Blaubeerjahre - Manuela Inusa - E-Book

Blaubeerjahre E-Book

Manuela Inusa

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Drei Schwestern, eine Blaubeerfarm und ein altes Geheimnis, das nun endlich ans Licht kommt.

Nach einem schweren Schicksalsschlag zogen die Schwestern Alison, Jillian und Delilah zu ihren Großeltern – auf die familieneigene Blaubeerfarm in Kalifornien. Die Jahre waren geprägt von Geborgenheit, Verständnis und Liebe, sie haben mit Grandma Fran gebacken, Marmelade gekocht und am Marktstand ihre Früchte verkauft. Doch heute leben die Schwestern weit voneinander entfernt und sehen sich nur selten. Bis Grandma Fran sie bittet, die Blaubeerfarm zusammen zu übernehmen, denn sie möchte nun zu Grandpa Cliff ins Seniorenheim ziehen. Die drei lassen sich darauf ein, und das ist erst der Beginn einer langen Reise mit vielen Hindernissen, aber auch voller Hoffnung …

Die zauberhafte »Kalifornische Träume«-Reihe bei Blanvalet:
1. Wintervanille
2. Orangenträume
3. Mandelglück
4. Erdbeerversprechen
5. Walnusswünsche
6. Blaubeerjahre

Alle Bände können auch unabhängig gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 437

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Nach einem schweren Schicksalsschlag zogen die Schwestern Alison, Jillian und Delilah zu ihren Großeltern – auf die familieneigene Blaubeerfarm in Kalifornien. Die Jahre waren geprägt von Geborgenheit, Verständnis und Liebe, sie haben mit Grandma Fran gebacken, Marmelade gekocht und am Marktstand ihre Früchte verkauft. Doch heute leben die Schwestern weit voneinander entfernt und sehen sich nur selten. Bis Grandma Fran sie bittet, die Blaubeerfarm zusammen zu übernehmen, denn sie möchte nun zu Grandpa Cliff ins Seniorenheim ziehen. Die drei lassen sich darauf ein, und das ist erst der Beginn einer langen Reise mit vielen Hindernissen, aber auch voller Hoffnung …

Autorin

Manuela Inusa wurde 1981 in Hamburg geboren und wollte schon als Kind Autorin werden. Kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag sagte die gelernte Fremdsprachenkorrespondentin sich: »Jetzt oder nie!« Nach einigen Erfolgen im Selfpublishing erscheinen ihre aktuellen Romane bei Blanvalet. Nach der »Valerie Lane«-Reihe lassen nun die »Kalifornischen Träume« die Leserherzen schmelzen und erobern nebenbei die Bestsellerlisten. Die Autorin lebt mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern in ihrer Heimatstadt. In ihrer Freizeit liest und reist sie gern, außerdem hat sie eine Vorliebe für Duftkerzen, Tee und Schokolade.

Von Manuela Inusa bereits erschienen

Jane Austen bleibt zum Frühstück

Auch donnerstags geschehen Wunder

Die Valerie Lane

1 Der kleine Teeladen zum Glück

2 Die Chocolaterie der Träume

3 Der zauberhafte Trödelladen

4 Das wunderbare Wollparadies

5 Der fabelhafte Geschenkeladen

6 Die kleine Straße der großen Herzen

Kalifornische Träume

1 Wintervanille

2 Orangenträume

3 Mandelglück

4 Erdbeerversprechen

5 Walnusswünsche

6 Blaubeerjahre

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag

und www.facebook.com/blanvalet.

MANUELA INUSA

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 der Originalausgabe by Blanvalet Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

(Marco Bicci, karamysh, romakoma, Hannamariah, Theresa Lauria, donatas1205, Charcompix, JamesChen, Pixel-Shot)

LH · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-27887-8V003

www.blanvalet.de

Für meine treuen Leser

Prolog

April 1999, Lodi, Kalifornien

»Nun esst doch nicht so viele Blaubeeren, sonst kriegt ihr noch Bauchschmerzen«, schimpfte Alison mit ihren beiden jüngeren Schwestern. Jillian, fast zehn, stopfte die Dinger nur so in sich hinein, und die fünfjährige Delilah tat es ihr gleich.

»Die sind aber sooo lecker!«, rief das Nesthäkchen strahlend und streckte sich erneut, um ganz oben an die prallsten Beeren heranzukommen. Die Pflanze war beinahe doppelt so groß wie sie.

»Ist doch alles egal«, maulte dagegen Jill und ließ sich eine weitere Handvoll der süßen Früchte in den Mund fallen. Ihre Lippen waren bereits ganz blau, und ihre Augen verrieten ihr, wie wütend, verzweifelt und traurig sie war, genauso wie Alison selbst.

Als Älteste hatte sie aber dennoch die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es ihren kleinen Schwestern gut ging. Dass die Traurigkeit sie nicht übermannte und sie sich nicht die halbe Nacht vor Bauchweh im Bett krümmen würden.

Die Zwölfjährige nahm Jill in den Arm und drückte sie fest an sich. »Irgendwann wird es bestimmt besser werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es für den Rest unseres Lebens so wehtun wird.«

»Ich glaub das aber schon«, erwiderte Jill und machte sich von ihr los, um noch mehr Blaubeeren zu pflücken.

»Wann kommen Mommy und Daddy wieder?«, erkundigte sich die kleine Delilah bei ihren großen Schwestern, die doch sonst alles wussten, zumindest so viel mehr als sie selbst.

»Hast du nicht gehört, was Granny und Gramps gesagt haben?«, blaffte Jill. »Sie kommen gar nicht wieder. Sie sind jetzt im Himmel. Oder sonst wo.«

Ally warf ihr einen bösen Blick zu. Sie verstand ja, dass Jill wütend war, aber sie musste der Kleinen ja nicht alles kaputt machen. Sie ging in die Hocke und sah Delilah in die Augen. »Sie sind oben bei den Engeln, Süße. Der liebe Gott wollte sie so gerne wieder bei sich haben«, wiederholte sie die Worte, die Grandma Fran ihnen nach dem Unfall gesagt hatte. Es war schon eine Woche her, doch ihr kam es so vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie ihre Mom ein letztes Mal umarmt hatte, bevor sie in das Boot gestiegen und für immer aus ihrem Leben gesegelt war.

Ihr traten Tränen in die Augen, und sie musste ihren Blick abwenden.

Ihre kleine Schwester sah sie mitleidig an. »Nicht weinen, Ally. Guck mal nach oben, da sind sie und lächeln zu uns runter.« Sie legte den Kopf in den Nacken und deutete mit dem Zeigefinger in Richtung Wolken.

Obwohl die Trauer ihr die Luft abschnürte, musste Ally doch lächeln. »Kannst du mich mal ganz fest drücken?«, bat sie, und die Kleine fiel ihr in die Arme.

Das tat so gut.

Wenigstens hatten sie noch einander. Und die Großeltern, die sich von nun an um sie kümmern würden. Noch am Tag des Unfalls waren Grandma Fran und Grandpa Cliff nach San Francisco gekommen und hatten sie bei der Nachbarin eingesammelt, bei der sie voller Angst gewartet hatten. Nachdem sie an diesem stürmischen Tag nicht von der Schule abgeholt worden waren, hatte Ally sich ihre Schwestern geschnappt, und sie waren mit dem Bus nach Hause gefahren.

Fünf Tage harrten sie alle zusammen in dem Stadthaus in Laurel Heights aus, während sich die Großeltern um die Beerdigung und alles andere kümmerten. Irgendwann sagte Grandma Fran, dass es Zeit für die Mädchen sei, ihre Sachen zu packen und mit nach Lodi zu kommen, auf die Blaubeerfarm, die die beiden seit vielen Jahrzehnten betrieben. Und auch wenn Ally nicht von San Francisco wegwollte, wusste sie doch, dass sie keine andere Wahl hatte.

Von nun an würde sich alles ändern, ihr Leben würde nie wieder dasselbe sein.

