Walnusswünsche - Manuela Inusa - E-Book

Walnusswünsche E-Book

Manuela Inusa

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Beschreibung

Wo die Walnussbäume wachsen, werden alle Wünsche wahr!

Victoria führt ein erfülltes Leben auf ihrer geliebten Walnussfarm, die schon seit Generationen im Besitz ihrer Familie ist. Seit ihre Mutter verstarb und ihre ältere Schwester Abigail – schon immer eine Rebellin – die Familie verließ, ist es allerdings an ihr allein, die Farm über Wasser zu halten, was sich nicht immer leicht gestaltet. Und dann steht plötzlich Abby wieder vor der Tür, an der Hand ihre kleine Tochter, die bezaubernde Bella. Doch schon bald fliegen zwischen den Schwestern wieder die Fetzen, und Abby verschwindet – ohne Bella. Vickys einziger Lichtblick: Liam Sanders, der auf der idyllischen Walnussfarm für seinen neuen Roman recherchieren will – und der ihr Herz dazu bringt, ein paar ganz ungewohnte Sprünge zu machen …

Die zauberhafte »Kalifornische Träume«-Reihe bei Blanvalet:
1. Wintervanille
2. Orangenträume
3. Mandelglück
4. Erdbeerversprechen
5. Walnusswünsche
6. Blaubeerjahre

Alle Bände können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 491

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Buch

Victoria führt ein erfülltes Leben auf ihrer geliebten Walnussfarm, die schon seit Generationen im Besitz ihrer Familie ist. Seit ihre Mutter verstarb und ihre ältere Schwester Abigail – schon immer eine Rebellin – die Familie verließ, ist es allerdings an ihr allein, die Farm über Wasser zu halten, was sich nicht immer leicht gestaltet. Und dann steht plötzlich Abigail wieder vor der Tür, an der Hand ihre kleine Tochter, die bezaubernde Bella. Doch schon bald fliegen zwischen den Schwestern wieder die Fetzen, und Abigail verschwindet – ohne Bella. Victorias einziger Lichtblick: Liam Sanders, der auf der idyllischen Walnussfarm für seinen neuen Roman recherchieren will – und der ihr Herz dazu bringt, ein paar ganz ungewohnte Sprünge zu machen …

Autorin

Manuela Inusa wurde 1981 in Hamburg geboren und wollte schon als Kind Autorin werden. Kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag sagte die gelernte Fremdsprachenkorrespondentin sich: »Jetzt oder nie!« Nach einigen Erfolgen im Selfpublishing erscheinen ihre aktuellen Romane bei Blanvalet. Nach der »Valerie Lane«-Reihe lassen nun die »Kalifornischen Träume« die Leserherzen schmelzen und erobern nebenbei die Bestsellerlisten. Die Autorin lebt mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern in ihrer Heimatstadt. In ihrer Freizeit liest und reist sie gern, außerdem hat sie eine Vorliebe für Duftkerzen, Tee und Schokolade.

Von Manuela Inusa bereits erschienen

Jane Austen bleibt zum Frühstück

Auch donnerstags geschehen Wunder

Die Valerie Lane

1 Der kleine Teeladen zum Glück

2 Die Chocolaterie der Träume

3 Der zauberhafte Trödelladen

4 Das wunderbare Wollparadies

5 Der fabelhafte Geschenkeladen

6 Die kleine Straße der großen Herzen

Kalifornische Träume

1 Wintervanille

2 Orangenträume

3 Mandelglück

4 Erdbeerversprechen

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag

und www.facebook.com/blanvalet.

MANUELA INUSA

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2021 der Originalausgabe by Blanvalet Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung und – motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

(Richard Cavalleri; Gary C. Tognoni; Eddie J. Rodriquez;

Anton-Burakov; Dionisvera; Bthnronic; Tawin Mukdharakosa;

2M media; Kenneth Keifer)

LH · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-26593-9V001

www.blanvalet.de

Für Opa Werner, der mich das Leben gelehrt hat

Prolog

Juli 2011, Riverside, Kalifornien

»Ist das dein Ernst?«, fragte Victoria aufgebracht und starrte ihre Schwester an. Abigail war vor knapp einer Woche volljährig geworden.

Abigail antwortete, ohne aufzublicken. »Natürlich ist es mein Ernst. Ich sag doch seit Jahren, dass ich von hier wegwill, sobald ich achtzehn bin und für mich selbst entscheiden kann.«

»Verdammt, Abby! Ich dachte, das wäre nur leeres Gerede, genauso wie wir immer gesagt haben, dass wir nach Hollywood gehen und unser Glück in der Filmbranche versuchen wollen.«

Jetzt hielt ihre Schwester mit dem Packen inne und drehte sich zu ihr um. »Für mich war das kein leeres Gerede. Ich will noch immer nach Hollywood. Und wenn es da nicht klappt, dann irgendwo anders hin – wenn ich nur nicht hierbleiben muss!« Sie stopfte noch den Rest der T-Shirts, die in einem Haufen auf dem Bett lagen, in ihre Reisetasche. Dann ging sie zum Schrank, riss alle Kleider von den Bügeln und ließ sie in den blauen Koffer fallen, der offen auf dem Boden lag. Vicky konnte ihr nur verzweifelt zusehen.

»Aber, Abby … wie willst du denn ganz allein zurechtkommen? Du kennst doch niemanden in Hollywood. Wovon willst du leben? Wo willst du wohnen?«

»Es wird sich schon was finden. Vielleicht angle ich mir einen großen Star wie Bradley Cooper und komme bei ihm unter.« Abby lachte, drehte sich wieder zu ihr um und strahlte sie an. »Mach dir keine Gedanken. Ich komme schon klar.«

Jetzt spürte Vicky Tränen aufsteigen. Ihre Schwester meinte es anscheinend wirklich ernst. Ihre einzige Verbündete, ihre beste Freundin wollte sie verlassen.

»Oh Mann, Vicky! Wieso heulst du denn jetzt? Ist ja nicht so, dass wir uns nie wiedersehen. Du kannst mich in Hollywood besuchen kommen. Bradley hat bestimmt nichts dagegen.« Sie zwinkerte ihr zu.

Okay, Abby musste den Verstand verloren haben. Oder es war alles nur ein böser Albtraum. Doch als ihre große Schwester jetzt auch noch ihre Schminktasche und ihr heißgeliebtes Glätteisen einpackte und die Box unterm Bett hervorholte, in der sie ihren gefälschten Personalausweis, laut dem sie bereits zweiundzwanzig war, eine Kopie ihrer Geburtsurkunde, ein paar hundert Dollar vom Kellnern in Mary’s Diner und alle Kinoeintrittskarten der letzten zehn Jahre aufbewahrte, wusste sie, dies war realer als alles andere. Zuletzt griff Abby nach der Spieluhr, die ein Weihnachtsgeschenk von Grandma Sue gewesen war, und Vicky brach völlig in Tränen aus.

»Lass mir wenigstens die Spieluhr, sie war ein Geschenk an uns beide«, schluchzte sie. Sie hatten sie bisher immer abwechselnd in ihren Zimmern stehen gehabt.

»Okay, hast recht. Behalte du sie.« Abby reichte sie ihr, und sie nahm sie und drückte sie an sich, als wäre sie ihr wertvollster Besitz. Und vielleicht war sie das auch.

»Wie kannst du mich einfach so zurücklassen, Abby?« Die Tränen rannen ihr unaufhörlich die Wangen hinunter. Sie konnte gar nicht glauben, dass ihre Schwester ihr das antun wollte. Auch wenn sie sich in letzter Zeit mehr stritten als vertrugen, konnte sie sich ein Leben ohne sie überhaupt nicht vorstellen.

Abby nahm sie in die Arme. »Du kannst doch nachkommen. Nächstes Jahr bist du auch achtzehn. Bis dahin hab ich uns was aufgebaut, du wirst schon sehen.«

»Ich will doch aber gar nicht weg von der Farm. Und von Mom und Dad. Oh mein Gott, was ist mit Mom und Dad? Wirst du dich wenigstens von ihnen verabschieden?«

Abby sah sie an, als wäre sie ein kleines Kind, das nichts von der Welt verstünde. »Was denkst du denn, warum ich meine Sachen mitten in der Nacht packe?«

»Und was soll ich ihnen sagen? Sie werden sich voll die Sorgen machen.«

»Ach, das glaub ich eigentlich nicht. Sag ihnen einfach, ich mach mich auf in ein besseres Leben.«

Abby nahm nun ihr Gepäck, ihre Lederjacke und ihre Handtasche und verließ das Zimmer, das sie achtzehn Jahre lang ihr Zuhause genannt hatte.

