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Bäume voller reifer Mandeln und drei Frauen auf der Suche nach dem Glück …
Sophie hat das ländliche Kalifornien für ein Leben in der Großstadt hinter sich gelassen. Doch dann erbt sie unerwartet die Mandelfarm ihrer Großmutter Hattie, wo sie als Kind viele wunderbare Sommer verbrachte. Soll sie wirklich ihren Job aufgeben und die Farm übernehmen? Nicht nur der Duft der frisch gerösteten Mandeln weckt Erinnerungen an vergangene Tage, auch ihre ehemals beste Freundin Lydia und ihre Jugendliebe Jack tragen dazu bei, dass Sophie bald von alten Zeiten eingeholt wird. Und dann gibt es noch die weisen Worte ihrer verstorbenen Großmutter, die Sophie immer dann helfen, wenn sie nicht weiterweiß – und sie vielleicht sogar zum großen Glück führen …
Die zauberhafte »Kalifornische Träume«-Reihe bei Blanvalet:
1. Wintervanille
2. Orangenträume
3. Mandelglück
4. Erdbeerversprechen
5. Walnusswünsche
6. Blaubeerjahre
Alle Bände können auch unabhängig gelesen werden.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 594
Autorin
Manuela Inusa wurde 1981 in Hamburg geboren und wollte schon als Kind Autorin werden. Kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag sagte die gelernte Fremdsprachenkorrespondentin sich: »Jetzt oder nie!« Nach einigen Erfolgen im Selfpublishing erscheinen ihre aktuellen Romane bei Blanvalet und verzaubern ihre Leser. Die Autorin lebt mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern in einem idyllischen Haus auf dem Land. In ihrer Freizeit liest sie am liebsten Thriller und reist gerne, vorzugsweise nach England und in die USA. Sie hat eine Vorliebe für englische Popmusik, Crime-Serien, Duftkerzen und Tee.
Von Manuela Inusa bereits erschienen:
Jane Austen bleibt zum Frühstück
Auch donnerstags geschehen Wunder
Die Valerie Lane
1 Der kleine Teeladen zum Glück
2 Die Chocolaterie der Träume
3 Der zauberhafte Trödelladen
4 Das wunderbare Wollparadies
5 Der fabelhafte Geschenkeladen
6 Die kleine Straße der großen Herzen
Die Kalifornischen Träume
1 Wintervanille
2 Orangenträume
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MANUELA INUSA
ROMAN
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Copyright © der Originalausgabe 2020
by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Daniela Bühl
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
(donatas1205; DiamondGT; Charcompix; umat34;
Dwight Smith; Roman Khomlyak; Danae Abreu;
Armas Vladimir; Lamax; mahirart; glenda)
JF · Herstellung: sam
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-24381-4V001
www.blanvalet.de
Dieses Buch möchte ich
all den Albas da draußen widmen.
Prolog
Davis, Kalifornien, Sommer 2004
»Ich kann kaum glauben, dass es bald so weit ist«, sagte Sophie. »Endlich.«
»Was meinst du?«, fragte Lydia und sah zum Horizont. Die Sonne ging gerade unter, und die vielen Bäume auf der Mandelplantage waren nichts als Silhouetten, Gebilde mit wuchernden Armen, die vor dem roten Hintergrund wie schwarz wirkten.
»Die Frage kannst du nicht ernst meinen.« Ihre beste Freundin sah sie von der Seite an. Sie saßen zusammen auf einem der Baumstämme, die hier und da platziert waren und den Pflückern der Farm einen Ort zum Ausruhen bieten sollten, wenn sie in der Sommerhitze eine kleine Pause einlegten. »Na, ich spreche natürlich davon, dass wir bald die Highschool hinter uns haben und uns die ganze Welt offensteht. Nur noch ein Jahr, dann haben wir’s geschafft.«
»Oh«, machte Lydia, die hier in Davis zu Hause war. Im Gegensatz zu Sophie, die stets nur ihre Sommer hier verbrachte, und zwar bei ihrer Grandma Hattie, der Besitzerin dieser Mandelplantage. Als Sophie noch jünger war, brachten ihre Eltern, die sich beide keinen Urlaub nehmen konnten, das kleine Mädchen stets in der ersten Ferienwoche her und ließen es den ganzen Sommer über bei Hattie. Nicht nur diese freute sich, Zeit mit ihrer Enkelin verbringen zu dürfen, auch Lydia war jeden Juni voller Vorfreude, ihre liebste Freundin wiederzusehen, mit der sie die folgenden drei Monate spielen durfte.
Mit den Jahren ließen sie das Versteckspielen, das Kostümieren und die kindischen Streiche hinter sich und rauchten zusammen erste Zigaretten, erzählten sich von Jungen, die sie mochten, und unterhielten sich über die Dinge, die ihnen im Leben wichtig waren. Und auch wenn Sophie die Sommer irgendwann eigentlich allein zu Hause in Sacramento hätte verbringen können, kam sie doch weiterhin nach Davis, zu Hattie, zu Lydia und zu den Mandeln, die ein Teil ihres Lebens geworden waren.
Sophie hielt ihr nun die Papiertüte mit den Mandelplätzchen hin, die Hattie ihnen mitgegeben hatte, und sie griff hinein. Herzhaft biss sie ab und schloss die Augen. Keine Kekse der Welt konnten mit Hatties Mandelplätzchen mithalten.
»Bist du denn nicht froh, hier wegzukommen?«, fragte Sophie sie.
»Nein. Und ehrlich gesagt bin ich erstaunt, wie wenig du mich zu kennen scheinst.« Sie sah ihrer besten Freundin ins Gesicht. »Weißt du denn nicht, dass ich diesen Ort liebe? Ich würde niemals aus Davis weggehen wollen.«
»Ehrlich nicht? Aber Davis ist ein Kaff! Willst du nicht irgendwohin, wo es … größer ist?«
Lydia schüttelte den Kopf. Dann lachte sie. »Davis ist ein Kaff? Wir haben über sechzigtausend Einwohner! Und Sacramento hat eine halbe Million! Wo willst du denn hin, wo es noch größer ist? Nach L. A. etwa?«
Jetzt schüttelte ihre Freundin den Kopf. »Nein, ich glaube, ich will weg aus Kalifornien. Mal was Neues sehen. Vielleicht mache ich mich auf an die Ostküste. New York muss ein Traum sein. Ich werde mich auf jeden Fall an allen Colleges bewerben, an der Columbia, der Brown, in Harvard und Yale. Wo willst du eigentlich aufs College gehen?«
Lydia schwieg.
»Sag bloß, du willst hier aufs College? Können sich deine Eltern kein Elite-College leisten? Vielleicht könntest du ein Stipendium beantragen, du bist doch so gut in Lacrosse«, schlug Sophie vor.
»Ich werde mich gar nicht fürs College bewerben«, erwiderte sie, bevor Sophie immer weiterreden konnte.
Jetzt starrte ihre Freundin sie an. »Warum denn das? Bist du verrückt?«
Sie atmete tief durch und nahm all ihren Mut zusammen. »Ich bin schwanger«, offenbarte sie und war irgendwie erleichtert, dass es jetzt raus war. Außer ihren Eltern und natürlich Brandon wusste es noch niemand.
»Oh nein, Lydia. Wie konnte denn das passieren?«, fragte Sophie ganz schockiert. »Du Arme, vielleicht gibt es eine Lösung. Vielleicht könntest du es …«
»Aufgeben? Niemals! Ehrlich gesagt freue ich mich sogar darauf, eine eigene kleine Familie zu gründen. Ich freue mich darauf, eine Mommy zu sein.« Sie lächelte vor sich hin.
»Du bist siebzehn!«, entgegnete Sophie verständnislos.
»Das musst du mir nicht sagen, das weiß ich selbst«, blaffte sie ihre Freundin wütender an als beabsichtigt. »Wenn du dich nicht mit mir freuen kannst, dann kann ich auch gehen.« Sie stand auf.
»Nein, bleib!«, bat Sophie sie und griff nach ihrer Hand. »Setz dich doch bitte wieder, und wir reden über etwas anderes, ja?«
Lydia ließ sich von Sophies Blick besänftigen, der Bedauern ausdrückte. Sie nahm wieder auf dem Baumstamm Platz und sah der Sonne dabei zu, wie sie nun gänzlich verschwand. Keine von ihnen sagte ein Wort. Beide waren in Gedanken ganz woanders als hier auf der Farm. Und während die Dunkelheit sie umhüllte, zog Sophie sie schließlich an sich und sagte: »Wenn du dich freust, dann freue ich mich mit dir.«
Lydia lächelte und war froh, dass ihre Freundin in der Schwärze der Nacht ihre Tränen nicht sah. Denn obwohl sie sich freute, hatte sie auch Angst vor dem, was kommen würde. Schwanger mit siebzehn – so hatte sie sich ihr Leben nicht vorgestellt. Sie hoffte nur, dass das Schicksal es gut mit ihr meinen würde und sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Sie legte den Kopf an Sophies Schulter. »Wenn du dann aufs College irgendwo an der Ostküste gehst, wirst du die Sommer trotzdem noch auf der Mandelfarm verbringen?«, fragte sie.