Lodi, das mit dem Auto gut anderthalb Stunden von San Francisco entfernt lag, kannten die Schwestern natürlich schon von Wochenendbesuchen und Sommerferienaufenthalten, doch hier von nun an leben zu müssen, weckte in jeder von ihnen eine Mischung aus unterschiedlichen Gefühlen. Alison wollte ihre Geburtsstadt, die Straßen, die sie liebte, ihr Zimmer mit den Backstreet-Boys-Postern und die Benjamin Franklin Middle School, auf die sie erst seit diesem Schuljahr ging, nicht hinter sich lassen. Jillian wollte bei ihren Freundinnen bleiben und weiter in ihrer Fußballmannschaft spielen. Und die kleine Delilah wollte ihren Geburtstag nirgendwo anders feiern als zu Hause, dem einzigen Zuhause, das sie kannte.

»Ally? Krieg ich aber trotzdem noch meine Geburtstagstorte?«, fragte sie jetzt.

In zwei Tagen wurde Delilah sechs Jahre alt, es würde der traurigste Geburtstag aller Zeiten werden, das wusste Ally jetzt schon. Doch sie sah ihre kleine Schwester an und zwang sich zu lächeln. »Ganz bestimmt.«

»Und wer backt sie für mich, wenn Mommy nicht da ist?«

»Grandma Fran kann das sicher auch.«

»Aber kann Granny auch eine Einhorn-Torte backen? Eine pinke?«

»Das bekommen wir bestimmt hin, ich helfe ihr.«

»Okay.« Delilah schien zufrieden. »Darf ich noch mehr Blaubeeren essen?«, fragte sie dann.

Ally zwinkerte ihr zu. »Ach, warum nicht?« Dann bekam die Kleine halt Bauchschmerzen, das würde sie wohl auch noch verkraften können.

Sie erhob sich und zog einen Ast herunter, an dem besonders viele Früchte hingen, sodass Delilah sie besser erreichen konnte.

Auch Jill kam jetzt herbei und griff erneut nach den Beeren, den zuckersüßen blauen Beeren, die sie von nun an zur Genüge haben würden. Die jetzt Teil ihres Lebens sein sollten, so wie sie es seit jeher für ihre Großeltern waren.

»Wenigstens haben wir noch uns«, meinte Jill schließlich.

»Ja. Und wir werden immer zusammenhalten, das verspreche ich euch hoch und heilig«, sagte Ally und sah hinauf zum Himmel.

Und ihren Eltern versprach sie es ebenso.

Kapitel 1

Alison

Heute

»Zieh die dicke Jacke an, es ist kalt heute«, rief Ally ihrer Tochter zu, die mal wieder eine Ewigkeit vor dem Flurspiegel stand und überlegte, welcher Schal am besten zu welcher Jacke und welche Mütze zu welchen Schuhen passen würde. Mit ihren elf Jahren war Misha bereits modebewusster, als Alison es jemals sein würde, und insgeheim musste sie oft darüber lächeln, auch wenn es sie manchmal fast in den Wahnsinn trieb. Besonders dann, wenn sie wieder einmal spät dran waren, wie auch an diesem Morgen.

»Es ist April, Mom!«, kam es genervt zurück.

Kurz zuckte Alison bei dem Wort April zusammen, weil es nach wie vor Erinnerungen an schlimme Zeiten hervorrief. Im April waren ihre Eltern gestorben, und im April hatte sie sich von Travis scheiden lassen, nachdem er sie zum wiederholten Mal betrogen hatte. Doch sie fegte diese Gedanken schnell beiseite, schnappte sich Handtasche und Autoschlüssel und stellte sich provokativ neben die Tür ihrer Zweieinhalbzimmerwohnung.

»Es sind für heute Regen und elf Grad vorhergesagt, zieh dich also warm an oder frier halt den ganzen Tag. Wir müssen jetzt aber los, sonst kommst du zu spät zu deinem Englischtest und ich zur Arbeit. Hopp, hopp!«

Misha sah sie nun noch genervter an. »Immer diese Eile!« Ihr Blick schweifte erneut über die verschiedenen Schals, die alle an einer Leine im Flur hingen.

Alison öffnete die Tür, verließ die Wohnung und wartete ungeduldig.

Dann kam endlich auch Misha herbeigeeilt, zog die Tür hinter sich zu und meckerte: »Hopp, hopp … bin ich ein Hase, oder was? Und warum ist es so kalt an einem Frühlingstag? Warum können wir nicht wie Granny und Gramps in Kalifornien wohnen oder wie Tante Jill in Arizona? Da sind jetzt bestimmt über dreißig Grad, und sie sonnt sich am Pool.«

»Es ist halb acht!«, erinnerte Alison ihre Tochter. Allerdings könnte sie recht haben damit, dass Jillian sich am Pool sonnte, wenn auch noch nicht jetzt, dann sicher doch im Laufe des Tages. Viel anderes hatte die Gute nämlich überhaupt nicht zu tun, seit sie mit Preston zusammen war, der mit einer hochriskanten Anlagestrategie so viel Geld gemacht hatte, dass die beiden sich den lieben langen Tag in der Sonne aalen, golfen oder shoppen konnten, oder wozu auch immer sie gerade Lust hatten.

»Ist doch alles unfair!«, meinte Misha und setzte sich auf den Beifahrersitz des alten Hondas.

»Ja, du hast es so schwer im Leben«, zischte Alison, jedoch so leise, dass sie sich nicht sicher war, ob ihre Tochter es überhaupt gehört hatte.

Doch das hatte sie. Das merkte sie daran, wie Misha jetzt den Kopf zu ihr drehte und sie mit dieser Mischung aus Mitleid und Bedauern ansah, wie sie es immer tat, wenn sie wusste, dass sie zu weit gegangen war. Alison nahm es ihr nicht übel, sie kam in die Pubertät, da war dieses Gezicke ganz normal. Sie konnte sich nur zu gut daran erinnern, wie Jill und DeeDee sich in dem Alter verhalten hatten. Sie selbst hatte dafür allerdings gar keine Zeit gehabt, viel zu sehr war sie damit beschäftigt gewesen, erwachsen zu werden, und zwar schneller, als es gesund gewesen war. Doch es hatte damals so viel Verantwortung auf ihr gelastet.

»Sorry, Mom«, sagte Misha jetzt.

»Ist schon gut, du hast nichts falsch gemacht.«

»Doch, ich hab mich über mein Leben beklagt, obwohl ich doch weiß, wie schwer du es in meinem Alter hattest.«

»Nun ja, ich war ein Jahr älter, aber … du hast recht, ich hatte es schwer. Das ist dennoch kein Grund, dass du dich nicht ab und zu mal über dein Leben beklagen darfst. Ich tue es die ganze Zeit, oder?« Sie zuckte mit den Schultern.

»Kann man wohl sagen.« Misha grinste sie an, während sie so schnell wie möglich durch die Straßen von Tacoma fuhr.

Alison war damals der Liebe wegen hergezogen, und auch wenn Washington State so ganz anders war als das wunderbare, immer sonnige Kalifornien, war sie doch glücklich gewesen. Hatte ihre Entscheidung nicht bereut, zumindest die ersten Jahre nicht. Mittlerweile wurden die Tage häufiger, an denen sie sich selbst nach Kalifornien zurückwünschte, besonders wenn es aus Eimern schüttete, wie es zehn Minuten später der Fall war, als sie Misha an der Schule absetzte.

»Ich drück dir die Daumen für den Test!«, rief sie ihr durch den Regen nach, und Misha drehte sich unter ihrem Schirm noch einmal um, winkte und lächelte ihr zu.

Danach fuhr Alison direkt zum Supermarkt, wo sie an sechs Tagen in der Woche als Kassiererin arbeitete. Seit der Trennung von Travis vor dreieinhalb Jahren schlug sie sich auf diese Weise durch, hatte sie doch nie etwas anderes gelernt als Blaubeeren pflücken und Mutter sein. Die vier Jahre Studium am California Institute of the Arts brachten ihr heute nichts. Was konnte man schon damit anfangen, Klaviernoten lesen oder Harfe spielen zu können, außer vielleicht private Unterrichtsstunden zu geben? Doch darauf zu setzen, war ihr zu unsicher, sie brauchte einen festen Job mit einem geregelten Einkommen.

Die Musik gehörte längst der Vergangenheit an.