Vicky rannte ihrer Schwester hinterher. »Bitte, geh nicht, Abby!«

»Pssst! Jetzt sei doch still, sonst wachen sie noch auf.« Abby blieb an der Haustür stehen. »Wir werden uns bald wiedersehen, versprochen. Und ich werde mich ganz oft melden. Alles wird gut, okay?«

Sie fiel ihrer Schwester um den Hals, drückte sie noch einmal, sog den Geruch ihres Erdbeershampoos ein und strich ihr über das geglättete braune Haar. Eigentlich hatte Abby genau solche wilden Locken wie sie, doch die hatte sie noch nie gemocht. Sie hatte sich noch nie mit dem zufrieden gegeben, was ihr im Leben geschenkt worden war, und schon immer mehr gewollt. Vicky hätte es wissen müssen. Hätte darauf vorbereitet sein müssen, dass ihre Schwester tatsächlich fortging.

Abby löste sich von ihr. »Wünsch mir Glück«, sagte sie und lächelte sie ein letztes Mal an, bevor sie zu ihrem alten Ford lief und ihre Sachen hineinwarf.

»Viel Glück«, flüsterte Vicky und sah Abby in der Dunkelheit nach, wie sie davonfuhr in eine ungewisse Zukunft. »Ich werde dich vermissen, große Sis. Pass gut auf dich auf.« Sie schloss ihre Augen, aber die Tränen ließen sich davon nicht abhalten, flossen unaufhörlich weiter.

Sie zog die Tür zu, setzte sich auf die Verandatreppe und wischte sich über das Gesicht. Dann sah sie zu den vielen Walnussbäumen, von denen sie im Dunkeln nur die Silhouetten erkennen konnte, und legte die Arme um ihre Knie. Sie fragte sich, wann sie ihre Schwester wohl wiedersehen würde, und wünschte sich, sie hätte ihr die Spieluhr doch mitgegeben. Sie selbst hatte wenigstens noch ihr Zuhause, ihre Eltern und die Walnüsse, die ihr jederzeit ein Gefühl von Geborgenheit schenkten. Die arme Abby würde in der Ferne gar nichts haben, auch wenn sie selbst jetzt noch nicht erkannte, dass man Heimat und Familie durch nichts ersetzen konnte.

Kapitel 1

Victoria

Heute

»Fährst du mich nachher zum Clubhaus?«, fragte ihr Vater, und Vicky sah auf.

Sie saßen zusammen an dem kleinen Verandatisch und frühstückten. Vicky hatte Bagels aufgebacken und dazu Spiegeleier und Bacon gebraten – wie ihr Dad es am liebsten mochte. Er hatte schon immer etwas für eine deftige Morgenmahlzeit übriggehabt, da er so Kräfte tanken konnte für einen langen Tag auf der Walnussfarm. Dass er heute wegen seines kaputten Knies nicht mehr allzu viel mit anpacken konnte, vergaß er manchmal, oder er schien sein Gebrechen absichtlich zu ignorieren. Glücklicherweise hatte er vor zwei Jahren Riversides Clubhaus für sich entdeckt, wo sich tagtäglich die älteren Herren der Gegend trafen, um miteinander Zeit totzuschlagen. Und Vicky war sehr dankbar dafür, denn so musste sie nicht mehr ständig mit ihrem lieben, aber äußerst sturen Vater streiten.

»Klar«, antwortete sie und beschmierte eine weitere Bagelhälfte mit Frischkäse. »Was habt ihr denn heute vor? Spielt ihr wieder Schach oder Shuffleboard? Oder lest ihr ein Buch?«

»Leider nicht. Ich wünschte, ich könnte die anderen davon überzeugen, einen Buchclub zu gründen. Die wissen ja gar nicht, was sie verpassen, wenn sie nicht Steinbeck, Faulkner oder Fitzgerald lesen.«

Vicky musste schmunzeln. Ihr Dad war schon immer ein Literaturfanatiker gewesen. Im Haus gab es sogar ein Zimmer, das nur mit Bücherregalen vollgestellt war – seine ganz eigene Bibliothek. Und dort hielt er sich auch am allerliebsten auf, seit er seine Tage nicht mehr draußen auf den Feldern verbrachte.

»Eine Schande!«, sagte sie.

»Allerdings!«, stimmte er ihr zu, nahm ein Stück Bacon und hielt es Betty hin. Die Hündin, die zu seinen Füßen lag, schnappte es sich und leckte ihm zum Dank die Hand.

»Also, was habt ihr denn nun geplant für heute?«

»Joe und Carl wollen sich draußen vors Café setzen und Skat kloppen. Und dabei hübschen Frauen hinterherpfeifen.« Er rollte mit den Augen.

Sie musste lachen. Ja, die beiden Freunde ihres Dads waren wirklich noch auf Zack, was die Damenwelt anging. Und dabei hielten sie sich sogar meist an diejenigen in ihrem Alter und nicht etwa an junge, sexy Frauen, die an ihnen vorbeiflanierten. Sie hatte es selbst ein paarmal gesehen, und sie hatte auch vernommen, wie geschmeichelt sich die älteren Damen gefühlt hatten. Die gute Mrs. Edison aus dem Schreibwarengeschäft errötete jedes Mal und lachte nervös wie ein Teenager. Vicky fand es süß. Warum sollten Menschen gehobenen Alters nicht auch noch flirten dürfen?

»Wobei du natürlich niemals mitmachen würdest«, sagte sie und zwinkerte ihrem Dad zu.

Anthony Lloyd setzte sich aufrecht und sah sie empört an. »Aber selbstverständlich nicht! Ich werde deiner Mutter immer treu bleiben, auch wenn sie nicht mehr bei uns ist. Denn eines Tages werden wir uns wiedersehen, und ich weiß jetzt schon, dass sie mir die Hölle heißmachen würde, wenn ich sie hier unten betrogen hätte.«

Ihr Vater glaubte fest an ein Leben nach dem Tod, an den Himmel und die Hölle und an so gut wie alles andere, was in der Bibel stand. Jeden Sonntag ging er in die Kirche, und vor jedem Essen sprach er ein Dankesgebet. Und sie wusste auch, dass er abends vor seinem Bett niederkniete – trotz immenser Schmerzen – und für die Seelen seiner verstorbenen Frau und seiner verlorenen Tochter betete.

»Ach, Dad. Ein bisschen flirten ist doch nicht gleich betrügen. Ich bin mir sicher, Mom hätte nichts dagegen, wenn du dich ein bisschen amüsieren und auch mal einer netten Lady hinterherpfeifen würdest.«

»Oh, ich will es lieber nicht riskieren«, sagte er und strich sich eine weiße Haarsträhne zur Seite, die ihm ins Gesicht gefallen war. Und dann warf er ihr wieder mal diesen ganz bestimmten Blick zu, den sie an ihm fürchtete, weil dann nie etwas Gutes folgte. »Wie sieht es denn bei dir aus? Hast du in letzter Zeit jemanden kennengelernt?«

»Wie denn, wenn ich meine Tage von morgens bis abends auf der Farm verbringe?«, entgegnete sie.

»Na, ab und zu fährst du doch auch mal in den Ort, oder du triffst dich mit Alexandra.«

Sie atmete einmal tief durch. »Wenn der Richtige kommt, dann kommt er. Ich werde aber nicht verzweifelt nach ihm suchen, okay?«

»Du und deine Sturheit!«

Ha! Das musste er gerade sagen!

»Dad, bitte …« Sie sah ihm eindringlich in die Augen und hoffte, er verstand, dass das kein Thema war, über das sie reden wollte. Jetzt oder überhaupt jemals.

»Na, ich mein ja nur. Es wäre schön, wenn wenigstens ich meine Enkel kennenlernen würde, bevor ich das Zeitliche segne. Deiner Mutter ist das ja leider nicht vergönnt gewesen.«

Sie seufzte, füllte ihnen beiden Kaffee nach, gab einen Löffel Zucker in ihren Becher und rührte. »Okay, ich werde die Augen nach netten Männern offen halten.«

»Das ist alles, was ich will«, sagte ihr Dad zufrieden und lehnte sich im Stuhl zurück. Er wischte sich mit seinem Stofftaschentuch, das er ganz altmodisch immer in der Hosentasche trug, über die Stirn. Es war erst kurz nach acht, aber das Thermometer zeigte jetzt schon knapp dreißig Grad an. Die Sommer in Riverside waren stets heiß, dieser August jedoch schien der heißeste aller Zeiten zu sein. »Wir müssen um zwei los, gleich nach dem Mittagessen. Bis dahin gehe ich mal schauen, was auf der Farm so anfällt.«

Vicky nickte und spielte das Spiel mit. Ihr Dad tat nämlich so, als wenn er immer noch für alles verantwortlich wäre. Vicky hatte ihm den Titel und die Aufgaben eines Vorarbeiters übertragen, als sie die Farm übernommen hatte; insgeheim wussten sie aber beide, dass die eigentliche Vorarbeiterin nach wie vor Inès war. Inès arbeitete seit zehn Jahren für sie, war Ende dreißig, geschieden und kinderlos und hatte alles fest im Griff. Auf sie konnte Vicky sich verlassen, und sie war zudem im Laufe der Jahre zu einer echten Freundin geworden. Das Beste jedoch war: Sie spielte das Spiel mit.