»Natürlich. Nichts und niemand könnte mich davon abhalten. Ich werde für den Rest meines Lebens jeden Sommer herkommen, das verspreche ich.«
Zufrieden lächelte Lydia und erschrak, als ein Kojote in der Ferne heulte.
»Hab keine Angst«, sagte Sophie ihr, jedoch war sie sich nicht sicher, ob ihre Freundin den Kojoten oder das Leben meinte.
Kapitel 1
Sophie
»Das Pralineneis mit der Vanillesahne hört sich traumhaft an«, sagte Sophie, während sie die Tageskarte überflog.
Lola lächelte zufrieden. »Und es wird auch so schmecken, das garantiere ich dir.«
»Da habe ich gar keine Zweifel. Denn ich glaube, ich habe noch niemals eine deiner Kreationen probiert, die nicht absolut köstlich geschmeckt hätte«, lobte sie Lola, da sie wusste, dass diese manchmal einfach ein wenig Lob brauchte. Und es war nicht gelogen! Außer den Austern, die Lola ab und an zubereitete, oder dem Wels in Aspik, den sie nun wirklich nicht kosten mochte, waren die Speisen, die Lola sich ausdachte, mit viel Liebe kochte und geschmackvoll anrichtete, jedes Mal aufs Neue eine Freude für Augen und Gaumen.
»Danke für das Kompliment«, erwiderte die Chefköchin, die keinesfalls so aussah, als würde sie den ganzen Tag in der Küche stehen, hier und dort etwas probieren und sich gerne auch mal selbst eine Portion genehmigen. Lola war mit ihren vierundvierzig Jahren und nach drei Schwangerschaften rank und schlank und in Sophies Augen einfach nur zu beneiden. Sie selbst dagegen hatte schon zwei Pfund mehr drauf, wenn sie einen Cupcake einfach nur ansah. Und sie hatte noch nicht einmal eine Geburt hinter sich! Geschweige denn den passenden Mann, der für die Gründung einer Familie infrage kommen würde. Nein, Sophie hatte nicht vor, zum jetzigen Zeitpunkt ihres Lebens eine feste Beziehung einzugehen, viel zu sehr war sie damit beschäftigt, sich eine Karriere aufzubauen. Und tatsächlich hatte sie es als Restaurantleiterin geschafft, das Three Seasons in den letzten fünf Jahren zu einem der angesagtesten Restaurants von ganz Boston zu etablieren. Während in ihrer Anfangszeit dort noch Burger und Pommes serviert worden waren, bekam man heute Köstlichkeiten wie Rigatoni im Hummersud, Shiitake-Risotto mit Calamaritürmchen oder Jakobsmuscheln in einer Proseccosauce auf Glasnudelnestern. Die Leute standen Schlange, um einen Tisch im Three Seasons zu ergattern, und es gab keinen einzigen Tag, an dem sie nicht restlos ausgebucht waren, denn seitdem der Kritiker Lesley Hofman ihr Restaurant als »das Nobelste, was Boston heute zu bieten hat« bezeichnet hatte, konnten sie sich wirklich nicht mehr retten vor Reservierungen.
»Ich sage nur die Wahrheit«, entgegnete Sophie nun. »Du bist eine Meisterin in der Küche, und ich bin froh, dass du dich bisher noch nicht hast abwerben lassen von all den Schmocks, die das versucht haben.«
»Schmocks?«, fragte Lola lachend.
»Das ist nur wieder so ein Wort, das meine Grandma Hattie gerne benutzt.«
»Ah, ich verstehe.« Es war ja nicht das erste Mal, dass Sophie ihre Großmutter zitierte, die sie in ihrer Jugend so geprägt hatte. »Wie auch immer, ich werde mich nicht abwerben lassen. Da brauchst du gar keine Sorge zu haben. Ich glaube nämlich nicht, dass ich mich irgendwo anders so austoben könnte wie hier.«
»Da könntest du recht haben.« Sophie musste grinsen, als sie an die süßen Chilischoten mit Marzipanfüllung dachte, die Lola erst am vorigen Abend auf die Karte gesetzt hatte. Doch das außergewöhnliche Dessert hatte den Gästen wirklich geschmeckt, und Lola hatte einige Komplimente dafür eingeheimst. »Also, die heutige Tageskarte sieht mal wieder super aus. Und mir ist jetzt nach einem schön kühlen Frappuccino bei der Hitze. Ich glaube, ich husch mal kurz rüber zu Starbucks. Soll ich dir was mitbringen?«
»Gerne. Ich nehme einen von diesen Erdbeer-Frappuccinos mit extra Sahnehaube, bitte.«
»Alles klar. Dann bis gleich.« Sie sah kurz auf die Uhr, es war Viertel vor elf. »Und sollte Tony in der Zwischenzeit mit den Miesmuscheln hier sein, nimm du sie bitte entgegen, ja?«
»Aber natürlich.«
Ja, sie wusste, dass der Laden auch mal eine halbe Stunde ohne sie auskam. Aber sie hatte dennoch stets ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihn in fremde Hände gab. In den letzten fünf Jahren hatte sie deshalb kein einziges Mal Urlaub gemacht, hatte sieben Tage die Woche gearbeitet und kannte das Wort Freizeit überhaupt nicht mehr. Tja, und nach Hause war sie auch seit über fünf Jahren nicht geflogen. Zuletzt war sie zu Weihnachten 2013 bei ihren Eltern in Sacramento gewesen, und dass sie Grandma Hattie auf ihrer Mandelfarm in Davis besucht hatte, war noch länger her. Und zwar mehr als acht Jahre, da hatte Hattie ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert. Es gab Tage, da vermisste Sophie ihre Familie ganz fürchterlich, und es gab Nächte, da träumte sie von Kalifornien, von der Ruhe und der Einsamkeit der Farm und von dem Duft frisch gerösteter Mandeln. Doch wenn sie am nächsten Morgen aufwachte, hatte sie nur noch ihre Lieferungen, die aktuellen Hummerpreise und die Tageskarte im Sinn, außerdem die prominenten Gäste, die sich für den Tag im Three Seasons angemeldet hatten, und dann war Kalifornien schon wieder vergessen und ganz weit weg.
Sie trat vor die Tür und wurde direkt umgehauen von der Hitze, die Boston seit zwei Wochen überfiel. Es war zwar öfter mal warm im Spätsommer, doch dieses Jahr schien es ihr besonders unerträglich. Ja, in Kalifornien hatte sie auch heiße Monate erlebt, aber die Hitze in der Großstadt war doch eine andere als die auf dem Land, wo man den ganzen Tag faulenzen und selbstgemachte Limonade trinken konnte und wo der nächste See zum Hineinspringen gleich um die Ecke war.
Was soll’s?, dachte sie sich, da sie es eh nicht ändern konnte, und marschierte die Straße entlang.
Das Three Seasons lag in Beacon Hill, und es gab auch einige Starbucks-Filialen in der Nähe, dennoch entschied Sophie sich, einen kleinen Spaziergang zu machen, denn sie wusste, dass sie bis weit nach Mitternacht nicht mehr aus dem Restaurant rauskommen würde. Heute Abend würde der Bürgermeister ihr Gast sein, und das würde sie auf keinen Fall versäumen.
Und so ging sie ein paar Straßen entlang, vorbei am Massachusetts State House mit der goldenen Kuppel und durch den Boston Common, den ältesten Park der Stadt. Hier lief sie auf ihren High Heels wie immer auf der roten Linie entlang, die sich ungefähr vier Kilometer durch Bostons Old Town zog und den vielen Touristen den Weg entlang der historischen Sehenswürdigkeiten wies. Sie wusste selbst nicht warum, aber es war eine Angewohnheit geworden, dass sie diesem Freedom Trail, wie die rote Linie sich nannte, folgte und nicht davon abwich, egal, was auch kommen mochte. Und so blieb sie jetzt auch stehen und ließ eine asiatische Reisegruppe vorbei, bevor sie ihren Weg fortsetzte.
Sie schlenderte am Granary Burying Ground vorbei, wo berühmte Persönlichkeiten und Helden der Stadt wie Paul Revere, John Hancock oder Samuel Adams ihre Gräber hatten. Dann überquerte sie die Straße und passierte die Old City Hall, vor der der gute Benjamin Franklin in Form einer Statue positioniert war und bei dem sie irgendwie immer den Drang verspürte, ihm zuzuwinken. Heute tat sie es tatsächlich und grinste in sich hinein. Und als sie wenige Schritte später den Starbucks betrat, war sie erleichtert und dankbar, dass die kühle Luft der Klimaanlage ihr entgegenblies. Sie trug ein khakifarbenes Kostüm, dessen Rock zwar relativ kurz war, in dem sie aber trotz allem fürchterlich schwitzte, und für einen Moment wünschte sie sich, sie wäre lediglich in einem Coffeeshop beschäftigt, und es wäre egal, was sie zur Arbeit trug, Hauptsache, es war mehr als ein Bikini. Dann überlegte sie, ob es eventuell sogar irgendeinen Job gab, den man im Bikini ausüben konnte.
Bademeisterin im Freibad vielleicht?
Eisverkäuferin am Strand?
Rettungsschwimmerin wie Pamela Anderson in Baywatch?
