Bett, wälzte Viktor sich hin und her. Später träumte er von einer Kuh mit Rinderwahn. Das arme Tier zitterte und bebte auf knochigen Beinen und suchte verzweifelt sein Gleichgewicht. Der Bauer trug einen blauen Kittel und hatte einen Knüppel in der Hand. Er folgte der Kuh auf Schritt und Tritt, ratlos die Arme ausbreitend. Das Tier knallte mit dem Kopf auf den verdreckten Betonboden und rappelte sich wieder hoch, lief brüllend und unsicher weiter. Quälend lang ging das so. Das Tier war eindeutig gut gepflegt, sein Fell glänzte. Über die rollenden Augen spritzte sein eigenes Blut. Manchmal blieb die Kuh liegen, zitternd, mit eingeknickten Vorderbeinen und aufgerichtetem Hintern, aber stets war die Ruhe von nur kurzer Dauer.