»Dann viel Spaß. Ich muss mich noch um ein paar Kunden kümmern und komme dann ebenfalls nach draußen.«

»Apropos Kunden … Wir sollten darüber nachdenken, unsere Preise auch zu erhöhen, wie alle Farmer der Gegend es diese Saison tun«, meinte ihr Dad.

Sie seufzte erneut und nickte widerwillig. »Ja, du hast recht. Über kurz oder lang sollten wir da mitziehen. Es wird jetzt schon eng. Das Wasser wird immer teurer, die Erntehelfer sind in zwei Wochen wieder im Einsatz und wollen bezahlt werden … Ich glaube, wir kommen nicht drum herum, dieses Jahr achtzig Cent oder mehr zu verlangen.«

Sie boten ihre Walnüsse der Sorte Chandler mitsamt der Schale an und hatten Abnehmer überall im Land – von Supermärkten über Bioläden bis hin zu Privatkunden war alles dabei. Im vergangenen Jahr hatten sie das Pfund noch für fünfundsiebzig Cent verkauft, doch dieses Jahr war es fast unumgänglich, die Preise anzuheben – da hatte ihr Vater leider recht. Mit über fünftausend Plantagen stammten neunundneunzig Prozent der US-Walnussernte aus Kalifornien, und so gerne sie bei der großen Konkurrenz die Preise auch niedrig gehalten hätte, befürchtete sie, dass es auf lange Sicht einfach nicht mehr möglich war.

»Ich werde es einmal durchrechnen«, versprach sie, erhob sich von ihrem Stuhl und begann, den Tisch abzudecken. Ihr Dad humpelte derweil von der Veranda, die drei Stufen hinunter und hinüber aufs Feld, Betty immer an seiner Seite.

Noch waren kaum Arbeiter anwesend. Lediglich Inès war da und bereitete zusammen mit Rodrigo und Thiago alles für die Ernte vor, die in knapp zwei Wochen beginnen würde. Hier im Süden Kaliforniens waren die ersten Walnüsse im Gegensatz zu den nördlicheren Anbaugebieten bereits Anfang September erntereif. Die schönste Zeit des Jahres, wie Vicky fand. Endlich wieder frische Walnüsse, mit denen sie ganz wunderbare Kuchen und die köstlichsten Kekse backen konnte. Und erst der Duft frisch gerösteter Walnusskerne … Allein der Gedanke zauberte ihr ein breites Lächeln ins Gesicht.

Sie kümmerte sich schnell um den Abwasch, schrieb dann ein paar Großkunden an, um sich zu vergewissern, dass sie auch dieses Jahr wieder auf sie zählen konnte, und trat aus dem Haus. Schritt über die Erde, die ihre Bäume seit hundertfünfzig Jahren nährte. Bereits ihre Urururgroßeltern hatten Walnüsse angebaut, tatsächlich galt die Lloyd-Farm als die älteste Walnussfarm in Kalifornien, die noch in Betrieb war. Worauf die Familie natürlich mächtig stolz war, allen voran ihr Dad, Anthony Lloyd. Vor ein paar Jahren war sogar ein Interview mit ihm in einer Zeitung erschienen, mit einem Bild, das ihn unter einem seiner geliebten Bäume zeigte, die Hände voll reifer Walnüsse. Diesen Artikel trug er stets bei sich und zeigte ihn jedem, der ihn noch nicht kannte – und auch denjenigen, denen er ihn schon zig Mal gezeigt hatte. Anthony hatte nicht mehr viel außer seinen Erinnerungen an eine bessere Zeit, doch die konnte ihm keiner nehmen.

Vicky sah hoch zu einem der Bäume, an denen die Walnüsse in ihren Schalen heranreiften. Die grünen Außenhüllen begannen bereits, sich zu spalten. Bald würden sie sich ganz öffnen und die Walnüsse freigeben beziehungsweise zusammen mit ihnen herabfallen. Und bei denen, die nicht von allein herunterkommen wollten, würden sie nachhelfen. Die Ernte war nah, und Vicky fühlte sich gesegnet, trotz allem ein weiteres Jahr dabei sein zu dürfen, wenn der Herbst hereinbrach und die Walnüsse alles andere in den Schatten stellten. Die schönste Zeit des Jahres, am wohl schönsten Ort der Erde – nach wie vor konnte sie sich zum Leben keinen besseren vorstellen.

Kapitel 2

Liam

Liam saß an seinem Schreibtisch und recherchierte. Die halbe Nacht lang hatte er im Internet nach Fakten und Daten zum Hintergrundthema seines neuen Romans gesucht und sich seitenweise Notizen gemacht. Und doch war er noch kein Stück weiter. Das Thema lautete: Walnüsse.

Klar, Fakten waren wichtig, doch sie waren nicht genug. Vor allem ging es bei einer Geschichte doch immer um das Besondere, was die Leser noch nicht wussten. Und ja, wahrscheinlich hatten drei Viertel von ihnen keine Ahnung davon, dass die Walnuss seit weit über neuntausend Jahren als Nahrungsmittel genutzt wurde oder dass spanische Missionare sie 1770 erstmals nach Amerika brachten. Dass die Walnuss als Symbol der Fruchtbarkeit galt und sogar Josef auf vielen Hochzeitsbildern neben Maria mit einem Walnusszweig in der Hand abgebildet war.

Doch wen interessierte all das schon?

Er wollte Dinge erzählen, die einzigartig waren, von denen eben noch niemand wusste, Dinge mit dem »Oooh-Effekt«, auf die er selbst so gerne stieß, wenn er ein Buch las. Und er las sehr viel, war schon seit frühester Kindheit eine Leseratte, wie seine Mom ihn immerzu nannte. Liam war ihr dankbar ohne Ende, dass sie seine Leidenschaft stets gefördert und damals, als sie noch mittellos waren, jeden Cent zusammengekratzt hatte, um ihm immer wieder neue Bücher zu besorgen. Selbstverständlich hatte er als kleiner Junge auch einen Büchereiausweis besessen, doch es hatte für ihn nichts Schöneres gegeben, als am Weihnachtsmorgen ein Geschenk auszuwickeln und daraufhin ein Buch in Händen zu halten. Niemals hätte er gedacht, eines Tages selbst welche zu schreiben. Denn trotz seiner Leidenschaft für Bücher hatte er immer vorgehabt, Tierarzt zu werden. Er war auch schon dabei gewesen, seinen Traum zu verwirklichen, als das Schicksal ihn schwer getroffen und sein Leben in andere Bahnen gelenkt hatte.

Er gab erneut ein paar Wörter in die Suchmaschine ein und stieß auf einige Fakten, die er noch nicht gewusst hatte. In alten mitteleuropäischen Gräbern waren Walnussschalen als Beigaben gefunden worden … Früher hatte man die Walnuss zum Schutz gegen schwere Krankheiten wie die Pest zu sich genommen … Die Walnuss war sehr häufig in den Märchen der Gebrüder Grimm erwähnt worden … Liam schloss die Augen und atmete ein paarmal tief durch. Das war nicht das, was er suchte. Das war es einfach nicht.

Er hörte es an seiner Bürotür klopfen.

»Herein!«, rief er, beinahe froh über die Ablenkung.

Seine Mutter öffnete die Tür und lächelte ihn an. Sie trug ihr rotes Lieblingskleid, das ihrer noch immer schlanken Figur schmeichelte. »Junge, hast du Hunger?«

Liam sah auf die Uhr und musste zu seinem Schrecken feststellen, dass es bereits halb drei am Nachmittag war. Er hatte überhaupt nicht mitbekommen, wie die Zeit verflogen war.

»Ich sollte wohl wirklich mal was essen.«

Seine Mutter kam ins Zimmer und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du arbeitest zu viel. Du solltest ein bisschen besser auf deine Gesundheit achten, Liam.«

»Ich weiß. Allerdings muss ich das Manuskript Ende Dezember abgeben, und ich habe noch nicht einmal angefangen mit dem Schreiben.«

»Ende Dezember, das ist doch noch gut vier Monate hin. Setz dich selbst nicht so unter Druck.«

Ja, das war so leicht gesagt. Doch wie sollte man sich nicht unter Druck setzen, wenn sein Erstlingswerk ein größerer Erfolg gewesen war, als man sich je erträumt hätte? Wenn es alle Rekorde gebrochen, die Bestsellerlisten erklommen hatte und inzwischen in dreiundzwanzig Sprachen übersetzt worden war? Sein zweiter Roman hatte da schon nicht mehr mithalten können. Wenn der dritte nun noch mehr floppte, war es aus mit seiner Schriftstellerkarriere, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

»Ich versuche es, okay?«, sagte er, drehte sich mit seinem Stuhl herum zu seiner Mom und lächelte.