Das Einzige, was ihr die Musikakademie gebracht hatte, war Misha, denn dort hatte sie damals Travis kennengelernt. Ihr Exmann hielt sich heute tatsächlich mit Klavierunterricht über Wasser, und sie wusste, dass einige seiner Schülerinnen mehr von ihm bekamen als nur eine Klavierstunde.

Noch immer tat es weh, über ihre gescheiterte Ehe nachzudenken, und doch war sie keine dieser Frauen, die ihren Ex vor den gemeinsamen Kindern schlechtmachten. Misha hatte ein wunderbares Verhältnis zu Travis, und so sollte es auch bleiben. Wenn ihre Tochter schon einen Vater hatte, wie könnte Alison ihr den dann nehmen?

Im Regen eilte sie in den Walmart, wo ihr Boss Huell sie gleich angiftete, dass sie schon wieder zu spät sei. Sie entschuldigte sich, hängte im Mitarbeiterraum ihren nassen Mantel an den Haken und verstaute ihre Tasche in ihrem Spind. Dann machte sie sich auf zur Kasse, wo sie die nächsten acht Stunden stehen und gestressten, genervten und manchmal zum Glück auch freundlichen Kunden ein Lächeln schenken musste.

Wie geht es Ihnen heute, Sir?

Haben Sie eine Kundenkarte?

Sie haben Glück, auf die Zimtschnecken gibt es heute einen Dollar Rabatt.

Einen schönen Tag noch, Miss.

Beehren Sie uns bald wieder.

Nach fünf Minuten war sie so in ihrem monotonen Rhythmus, dass sie alles andere ausgeblendet hatte, auch dass April war, Kalifornien ganz weit weg und ihr Leben so ganz anders, als sie es sich erträumt hatte.

In ihrer Mittagspause ging Alison die Regale durch und entschied sich für zwei Packungen Zimtschnecken und noch einige andere Lebensmittel, die im Angebot waren. Das war das Gute, wenn man in einem Supermarkt arbeitete. Man bekam immer gleich mit, wenn es Schnäppchen gab, und darauf war sie angewiesen, wenn sie für sich und ihre Tochter einigermaßen anständige Mahlzeiten auf den Tisch zaubern wollte. Sie brachte ihre Einkäufe zur Kasse und ließ sich von Jennifer den Mitarbeiterrabatt abziehen, bevor sie alles in den Aufenthaltsraum brachte.

Sie schenkte sich einen Kaffee ein, setzte sich an den langen Tisch und holte ihr Sandwich hervor, das sie sich wie jeden Morgen zubereitet hatte. Während sie hungrig hineinbiss, fischte sie ihr Handy aus der Gesäßtasche, um zu sehen, ob sie irgendwelche Nachrichten oder Anrufe in Abwesenheit hatte. Sofort breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, als ihr drei Nachrichten von Delilah angezeigt wurden. Sie öffnete sie und las:

Hey, big sis, hoffe, es geht euch gut? Ich wollte dir nur mal zeigen, auf was ich mich wieder Dummes eingelassen hab. Ein neuer Job, diesen Sonntag fange ich an. Wie findest du, sehe ich aus? :D

Die nächsten beiden Nachrichten waren Bilder, die ihre Schwester geschickt hatte. Fotos, auf denen sie mit einer lila Glitzerweste, einem lila Zylinder und einem Zauberstab in der Hand zu sehen war.

Sie musste lachen. Oh, DeeDee, dachte sie, was du immer für Jobs an Land ziehst.

Sie schrieb sofort zurück.

Sieht cool aus! Aber ich weiß nicht so genau, was du darstellen sollst. Bist du Zauberin bei einem Seniorentreff?

Haha. Nein, keine Senioren, stattdessen Kinder. Ich wurde für eine Geburtstagsparty engagiert, Rachel hat mir den Job besorgt.

Rachel war Delilahs beste Freundin und Mitbewohnerin, und die Gute hatte ihrer Schwester schon einige verrückte Jobs vermittelt. Zuletzt hatte sie in einer Eisdiele gearbeitet, bei der sie ein Eiswaffel-Outfit tragen musste – und wo sie rausgeflogen war, weil sie den Kunden immer nur die drei Sorten Sorbet andrehen wollte, die die Diele im Sortiment hatte. Als strikte Veganerin fand sie, es war ihre Pflicht, sie davon abzuhalten, das Milchspeiseeis zu kaufen. Ihre Chefin fand das weniger toll und feuerte sie bereits am dritten Tag ihrer Eisverkäuferkarriere.

Aber hatte Delilah dann nicht als Hundesitterin angefangen?

Was ist mit den Hunden?

Die führe ich nach wie vor aus. Würde ich auch niemals aufgeben, damit kann man nämlich gutes Geld machen und ist immer an der frischen Luft.

Ja, und da es in San Francisco weit seltener regnete als in Tacoma, klang diese Tätigkeit tatsächlich ziemlich ansprechend.

Na gut, meine Mittagspause ist leider rum. Falls wir vorher nicht mehr voneinander hören, wünsche ich dir für Sonntag viel Erfolg!

Danke. Kann ich sicher gut gebrauchen. Ally? Du hast meine Frage nicht beantwortet.

Welche Frage war das noch gleich? Sie scrollte ein paar Nachrichten zurück. Ah. Klar.

Uns geht es gut.

Das wollte ich hören.

Alison schob sich das letzte Stück vom Sandwich in den Mund, ging sich die Hände waschen und zurück zur Kasse, wo sie für die nächsten dreieinhalb Stunden erneut ein Lächeln aufsetzte.

Sie war gerade zu Hause angekommen und hatte die Einkäufe ausgepackt, als sie einen Schlüssel im Schloss hörte. Sie warf einen Blick um die Ecke. »Du bist spät. Wenn ich gewusst hätte, dass du nach mir kommst, hätte ich dich auch abholen können.«

An den meisten Tagen kam Misha mit dem Schulbus nach Hause, weil Alison es einfach nicht rechtzeitig schaffte.

»Ich musste noch bleiben, weil wir das Frühlingsfest besprechen mussten. Ich bin doch im Komitee, schon vergessen?«

»Nein, natürlich nicht. Nur, dass ihr heute ein Treffen hattet, war mir entfallen.« Sie war sich nicht einmal sicher, ob Misha ihr davon erzählt hatte. »Wie war denn der Englischtest?«

»Ganz okay. Ich hab Hunger. Gibt es was zu essen?«

»Ich hab Zimtschnecken mitgebracht. Willst du eine haben, bis das Dinner fertig ist? Ich wollte Spaghetti machen, ist das okay?«

»Ja, klar.« Misha öffnete die Pappschachtel und nahm sich eine Schnecke heraus. »Übrigens ist mein Rucksack jetzt völlig hinüber.« Sie zeigte ihr den abgerissenen Riemen des rosa Rucksacks, der wahrhaftig schon bessere Zeiten gesehen hatte.

»Ich besorg dir einen neuen.« Sie notierte sich auf ihrer gedanklichen To-do-Liste, dass sie morgen in der Mittagspause Ausschau nach einem neuen Rucksack halten musste, und meinte noch zu wissen, dass Walmart sogar gerade welche im Angebot hatte. Eastpak-Rucksäcke für nur vierundzwanzigfünfundneunzig; abzüglich ihres Mitarbeiterrabatts würde sie sich das wohl ausnahmsweise mal leisten können, auch wenn die Stromrechnung dringend bezahlt werden musste, wollten sie nicht bald ohne Licht, Fernsehen und Internet dastehen. Und ohne Kühlschrank, in den sie gerade die letzten Einkäufe einsortierte.

»Alles okay, Mom?«, fragte Misha und sah sie besorgt an.

»Ja, natürlich. Wieso fragst du?«

»Du siehst irgendwie nachdenklich aus.«

»Ich hab nur an meine Schwester gedacht.« Sie musste wieder lachen. »Rate, was DeeDee jetzt für einen Job hat!«

»Touristenführerin? Zoowärterin? Oh! Oh! Straßenfegerin?«

»Knapp daneben.« Sie holte ihr Handy hervor und zeigte Misha die Fotos von Delilah im Magier-Outfit.