Bikini-Model?
»Ma’am? Was möchten Sie bestellen?«
Sie sah auf. Hatte der junge Mann mit ihr gesprochen? War sie etwa schon an der Reihe? Und warum zum Teufel hatte er sie Ma’am genannt? Sie hasste es, so genannt zu werden, da kam sie sich immer doppelt so alt vor, wie sie war.
»Ich bin erst zweiunddreißig, Sie können sich das Ma’am für ältere Damen aufheben«, hätte sie am liebsten erwidert, doch alles, was sie sagte, war: »Einen geeisten Soja-Latte und einen Erdbeer-Frappuccino mit extra Sahnehaube, bitte. Beides in der größten Größe.«
»Wie ist Ihr Name, bitte?«
Sie war froh, dass der junge Kerl mit seiner hippen blondierten Frisur diesmal das Ma’am wegließ, und antwortete, nur um extra jung zu wirken: »Miley.«
Sie bezahlte, und der Typ schrieb Miley auf die beiden Becher und sagte: »Danke, Ma’am. Warten Sie bitte an der Getränkeausgabe auf Ihre Bestellung.«
Grrr!!!
Sie musste zugeben, Blondie hatte ihr ein wenig die Stimmung vermiest, und während sie zur Ausgabe voranschritt, überlegte sie, ob sie sich auch so eine fesche Frisur zulegen sollte. Seit Jahren drehte sie sich nämlich das lange blonde Haar jeden Morgen zu einem Dutt oder einer Schlaufe und fixierte die losen Enden mit ein paar Haarnadeln. Ein wenig altbacken könnte das auf so junge Leute natürlich wirken, dazu das strenge Kostüm …
»Miley? Miley?«, hörte sie und rüttelte sich wach. Ach, das war ja sie!
Sie lächelte die junge Frau mit dem Bullenpiercing an der Nase an und sagte: »Hier! Das bin ich!«
Die Frau sah sie nur stirnrunzelnd an, als würde sie sie genau durchschauen, und reichte ihr die Plastikbecher rüber.
Sophie nahm ihre Getränke an sich, steckte zwei Strohhalme hinein und sog begierig an ihrem. Das tat gut. Als sie einen freien Stuhl entdeckte, überlegte sie, ob sie die Zeit haben würde, sich kurz hinzusetzen, oder ob Lolas Frappuccino geschmolzen sein würde, bis er sie erreichte. Da es hier drinnen aber schön kühl war und da bei der Hitze draußen wahrscheinlich sowieso nicht viel mehr als eine geschmolzene Masse übrig sein würde, beschloss sie, sich kurz auszuruhen. Als sie dann auch noch eine liegen gelassene Zeitung entdeckte, besserte sich ihre Laune sofort, denn sie fand ein Sudoku, das noch nicht ausgefüllt war.
Sophie liebte Sudokus. Auch hatte sie ein Faible für alle Arten von Rätseln; Kreuzworträtsel waren ihr die liebsten. Quizshows konnte sie auch einiges abgewinnen, und Schnellraterunden bereiteten ihr stets ein aufregendes Gefühl, als würde sie selbst vor der Kamera stehen und so viele Fragen wie möglich in einer Minute beantworten müssen. Ihre beste Freundin Hyazinth hatte ihr schon oft vorgeschlagen, sich doch selbst mal bei einer dieser Fernsehquizsendungen zu bewerben – aber wie sollte sie die Zeit dazu finden?
Als sie an Hyazinth dachte, die morgen Geburtstag hatte, wurde ihr warm ums Herz. Seit damals in Davis hatte sie keine so gute Freundin mehr gehabt, und sie fühlte sich jeden Tag gesegnet, dass Hyazinth und sie sich vor sieben Jahren beim Yoga kennengelernt hatten. Das Yoga hatte sie längst aufgegeben, doch ihre Freundschaft hatte Bestand. Hyazinth war sowieso der einzige Mensch hier in Boston, den Sophie als Familie betrachten würde und dem sie voll und ganz vertraute. Dem sie ihr Herz ausschüttete in schwachen Momenten und dem sie von Jack erzählt hatte.
Jack …
Nein, um Himmels willen, an Jack wollte sie jetzt wirklich nicht denken.
Sie war mit dem Sudoku fertig, trank den letzten Schluck ihres geeisten Lattes und warf den Becher in den Mülleimer. Sie verließ den Coffee Shop und eilte die Straße entlang, und plötzlich knallte es.
Sie knallte! Und zwar knallte sie mit einem Mann zusammen, der im nächsten Moment den gesamten Inhalt von Lolas Getränkebecher auf den Schuhen hatte. Und der war rosa!
»Oh mein Gott, es tut mir so leid«, sagte sie, hob den heruntergefallenen Becher auf und wagte es, dem Mann ins Gesicht zu sehen. Sie war überrascht, nicht nur, weil er sehr gutaussehend war, heiß war wohl die bessere Beschreibung, sondern auch, weil er sie breit anlächelte.
»Das passiert uns doch allen mal«, sagte er jetzt mit warmer und ein wenig heiserer Stimme, und ein Kribbeln machte sich in ihr breit. Denn bei näherem Betrachten stellte sie fest, dass er beinahe so aussah wie der sexy Kerl aus der Tiefkühlwaffelwerbung.
Sie musste ebenfalls lächeln. »Ach ja? Ihnen ist das auch schon passiert? Wem haben Sie eine dickliche rosa Flüssigkeit über die Schuhe geschüttet?«
Er lachte. »Bisher noch keinem. Bei mir war die Flüssigkeit immer lila.«
Sie konnte nicht anders, als auch zu lachen. »Sie sind witzig«, stellte sie fest und entledigte sich endlich des leeren Bechers. »Und mir tut es ehrlich schrecklich leid. Sagen Sie mir, wie ich es wiedergutmachen kann.«
Jetzt sah er sie so intensiv an, dass das Kribbeln zu einem Beben ausartete, das sie tatsächlich ihre Standhaftigkeit verlieren lassen könnte.
»Gehen Sie mit mir essen«, sagte Mr. Tiefkühlwaffel.
»Sie kennen mich doch überhaupt nicht«, meinte sie.
»Na, deshalb möchte ich ja mit Ihnen essen gehen. Um Sie besser kennenzulernen. Und um zu sehen, ob das Ihre gewohnte Begrüßung ist, Menschen einen Erdbeershake über die Füße zu schütten.«
Wieder musste sie lachen. »Ich muss leider arbeiten«, sagte sie.
»Immer?«
Sie nickte. »Irgendwie ja.«
»Oh, Sie sind also ein Workaholic, hm?«
»Wie er im Buche steht«, sagte sie mit strahlenden Augen.
Er lachte aus dem Bauch heraus. »Und Sie sind da auch noch stolz drauf?«
»Und ob. Die Arbeit ist mein Leben, und ich liebe, was ich tue.«
»Darüber müssen Sie mir mehr erzählen. Bei unserem Date.« Er lächelte sie jetzt so charmant an, dass sie wirklich langsam weich wurde. »Wie heißen Sie?«, fragte er.
»Sophie.«
»Gut, Sophie. Mein Name ist Harrison, und ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie mich heute Abend in ein Restaurant Ihrer Wahl begleiten würden.«
Sie sah diesen sympathischen, blonden und wirklich gutaussehenden Mann an, der ihr einen Abend anbot, den sie irgendwie auch gerne annehmen würde, da ihr letztes Date schon viel zu lange her war. Aber heute Abend kam doch der Bürgermeister und …
»Na, kommen Sie, Sie müssen doch bei aller Arbeit auch mal was essen, oder?«
Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Schmunzeln. Er würde ja doch nicht lockerlassen, oder? Aber ein bisschen wollte sie ihn noch zappeln lassen, nur um sicherzugehen, dass er es auch wirklich wert war, die Arbeit für ihn beiseitezustellen.
»Ich bin Restaurantleiterin, ich kann jederzeit essen«, sagte sie augenzwinkernd.
»Oje. Sie haben wirklich gute Argumente. Gibt es denn nichts, womit ich Sie überzeugen könnte?«
»Hmmm …« Sie überlegte und spielte dabei mit ihrem Perlenarmband, wie immer, wenn sie nervös wurde. Und dieser Typ mit seinen tiefblauen Augen machte sie tatsächlich nervös, aber nur, weil sie sich vorzustellen begann, wo der Abend enden könnte, sollte sie seine Einladung annehmen. »Ich wollte schon immer mal im Substitute essen«, ließ sie ihn wissen. Das war das neue Szenelokal in der Fayette Street, einer ihrer größten Konkurrenten, den sie unbedingt ein wenig ausspionieren wollte. So könnte sie sogar zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
»Ihnen ist schon klar, dass die Warteliste da ewig lang ist, oder? Wahrscheinlich zieht sie sich bis nach New York hin.«
»Lassen Sie sich was einfallen«, meinte sie, holte einen Stift heraus und griff nach seinem Arm, der in einem hochgekrempelten weißen Hemdsärmel steckte. Sie schrieb ihre Handynummer direkt auf seine braungebrannte Haut und sagte dem erstaunten Harrison: »Wenn Sie eine Reservierung haben, melden Sie sich gerne bei mir.«
Mit diesen Worten machte sie kehrt und ging noch einmal zurück zu Starbucks, um Lola einen neuen Frappuccino zu holen. Und obwohl sie sich nicht noch einmal umblickte, war sie sich sicher, dass der heiße Harrison noch immer dastand und ihr verdutzt nachblickte. Sie grinste in sich hinein und stellte sich erneut in die Schlange, und sollte der Typ an der Kasse sie wieder Ma’am nennen, würde es ihr überhaupt nichts ausmachen. Denn sie hatte es noch immer drauf und fühlte sich so jung und begehrt wie lange nicht mehr.