Wie froh er war, dass er sie hatte. Und vor allem, dass sie zusammen waren. Dass er ihr jetzt ein schönes Leben bieten konnte, das Leben, das sie verdient hatte. Sie hatte so viel durchgemacht all die Jahre; sie jetzt im Ruhestand zu erleben und zu sehen, wie sie die Blumen oder das Gemüse in ihrem eigenen Garten pflegte und endlich einmal Zeit hatte zu entspannen, erfüllte ihn mit Stolz und Glück. Nachdem sein Debüt ihm die erste Million beschert hatte, hatte er sich ein Haus gekauft, das groß genug war, um auch seine Mutter zu sich zu holen. Diesem Haus, das in einem ruhigeren Stadtteil von Seattle lag und sogar über einen Wintergarten verfügte, von dem seine Mutter immer geträumt hatte, war er sofort verfallen. Außerdem gab es diesen großen Garten, in dem man sein eigenes Obst und Gemüse anbauen konnte, und neben den beiden Schlafzimmern ein weiteres Zimmer, das er als Büro nutzen konnte. Es war groß genug, um all seine Bücherregale aufzustellen, und es hatte eine dieser Bänke am Fenster, auf die er sich am Abend setzen und der Sonne dabei zusehen konnte, wie sie unterging. Liam hatte Sonnenuntergänge schon immer gemocht, sie bedeuteten für ihn neue Chancen. Der Tag war vorbei, und egal was an diesem einen Tag auch geschehen war, man wusste, es würde ein weiterer folgen, an dem man es besser machen konnte.

»Gut«, sagte seine Mutter beruhigt. »Und was darf ich dir nun zu essen machen?«

»Wie wäre es mit einem Nudelauflauf? Nur wenn es dir nicht zu viele Umstände bereitet.«

»Aber gar nicht. Ich hätte selbst Lust drauf.« Sie sah ihn schmunzelnd an. »Mit grünen Nudeln?«

Er nickte. Die aß er noch immer am allerliebsten, warum, konnte er gar nicht genau sagen. Vielleicht, weil Rudy sie so gerne gegessen hatte. Weil sie ihn an ihn erinnerten.

»Dann mache ich mich an die Arbeit. Komm in einer Stunde runter, ja?« Sie küsste sein Haar und ging aus dem Zimmer.

Kurz schloss er die Augen. Seine Mom. Sie bedeutete ihm alles. Er wusste, dass viele Leute das falsch verstehen könnten, wenn man mit dreißig Jahren noch mit seiner Mutter zusammenwohnte. Doch die wenigsten Menschen hatten so eine innige Beziehung zu ihren Müttern wie er, und die wenigsten hatten eine Vergangenheit wie sie beide hinter sich. Ehrlich gesagt war es ihm ganz egal, was andere dachten. Er wusste, er tat das Richtige. Sie hatten genug verloren, da war es doch schön, dass sie wenigstens noch einander hatten.

Er recherchierte weiter und stieß auf einen Zeitungsartikel, der circa zwei Jahre alt war. Er berichtete von einer Walnussfarm in Riverside, die wohl die älteste der Gegend war. Nein, anscheinend sogar die älteste in ganz Kalifornien! Sie existiere nun schon seit über hundertvierzig Jahren, erzählte der Besitzer in dem Interview. Anthony Lloyd hieß er. Vielleicht sollte Liam ihn einfach mal kontaktieren, womöglich würde er auch ihm ein Interview geben. Es könnte doch sein, dass er derjenige war, nach dem er so dringend suchte, die Person, die eben mehr über die Walnuss zu erzählen hatte als die lahmen Fakten, die in den Lehrbüchern und auf Wikipedia standen.

Er brauchte nicht lange, bis er die Website der Farm gefunden hatte, auf der man auch direkt Walnüsse bestellen konnte. Er kopierte die E-Mail-Adresse, fügte sie in die Adressleiste einer neuen Mail ein und begann, eine Anfrage zu formulieren. Dann jedoch löschte er alles wieder und starrte auf die Website. Es waren Bilder von der Plantage abgebildet, sie waren wirklich toll. Es gab Tausende Bäume, vollbehangen mit Walnüssen, im Hintergrund ein paar Erntehelfer, die Sonne hoch am Himmel. Ihm wurde klar, dass er sich das mit eigenen Augen ansehen, diese Atmosphäre einfangen musste, um sie in seine Geschichte einarbeiten zu können. Er hatte zwar sowieso vorgehabt, im Laufe der Schreibarbeiten eine Reise nach Kalifornien und auf ein paar Walnussfarmen zu machen, doch jetzt fragte er sich: Warum noch damit warten? Viel besser wäre es doch, wenn er gleich losfahren und so viele Informationen und Eindrücke sammeln würde wie möglich, ehe er sich an sein Manuskript setzte. Ja, er war sich sogar sicher, dass er nur dann das Beste aus der Story herausholen konnte.

Als er eine Stunde später seiner Mutter beim Essen gegenübersaß, schaute er ihr in die Augen und sagte: »Ich glaube, ich muss für eine Weile weg.«

»Zu den Walnüssen?«, fragte sie, weil sie ihn oft besser kannte als er sich selbst.

Er nickte. »Ja. Ich denke, dass ich vor Ort recherchieren muss, um dieses Buch schreiben zu können. Ich muss mir die Gegenden ansehen, die Farmen, die Besitzer und die Erntehelfer. Vielleicht kann ich mit einigen von ihnen sprechen und Dinge erfahren, die man von Google, Bibliotheken oder naturwissenschaftlichen Instituten eben nicht erfährt.«

»Das ist eine sehr gute Idee, Junge«, sagte seine Mom zu seiner Verwunderung.

»Ja? Findest du?«

»Das tue ich. Ich habe nämlich das Gefühl, du hast dich selbst ein wenig verloren und brauchst einfach auch mal einen Ortswechsel, um einen klaren Kopf zu bekommen.«

Es konnte schon stimmen, was sie sagte. Er pikste ein paar grüngefärbte Nudeln mit der Gabel auf. Sie waren mit Käse überbacken und schmeckten köstlich. Dann sah er seiner Mom wieder ins Gesicht. »Es könnte sein, dass ich länger weg sein werde.«

Seine Mutter schenkte ihm ein Lächeln. »Das ist kein Problem. Ich werde mich gut um dein Haus kümmern. Und solange du mir versprichst, an Thanksgiving zurück zu sein, soll es mir recht sein.«

An Thanksgiving? Er musste lachen. Das war ja noch drei Monate hin!

»Also, da brauchst du gar keine Sorge zu haben, ich habe nicht vor, so lange weg zu sein.«

»Wer weiß? Man kann vorher nie erahnen, wann und wo eine Reise endet.«

Er nickte. Ja, da sprach sie aus Erfahrung. Sie beide hätten ja auch nie gedacht, einmal in Seattle zu stranden.

»Okay, dann werde ich mal schauen, wo ich unterkommen könnte, wenn ich in Südkalifornien bin. Und ich muss einen Flug buchen.«

»Warum fährst du nicht mit dem Auto? Du könntest den Roadtrip die Küste entlang machen, von dem du schon so lange sprichst.«

Die Idee war gar nicht schlecht. Und die Vorstellung, mit seinem alten Mustang, den er selbst restauriert hatte, den Highway No. 1 entlangzufahren, war großartig.

»Was würde ich nur ohne dich tun, die immer weiß, was das Beste für mich ist?«, fragte er und sah seine Mom liebevoll an.

»Du würdest sicher auch ohne mich ganz gut zurechtkommen«, widersprach sie.

»Nein, das glaube ich nicht.« Er legte eine Hand auf ihre. »Ich werde dich sehr vermissen.«

»Du wirst mir auch fehlen, Junge.«

»Versprichst du mir eins? Wirst du dann und wann Blumen für mich auf sein Grab legen?«

»Ich verspreche es.« Seine Mom sah traurig aus, und es tat ihm schon leid, dass er das Thema erwähnt hatte. Doch dann lächelte sie auch schon wieder und fragte: »Wirst du Sniffy mitnehmen?«

In dem Moment trottete sein Cockapoo in die Küche und legte sich auf die Decke neben der Verandatür.

So sehr Liam seinen Hund liebte, wusste er doch, dass seine Mom ihn dringender brauchen würde als er. Er würde sich einfach besser fühlen, wenn er wusste, dass sie nicht allein in diesem großen Haus war.