»Sie will Zauberin werden?«, fragte Misha lachend.

»Ganz genau.«

»Kann sie uns dann nicht ein bisschen Sonne herbeizaubern? Und wenn sie schon dabei ist, einen neuen Schulrucksack für mich und einen neuen Mann für dich?«

Alison fiel die Kinnlade herunter.

»Misha! Wie kommst du darauf, dass ich einen neuen Mann brauche?«

»Na, du bist seit drei Jahren Single, oder? Ich finde, es wird langsam mal Zeit.«

»Wer hat schon Zeit für einen Mann?«, fragte sie. Doch was sie eigentlich fragen wollte, war: Wo zum Teufel konnte man heutzutage noch einen Mann finden, der anständig war und seine Frau nicht von vorne bis hinten verarschte?

»Vielleicht melde ich dich einfach mal bei so einer Datingseite an«, meinte Misha grinsend, nahm den Rucksack in die eine, die Zimtschnecke in die andere Hand und verschwand in ihrem Zimmer.

»Wehe, du wagst es!«, rief Alison ihr hinterher. Obwohl sie sich selbst schon bei mehreren dieser Seiten angemeldet hatte. Doch die Männer, die ihr eine Nachricht an ihr Profil schickten, wirkten allesamt wie Muttersöhnchen, Öko-Freaks oder Psychopathen, und so hatte sie es schnell wieder sein lassen.

Wenn irgendwo da draußen der Richtige auf sie wartete, dann würde sie ihn schon finden. Oder er sie. Bis dahin musste sie jetzt aber erst mal Spaghetti kochen, also holte sie eine Packung aus dem Schrank, dazu ein Glas Tomatensauce, und dann stand sie einfach da und seufzte schwer. Sie nahm sich selbst eine Zimtschnecke, die nicht einmal ansatzweise an das leckere Gebäck ihrer Grandma Fran heranreichte, und biss trotzdem hinein.

Kalifornien vermisste sie mehr denn je.

Kapitel 2

Jillian

Freitagnachmittag. Jill saß am Pool und schob sich den Sonnenhut ein wenig tiefer ins Gesicht. Es brachte rein gar nichts. Also erhob sie sich mühsam von der Sonnenliege und stellte den Schirm neu ein, damit er ihr Schatten spendete. Dann griff sie zur Sonnencreme und verteilte sie abermals auf ihrem makellosen Körper, in den sie viel Zeit und Arbeit investiert hatte.

Sie setzte sich wieder auf die Liege. Rutschte hin und her, bis sie die perfekte Position fand, setzte die Sonnenbrille auf und streckte sich, um an die Zeitschrift auf dem kleinen Beistelltisch zu gelangen. Es war eines dieser Klatschblätter, die über Promis und Möchtegern-Promis berichteten; sie blätterte ein wenig darin, doch es langweilte sie, daher warf Jill sie zurück in Richtung Tisch. Die Zeitschrift fiel daneben und landete auf dem Boden, doch es war ihr egal. Statt sie aufzuheben, blickte Jill jetzt in die Sonne, die strahlende Sonne, die hoch oben am Himmel stand an diesem wunderbaren heißen Tag in Scottsdale, Arizona, an dem das Thermometer um halb fünf an einem Aprilnachmittag noch achtundzwanzig Grad anzeigte.

Mitten in der Sonora-Wüste gelegen, gab es hier beinahe nur heiße Tage, Tage, an denen man sich in der Sonne aalen oder in einer der klimatisierten Malls shoppen gehen konnte. Zum Tennis verabredete man sich entweder gleich frühmorgens oder auch am Abend, wenn die Sonne nicht ganz so brutal auf einen niederschien, zumindest hielt Jillian das so. Preston hingegen machten diese Temperaturen nichts aus, und er war oftmals sogar in der Mittagshitze auf dem Golfplatz anzufinden.

Preston war in Arizona aufgewachsen, in Phoenix, der an Scottsdale angrenzenden Hauptstadt des Sonnenstaates. Seine Familie war weder arm noch reich – seine Mom war als Lehrerin, sein Dad als Buchhalter tätig gewesen, doch Preston hatte von klein auf mehr gewollt, wie er gerne herumerzählte. Manchmal stellte Jillian ihn sich vor, wie er als Zehnjähriger seinen Freunden mitteilte, dass er eines Tages in Aktien machen und Millionen scheffeln würde. Nun, er hatte es geschafft, lebte ein unbeschwertes Leben, von dem andere nur träumten, und Jillian durfte es an seiner Seite genießen.

Sie hatten sich vor gut acht Jahren kennengelernt, als Preston auf der Suche nach einem neuen, größeren Eigenheim war, und sie ihm als Immobilienmaklerin die Villen der Gegend zeigte. Es hatte sie an die University of Arizona in Tucson verschlagen, an der sie ein Sport-Stipendium erhalten hatte. Es war ihr allerdings von Anfang an klar gewesen, dass sie nicht in dem kleinen Nest Tucson bleiben würde, deshalb ging sie nach ihrem Abschluss nach Phoenix, wo sie bereits im Vorfeld einen Job als Maklerin ergattert hatte. Die Arbeit gefiel ihr, sie traf viele interessante Menschen, und eines Tages traf sie eben auf Preston, der sie vom ersten Augenblick an in seinen Bann zog.

Nie zuvor hatte sie jemanden wie Preston kennengelernt. Er war unglaublich gut aussehend, ebenfalls sehr sportlich, kultiviert, intellektuell und gerade so arrogant, dass es noch nicht unangenehm auffiel.

Zu ihrer großen Überraschung faszinierte Jillian ihn ebenfalls, sie, die vierundzwanzigjährige Hinterwäldlerin, die doch nicht viel mehr herumgekommen war als über die Blaubeerfarm und das langweilige Tucson hinaus. Doch er sah mehr in ihr, er sah Potenzial. Und er machte sie zu seinem Projekt, wie eine seiner Aktien, in die man erst einmal investieren musste, um am Ende belohnt zu werden.

Sie zogen zusammen in die Villa in Scottsdale, die Jillian ihm vermittelte, ein gewaltiges Haus mit sieben Schafzimmern, vier Bädern und einer Küche, die fünfmal so groß war wie die ihrer Grandma Fran, und die mit den neuesten technischen Geräten und einer gläsernen Insel ausgestattet war. Es gab einen riesigen nierenförmigen Pool, Palmen, wohin man blickte, und sogar ein paar Zitrusbäume, von denen sie sich jeden Morgen Orangen, Zitronen und Grapefruits pflücken konnte, wenn sie Lust auf einen frischen Saft verspürte.

Jillian war im Himmel.

Dass jemand wie sie, ein Landei aus dem kalifornischen Lodi, es eines Tages ins luxuriöse Scottsdale schaffen sollte, war für sie bisher unvorstellbar gewesen. Und sich von nun an unter den Reichen und Schönen aufzuhalten, mit Frauen Tennis zu spielen, die Röckchen von Gucci und Schuhe von Prada trugen und sie nach dem Spiel zu Weinverkostungen oder in die elegantesten Restaurants einluden, in denen sie noch vor ein paar Jahren nie und nimmer einen Tisch bekommen hätte – das war manchmal mehr, als sie verkraften konnte. Dann saß sie sprachlos da und dankte dem Schicksal für all diese Möglichkeiten. Und dann dachte sie an Kalifornien zurück, an Lodi und die Blaubeeren, an ihre Großeltern und Schwestern, und sie fühlte sich einen Moment lang schlecht, weil es ihr so viel besser ergangen war als ihnen.

Gerade Alison tat ihr leid. Von ihrem Mann betrogen, alleinerziehend, Kassiererin in einem Supermarkt. Wie oft hatte sie ihr schon angeboten, ihr finanziell unter die Arme zu greifen, doch Ally hatte es jedes Mal abgelehnt. Als älteste Schwester war sie wohl zu stolz, um Geld von ihr anzunehmen. Sie wollte es allein schaffen, was Jillian natürlich nachvollziehen konnte, doch gerade mit Kind sollte man doch manchmal über seinen Schatten springen. Und da ihre Schwester ihr Geld nicht annahm, schickte sie ihr halt hin und wieder ein paar Dinge, großzügige Geschenke zu Geburtstagen und an Weihnachten, sogar am Valentins- und am Muttertag, einfach um sie zu unterstützen. Ob sie wollte oder nicht.