Eine Viertelstunde später war sie zurück im Three Seasons und reichte Lola, die gerade Karotten zu Spaghetti verarbeitete, ihr Getränk.
»Rate, was mir gerade passiert ist«, sagte sie.
»Hmmm … deinem Grinsen nach zu urteilen bist du gerade mindestens auf Brad Pitt gestoßen.«
»Knapp daneben. Er heißt Harrison, und ich habe ihm deinen Frappuccino über die Schuhe gekippt«, erzählte sie grinsend.
Lola machte große Augen und starrte auf den Becher in ihrer Hand.
»Nicht den! Ich habe dir natürlich einen neuen besorgt.«
»Oje, der Arme. Jetzt hat er ganz rosa Schuhe.«
»Ja, und ich auch«, erwiderte Sophie, die erst im Nachhinein entdeckt hatte, dass sie auch einige Spritzer abbekommen hatte. Zum Glück hatte sie aber immer Ersatzsachen dabei, und während sie jetzt nach hinten eilte, sich der schmutzigen High Heels entledigte, sich die Füße mit einem feuchten Tuch abwischte und in neue Pumps schlüpfte, rief sie Lola zu: »Er hat mich um ein Date gebeten.«
»Was? Du ruinierst ihm seine Schuhe, und er bittet dich im Gegenzug um ein Date? Das möchte ich auch mal erleben.«
»Du bist doch glücklich mit Marvin verheiratet, schon vergessen?« Sie zwinkerte ihrer Freundin zu.
»Natürlich nicht. Das klingt aber irgendwie so, als könnte es aus einem Film kommen, aus einer dieser romantischen Komödien.«
»Ja, oder?«
»Du hast hoffentlich zugesagt?«
»Das habe ich tatsächlich, zumindest so halbwegs.«
»Halbwegs?«, fragte Lola mit gekräuselter Nase und sog an ihrem Strohhalm.
»Ich habe ihm gesagt, wenn er uns für heute Abend einen Tisch im Substitute besorgen kann, gehe ich mit ihm aus.«
»Das ist so gut wie unmöglich, und das weißt du.«
»Ja, das weiß ich. Und doch bin ich gespannt, wie sehr er sich ins Zeug legen wird. Er wirkte nämlich auf mich wie jemand, der nicht so schnell aufgibt.«
»Na, da bin ich aber auch gespannt.« Lola in ihrer dunkelblauen Kochjacke und mit den neuerdings fransig kurzen dunklen Haaren sah sie nun mit ernsterem Blick an. »Du solltest dir wirklich mal einen freien Abend gönnen. Ich hoffe also für dich, dass er es schafft.«
»Wenn ich ehrlich bin, hoffe ich das auch.« Sie grinste breit.
»Oho! Du hast gleich noch was ganz anderes im Kopf, du kleines verruchtes Luder.« Lola lachte.
»Na, es ist immerhin schon einige Monate her seit meinem letzten Date.«
»Da hast du auch wieder recht. Hm, ich glaube ja, dass das Schicksal dir heute auf die Sprünge helfen wollte. Der Erdbeer-Frappuccino ist dir bestimmt nicht ohne Grund aus der Hand gefallen«, sagte Lola und machte sich wieder daran, Karotten in die Spiralmaschine zu stecken.
»Schicksal? Na, wenn du meinst.«
Sie zuckte mit den Schultern und begab sich ins Büro, um ein paar Bestellungen für die nächsten Tage aufzugeben. Und dabei dachte sie über das Schicksal nach. Ja, vielleicht gab es so etwas wie Schicksal. Vielleicht hatte es sie genau an diesen Ort geführt, an dem sie heute glücklich war. Doch in Sachen Liebe hatte das Schicksal es nur einmal gut mit ihr gemeint, und das war viele Jahre her.
Sie konnte plötzlich nicht anders, als ihr Portemonnaie aus der Handtasche zu nehmen und nach einem bestimmten Foto zu suchen, das sich noch immer darin befand. Sie hatte es nie über sich bringen können, es herauszunehmen. Das Foto zeigte sie zusammen mit ihrer Jugendliebe Jack. Jack, der ihr vor vierzehn Jahren gezeigt hatte, was es bedeutete, so viel für jemanden zu empfinden, dass es wehtat.
Sie starrte eine ganze Weile auf das zerknitterte Bild und steckte es dann zurück zu den anderen. Zu dem Foto, auf dem sie zusammen mit Lydia abgebildet war, in ihrem fünfzehnten Sommer, im Bikini am See, fröhlich und ausgelassen. Und zu dem, das sie gemeinsam mit ihrer Grandma Hattie auf der Plantage zeigte. Inmitten von Bäumen, die in wunderschönem Weiß und Rosa blühten. Die Mandelblüte, in die Hatties Geburtstag fiel, den Sophie in früheren Jahren kein einziges Mal versäumt hatte.
Hattie. In diesem Moment fehlte sie ihr so sehr, dass sie Tränen aufsteigen spürte. Doch dann klingelte das Telefon, und sie war ganz froh, sich auf andere Dinge konzentrieren zu können. Während sie ranging, nahm sie sich jedoch ganz fest vor, Hattie in den nächsten Tagen endlich einmal anzurufen. So, wie sie es sich immer vornahm. Und sie hoffte, dass sie es dieses Mal nicht wieder vergessen würde.
Kapitel 2
Lydia
»Mom, Max hat sich einfach den letzten Pancake geschnappt, obwohl er schon drei hatte!«, rief der achtjährige Randy laut durch die Küche.
Lydia, die dabei war, die Wäsche im Trockner nach dem Baseballtrikot ihrer Tochter zu durchsuchen, seufzte. Es war doch jeden Morgen das Gleiche.
Da war es ja! Sie hatte in dem Klamottenhaufen einen hellblauen Zipfel entdeckt und zog daran. Dann eilte sie den Flur entlang und warf Gracie ihr Trikot zu. Ihre Älteste, schwer beschäftigt damit, mal wieder am Smartphone mit ihren Freundinnen zu chatten, fing es, ohne aufzublicken.
»Mom! Max isst alle Pancakes«, wiederholte Randy, und Max, zwei Jahre älter als er, rollte mit den Augen.
»Ich bin viel größer als du, ich brauche mehr Kohlenhydrate.«
»Was sind Kohlenfydrate?«, fragte Randy.
Gracie lachte, und auch Lydia musste schmunzeln.
»Das ist das, was dein Bruder sich einbildet zu benötigen, weil er der nächste Sumoringer werden will«, meinte sie und zwinkerte ihrem Jüngsten zu.
»Was ist ein Sumoringer?«
»Oh, du bist so unwissend«, sagte Max und erhob sich vom Stuhl, um sein Lunchpaket in den Rucksack zu stecken. Seine rotblonden Haare hatte er sich zur Seite gegelt, und er duftete nach dem Aftershave seines Dads. Man konnte fast denken, er wolle irgendein Mädchen beeindrucken, und das lag tatsächlich im Bereich des Möglichen, denn Max hatte schon immer viel älter gewirkt, als er wirklich war. Manchmal konnte man mit ihm erwachsenere Gespräche führen als mit jedem anderen Familienmitglied, und Lydia war froh, diesen schlauen kleinen Jungen in ihrem Leben zu haben.
»Das ist total zerknittert«, stellte Gracie jetzt fest und sah stirnrunzelnd von ihrem Handy auf.
»Zum Bügeln habe ich leider keine Zeit mehr. Wir müssen los. Hopp, hopp«, scheuchte sie die Kids von ihren Stühlen hoch.
»Ich hab aber noch Hunger«, jammerte Randy und blieb mit verschränkten Armen sitzen.
Lydia sah ihn an. »Wie viele Pancakes hattest du?«
»Nur zwei.«
Sie atmete einmal tief durch. Ihre Kinder wurden größer, sie würde künftig einfach mehr Pancakes machen müssen, oder wonach auch immer die Kids zum Frühstück verlangten.
Sie sah sich schnell in der Küche um, langte dann nach der Schachtel Nutter Butter und reichte sie ihrem Jüngsten. Randys Augen strahlten, als er sie entgegennahm. Sofort sprang er vom Stuhl und rieb seinem Bruder die Erdnussbutterkekse unter die Nase. »Guck, was ich zum Frühstück essen darf.«
»Das ist unfair!«, beschwerte sich nun Max.