»Damit ich mir den lieben langen Tag lang sein Gejaule anhören muss, weil er dich so vermisst? Nein, ich lass ihn lieber hier bei dir.« Er zwinkerte ihr zu und nickte dann. »Na gut. Dann gehe ich gleich mal nach oben und kümmere mich um alles.« Er schaufelte die letzten Happen Nudelauflauf in sich hinein, stellte seinen Teller in die Spüle und eilte die Treppe hinauf. Er war richtig aufgeregt. Er würde auf einen Roadtrip gehen und hatte noch dazu ein cooles Ziel vor Augen: die älteste Walnussfarm Kaliforniens. Wenn das keine Reise wert war!

Kapitel 3

Abigail

»Mommy?«, hörte sie es im Halbschlaf.

Sie vergrub ihr Gesicht ins Kissen.

»Mommy, ich hab Hunger.«

Widerwillig drehte sie den Kopf zur Seite und öffnete die Augen. Bella grinste sie an.

»Ich komm ja schon. Gib mir eine Minute.«

»Das hast du schon vor zehn Minuten gesagt, Mommy«, erwiderte ihre Tochter. Sie hatte gerade gelernt, die Uhr zu lesen, worauf sie mächtig stolz war.

Abby stöhnte. »Okay, okay.« Sie schlug die Bettdecke zurück und stand mit wackeligen Beinen auf. Sie hasste das Aufstehen am frühen Morgen, ebenso wie sie es hasste, sich um andere Menschen zu kümmern. Sie fand es ja schon schwer genug, sich um sich selbst zu kümmern, und kriegte nicht mal das auf die Reihe.

Sie schlüpfte in die Jeans vom Vortag, sah an sich herunter und zog das weiß-grau gestreifte T-Shirt glatt. Ja, das konnte noch als sauber durchgehen. Sie fuhr sich durchs Haar und rieb sich dann die Augen.

Bella lachte. »Du siehst ganz verwuschelt aus.«

»Ach ja?« Sie schlurfte in die Küche. Wie gern wäre sie einfach wieder zurück ins Bett gegangen, doch sie wusste, sie musste Bella etwas zu essen geben. Die Kleine hatte Hunger, das hatte sie doch gesagt. Sie fragte sich, ab welchem Alter sich Kinder morgens das Frühstück selbst machen konnten. Bella war inzwischen sechs Jahre alt, eine Weile würde es wohl noch dauern.

»Pop Tarts oder Honey Loops?«, fragte sie.

»Froot Loops«, antwortete die Kleine, die ein Abbild von ihr selbst war: die gleichen braunen Locken, die gleiche Stupsnase.

»Die sind alle. Glaube ich.«

»Okay, dann Honey Loops. Kannst du wieder Froot Loops kaufen, bitte?«

Nun musste sie doch lächeln. Ihre Tochter war wirklich höflich, hängte immer schön ein »Bitte« an jeden geäußerten Wunsch dran. Irgendwas schien sie doch richtig gemacht zu haben. Obwohl das alles nicht geplant war, ja, obwohl sie an so manchen Tagen das Muttersein und ihr ganzes Leben verfluchte …

Es war zehn Jahre her, dass sie die Walnussfarm in der Hoffnung auf ein besseres Leben verlassen hatte, ein aufregenderes Leben, eines, für das andere sie beneiden würden. Seit sie denken konnte, hatte sie mehr von ihrem Dasein auf Erden erwartet, und sie war sich sicher gewesen, dass das Schicksal auf ihrer Seite war. Als sie in dieser schwülen Julinacht im Sommer 2011 Riverside für immer hinter sich ließ, hatte sie sich direkt auf nach Hollywood gemacht. Sich ein Zimmer in einer WG gemietet, Freunde gefunden, die genauso auf eine Schauspielerkarriere aus waren wie sie. Die tagtäglich zu Castings gingen und schon ein paar Dinge vorweisen konnten: hier einen TV-Werbespot, da eine Statistenrolle, hier eine Stunde auf der Couch eines Filmproduzenten, da eine Line Koks mit dem Regisseur. Sie selbst weigerte sich, so weit zu gehen, hatte sie doch immer ihre Mutter im Kopf, die ihr liebevoll sagte: »Abigail, du bist so viel mehr wert, als du denkst. Eines Tages wirst du es erkennen.«

Alles, was sie also nach drei Jahren Hollywood in ihrer Vita stehen hatte, waren ein paar Komparsenrollen, einen winzigen Auftritt in einem Werbespot für Damenrasierer und eine gebrochene Nase, die ihr eine Mitstreiterin zugefügt hatte, als sie beide in der letzten Castingrunde für einen B-Movie auf die Antwort der Produzenten warteten. Und die andere bekam auch noch die Rolle! Später hatte Abby gehört, dass die Dreharbeiten wegen Geldmangels eingestellt worden waren, und dennoch wäre es schön gewesen, überhaupt mal ausgewählt zu werden.

Alles, was Hollywood ihr jedoch eingebracht hatte, war eine schiefe Nase und ein Braten in der Röhre.

In ihrem dritten Jahr in L.A. lernte sie Larry kennen. Zu der Zeit hatte sie aus Geldnot längst ihren Ford verkauft und jobbte im Diner an der Ecke, um wenigstens die Kosten für das Zimmer und ab und zu was Warmes zu essen aufbringen zu können. Dass sie wirklich Karriere in Hollywood machen würde, hatte sie längst abgehakt. Doch Larry schenkte ihr wieder ein wenig Hoffnung. Er war Kameramann und versprach ihr, sich bei den Produzenten einer bekannten Serie für sie einzusetzen. Und selbst wenn es nur für eine Rolle als Leiche reichen würde, wäre das schon der Wahnsinn, denn es handelte sich immerhin um The Mentalist, eine der zu der Zeit angesagtesten Crime-Serien überhaupt! Vielleicht würde sie Simon Baker kennenlernen, wenn schon nicht Bradley Cooper. Vielleicht würde sie als Leiche so überzeugen, dass man ihr danach eine vielversprechendere Rolle gab.

Gedreht wurde in Burbank, gleich außerhalb von Los Angeles. Larry erzählte ihr jeden Abend, wie cool es war, all die Stars um sich zu haben, und das war es, was sie auch wollte. Genau das! Doch jedes Mal, wenn sie Larry fragte, ob er schon etwas erreicht hatte, hielt er sie hin. Sagte, er wäre noch nicht dazu gekommen nachzufragen, er müsste den richtigen Zeitpunkt abwarten. Also ging sie weiterhin zu Werbe-Castings für Fleischersatzprodukte, Schuppenshampoos oder Damenrasierer. Und dann eines Tages, als sie im Warteraum mit den hundert anderen Frauen saß, wurde ihr speiübel. Sie schaffte es gerade noch zur Toilette, und danach machte sie sich auf nach Hause, um das Magen-Darm-Virus auszukurieren. Als sie sich nach einer Woche immer noch nicht besser fühlte, ging sie in eine Drogerie und kaufte einen Schwangerschaftstest.

Es war der größte Schock ihres Lebens, und Abby zweifelte keine Sekunde, dass sie das Baby wegmachen lassen würde. Was sollte sie mit einem Kind? Sie wollte berühmt werden!

Als sie Larry von der Schwangerschaft erzählte, war er schneller weg, als sie gucken konnte. Empört sagte er noch, dass das Kind nicht von ihm stammen könne, da er gar nicht dazu in der Lage wäre, Nachwuchs zu zeugen. Doch er war der Einzige gewesen, und Abby musste sich mit der Tatsache abfinden, dass sie allein dastand.

Sie sammelte jeden Cent zusammen, bat Freundinnen, ihr etwas zu leihen, ließ sich von dem ekligen Typen im Erdgeschoss ihres Wohnhauses fotografieren, der einen Katzenfetisch hatte. Als sie das Katzenkostüm wieder ausgezogen und das Geld zusammenhatte, machte sie sich auf zu ihrem Termin in der Klinik. Doch als sie auf dem Behandlungsstuhl lag, wurde ihr plötzlich bewusst, dass da Leben in ihr heranwuchs – sie fühlte sich wie eine Mörderin, und das wollte sie auf keinen Fall sein. Ihre tiefreligiösen Eltern würden sie für immer verstoßen. In dem Moment dachte sie an ihre Familie – ihre Eltern, die sie seit mehr als drei Jahren nicht gesehen hatte, und ihre Schwester, die sie mehr vermisste, als sie sich je hätte vorstellen können. Und dann dachte sie sich, dass sie wenigstens nicht mehr ganz so allein wäre, wenn sie das Baby bekommen würde.

Das war jetzt sechs Jahre und zehn Monate her. Allein war sie zwar nicht mehr, doch ihr Leben war ein Trauerspiel. Ihre Wohnung war ein Loch, ihr Job das Allerletzte, und der Traum von einer Karriere als Schauspielerin schon so lange ausgeträumt, dass sie sich nicht einmal mehr daran erinnern konnte.

Sie öffnete den Küchenhängeschrank, nahm die letzte saubere Schüssel heraus, schüttete Honey Loops hinein und nahm den Milchkarton aus dem Kühlschrank. Er fühlte sich ganz leicht an, zu leicht, und als sie ihn schüttelte, erkannte sie, dass er leer war.