Sie wandte ihren Blick von der Sonne ab. Grandpa Cliff hatte ihr, wenn sie es als Kind getan hatte, immer gesagt, dass sie niemals direkt in die Sonne blicken durfte. Das sei nicht gut für die Augen, und die Augen brauche sie doch noch zum Lesen. Ja, sie war schon immer eine Leseratte gewesen, genau wie Grandpa Cliff, der Gute. Allerdings wusste sie nicht, ob er noch immer selbst las oder ob Grandma Fran ihm inzwischen vorlesen musste.

Ihr Blick wanderte weiter zum Pool. Das Wasser glitzerte im Schein der Sonne. Sie überlegte, ob sie ein wenig schwimmen sollte, entschied sich aber dagegen. Stattdessen stand sie auf und ging ins Haus, um sich das Buch zu holen, das ihr Grandpa ihr bei ihrem letzten Besuch mitgegeben hatte. Das war an den Feiertagen gewesen, im Dezember, und sie hatte ihr Versprechen, es zu lesen, bisher nicht gehalten. Es wurde höchste Zeit, auch dafür, die Großeltern mal wieder zu besuchen. Vielleicht konnte sie dann auch gleich bei ihrer kleinen Schwester Delilah vorbeischauen. Die lebte gar nicht weit von Lodi in San Francisco, und auch DeeDee hatte sie seit Weihnachten nicht gesehen.

So oft hatte sie ihre Schwestern nach Scottsdale eingeladen, doch die waren beide mit anderen Dingen beschäftigt. Und irgendwie hatte Jillian auch das Gefühl, dass es einen weiteren Grund gab, weshalb die beiden nicht mehr herkommen wollten: Sie mochten Preston nicht, konnten mit ihm nichts anfangen. Okay, zugegeben, er hatte eine ganz eigene Art, mit seinen Mitmenschen umzugehen, eine oftmals ein wenig überhebliche Art, doch eben dieses Selbstbewusstsein hatte sie damals von ihm überzeugt. Hatte sie sich in ihn verlieben lassen. Und damals hatte sie auch gehofft, dass eines Tages mehr aus ihnen werden würde als nur der reiche Kerl und seine hübsche Freundin. Sie hatte von einer Familie geträumt, das tat sie immer noch, auch wenn Preston ihr nun schon mehrmals gesagt hatte, Kinder würden nicht in ihr Luxusleben passen. Mit Anhängseln könne man nicht mehr spontan verreisen, Nächte durchfeiern oder im ganzen Haus Joints herumliegen lassen. Die rauchte Preston gerne zur Beruhigung, wie er ihr sagte, nur fragte sie sich, wovon er denn Beruhigung brauchte? Stress kannte der Mann nicht, sein Leben glich einem Märchen, und selbst wenn er eine schlechte Investition machte und eine halbe Million verlor, so hatte er doch noch etliche weitere Millionen auf seinen Konten, die den Verlust wieder wettmachten.

Sie musste gestehen, so ganz hatte sie sich noch nicht damit abgefunden. Noch wollte sie nicht auf eine eigene Familie verzichten, noch immer hoffte sie darauf, dass Preston eines Tages aufwachen und seine Meinung ändern oder dass ihm irgendetwas Einschneidendes passieren würde, das ihm eine neue Sichtweise schenkte.

Sie ging nun also ins Haus, holte sich das Buch aus jenem Zimmer, das allein ihr zur Verfügung stand und in dem sie all ihre persönlichen Dinge aufbewahrte. In diesem Raum hingen die verrückten Fotos von ihrer Familie an den Wänden, die Preston im Rest des Hauses nicht haben wollte, wie zum Beispiel die, auf denen Jillian und ihre Schwestern hässliche Grimassen zogen. Hier hatte sie die selbst gemalten Bilder von Misha an eine Pinnwand gehängt, und hier bewahrte sie die Leckereien auf, die Grandma Fran ihr hin und wieder schickte – versteckt vor Preston, der es nicht gern sah, wenn sie Kuchen oder Süßigkeiten aß, die ihrer Figur schaden oder ihr über Nacht einen Pickel ins Gesicht zaubern konnten.

Preston war streng in dieser Hinsicht, und auch damit hatte sie zu leben gelernt, denn seine Disziplin war nun mal ein Teil von ihm. Und sie liebte halt das Gesamtpaket.

Der Roman Dienstags bei Morrie von Mitch Albom lag auf der Kommode neben dem mit Herzchen verzierten Bilderrahmen, der ein Foto von Alison und Misha zeigte und den ihre Nichte ihr zu Weihnachten geschickt hatte. Sie hatte die beiden viel zu lange nicht gesehen, seit beinahe einem Jahr schon nicht, und sie nahm sich fest vor, demnächst auch mal wieder nach Tacoma zu reisen.

Mit dem Buch in der Hand ging sie zurück zum Pool und begann zu lesen, doch um ihre Konzentration war es heute nicht gut bestellt. Sie dachte an Grandpa Cliff, der ihr so viel beigebracht hatte, vor allem, wie bedeutend das geschriebene Wort war. Wie wichtig es war, an sich selbst zu glauben und seine Träume zu verwirklichen. Und wie kostbar es war, den einen Menschen zu finden, der einen bedingungslos liebte.

Kapitel 3

Delilah

Sie brachte den letzten Hund zurück nach Hause, einen Spitz, der erstaunliche Ähnlichkeit mit seinem Besitzer hatte, ein Broker namens Alvin Meyer. Er war bereits von der Arbeit zurück, nahm ihr Buster ab und ließ sich von seinem »Baby« das Gesicht abschlecken. Freudig bedankte er sich bei ihr und reichte ihr die zwanzig Dollar.

»Holen Sie ihn Montag um dieselbe Zeit ab?«

»Aber sicher«, antwortete sie und war froh, dass Alvin wenigstens sonntags frei hatte. An diesem Tag schien sogar der Financial District mal eine Pause zu machen, und sie konnte sich in Ruhe der Kindergeburtstagsfeier und ihrer neuen Aufgabe widmen. Sie hatte tagelang geübt. Zaubertricks, die das Geburtstagskind Ginny und seine Gäste beeindrucken würden, und die dennoch so einfach waren, dass sogar Delilah sie hinbekam. Bisher hatte sie sieben Tricks drauf, unter anderem den, bei dem man endlose Tücher aus seinem Ärmel fischte, den mit dem Glas Milch, das man sich verkehrt herum über den Kopf hielt und das dennoch nicht auskippte, und den »Kaninchen aus dem Hut«-Zaubertrick. Dabei nahm sie natürlich ein Stoffkaninchen, niemals hätte sie ein echtes für ihre Show benutzen wollen.

Sie würde einhundert Dollar verdienen, für einen einzigen Nachmittag, das war nicht schlecht. Fürs Gassigehen mit den Hunden bekam sie oft an einem ganzen Tag nicht so viel zusammen, da sie aktuell nur noch drei Hunde regelmäßig ausführte. Die anderen fünf kamen nur ein paarmal die Woche dran, und den beiden älteren Damen, für die sie das Gassigehen übernahm, berechnete sie lediglich zehn Dollar, weil sie wusste, dass sie sich nicht mehr leisten konnten. Seit gut zwei Jahren ging DeeDee dieser Tätigkeit nun schon nach, und es war die einzige, die sie nicht aufgegeben hatte.

Sie musste zugeben, Beständigkeit war nicht gerade ihre Stärke, was man auch erkennen konnte, wenn man sich ihre Männergeschichten ansah. Delilah hatte in den letzten fünf Jahren fünf Beziehungen gehabt. Mit Channing war sie nun bereits zehn Monate zusammen, und das war quasi eine Meisterleistung. Doch Channing war wirklich nett, aufmerksam, er sah dazu verdammt gut aus, und vor allem gab er ihr ihren Freiraum. Sie war drauf und dran, sich ernsthaft in ihn zu verlieben, was eigentlich gegen ihre Regeln verstieß. Doch sie war beinahe neunundzwanzig, so langsam sollte sie vielleicht doch mal darüber nachdenken, sich weiterzuentwickeln. Wenigstens ein bisschen.