Und Lydia konnte es kaum erwarten, dass sie sie alle an der Schule abgeliefert hatte und endlich ein paar ruhige Stunden verbringen durfte. Sie liebte ihre Kinder über alles, aber manchmal erschien ihr ihr Haus wie ein Schlachtfeld. Und manchmal war sie wirklich kurz vorm Durchdrehen. Warum hatte niemand ihr gesagt, dass Kinder, je älter sie wurden, umso anstrengender wurden? Doch darüber durfte sie jetzt nicht länger nachdenken, denn sie durften nicht wieder zu spät kommen.
»Wer holt mich heute vom Training ab?«, fragte Gracie zehn Minuten später beim Aussteigen vor der Highschool.
»Das macht Rex«, erinnerte sie ihre Tochter, der sie dasselbe schon gestern Abend vorm Schlafengehen gesagt hatte. »Ich muss Randy heute zum Schwimmkurs fahren. Und Max hat Bandprobe.«
»Können Rex und ich dann was von Carl’s Jr. mitbringen?«, bat sie.
Gracie wollte schon wieder Burger? Sie hatten bereits vor zwei Tagen welche zum Dinner gehabt.
»Eigentlich wollte ich heute eine leckere Gemüsepfanne machen. Mit Reis«, sagte sie.
»Ich will auch Burger!«, rief Randy.
»Überleg mal, Mom, dann müsstest du nicht kochen«, kam es von Max, der sie breit angrinste.
»Und du hättest kaum Geschirr zum Abwaschen«, meinte Gracie, die genau wusste, wie sehr es Lydia auf die Nerven ging, dass die Geschirrspülmaschine ständig kaputt und diesmal wahrscheinlich auch nicht mehr zu retten war.
Lydia konnte wieder mal nur den Kopf schütteln. Ihre drei Sprösslinge waren echt gut darin, Überzeugungsarbeit zu leisten.
»Na, von mir aus. Ich sag eurem Dad Bescheid.«
»Danke, Mom!« Gracie sprang aus dem Wagen und lief zu ihren wartenden Freundinnen, die sie freudig begrüßten. Küsschen hier und Küsschen da. Lydia hatte seit Ewigkeiten keinen Kuss mehr von Gracie bekommen.
»So, jetzt müssen wir uns aber sputen, damit ich euch beide noch rechtzeitig zum Unterricht bekomme.«
»Das sagst du jeden Morgen, Mom«, meinte Max.
Ja, da hatte er ganz recht. Jeden Morgen waren sie spät dran, was aber ganz bestimmt nicht an ihr lag. Sie stellte sich den Wecker stets auf fünf Uhr und hoffte jeden Tag aufs Neue, dass sie es einmal ohne Eile schaffen würden, doch sie wurde immer wieder eines Besseren belehrt.
Sie fuhr um die Kurve, zurück auf die Hauptstraße, und bog zweihundert Meter weiter links ab, um die Jungs an der Grundschule abzusetzen.
»Steht bitte bereit, wenn ich um halb drei wieder hier bin, okay?«
Beide Jungs nickten, und doch wusste sie, dass sie nachher wieder nach mindestens einem von ihnen würde suchen müssen.
Max und Randy stiegen aus, und Randy kam noch einmal ans Fenster. Sie ließ die Scheibe herunter.
»Ich hab dich lieb, Mommy«, sagte er, und ihr wurde warm ums Herz. Wie sehr sie das gerade gebraucht hatte.
»Ich hab dich auch lieb, mein Schatz. Ich wünsch dir einen schönen Tag.«
Randy lächelte, und seine Zahnlücke kam zum Vorschein. Winkend lief er seinem Bruder hinterher.
Lydia sah ihnen nach, bis sie im Gebäude waren, und atmete aus. Für einen Moment schloss sie die Augen und fuhr dann weiter zur Arbeit. Dabei machte sie kurz halt beim Bäcker, wo ihre beste Freundin Miranda sie sogleich begrüßte. Sie war die Inhaberin des kleinen Ladens, der neben frisch gebackenem Brot und Brötchen auch den köstlichsten Kuchen der Stadt anbot.
»Guten Morgen«, erwiderte sie. »Wie geht es dir?«
Miranda zeigte ihr ein breites Lächeln. »Mir geht es bestens. Ich freu mich schon auf das Almond Festival.«
»Das ist doch erst in anderthalb Wochen«, sagte Lydia und dachte an all die Festivitäten, die mit dem Almond Festival, dem Fest zur Mandelernte, das in jedem September stattfand, zusammenhingen.
»Ja, schon, aber ich habe bereits jetzt ein Date für den Tanzabend.«
»Ach, ehrlich? Mit wem?«
»Mit Müller Eddie.«
»Müller Eddie? Ist der nicht steinalt?« Sie versuchte, sich den Betreiber der Mühle in Gedanken aufzurufen, der Miranda von jeher mit den verschiedensten Sorten Bio-Mehl belieferte.
»Oh Gott, doch nicht Ed senior! Ich spreche von seinem Sohn, Ed junior. Eddie, du kennst ihn. Wir sind zusammen mit ihm zur Highschool gegangen.«
Highschoolzeiten. Die waren gut vierzehn Jahre her, da konnte sie sich doch nicht an jeden Mitschüler erinnern.
»Sieht er denn gut aus?«
»Darauf kommt es mir nicht an«, erwiderte Miranda und steckte sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatte.
Das brachte sie zum Lachen. »Also ist er hässlich?«
»Das auch nicht. Er ist Durchschnitt, würde ich sagen. Groß und gut gebaut. Er hat aber eine schiefe Nase und braune Haare.«
»Und du stehst auf rothaarige Männer.«
»Ich glaube, ich könnte damit leben, am Ende doch einen Brünetten abzubekommen, wenn sonst alles stimmt. Es kann ja nicht jeder das Glück haben, mit Prinz Harry verheiratet zu sein. Oder mit Mister Davis«, sagte sie schmunzelnd.
Ja, damit zog ihre Freundin sie gerne auf. Rex hatte vor einigen Jahren wirklich an der Mister-Davis-Wahl teilgenommen, weil er eine Wette mit ein paar Kumpels verloren hatte, und war auch noch zum Gewinner gekürt worden – mit Schärpe und allem Drum und Dran.
»Ja, ja, fang nur wieder davon an. Ich glaube, ich kaufe mein Brot und verschwinde schnell wieder.«
Miranda lachte, wobei ihre Pausbacken noch ein wenig rundlicher aussahen. Jetzt betrat auch noch mehr Kundschaft den Laden, und Lydia wusste, dass ihnen sowieso keine Zeit mehr für private Gespräche blieb. Die würden sie auf ihr wöchentliches Dinner am Mittwoch verschieben müssen.
»Na gut, was darf ich dir denn heute einpacken?«, fragte Miranda also.
»Ein Roggen- und ein Weizenbrot, bitte. Und fünf von den Sesambagels. Und dann darfst du mir gerne noch welche von diesen superlecker aussehenden Schokocookies mitgeben.« Sie deutete auf die runden, mit Schokolade beladenen Kekse in der Vitrine. »Ach ja, und Hattie hat mich gebeten, ihr eins von den Sauerteigbroten mitzubringen.«
»Wie geht es Hattie? Siehst du sie heute?«
»In den letzten Tagen ging es ihr gesundheitlich nicht so gut, deshalb hab ich versprochen, am Nachmittag bei ihr vorbeizuschauen und ein paar Lebensmittel zu bringen.«
»Oh, was hat die Arme denn?«
»Sicher nur eine kleine Erkältung«, versuchte Lydia sich selbst einzureden, da sie gar nicht an etwas Schwerwiegenderes denken mochte. Hattie, Mandelfarmerin und gute Freundin, war immerhin schon achtundachtzig und schwächelte seit Monaten immer mal wieder.
»Dann wünsch ihr bitte gute Besserung von mir und bring ihr doch ein Stück Käsekuchen mit, ich weiß, dass sie den gerne isst.«
»Das ist nett, das mache ich.« Sie steckte ihre Ware ein, bezahlte und verabschiedete sich von Miranda mit den Worten: »Wir sehen uns Mittwoch?«
»Aber natürlich. Was wollen wir essen gehen?«
»Alles, außer Burger«, rief sie beim Verlassen des Ladens über ihre Schulter und setzte sich in ihr Auto. Und dann öffnete sie die Tüte mit den Schokocookies, sog den köstlichen Duft ein und brach sich ein Stück ab. Das hatte sie sich wirklich verdient. Es war erst zwanzig nach acht am Morgen, doch sie fühlte sich, als hätte sie schon den halben Tag hinter sich. Sie steckte sich ihre kleine Belohnung in den Mund und schloss abermals die Augen.
Ja, das war wirklich gut. Solche Momente sollte sie sich viel häufiger gönnen. Momente, die einfach nur ihr gehörten. Manchmal vergaß sie ganz, wie sehr das auch eine Mutter und Ehefrau ab und an brauchte. Sie liebte ihre Familie, konnte sich überhaupt nicht vorstellen, ohne sie zu sein, von Zeit zu Zeit jedoch versuchte sie sich auszumalen, wie ihr Leben aussehen würde, wenn sie damals nicht schwanger geworden wäre. Wenn sie wie Sophie aus Kalifornien weggegangen wäre und irgendwo ein ganz aufregendes Leben führen würde. Von Sophie hatte sie schon so lange nichts mehr gehört. Zuletzt hatte sie sie auf der Feier zu Hatties achtzigstem Geburtstag gesehen, da hatte sie ihr erzählt, dass sie Supervisorin in einem hippen Restaurant in Boston war, in dem ständig irgendwelche Promis zu Gast waren. Central irgendwas, den Namen hatte sie vergessen.