»Milch muss ich auch erst noch besorgen. Kannst du sie so essen?«, fragte sie, und Bella nickte.

»Okay.« Die Kleine nahm sich einen Löffel aus der Schublade, ging mit ihrer Schüssel ins Wohnzimmer und setzte sich auf den kuscheligen Teppich vor dem Fernseher.

Die Versuchung, zurück unter die Bettdecke zu schlüpfen, war groß, und doch nahm Abby die Honey-Loops-Packung in die Hand und suchte nach einer weiteren sauberen Schüssel. Es war hoffnungslos, das ganze Geschirr stapelte sich in und neben der Spüle. Sie zuckte die Achseln, beschloss, einfach aus der Packung zu essen, setzte sich zu Bella und sah sich Die Simpsons mit ihr an.

Kapitel 4

Victoria

In ihrem navygrünen Jeep fuhr sie ins Zentrum von Riverside und überquerte dabei den Santa Ana River, nach dem die Stadt benannt war. Sie hatte ein paar Besorgungen zu machen, musste zur Post und zur Apotheke und danach in den Supermarkt, da nicht nur der Orangensaft und die Aufbackbagels ausgegangen waren, sondern auch Zahnpasta und Toilettenpapier zur Neige gingen. Außerdem wünschte sich ihr Dad Tacos zum Dinner, und dafür brauchte sie einige Zutaten wie frische Tomaten, Kidneybohnen und Reibekäse.

In weniger als einer Viertelstunde erreichte sie den Ortskern und fuhr durch die Straßen der Stadt, in der sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Hier war sie zur Schule gegangen, mit Freunden ins Kino oder in die Mall, hier hatte sie sich ihr Kleid für den Abschlussball gekauft und die ersten Kondome, als sie in der zehnten Klasse ihren ersten festen Freund hatte. Nun, eigentlich hatte Abby sie für sie besorgt, sie selbst hatte peinlich berührt draußen vor der Drogerie gewartet und sich dann von Abby auslachen lassen, weil sie so ein Angsthase war.

Die Sonne stand hoch über den Bergen, die die Stadt umrahmten. Vicky musste lächeln. So oft sie diesen Anblick schon hatte genießen dürfen, war es doch immer wieder eine Wohltat. Sie konnte es nicht anders sagen: Sie mochte Riverside. Hatte es immer gemocht. Fand es schön, wie idyllisch alles wirkte, obwohl die Stadt knapp über dreihunderttausend Einwohner hatte. Doch es gab im Gegensatz zu den meisten anderen größeren Städten Kaliforniens so gut wie keine Hochhäuser, alles war flach und hell gehalten. Die Gebäude waren weiß oder beige gestrichen, hier und da ein paar rote und braune Farbtupfer, und die Straßen waren sauber, von unendlich vielen Palmen gesäumt und immer mit diesem gewissen Glitzern auf dem Asphalt, das die kalifornische Sonne nicht nur an heißen Tagen hinterließ.

Sie musste lächeln, als sie eine der riesigen Orangen passierte, die seit 2016 die Straßen von Riverside schmückten. In der ganzen Stadt waren die insgesamt zweiunddreißig von lokalen Künstlern bunt bemalten Früchte aus glasfaserverstärktem Kunststoff aufgestellt; sie waren etwa kleinkindgroß und erfreuten Touristen wie Bewohner.

Vicky machte an der Post Halt, holte das Rezept für ihren Dad beim Arzt heraus und parkte dann den Jeep auf dem Parkplatz der Riverside Plaza Mall. Sie spazierte durch das offene Einkaufszentrum, gönnte sich einen Rote-Bete-Ananas-Smoothie bei Juice It Up!, löste das Rezept in der CVS-Apotheke ein und ging dann zu Trader Joe’s, um die Lebensmittel einzukaufen. An der Kasse lächelte sie ein nett aussehender Mann freundlich an, und sie lächelte zurück. Denn auch wenn man nicht auf eine feste Beziehung aus war, durfte man doch trotzdem ein bisschen flirten, oder?

Das Lächeln lag noch immer auf ihren Lippen, als sie mit den Einkaufstüten zum Wagen ging. Gerade hatte sie alles verstaut, als sie jemanden lachen hörte. Sie drehte sich um und entdeckte Jeff, einen vollgefüllten Einkaufswagen schiebend, seine Frau Clara an seiner Seite, der kleine Sohn Justin auf ihrem Arm. Sofort verflog Vickys Lächeln, und sie versteckte sich hinter ihrem Jeep, damit er sie nicht sah.

Sie hasste es, ihm und seiner glücklichen Bilderbuchfamilie zu begegnen. Und obwohl man doch denken sollte, dass das in der zwölftgrößten Stadt Kaliforniens mit all ihren Einwohnern nicht allzu häufig vorkam, tat es das leider doch.

Irgendwann lugte sie um den Kotflügel und atmete auf. Die drei waren weg, nach Hause gefahren oder zum Krabbelkurs, zum Babyschwimmen oder sonst wo hin, wo man mit einjährigen Kindern an einem Mittwochnachmittag so hinfuhr.

Sie stieg in ihr Auto, kurbelte das Fenster herunter und setzte aus der Parklücke. Und dann stand dummerweise plötzlich Jeff vor ihr, der den Einkaufswagen zurückbrachte.

Er wirkte genauso verlegen wie sie. Es war eine unangenehme Begegnung – wie jedes Mal, wenn sie aufeinanderstießen.

»Hi, Vic«, sagte er und lächelte nervös.

»Hi, Jeff.«

»Wie geht’s dir?«

»Ganz gut, danke«, antwortete sie. »Und dir?«

»Auch gut.«

»Die Ernte beginnt bald«, meinte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel.

»Ja, schon bald.« Er sah in die Ferne. Ob er sich wohl vergewissern wollte, dass Clara ihn nicht mit ihr sah?

»Also, ich muss dann weiter. Schönen Tag noch«, sagte sie, um die angespannte Situation zu beenden.

Jeff war die Erleichterung anzusehen. »Danke, dir auch.« Er wartete, bis sie davongefahren war, dann sah sie ihn im Rückspiegel seinen Wagen in Richtung Supermarkt zurückschieben.

Sie biss sich auf die Unterlippe. Verdammt! Warum mussten sie nur immer wieder in diese Lage kommen? Warum sich ständig über den Weg laufen, wenn sie ihn doch einfach nur vergessen wollte?

Juli 2015

»Ich freue mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen«, sagte Jeff, der frisch gekürte Geschäftsführer der Nuts for Everyone Company. Er hatte gerade erst das College beendet und den Job seines Onkels übernommen, der seine eigene Firma aufbauen wollte. Onkel Marty und Jeffs Vater, Jeffrey Senior, hatten so lange gewartet, bis Jeff seinen Abschluss in der Tasche hatte, und dann war an alle Kooperationspartner eine Mail rausgegangen mit der Ankündigung, dass es von nun an einen neuen Geschäftsführer geben würde. Ein paar Tage zuvor hatte Vicky eine persönliche Einladung erhalten, und jetzt stand sie im Büro ihres größten Kunden.

Sie hatte ihn sich anders vorgestellt. Alles, was sie über ihn wusste, hatte sie von ihrer besten Freundin Alex erfahren, deren Tante Zelda die größte Tratschtante der Stadt war. Alex hatte gemeint, Jeff sei ein arroganter, von seinen Eltern seit seiner Geburt verwöhnter Schnösel, der aussehe wie ein Nerd, mit Brille und Seitenscheitel und was sonst noch alles dazugehörte. Nun, Jeff trug wirklich eine Brille, so eine mit einem dünnen silbernen Rahmen, und er hatte einen Scheitel, doch er sah keinesfalls aus wie ein Nerd, und arrogant wirkte er erst recht nicht auf sie. Ganz im Gegenteil. Er schien nervös und sich seiner Sache noch überhaupt nicht sicher. Dennoch versuchte er, souverän rüberzukommen. Er schüttelte ihr die Hand und bat sie, sich zu setzen. Dann lächelte er sie an – und dieses Lächeln verzauberte sie auf den ersten Blick.

»Danke für die Einladung«, sagte sie. »Ich freue mich auch, Sie persönlich kennenzulernen. Meine Familie macht ja schon seit vielen Jahren Geschäfte mit Ihrer Firma.«

»Ja, das stimmt. Und gerade deshalb finde ich es wichtig, mich so bedeutenden Kunden wie Ihnen persönlich vorzustellen. Wie schade, dass Ihr Vater nicht mitkommen konnte.«

Sie nickte. Ihr Dad lag wieder einmal im Krankenhaus. Seine dritte Knie-OP innerhalb weniger Jahre.