Sie winkte Alvin und Buster zum Abschied und hüpfte die sechs Treppen der Prachtvilla hinunter, die Alvin sein Eigen nannte. Sie hatte noch nie eine Frau bei ihm gesehen, geschweige denn Kinder, und auch im Innern des Hauses hatte sie keinerlei Fotos entdeckt. Lediglich ein paar, die Alvin mit Buster zeigten, und einige andere, auf denen er mit einer älteren Dame abgebildet war. Seine Mutter, wie sie annahm. An dem Tag vor acht Monaten, an dem Alvin sie als Busters Hundesitterin eingestellt hatte, hatte er ihr einen Schlüssel sowie den Code für die Alarmanlage überreicht. Oft dachte sie, wie einfach es wäre, die Bude auszuräumen. Doch mal davon abgesehen, dass ein Kerl wie Alvin höchstwahrscheinlich jede Menge Kameras überall im Haus und auf dem Grundstück installiert hatte, würde Delilah so etwas niemals tun. Sie war ein ehrlicher Mensch, hielt nichts von Hinterlist, sagte immer, was sie dachte, und wenn ihr etwas nicht passte, erfuhr ihr Gegenüber es auch sogleich. Es war ein Wunder, dass Rachel es immer noch mit ihr aushielt.

Sie hatte Rachel kennengelernt, kurz nachdem sie zurück nach San Francisco gezogen war. Gleich mit achtzehn ging sie von der Blaubeerfarm weg, besuchte jedoch im Gegensatz zu ihren Schwestern kein College. Sie hatte nie diesen Traum gehegt, alles, was sie immer gewollt hatte, war zurück an die Bucht zu ziehen. Die Golden Gate Bridge in ihrer Nähe zu wissen. Zum East Beach laufen zu können, wann immer ihr danach war. Sich auf nach Chinatown zu machen und sich Wan Tan oder Dim Sum zu kaufen, wenn sie Lust darauf hatte. Die Geräusche der Großstadt in den Ohren zu haben, die sie all die Jahre so vermisst hatte.

Und ihren Eltern nahe zu sein.

Sie wusste, dass sie ihren Großeltern damit schwer zusetzte. Denn erstens war sie die Letzte der Schwestern, die bis dato noch auf der Farm gelebt und ihnen geholfen hatte. Zweitens wollte sie nicht das aus ihrem Leben machen, was Grandma Fran und Grandpa Cliff sich für sie gewünscht hatten: eine Collegeausbildung und irgendeinen supertollen Beruf, bei dem sie anständig verdienen und keine Entbehrungen erdulden musste. Und drittens war allein die Erwähnung San Franciscos etwas, das eigentlich tabu war im Hause Rivers. Einmal im Jahr waren sie alle stets zurück dorthin gefahren, um am Todestag ihrer Eltern das Grab auf dem Friedhof zu besuchen – Fran und Cliff hatten auf eine Inschrift mit Ginas Namen bestanden, vor allem für die Mädchen, aber auch für sie selbst. Für den Rest des Jahres war San Francisco in etwa so weit entfernt für die Großeltern wie Simbabwe, obwohl es keine zwei Autostunden von der Farm entfernt lag.

Die beiden hatten Delilah in den beinahe elf Jahren, die sie nun schon wieder dort lebte, kein einziges Mal in ihrer Wohnung besucht, jedes Essengehen in Chinatown hatten sie abgelehnt, und Rachel hatten sie nur deshalb kennengelernt, weil Delilah sie ein paarmal mit zur Farm gebracht hatte. Letztes Jahr zu Weihnachten etwa, als Rachels Eltern in Paris und ihr Freund bei seiner Familie in Michigan waren, und sie sonst ganz allein in der ruhigen Wohnung gesessen hätte.

Rachel.

Es gab für Delilah keinen wichtigeren Menschen auf Erden, von ihren Schwestern und den Großeltern einmal abgesehen. Als sie damals nach San Francisco gekommen war und in einer schrecklichen WG gelebt hatte, in der sie sich nichts als unwohl fühlte, war sie Rachel begegnet, die zu dem Zeitpunkt mit einem ihrer Mitbewohner liiert war. Die beiden trennten sich kurz darauf, doch Delilah und Rachel freundeten sich an und zogen sogar bald darauf zusammen in eine Wohnung in Mission Bay. Von dort aus konnte man auf die Bay Bridge blicken und aufs Wasser – Delilah fühlte sich sofort zu Hause.

Seitdem waren Rachel und sie unzertrennlich, und sie lächelte jetzt, als sie ans klingelnde Handy ging, das ihr einen Anruf von ihrer besten Freundin anzeigte.

»Hey, Besty.«

»Hey, DeeDee. Hast du schon Feierabend?«

»Hab gerade den letzten Hund abgegeben.«

»Den Chihuahua bei dem Playboy-Model?«

»Nein, den Spitz bei dem Broker.«

»Ach so. Der hat viel Kohle, oder?«

»Hat er. Wieso?«

»Glaubst du, er würde in meine neu gegründete vegane Catering-Firma investieren?«

Delilah lachte. »Ich glaube eher nicht.« Und sie glaubte ehrlich gesagt auch nicht, dass Rachels Catering-Firma etwas war, das langfristig Erfolg haben würde. Zwei Wochen maximal. Denn Rachel war, was ihre Jobs anging, nicht besser als Delilah selbst, dafür hatte sie allerdings ihren Boyfriend Jay, mit dem sie bereits seit siebenundzwanzig Monaten zusammen war. Das wusste Delilah so genau, weil die beiden jeden Monatstag feierten, als wäre es das ultimative Ereignis. Sie beschenkten sich, verbrachten einen romantischen Abend, bastelten sich Karten – es war so schnulzig, dass einem das Essen hochkam.

»Bist du zum Dinner zu Hause?«, fragte Rachel jetzt.

»Ich weiß nicht?«, erwiderte sie vorsichtig, weil ihr Schlimmes schwante.

»Ich habe ein paar Gerichte ausprobiert und brauche unbedingt jemanden, der sie kostet.«

»Wo ist denn Jay heute Abend?«

»Sein Cousin hat Footballkarten.«

»Oh. Na dann.«

»Ach komm schon, meine Gerichte schmecken nicht immer scheußlich«, meinte Rachel. »Nur manchmal«, ergänzte sie.

Beide lachten, Delilah hängte auf und stieg in den Bus, der sie direkt in ihre Straße bringen würde. Sie sah aus dem Fenster auf die Bucht, während sie den Embarcadero entlangfuhren. Durch Fisherman’s Wharf, wo die Touristen sich tummelten, die entweder von den Seelöwen am Pier 39 kamen oder auf dem Weg in eines der vielen Fischrestaurants waren. Als Kind war sie selbst des Öfteren an diesem abenteuerlichen Ort gewesen, bevor ihre heile Welt in Trümmern gelegen hatte.

Sie sah hinaus aufs Wasser und stellte sich wie immer vor, dass ihre Mutter noch irgendwo da draußen war. In der Tiefe des Ozeans. Im Gegensatz zu ihrem Dad war sie niemals gefunden worden. Als kleines Mädchen hatte Delilah sich deshalb oft vorgestellt, dass ihre Mom auf einer einsamen Insel angespült worden war, wo sie jetzt mit irgendwelchen Ureinwohnern lebte und sich von Kokosnüssen und exotischen Früchten ernährte.

Diese Vorstellung hatte sie natürlich längst begraben. Sie war erwachsen geworden und wusste, was Sache war. Wusste, dass ihr Leben völlig anders verlaufen war, als das Schicksal es für sie vorgesehen hatte.

Ihre Schwester Alison hatte ihr einmal gesagt, dass die Blaubeerfarm ihrer aller Schicksal war. Doch davon hatte sie nie etwas wissen wollen. Deshalb hatte sie auf den Ruf gehört, den San Francisco ihr immer wieder ausgesandt hatte, und sie hatte es keinen einzigen Tag bereut.