Hipp war Lydias Dasein leider überhaupt nicht. Sie hatte nicht mal mitbekommen, wer bei der letzten Staffel von America’s Got Talent als Sieger herausgegangen war. Und Gracie sagte ihr ständig, dass sie sich mehr und mehr wie eine Oma kleidete. Sie musste lachen. Was erwartete ihre Tochter denn? Dass sie mit abgeschnittenen Jeans und bauchfreien Tops herumlief wie sie? Selbst wenn sie nach den drei Schwangerschaften nicht gut zwanzig Pfund zugelegt hätte, wäre das wohl nicht sehr passend gewesen. Vor allem wenn man bedachte, wo sie arbeitete. Am Empfang der Firma ihres Mannes nämlich, der Sunny Almond Company. Rex hatte sich ein nettes kleines Unternehmen aufgebaut, eine Fabrik, die die Mandeln der Gegend verarbeitete. Seit gut zwei Jahren, als Lydia beschlossen hatte, dass die Kinder groß genug waren und sie unbedingt auch mal aus dem Haus musste, verbrachte sie ihre Vormittage nun im Büro, wo sie Kunden begrüßte, Anrufe entgegennahm und E-Mails beantwortete. Und sie musste zugeben, dass es ihr richtig Spaß machte. Diese Arbeit, wenn sie auch nur vier Stunden ihres Tages in Anspruch nahm, erfüllte sie, zeigte ihr, dass sie noch etwas anderes konnte als Wäsche zu waschen, Fußböden und Badezimmer zu reinigen, Kinderzimmer aufzuräumen und Essen zu kochen, das keiner mochte. Und sie war Rex unendlich dankbar, dass er ihr die Stelle gegeben hatte.
Die Sunny Almond Company lag am Stadtrand von Davis, und während sie nun an einer der vielen Mandelfarmen der Gegend entlangfuhr, auf denen die Farmarbeiter fleißig am Pflücken waren, musste sie an ihre Kindheit zurückdenken. Ihre Mutter war selbst Mandelpflückerin gewesen, ihr Vater Vorarbeiter auf einer Mandelplantage. Er war ein guter Boss gewesen, hatte seine Arbeitskräfte fair behandelt, was man von den meisten heutigen Farmvorarbeitern nicht mehr behaupten konnte. Erst vor wenigen Tagen hatte Hattie sich vertraulich an sie gewandt und ihr von einigen unschönen Dingen erzählt, die ihr zu Ohren gekommen waren. Und sie hatte sie um Rat gefragt, da sie allein nicht mehr weiterwusste.
Das war neu gewesen, da Lydia sonst immer diejenige war, die um Hilfe bei schweren Entscheidungen bat. Hattie war eine Meisterin darin, die richtigen Antworten zu geben, und das lag nicht nur an der Weisheit, die sie mit den Jahren gesammelt hatte. Hattie war von jeher auch ein wenig übersinnlich und wusste stets, was das Richtige für einen war. Als würde sie mit dem Schicksal Hand in Hand gehen und könnte immer vorhersagen, welcher Weg für einen bestimmt war.
Erst kürzlich zum Beispiel hatte Hattie vorhergesagt, dass Sophie schon sehr bald nach Kalifornien zurückkehren würde, da es ihre Bestimmung war, auf der Farm zu leben. Und auch wenn Lydia stark bezweifelte, dass das wirklich passieren würde, hatte sie Hattie doch das Versprechen gegeben, um das sie sie so sehnlichst gebeten hatte. Sie solle sich dann um Sophie kümmern, sich ihrer annehmen wie damals, als sie noch Kinder waren. Als sie die Sommer zusammen verbrachten und unzertrennlich waren.
Sie musste kurz an das besondere Geschenk denken, das Hattie ihr zur Aufbewahrung gegeben hatte, um es Sophie zum richtigen Zeitpunkt zu überreichen. Schmunzelnd schüttelte sie den Kopf, als sie aus dem Wagen stieg und in Richtung Empfang ging. Sie hängte das Geöffnet-Schild in die Tür und setzte einen Kaffee auf. Dann nahm sie auf ihrem Schreibtischstuhl Platz und fuhr den Computer hoch. Es war bereits jetzt sehr heiß, weshalb sie ihr schulterlanges rotes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammenband.
»Guten Morgen, Liebling«, hörte sie und drehte sich herum. Rex steckte seinen Kopf ins Zimmer und lächelte sie an.
»Hallo, Schatz. Heute Morgen bist du aber schon früh losgefahren.«
»Ja, Erntezeit, du kennst das doch. Wenn wir nicht schon früh die Geräte anschalten, kommen wir nicht hinterher.«
Das hätten zwar auch die anderen Mitarbeiter machen können, doch Rex erledigte wichtige Dinge gern selbst, um auf Nummer sicher zu gehen, dass alles so vonstattenging, wie er es sich wünschte. Es gab mehrere Maschinen zur Verarbeitung der Mandeln. So stellten sie nicht nur Mandelstifte und Mandelblätter her, sondern auch gemahlene Mandeln und Marzipan. Alles, was das Herz der Hausfrau begehrte, die gern backte, wenn sie denn die Zeit dazu fand. Lydia kam leider nur sehr selten dazu, wenn zum Beispiel bei einem Kuchenbasar in der Schule alle Elternteile etwas beisteuern sollten, oder zu Geburtstagen. Da fiel ihr mit Schrecken ein, dass Max ja schon in zwei Wochen seinen elften Geburtstag feierte und dass er sich dieses spezielle Fernrohr wünschte, das sie noch im Internet aufspüren musste. Er beobachtete nämlich seit einiger Zeit gerne die Tierwelt, Vögel hatten es ihm im Speziellen angetan.
»Gibt es schon Kaffee?«, fragte Rex und schielte zur Kaffeemaschine hinüber.
»Er müsste gleich fertig sein. In einer Minute oder so.«
»Sehr gut«, sagte ihr Liebster und kam auf sie zu. »Dann bleibt uns noch eine Minute, um zu knutschen.« Er zwinkerte ihr zu, und sie musste lachen.
Sie erhob sich und ließ sich von Rex in den Arm nehmen und küssen. Von diesem wunderbaren Mann, der sie vor zwölf Jahren geheiratet hatte, sie und ihre kleine Tochter, die so dringend einen Vater brauchte. Brandon hatte sich kurz nach Gracies Geburt aus dem Staub gemacht, war nach San Francisco gezogen und führte dort sein Junggesellenleben, als gäbe es kein Morgen. Dennoch war Gracie ganz verrückt nach ihrem Dad und fuhr ihn seit ein paar Jahren jeden Sommer für drei Wochen besuchen. Immer im Juli. Dieses Jahr war sie mit einem Bauchnabelpiercing zurückgekommen, das Lydia ihr ganz schnell wieder entfernt hatte, wenn auch unter Protest. Seitdem war ihre Tochter sauer auf sie, und Lydia war sauer auf Brandon, weil er sie mal wieder in solch eine Situation gebracht hatte.
Jetzt schenkte sie Rex einen Becher Kaffee ein und wünschte ihm einen schönen Tag. Ihr war klar, dass sie ihn vor dem Abendessen nicht mehr sehen würde. Da fiel ihr wieder die Sache mit Carl’s Jr. ein.
»Könntest du heute Abend Burger besorgen?«, bat sie ihn.
Er stöhnte. »Schon wieder Burger?«
Sie musste lachen. Schön zu wissen, dass sie nicht die Einzige war, der das Fast Food zum Hals raushing.
»Die Kinder haben mich überredet.«
»Sie sind so gut darin.«
»Oh ja. Von wem sie das wohl haben.« Sie grinste ihren Mann an, da sie beide sich im Klaren darüber waren, dass auch Rex gut darin war, Menschen zu überzeugen. So wie er sie damals davon überzeugt hatte, eine Familie mit ihm zu gründen, obwohl sie sich noch gar nicht lange kannten. Doch seine Argumente waren gut gewesen, er war mit einem Ring vor ihr auf die Knie gegangen und hatte ihren Lieblingssong gesungen. Und als dann auch noch Hattie es für das einzig Richtige befunden hatte, war es beschlossene Sache gewesen. Lydia und Rex gehörten zusammen. Und heute war sie sich sicher, die beste Entscheidung ihres Lebens getroffen zu haben.
Kapitel 3
Alba
Sie sah zur Sonne und schloss die Augen, nahm die Wärme in sich auf, und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. Das war selten, zu lächeln hatte sie nicht viel, seit sie nach Amerika gekommen war. Seit sie ihre Heimat Mexiko verlassen hatte. Seit sie ihrer lieben Mutter und den vier Geschwistern Lebewohl gesagt hatte, ohne zu wissen, ob sie sie je wiedersehen würde. Mehr als fünf Jahre war das nun her, und noch immer hatte sie sich nicht an diese Welt gewöhnt, dieses Kalifornien, diese Menschen.