»Ja, ihm tut es auch sehr leid. Ich soll aber seine besten Grüße ausrichten.«

»Danke, bitte grüßen Sie ihn zurück und lassen Sie ihm meine Genesungswünsche zukommen.«

»Das werde ich, danke.«

Jeff lächelte wieder, jetzt nicht mehr ganz so nervös. »Was halten Sie von einem Mittagessen?«, fragte er, und sie musste ebenfalls lächeln.

»Sehr gerne«, antwortete sie und freute sich darauf, diesen Nerd besser kennenzulernen.

Als sie auf der Farm eintraf, waren Inès und ihre beiden Helfer gerade damit beschäftigt, die Shaker zu inspizieren. Das war wichtig, denn es konnte sein, dass sie seit der letzten Ernte ein wenig eingerostet waren. Und die Shaker mussten ab nächster Woche einsatzbereit sein, wenn sie durch die Reihen fahren und die Walnüsse von den Bäumen schütteln mussten. Früher hatten die Erntehelfer diese Aufgabe noch übernommen. Mit Stöcken hatten sie die Nüsse heruntergeholt, daran konnte Vicky sich noch aus ihrer frühesten Kindheit erinnern. Heute jedoch übernahmen die Maschinen die schwierigsten Arbeiten, und die Helfer waren nur noch dazu da, um sie zu bedienen. Natürlich mussten sie die Nüsse auch sortieren und verpacken, aber das war weit weniger anstrengend, als den ganzen Tag lang einen Stock in die Höhe zu halten oder die Unmengen an Walnüssen aufzufegen und einzusammeln. Auch das wurde heute von Maschinen übernommen, den sogenannten Sweepern.

Sie winkte Inès zu und brachte die Einkäufe ins weißgestrichene Haupthaus. Als sie sie ausgepackt hatte, machte sie eine Kanne Tee und brachte ihrem Dad eine Tasse, zusammen mit einem Teller Kekse. Er saß in seinem Lesezimmer und sah auf, als sie es betrat.

»Hallo, Liebes«, sagte er. »Bist du schon zurück?«

»Ja, seit einer halben Stunde. Ich hab dein Medikament abgeholt und alles für die Tacos später besorgt.«

»Du bist ein Schatz.«

»Und du siehst aus, als wärst du ganz in dein Buch versunken. In welchen Welten bewegen wir uns denn?«, wollte sie wissen und stellte Tee und Kekse auf dem kleinen runden Tisch neben dem Lesesessel ab.

»Gerade befinde ich mich im Manhattan der Achtzigerjahre. Ich lese die New-York-Trilogie von Paul Auster.« Er schlug das dicke Buch zu und hielt ihr das Cover hin.

»Ist es gut?«

»Ich bin erst auf Seite achtzig vom ersten Band, Stadt aus Glas, aber es erscheint mir bereits sehr vielversprechend.«

»Sehr schön, das freut mich. Ich wünschte, ich hätte auch mehr Zeit zum Lesen.« Das tat sie wirklich, und sie nahm es sich immer wieder vor. Man sollte denken, dass sie wenigstens außerhalb der Saison ein wenig Zeit für solche Dinge finden würde, doch auf einer vierzig Hektar großen Farm war einfach immer etwas zu tun, selbst im Winter. Die Bäume mussten bewässert, gedüngt, beschnitten und gepflegt werden, alte Bäume, die keine Früchte mehr trugen, mussten gefällt, neue gepflanzt werden. Die Kunden mussten bei Laune gehalten, das Haus und die Lagerhalle instand gehalten, Geräte und Maschinen repariert und die Arbeiter hier und da eingesetzt werden, zum Beispiel zum Laubharken im Winter oder bei den Erntevorbereitungen. Eingelagerte Nüsse mussten das ganze Jahr über kontrolliert, verkauft und verschickt werden, Rechnungen geschrieben, Bücher geführt, die Steuer eingereicht, die Website aktualisiert, Versandmaterial bestellt und so weiter und so fort. Dazu hatte Vicky sich natürlich noch um ihren Vater zu kümmern, der mit jedem Jahr gebrechlicher wurde, obwohl er erst sechsundsechzig war, doch die harte Arbeit auf der Farm hatte ihre Spuren hinterlassen.

»Weißt du noch, wie ich dir damals immer vorgelesen habe?«, fragte er jetzt. »Vor dem Zubettgehen?«

Sie trat hinter ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Aber natürlich weiß ich das noch. Ich habe es so geliebt. Und Abby auch.«

Das stimmte nicht wirklich. Ihre Schwester war nämlich oftmals mitten in einer Geschichte eingeschlafen, und später, als sie älter wurde, hatte sie sich einfach Kopfhörer in die Ohren gesteckt und ihrer Lieblingsmusik statt ihrem Dad gelauscht. Doch Vicky hatte die allabendlichen Vorlesestunden sehr zu schätzen gewusst. Auch dann noch, als sie schon längst selbst lesen konnte, hatten sie dieses Ritual fortgeführt. Manchmal vermisste sie die guten alten Zeiten ganz schrecklich.

Das Gesicht ihres Vaters wurde ernst. Das tat es immer, wenn sie den Namen ihrer Schwester erwähnte. Denn für ihn war Abby so gut wie gestorben. Sie hatten nun schon seit fast sieben Jahren nichts von ihr gehört, da fühlte es sich manchmal sogar wirklich so an.

»Ich würde dann gerne weiterlesen, wenn es dir nichts ausmacht«, sagte ihr Dad.

Sie lächelte traurig, ließ ihn in Ruhe zurück nach New York kehren und ging in die Küche, um nach dem Walnusskuchenrezept ihrer Mutter zu suchen. So oft, wie sie den Kuchen backte, sollte sie es eigentlich längst auswendig kennen, und doch vergaß sie immer wieder die genauen Mengenangaben. Sie entdeckte es in einem der Ordner, die neben den Backbüchern standen, und legte es bereit. Sobald die ersten Nüsse reif waren, würde sie loslegen. Sie konnte den wunderbaren Duft, der dann durch das ganze Haus strömte, schon jetzt riechen.

Kapitel 5

Liam

Er war seit gut einer Woche unterwegs. Hatte den Rat seiner Mutter befolgt, sich in seinen Mustang gesetzt und war losgefahren. Auf der Rückbank zwei Koffer, deren Inhalt hoffentlich reichen würde.

Er war die Küste entlanggefahren. Erst durch Washington State, dann durch Oregon bis nach Kalifornien, wo er es schließlich etwas langsamer angehen ließ. Wo er die Aussicht und das Essen und die vielen Eindrücke genoss, wo er mit Menschen über ihre Geschichten sprach und wo er sich mehrere Walnussfarmen ansah. Er hatte Glück, gleich zwei Farmer erklärten sich bereit, ihm ihre Betriebe zu zeigen. Die Walnüsse waren so gut wie erntereif, ein paar einzelne waren bereits von den Bäumen gefallen, und er erkannte, dass mehr Nüsse am Boden lagen, je weiter er gen Süden reiste.

Was er von den Farmern erfuhr, enttäuschte ihn jedoch ein wenig. Es war nichts Neues, nichts, was er sich nicht auch schon im Internet angelesen hatte. Und so fuhr er weiter zu seinem Zielort: Riverside.

Die Stadt befand sich knapp eine Fahrstunde entfernt von Los Angeles, und er war gleich beeindruckt von der Stille und der Idylle, die dieser Ort ausstrahlte. Kein anderer, den er passiert hatte – nicht Portland, Mendocino, San Francisco, San José, Monterey, Carmel-by-the-Sea und ganz bestimmt nicht L.A. – hatte solch eine vollkommene Ruhe reflektiert. Es war nicht nur, dass es so schien, als verbat die Stadt sich jegliche Hektik, es war auch die Tatsache, dass er dort endlich seine Gedanken, die die ganze Fahrt über so wirr gewesen waren, ordnen konnte, weil alles um ihn herum still wurde. Mit einem breiten Lächeln, von dem er selbst überrascht war, fuhr er an diesem Freitag spätnachmittags zu dem Hotel, das er zuvor online gebucht hatte: das Mission Inn.

Das Mission Inn war einfach unglaublich. Er hatte schon gelesen, dass dort über die Jahre viele Prominente übernachtet hatten, wie etwa die Präsidenten Hoover, Kennedy, Nixon und Bush Jr., außerdem Albert Einstein, Amelia Earhart und sogar Joseph Pulitzer, was auch ein Grund dafür gewesen war, dass er sich für dieses Luxushotel entschieden hatte. Doch wie absolut fantastisch das Traditionshaus sein würde, hatte er nicht erwartet. Man betrat das Gelände durch einen steinernen Bogen, ging einen Weg entlang, der mit Blumen gesäumt war, und dann tauchte man ein in das unfassbar schöne, helle, vierstöckige Gebäude, das einen Mix aus Mission-Revival-Stil, Spanischer Gotik, Neorenaissance und einem Hauch Orientalischem in sich vereinte. Natürlich war das Ganze, wie auch der Rest der Umgebung, in hellen Farben gehalten. Hier und da gab es ein paar rote und braune Akzente, und als er sich umsah, entdeckte er Arkaden, Burgtürme, Kuppeln und Balkone. Er konnte nur sprachlos den Kopf schütteln. Was für ein Ort!