Hier wollte sie sein, nirgendwo sonst.

Und als sie jetzt aus dem Bus und die Treppen in ihre Wohnung hochstieg, als sie den Duft von indischem und den von arabischem Essen mit einem Hauch von Südstaatenküche wahrnahm, konnte sie nicht anders, als zu lächeln.

Rachel wartete bereits auf dem Sofa. Sie hatte unzählige Speisen auf den Couchtisch gestellt und eine romantische Komödie auf Netflix rausgesucht.

»Hast du Lust auf Tempura und Love, Vegas?«, fragte sie grinsend.

»Was ist denn das für eine Frage?« Sie schnappte sich ein Stück Karotte im Backteig und warf sich aufs Sofa, wo sie sich an Rachel kuschelte und sich fragte, warum nicht alles so einfach sein konnte wie diese Freundschaft.

Kapitel 4

Fran

Sie sah aus dem Küchenfenster, umklammerte einen Becher heiße Zitrone und fragte sich wie so oft in letzter Zeit, was sie nur machen sollte.

Erneut hatte sie keinen Schlaf finden können, weil sie an ihren Liebsten denken musste, der nun schon seit zweieinhalb Jahren nicht mehr an ihrer Seite schlief, nachdem sie siebenundfünfzig Jahre lang das Bett geteilt hatten. Unvorstellbar, dass sie und ihr Cliff so lange glücklich verheiratet gewesen waren, nur um das Ende ihres Lebens getrennt voneinander zu verbringen.

Sie hatten es sich nicht ausgesucht.

Als die Krankheit sich ganz leise in ihr Leben geschlichen hatte, machte Fran sich noch keine großen Sorgen. Hin und wieder vergaß Cliff, wo er etwas abgelegt hatte, ihm entfiel das Datum ihres Hochzeitstages oder der Geburtstag einer ihrer Enkelinnen. Dann wusste er eines Tages am Abend nicht mehr, was es am Mittag zu essen gegeben hatte, und irgendwann war es dann so weit, dass er nicht einmal mehr wusste, wo sich die Praxis seines Hausarztes befand, bei dem er bereits seit vielen Jahren in Behandlung war. An dem Vormittag rief er sie von einem Friseursalon aus an, in den er gegangen war und darum gebeten hatte, einen Anruf tätigen zu dürfen.

»Ich habe mich verlaufen«, sagte er ihr, und sie fragte, wo er sich denn befände.

»Beim Friseur. Ich darf freundlicherweise das Ladentelefon benutzen.«

»Aber warum benutzt du denn nicht dein eigenes?«, fragte Fran. Sie hatte ihm ein Handy besorgt, eins für Senioren mit extragroßen Tasten und ohne all diesen Schnickschnack, den Mobiltelefone heutzutage hatten. Es war ganz leicht zu bedienen, und sie sorgte dafür, dass es immer aufgeladen war.

»Ich weiß nicht, wo es ist«, gab er zur Antwort.

»Das macht nichts, mein Schatz. Ich rufe bei Dr. Marshall an und sage ihm, dass du heute nicht mehr kommst. Geh einfach zu deinem Auto zurück und fahr nach Hause, ja?«

Stille. Und sie ahnte es schon.

»Weißt du auch nicht mehr, wo du deinen Buick geparkt hast?«, wagte sie zu fragen.

Immer noch Stille, doch sie konnte ihn quasi den Kopf schütteln sehen. Verzweifelt. Beschämt.

»Bleib, wo du bist, ja? Ich komme dich abholen.«

Das tat sie, und auf dem Weg dorthin machte sie sich schreckliche Vorwürfe, weil sie Cliff allein hatte in den Ort fahren lassen. Sie hätte es besser wissen müssen und würde es garantiert nicht noch einmal zulassen. Sie würde sich einfach besser um ihn kümmern müssen, mehr Acht geben, öfter da sein. Anderen Dingen nicht so viel Beachtung schenken.

Doch so viel Mühe sie sich auch gab, sie schaffte es nicht.

An einem stürmischen Novembertag brachte sie ihn in ein Altenpflegeheim ganz in der Nähe, damit sie ihn täglich besuchen konnte. Die Wolken waren so düster wie alles andere an diesem Tag. Und der Himmel weinte mit ihr.

Seitdem war nichts mehr, wie es einmal gewesen war. Fran war von ihrem Seelenverwandten getrennt. Wie versprochen besuchte sie ihn täglich zum Nachmittagstee und blieb bei ihm, um wie fast ihr ganzes Leben lang zusammen mit ihm zu Abend zu essen. Sie wartete, bis er eingeschlafen war, und fuhr erst dann zurück zur Farm. An den Vormittagen erledigte sie die Dinge, die dort anfielen, auch wenn sie die meisten der Aufgaben mittlerweile an ihren Vorarbeiter abgegeben hatte. Arturo war eine große Hilfe und in ihren Augen ein wahrer Held, immer da, wenn sie ihn brauchte. Er ließ sie täglich herzliche Grüße an Cliff ausrichten.

Die Sache war nur, dass sie sich nicht einmal sicher war, ob Cliff sich noch an Arturo erinnern konnte.

Vor ein paar Tagen hatte er mit Alison telefoniert, und er hatte nicht einmal ihre Stimme erkannt. Fran wusste, wie schwer es für ihre Enkelin gewesen sein musste, das war es für sie alle. Doch sie litt am meisten darunter. Denn wie konnte man damit leben, dass der Mann, den man liebte, die Dinge vergaß, die einen so viele Jahre miteinander verbunden hatten?

Und die größte Angst hatte sie davor, dass er eines Tages auch anfangen könnte, sie zu vergessen.

Nachdem sie sich in die Küche gestellt und eine Ladung Blaubeer-Muffins gebacken hatte, ging Fran hinaus und sah nach dem Rechten. Sie fand Arturo vor der Halle an, wo er gerade Kisten mit Blaubeeren leerte.

Die Erntehelfer hatten vor drei Wochen mit dem Pflücken begonnen, denn auf den meisten Blaubeerfarmen, und auch auf ihrer, wurden die ersten Pflückvorgänge noch per Hand erledigt. Das Blaubeerpflücken war gar nicht so einfach, wie man annahm, denn die Beeren reiften nicht alle gleichzeitig, und es befanden sich sowohl pralle, reife blaue Beeren inmitten der Trauben wie auch die noch unreifen, kleinen grünen und erst rosa gefärbten, die auf keinen Fall jetzt schon mitgepflückt werden durften, da Blaubeeren nun mal nicht nachreiften.

Das Gute war, dass man sich beim Blaubeerpflücken – die Rivers’ pflanzten die bis zu zwei Meter hohen Highbush-Sorten – nicht den Rücken kaputt machte, wie es zum Beispiel bei der Erdbeerernte der Fall war, wo man den ganzen Tag gebeugt stehen musste. Nun, es gab natürlich auch die Lowbush-Sorten, die nicht annähernd so hoch wuchsen, doch für diese war eher Kanada bekannt, in Kalifornien gab es seit jeher überwiegend die kultivierten Arten.

»Wie läuft es heute, Arturo?«, stellte Fran dieselbe Frage wie jeden Tag.

Der sechzigjährige Mexikaner sah sie lächelnd an. »Sehr gut, Señora«, antwortete er und kippte eine Kiste Blaubeeren behutsam in jene Maschine, die die Blätter und Stöckchen herauspustete, die sich unter die Beeren gemischt hatten. Danach fuhren sie auf einem Fließband in die Halle hinein, wo sie sortiert wurden. Diesen Vorgang wiederholte Arturo mehrere Male, bis alle Kisten auf seinem kleinen Wagen leer waren.

»Kann ich noch etwas für Sie tun?«, fragte er.

»Nein, nein, ich brauche nichts«, ließ Fran ihn wissen. »Ich wollte nur sichergehen, dass alles in Ordnung ist, wenn ich nachher losfahre.«

»Alles bestens, Señora, machen Sie sich keine Sorgen.« Sie nickte, und Arturo setzte sich wieder ans Steuer des Wagens. »Richten Sie Señor Rivers meine Grüße aus, ja?«

»Das mache ich«, antwortete sie und sah dabei zu, wie Arturo zurück aufs Feld fuhr, um noch mehr Kisten einzusammeln.