»Hey! Nicht träumen, sondern arbeiten!«, hörte sie eine tiefe, harsche Stimme und zuckte zusammen.
Schnell machte sie sich wieder an die Arbeit, ohne dem Vorarbeiter Emilio ins Gesicht zu sehen. Sie fegte die Mandeln samt ihren Hülsen vom Boden auf, die die Maschine, der Sweeper, beim Einsammeln zurückgelassen hatte. Jede Mandel zählte. Mandeln waren viel wert im Goldenen Staat, das hatte sie bereits erfahren dürfen. Zwar nicht mehr ganz so viel wie in dem Jahr, in dem sie hier auf der Plantage anfing, dem Jahr, in dem in Kalifornien eine schlimme Dürre herrschte. Als der Boden trocken war wie die Wüsten Mexikos und das Wasser knapp und teuer wurde. Aber noch immer waren Mandeln ein Luxusartikel, zweieinhalb Dollar das Pfund, damit könnte ihre Mutter Essen für die ganze Familie kochen, und es würde noch etwas übrigbleiben.
So klein und zierlich sie war, fegte sie doch voller Inbrunst und hielt dabei den Besen so fest umklammert, als wäre es ihr Anker, der sie vor dem Ertrinken rettete. Und irgendwie war er das ja auch.
Als sie Emilios Pfeifen ein ganzes Stück weit ab von ihr hörte, atmete sie erleichtert auf. Heute würde er sie vielleicht in Ruhe lassen. Sie betete zur guten Mutter Gottes, dass sie ihr beistehen würde. Maria, die Gnädige, war, seit sie von zu Hause fort war, ihre ständige Begleiterin und einzige Verbündete. Wie oft hatte sie in traurigen Stunden mit ihr gesprochen? Wie oft hatte sie ihr ihr Leid geklagt?
Und so sehr sie sich auch auf ihre Arbeit konzentrieren wollte, so sehr sie auch Angst vor Emilio hatte und so sehr sie die liebe Hattie nicht enttäuschen wollte, schweiften ihre Gedanken doch dauernd ab, und sie war wieder zwölf Jahre alt und in Mexiko, dem Land, in dem ihre Füße eins mit der Erde waren und sie ein unbeschwertes, fröhliches Mädchen sein durfte.
Tijuana, Mexiko, Mai 2007
Sie saß wie gebannt auf der ledernen weißen Couch in dem riesigen, imposanten Haus von Gloria Prado, der Frau, für die ihre Mutter putzte. So oft es ging, bat sie darum, mitgehen zu dürfen, denn Señora Prado war die einzige Person, die sie kannte, die eine Satellitenschüssel hatte. Mit der konnte man Hunderte von Fernsehsendern empfangen, darunter auch Albas geliebte amerikanischen.
Alba hatte, seit sie denken konnte, den Traum, nach Amerika zu gehen, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. So viel hatte sie schon davon gehört, so viele Mexikaner davon schwärmen hören. Amerika, Amerika, dort gab es Arbeit ohne Ende. Arbeit, die die Amerikaner nicht selbst machen wollten, weil sie faul waren oder sich nicht schmutzig machen wollten. Tomatenernte, Weinernte, Erdbeerernte, Walnussernte, Orangenernte, Mandelernte, Pfirsichernte … Und all das gleich hinter der Grenze im wunderschönen Kalifornien, wo es sauber war und wo die Leute Geld hatten und mit einem Lächeln im Gesicht herumliefen.
Oft träumte sie von diesem Land, in dem es Arbeit für jeden gab. Da war sie auf einer riesigen Plantage, pflückte süße rote Erdbeeren und steckte sich zwischendurch, wenn keiner hinsah, immer mal wieder eine der köstlichen Früchte in den Mund. Und wenn sie dann aufwachte, konnte sie sie noch immer schmecken, die Erdbeeren und die Freiheit, die sie verspüren würde. In Amerika, ihrem Amerika.
Hier in Mexiko standen ihr nicht viele Möglichkeiten offen, das war ihr schon in jungen Jahren bewusst. Seit sie denken konnte, ging ihre Mutter für reiche Leute putzen oder waschen, und ihr Vater versuchte sich als Touristenführer. Was bedeutete, dass er Amerikanern, die für einen Abend oder auch ein Wochenende rüber nach Tijuana kamen, um sich zu amüsieren, den richtigen Weg wies.
Señora Prado besaß einige dieser Amüsier-Etablissements, damit war sie zu viel Geld gekommen. Und an diesem Tag wagte es Alba, einen großen, mutigen Schritt zu tun. Sie ging hinaus zum Swimmingpool, wo die Señora in ihrem hübschen goldenen Bikini dalag und sich die Sonne auf den bereits braungebrannten Körper scheinen ließ.
Während sie in der heißen Sonne stand und auf den Pool in Form einer Niere starrte, konnte sie nur immer an die Hühnerinnereien denken, die ihr Vater so gerne aß und von deren Geruch ihr immer furchtbar übel wurde. Auch jetzt war ihr übel, allerdings aus ganz anderen Gründen.
»Hey, kleine Alba, möchtest du zu mir?«, hörte sie Señora Prado plötzlich sagen und blickte erschrocken auf. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass sie sie entdeckt hatte.
Tapfer nickte sie.
»Dann komm her und erzähl mir, was du auf dem Herzen hast.«
Mit ihren spindeldürren Beinchen und ihrem viel zu weiten blauen Kleid, aus dem ihre Schwester Marisol herausgewachsen war, ging sie auf Señora Prado zu. Sie hatte ihre Mutter einmal sagen hören, dass die Señora bereits fünfundfünfzig Jahre alt war. Doch in Albas Augen sah sie einfach nur jung und wunderschön aus. Und das schienen auch die Männer zu finden, denn sie umschwärmten sie wie die Bienen den Honig. Und erst vor wenigen Monaten hatte Señora Prado einen jungen Kerl namens Mateo geheiratet, der vom Alter her ihr Sohn hätte sein können.
»Nun sei doch nicht so schüchtern«, schalt Señora Prado sie, als sie vor ihr stand und noch immer kein Wort herausbrachte. »Damit bringt man es in dieser Welt nicht sehr weit.«
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie so leise, dass sie es selbst kaum hören konnte. Dann räusperte sie sich, nahm all ihren Mut zusammen und sprach. »Señora, ich habe mich gefragt, ob … Würden Sie mir vielleicht Arbeit geben, wenn ich ein wenig älter bin?«
Sie hatte sich das gut überlegt. Würde sie für die Señora arbeiten, könnte sie neben der Schule so viel Geld verdienen, dass sie später nach Amerika gehen konnte. Wenn sie achtzehn wurde oder vielleicht auch sechzehn. Marisol hatte dasselbe Vorhaben. Sie war mit vierzehn zwar schon zwei Jahre älter, aber nicht mal halb so ambitioniert wie Alba, denn sie versuchte nicht einmal, sich die englische Sprache anzueignen. Das bisschen, das sie in der Schule lernten, würde sie nicht weit bringen, das wusste Alba mit Sicherheit. Aber dafür würde Marisol ja dann sie haben, die sie beide durchbrachte, wenn sie sich zusammen auf in die Freiheit machten.
Das Leben in Mexiko war hart. Nicht nur wegen der Moskitos, der bissigen Hunde und der Drogensüchtigen, die einem auf der Straße über den Weg liefen. Es war hart, weil sie viel zu wenig Geld hatten, obwohl ihre mamá und ihr papá so schwer schufteten. Weil sie an manchen Tagen nicht einmal genug zu essen hatten und ihre mamá aufs Abendessen verzichtete, um die sechs Kinder satt zu bekommen. Es war hart, seit Guillermo, ihr ältester Bruder, vor zwei Jahren fortgegangen war mit einem Kojoten, der ihn über die Grenze bringen wollte, und sie nie wieder von ihm gehört hatten. Und es war hart zu sehen, was andere, wie zum Beispiel Señora Prado, hatten, auch wenn Alba wusste, dass Neid und Missgunst Todsünden waren.
Doch sie hatte einen Plan, an dem sie jeden Tag ein bisschen mehr feilte, und jetzt sah sie die Señora hoffnungsvoll an.
Doch die lachte nur, und zwar aus dem Bauch heraus.
»Du willst für mich arbeiten?«, fragte sie dann. »Was genau hast du dir denn vorgestellt?«
Darauf hatte Alba keine Antwort, da sie nicht genau wusste, was die jungen Damen in Señora Prados Clubs überhaupt so taten. Sie dachte sich, dass sie wahrscheinlich Cocktails servierten oder Karten austeilten. Doch plötzlich verschwand Señora Prados Lächeln, und ihr Gesicht verfinsterte sich. Sie sah sie eingehend an und legte ihr dann eine Hand unters Kinn.
»Kleine Alba, du bist viel zu gut für eine Arbeit in einem meiner Clubs. Du bist für Größeres geschaffen, weißt du das denn nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. Für Größeres? Was meinte die Señora damit?