Die Erntehelfer arbeiteten so: Sie pflückten die Beeren direkt in einen Plastikbehälter hinein, den sie sich um den Bauch gebunden hatten, und entluden den Inhalt, wenn er voll war, in eine leere Kiste. Diese wurden von Arturo eingesammelt, der sie an Ort und Stelle wog und sich notierte, wie viel welcher Pflücker gesammelt hatte. Jeder Erntehelfer bekam einen kleinen Zettel, auf dem ein Betrag stand, den er sich am Ende der Woche auszahlen lassen konnte. Es gab Pflücker, die ernteten mehr als andere, einige sogar das Dreifache, das waren meist diejenigen, die seit vielen Jahren auf Blaubeerfarmen beschäftigt waren und sehr geschickt beim Pflücken vorgingen. Sie konnten am Tag hundertfünfzig Dollar oder mehr einnehmen, weshalb die Arbeit bei der Blaubeerernte sehr beliebt bei den Erntehelfern war. Viele kamen dafür eigens aus Mexiko angereist, einige mit einem Arbeitsvisum, einige illegal. Fran und Cliff hatten nie gute Pflücker weggeschickt, vor allem, weil kein Amerikaner dieser Art von Beschäftigung nachgehen wollte. Sie waren auf sie angewiesen, auch auf die illegalen Arbeitskräfte, wie all die anderen Farmen auch, und die Behörden ließen sie gewähren.

Was blieb ihnen anderes übrig?

Die Wirtschaft durfte nicht zum Erliegen kommen, die Obst- und Gemüseernte war von großer Bedeutung für den Staat Kalifornien, und die Farm hatte Fran und Cliff viele, viele Jahre gutes Geld eingebracht. Es hatte auch Jahre gegeben, in denen der Frost oder ein Sturm einen Teil der Ernte kaputt gemacht oder in denen die Dürre ihnen zugesetzt hatte, doch alles in allem war es ein gutes, lukratives Leben, und Fran würde es mit keinem anderen eintauschen wollen.

Sie sah nun hinaus aufs weite Feld. Die vielen, vielen Blaubeerpflanzen auf den dreißig Hektar Land würde man kaum zählen können. Abertausende Beeren wurden täglich gepflückt, und das bis in den August hinein, da auf der Rivers-Farm, wie auch auf vielen anderen Blaubeerfarmen, mehrere verschiedene Sorten Beeren wuchsen, damit nicht nur sechs Wochen lang geerntet werden konnte, sondern einige Monate.

Fran seufzte und ging zurück zum Haus, wo sie vor den Verandastufen kurz haltmachen musste, um wieder zu Atem zu kommen. Mit ihren zweiundachtzig Jahren war sie leider selbst nicht mehr die Fitteste oder die Gesündeste, doch manchmal, wenn sie nur lange genug die Augen schloss und sich an bestimmte Dinge zurückerinnerte, dann fühlte sie sich wieder wie zweiundzwanzig …

Kapitel 5

1962

Frances Sinclair nahm einen großen Schluck von ihrem Erdbeermilchshake und lächelte vor sich hin. Sie saß an der Theke des Stardance Diners und hatte eine Zeitschrift vor sich liegen, die an diesem Morgen in ihrem Briefkasten gesteckt hatte. Auf Seite acht war die Werbeanzeige abgedruckt, auf die sie so sehnsüchtig gewartet hatte. Sie nahm eine ganze Seite ein und zeigte eine junge Frau mit blondem Haar an einem Swimmingpool. Sie saß glücklich und entspannt am Beckenrand und hielt eine Flasche Candy Cola in der Hand, das neueste und bald schon beliebteste Getränk der Jugend, wenn es nach den Herstellern ging, die ein enormes Werbebudget in die Kampagne gesteckt hatten. Diese würde in den kommenden Monaten noch vier weitere Bilder der jungen blonden Frau zeigen: eins auf einem Pferd, eins auf einer Party, eins an der Seite von ihrem Liebsten und eins, an dem sie an einer Jukebox lehnte.

Frances konnte nicht aufhören zu strahlen und erhob sich jetzt von ihrem Barhocker, um selbst zur Jukebox am anderen Ende des Diners zu gehen. Sie steckte einen Nickel hinein und drückte den Knopf neben dem Song The Wanderer von Dion, dem Lieblingslied ihrer besten Freundin Anastasia, auf die sie hier wartete. Und sie hoffte, dass Annie bald auftauchen würde, denn sonst würde sie noch verrückt werden vor zurückgehaltener Aufregung.

Als sie zurückkehrte, hatte neben ihrem Barhocker ein junger Mann Platz genommen, gut aussehend in seinen Bluejeans und dem kurzärmeligen Hemd, dessen obere beide Knöpfe offen standen. Dem Outfit, das heutzutage so viele junge Kerle trugen, seit Elvis so herumlief. Als ob sie damit alle auf einmal so beliebt bei den Mädchen wären wie der King of Rock ’n’ Roll höchstpersönlich. Frances musste gestehen, dass auch sie eine Schwäche für Presley hatte. Im vergangenen Jahr hatte sie sich gleich dreimal auf ins Kino gemacht, um den Film Blue Hawaii mit Elvis in der Hauptrolle zu sehen. Alle drei Male war Annie mitgekommen, obwohl sie selbst mehr für Paul Anka schwärmte.

»Sagen Sie, sind das Sie da in dem Magazin?«, fragte der junge Mann verblüfft, als sie sich neben ihn setzte und wieder ihrem Milchshake widmete. Dabei deutete er auf die Glamour Girl, die sie aufgeschlagen auf der Theke liegen gelassen hatte. Unbeabsichtigt. Obwohl ihr der Blick des jungen Mannes nun doch ganz gut gefiel.

Sie musste lachen und sog grinsend an ihrem Strohhalm.

»Nun verraten Sie es mir, bitte. Sind Sie es?«

Sie zog die Zeitschrift zu sich heran. »Das da?«, fragte sie und tippte mit dem Zeigefinger auf den schwarzen Bikini. »Hmmm … vielleicht.«

»Ich liege Ihnen zu Füßen, Gnädigste«, sagte der Mann theatralisch und ging auf die Knie. »Wollen Sie mich heiraten?«

Wieder musste Frances lachen. »Nun, fürs Erste könnten Sie mich auf noch einen Erdbeershake einladen«, sagte sie gerade, als sie Annie durch die Tür eintreten sah. »Oh, da kommt meine Freundin. Wir sind verabredet.«

»Ich warte gerne«, sagte er.

»Ein andermal, ja?«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

»Ich bin übrigens Johnny.«

»Nett, Sie kennenzulernen, Johnny.« Sie wandte sich von ihm ab und winkte Annie zu, die zu ihr tänzelte, wie sie es immer tat. Als Ballerina schien sie es verlernt zu haben, ganz normal zu gehen.

»Hallo, meine Liebe. Du hast dich verspätet«, sagte Frances sogleich. Normalerweise hätte es ihr nicht das Geringste ausgemacht, vor allem wenn sie stattdessen so nette anderweitige Gesellschaft hatte, doch heute nahm sie es ihrer Freundin beinahe übel. Sie wusste doch genau, wie aufgeregt sie war!

»Oh, bitte entschuldige. Ich habe meinen Bus verpasst. Verzeihst du mir?«

»Aber natürlich.« Sie sah sich in dem Laden um. »Da vorne ist eine Nische frei, wollen wir uns dorthin setzen?«

Annie nickte, und sie ließen sich jeder auf einer der gegenüberliegenden rot gepolsterten Bänke nieder.

The Wanderer ertönte endlich, und Annie begann, freudig dazu zu wippen. »Ich liebe diesen Song.«

»Das weiß ich. Ich habe ihn für dich ausgesucht.«

»Wie aufmerksam.« Annie lächelte. »Und nun zeig es mir endlich!«

Frances schlug die Zeitschrift, die sie jetzt vor sich auf dem Tisch liegen hatte, erneut auf Seite acht auf, drehte sie um hundertachtzig Grad und schob sie ihrer Freundin unter die Nase.