»All diese Serien, die du dir ansiehst, um Englisch zu lernen … Du solltest dir Dinge aneignen, die dich wirklich weiterbringen im Leben, und keinen Gedanken daran verschwenden, für mich tätig zu sein. Du solltest studieren, an einer Universität. Und weißt du was, kleine Alba? Genau das werde ich dir ermöglichen. Und wenn es das Einzige ist, was ich im Leben richtig mache.«
Jetzt sah Alba die Señora stirnrunzelnd an. Das Einzige? In ihren Augen hatte die Frau jede Menge richtig gemacht, sonst würde sie bestimmt nicht hier an diesem wunderschönen, palmenbeschmückten Pool liegen, in ihrer eigenen Villa, die sie sich selbst erarbeitet hatte.
Doch sie wollte ihr nicht widersprechen. Das wäre respektlos gewesen, und wenn ihre Eltern ihr eines beigebracht hatten, dann war es Respekt vor Älteren. Wenn Señora Prado ihr ein Stipendium geben wollte, würde sie es bestimmt nicht ausschlagen. Sie bedankte sich überschwänglich und erzählte ihrer Mutter auf dem Heimweg davon, die völlig aus dem Häuschen war.
»Da werden dein papá und deine Geschwister aber staunen«, sagte ihre mamá mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen.
Alba konnte sich die Gesichter von Danilo, Jorge, Marisol und Isabel vorstellen. Sie würden voller Freude, aber auch voller Neid sein. Und das war dann tatsächlich auch der Fall. Alba war stolz wie nie.
Leider wurde Señora Prado keine sechs Monate später beim Reiten vom Pferd geworfen und erlag ihren Verletzungen. Das war zumindest der offizielle Bericht. Hinterrücks wurde so einiges gemunkelt, zum Beispiel dass Mateo seine Frau umgebracht hätte, um an ihr Geld zu kommen. Selbstverständlich war er der alleinige Erbe der kinderlosen Señora, und selbstverständlich hatte sie es versäumt, Alba und ihr versprochenes Stipendium in ihrem Testament zu erwähnen.
Und so sah Alba sich weiterhin ihre Serien an und träumte von Amerika. Dem Land, in dem Träume wahr wurden.
»Hey, Alba! Du solltest dich besser auf die Arbeit konzentrieren«, flüsterte Juanita ihr zu, und sie rüttelte sich aus ihren Tagträumereien. »Du willst nicht, dass Emilio dich noch mal ermahnt.«
Da hatte Juanita recht, das wollte sie bestimmt nicht. Sie nickte der etwas molligen Mittfünfzigerin zu, die die Älteste der Farmarbeiterinnen war. Sie war fast wie eine Mutter für die anderen, bekochte sie und hatte immer ein offenes Ohr und einen guten Ratschlag für jeden, der einen benötigte. Selbst verwitwet, mit drei eigenen Kindern und zwei Enkelkindern, war sie wie alle hier auf den Job angewiesen, dem sie von August bis Oktober nachgingen. Und in dieser Zeit arbeitete jeder Einzelne für zwei, damit das Einkommen auch weit darüber hinaus reichte. Bis im Frühjahr die nächsten Früchte geerntet werden konnten. Natürlich bekamen sie alle für amerikanische Verhältnisse nur einen Hungerlohn, und oftmals fragte Alba sich, ob die liebe alte Hattie ihnen wirklich nur acht Dollar die Stunde zahlte oder ob Emilio sich einen Teil in seine eigene Tasche steckte. Zu fragen traute sich allerdings niemand, da man es sich keinesfalls mit Emilio verscherzen wollte. Er hatte hier das Sagen, mehr noch als das. Alle hatten fürchterliche Angst vor ihm, und das aus gutem Grund. Emilio war der Teufel in Person, und nicht selten verfolgte er Alba in ihren Albträumen.
Wieder legte sie den Kopf in den Nacken, das seidige schwarze Haar, das sie zu einem lockeren Zopf geflochten hatte, ging ihr fast bis zum Po. Sie sah abermals zur Sonne, die dieselbe war wie in Mexiko. Dieselbe, die auch auf ihre Familie schien. Hätte sie damals gewusst, was sie alles entbehren musste, hätte sie es sich vielleicht anders überlegt. Wäre sie nicht so begierig darauf gewesen, hierherzukommen.
Ja, sie hatte es nach Amerika geschafft – doch zu welchem Preis?
Kapitel 4
Lydia
»Wie war das Sandwich?«, fragte Jack und lächelte sie an.
»Du hast mir extra Gurken draufgemacht, danke dir.« Lydia lächelte zurück.
»Ich weiß doch, dass du verrückt nach Gurken bist.«
»Nach eingelegten schon, Salatgurken dagegen konnte ich noch nie so richtig leiden.«
»Eine Frau, die nicht zu durchschauen ist«, lachte er und sammelte ihr Geschirr ein.
Sie saß am Tresen des Diners mit dem originellen Namen Davis Diner und wischte sich den Mund mit der Serviette ab. Die zerknüllte sie sodann und warf sie gekonnt auf den Teller in Jacks Hand.
»Du hättest Basketballprofi werden sollen«, meinte er.
»Ich hätte vieles werden sollen.«
»Ja, das hätten wir wohl alle.« Jack klang nachdenklich, und sie konnte sich gut vorstellen, woran er dachte. An nicht genutzte Chancen, die er in der Vergangenheit gehabt hatte. In einem anderen Leben.
»Ich mach mich dann mal auf. Hab noch einiges zu tun heute.«
»Wie geht es der Familie?«, fragte er.
»Sie essen, schlafen und schimpfen, dass sie so früh ins Bett müssen.«
»Rex etwa auch?« Jack grinste, und sie musste lachen.
»Nein, der darf aufbleiben, solange er will.«
»Na, dann bin ich beruhigt. Richte bitte allen meine Grüße aus.«
»Das werde ich, danke.« Ihm konnte sie dasselbe nicht sagen, da Jack nämlich ganz allein lebte, nachdem Ashley und er sich hatten scheiden lassen und sie aus Davis weggezogen war. Zurück nach Bakersfield, wo sie gewohnt hatte, als Jack und sie sich bei einer kulinarischen Messe in Sacramento kennengelernt hatten. Eine Zeit lang hatten sie zusammen ein kleines italienisches Restaurant im Stadtzentrum geführt, das sie nach der Scheidung aber geschlossen hatten. Dann hatten sie das gemeinsame Haus verkauft, allen Erlös aufgeteilt und waren als Freunde auseinandergegangen. Im selben Jahr hatte Jack den Diner seiner Eltern übernommen, als diese sich zur Ruhe setzten, und er war in die kleine Wohnung darüber gezogen. Und so hatten alle ihre Bestimmung gefunden. Das sagte Jack zumindest gerne.
Ob dies wirklich Jacks Bestimmung war, bezweifelte Lydia aber. Für ihn hatte sie sich immer etwas ganz anderes gewünscht.
»Ich fahre auch noch bei Hattie vorbei, ihr ging es die letzten Tage nicht so gut«, ließ sie Jack wissen, und ihr fiel auf, dass sie beide das gleiche Outfit anhatten: Blue Jeans und ein kariertes Hemd.
»Oje, was hat sie denn?«, fragte Jack besorgt. Natürlich kannte er die alte Dame, er hatte damals viel Zeit auf der Mandelfarm verbracht und sich mehr als einmal die Zukunft von Hattie voraussagen lassen. Lydia wunderte es bis heute, wie falsch Hattie damals gelegen hatte, während sie doch sonst meistens richtig lag.
Doch Hattie hatte Jack und Sophie eine blendende gemeinsame Zukunft prophezeit, und was aus den beiden geworden war, konnte man ja sehen.
»Sie schwächelt ein bisschen. Aber das wird schon wieder. Du darfst nicht vergessen, dass sie bereits achtundachtzig ist.«
»Äußerlich vielleicht. Vom Verstand her ist sie aber höchstens halb so alt.«
»Ja, das stimmt.« Sie musste lächeln, als sie an Hattie dachte, die so gerne die Musik in ihrer Küche laut aufdrehte, während sie mit ihren Mandeln backte, und fröhlich dazu mitsang. Am liebsten zu Elvis Presley. Lydia musste auflachen, als sie an neulich Nachmittag dachte, als sie spontan vorbeigekommen war und sie schon von Weitem Hattie gehört hatte, wie sie Heartbreak Hotel schmetterte.
»Was ist so lustig?«, wollte Jack wissen.
»Ach, ich habe nur gerade daran gedacht, wie Hattie zu Elvis mitsingt.«
»Sie hat Always On My Mind voll drauf«, stimmte er zu, und nun mussten sie beide lachen. »Ja, Hattie ist schon eine Nummer für sich.«
»Sie ist großartig«, meinte Lydia.
»Ich hoffe, es geht ihr bald besser. Grüß sie bitte lieb von mir und richte ihr aus, dass sie sich melden soll, wenn ich irgendwie helfen kann.«
»Das werde ich machen, danke.«
»Und nimm noch ein paar Blaubeermuffins für sie mit, die mag sie so gern.« Schnell schnappte sich Jack drei der Küchlein aus der Glasvitrine, steckte sie in eine Papiertüte und reichte sie Lydia.
»Jetzt muss ich aber wirklich los, sonst schaffe ich es nicht, meine Jungs rechtzeitig abzuholen und zu ihren Nachmittagsaktivitäten zu fahren.«
Jack winkte ihr nach, und sie beeilte sich.