Selbstverständlich hatte Liam auch zu diesem Palast Recherchen angestellt, der von einem Bauingenieur namens Christopher Columbus Miller eröffnet worden war. Das war im Jahre 1876 gewesen, um die Einhundertjahrfeier herum, und das Mission Inn war damals eine Art kleine Pension mit dem Namen Glenwood Hotel gewesen. Erst gut fünfundzwanzig Jahre später hatte Millers Sohn anbauen lassen und das Haus zu dem gemacht, was es heute war. Ein einzigartiges architektonisches Bauwerk, das jeden sofort in seinen Bann zog – zumindest glaubte Liam das. Um ihn war es bereits in der allerersten Sekunde geschehen.

Er checkte ein und fragte nach einem Zimmer im Spanischen Flügel. Ein einfaches für knapp zweihundert Dollar die Nacht reichte ihm, er brauchte keine Präsidentensuite, die mehr als das Dreifache kostete. Nachdem er seine Koffer aufs Zimmer gebracht hatte, machte er einen Rundgang. Als erfolgreicher Autor, der vom Personal auch gleich erkannt wurde, kam er in den Genuss einer privaten Führung. Der Hoteldirektor höchstpersönlich führte ihn herum, zeigte ihm den Garten, den Innenhof, die vier Restaurants und den Pool. Doch erst, als sie das hauseigene Museum betraten, wurde Liam so richtig bewusst, wie groß das Mission Inn wirklich war – Hotel und Museum nahmen den gesamten Block ein. Der Direktor, der auch noch den passenden Namen Mr. Holiday trug, erzählte ihm, dass in seinem Hotel sogar schon Filme gedreht wurden, als Beispiel nannte er unter anderem Der Mann in der eisernen Maske. Dann zeigte er ihm eine Sammlung feinster antiker Mitbringsel ferner Länder.

»Frank Miller, der Sohn des Hotelgründers, der es Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ausbauen ließ, bereiste gerne die Welt und brachte von überall etwas mit. Der Umbau dauerte ganze dreißig Jahre.«

Liam wusste dies bereits, doch er tat erstaunt, um dem netten und sehr bemühten Herrn nicht die Show zu stehlen. »Was Sie nicht sagen.«

»Ja, ja. Und jetzt machen Sie sich auf etwas gefasst«, sagte Mr. Holiday und brachte ihn weiter zu den Katakomben.

»Du meine Güte! Das ist ja der Wahnsinn! Ich fühle mich wie im mittelalterlichen Madrid!«

»Nicht wahr? Das war aber noch nicht alles. Sehen Sie!« Er öffnete eine Tür und geleitete ihn zu einer Kapelle, der St. Francis of Assisi Chapel.

»Wow! Sind das echte Tiffany-Mosaike?«, fragte Liam beeindruckt.

Sein Rundführer nickte stolz. »Oh ja. Und der Altar ist mit echtem Blattgold überzogen. Aber das wohl Bedeutendste ist dieses hier.« Er brachte ihn hinaus und zu einer Sammlung von Glocken, die überall, wohin man nur sah, aufgehängt und -gestellt waren. Dies musste der Garden of Bells sein, von dem er gelesen hatte. Mr. Holiday deutete auf eine bestimmte und atmete für den Spannungseffekt einmal tief ein. »Dieses gute Stück von 1247 wird als die älteste noch erhaltene Glocke des Christentums bezeichnet.«

»Das ist ja unfassbar. Darf ich das in meinem Buch erwähnen?«, fragte er, um sich zu revanchieren dafür, dass er all diese Schätze zu sehen bekam.

»Sie dürfen.« Der Mann lächelte breit, und Liam lächelte zurück. Dann bedankte er sich und wollte sich schon verabschieden, als ihm noch eine Frage einfiel.

»Sagen Sie, ist es von hier aus weit bis zur Lloyd-Farm? Sie wissen, wovon ich spreche? Die älteste Walnussfarm Kaliforniens?«

»Aber natürlich, aber natürlich. Oho, in Ihrem neuen Werk soll es also um Walnüsse gehen?«

»Unter anderem, ja. Kennen Sie die Farm?«

»Ja, das tue ich. Selbstverständlich. Sie ist nicht weit von hier. Vielleicht eine Viertelstunde südöstlich.«

»Oh, doch so nah. Haben Sie vielen Dank, Mr. Holiday. Ich werde jetzt etwas essen gehen und mich dann in mein traumhaftes Zimmer begeben.«

»Wenn ich Ihnen etwas empfehlen darf: Unser Duane’s Prime Steaks & Seafood serviert die besten Escargots der Stadt.«

»Ähm. Ich bin eher nicht so der Typ für Schnecken«, gab er zu und schüttelte sich innerlich.

»Sie bieten auch ein köstliches Filet Mignon an.«

»Okay, danke für den Hinweis«, sagte er und machte, dass er wegkam. Schickimicki-Hotels, okay, aber Feinschmeckerrestaurants waren noch nie seins gewesen. Weshalb er jetzt das Gelände verließ, die Straße überquerte und beim Italiener an der Ecke eine Pizza bestellte.

Am nächsten Morgen schlief er länger als geplant. Er hatte in der Nacht einen wundervollen Traum gehabt, in dem er durch ein Feld mit Millionen von Walnussbäumen spazierte, und war nun voller Vorfreude. Er zog sich sein übliches Outfit an: eine dunkle Anzughose und ein helles Hemd, heute mal ein blaues. Das Jackett ließ er wegen der Hitze weg. Er krempelte sich die Ärmel hoch, stylte sich das kurze blondgelockte Haar und machte sich auf den Weg. Zuerst hielt er an einem Café, denn das Frühstück war ihm heilig. Er bestellte ein Müsli ohne Rosinen, wofür er von der Kellnerin einen abschätzigen Blick erntete – sie stand wohl auf Rosinen –, und einen Milchkaffee. Danach war er bereit.

Allein schon aus der Stadt heraus und durch die Landschaft zu fahren war wunderbar. Vorwiegend wurden in der Gegend Orangen angebaut, und der Anblick der vielen Farmen weckte in ihm gleich den Wunsch, irgendwann auch einmal die Orange zur Namensgeberin eines seiner Bücher zu machen. Orangentage klang doch nicht schlecht, oder?

Das Glücksgefühl nahm noch zu, je näher er der Farm kam. Irgendwie spürte er, dass er dort genau das finden würde, wonach er suchte.

Als er seinen Mustang geparkt hatte und ausstieg, fühlte er sich kurz ein wenig verloren. Doch dann ging Liam einfach an dem mittelgroßen weißgestrichenen Haus vorbei und auf die vielen Bäume zu, die ganz verlassen dastanden, und musste lächeln. Denn er wusste, bald würde es hier ganz anders aussehen, es würde sehr geschäftig zugehen mit vielen Erntehelfern, die Walnüsse pflückten, mexikanische Lieder sangen und dankbar ihrer Arbeit nachgingen. Zumindest stellte er es sich so in Gedanken vor.

Auf einmal öffnete sich die hintere Tür vom Haus, dem Wohnhaus der Familie Lloyd höchstwahrscheinlich. Eine noch ziemlich junge Frau trat heraus und blieb auf der Veranda stehen. Vielleicht war sie Mitte zwanzig, älter auf keinen Fall. Sie war schlank, aber nicht dürr, und trug Jeans, eine kurzärmelige roséfarbene Bluse und trotz der Hitze Boots. Sie hatte langes, lockiges dunkelbraunes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, und zarte Gesichtszüge – auch wenn sie ihn jetzt eher ernst ansah.

»Kann ich Ihnen helfen?«, rief sie ihm zu und kam ihm dann entgegen.

»Ja. Ich suche die Familie Lloyd oder irgendeinen Ansprechpartner der Farm.«

»Ich bin Victoria Lloyd. Um was geht es denn?« Jetzt sah sie, wenn möglich, noch ernster aus. Oje. Was befürchtete sie denn? Dass er ein Steuereintreiber war oder Ähnliches?

»Mein Name ist Liam Sanders«, sagte er und hielt ihr seine Hand hin.

Normalerweise machte es bei den Leuten sofort Klick, wenn sie seinen Namen hörten. Schon klar, selbst als berühmter Autor war man nicht so bekannt wie etwa ein Filmstar, zumindest nicht, was das Äußere anging, weshalb viele oft nicht wussten, wen sie vor sich hatten. Sobald er sich jedoch vorstellte, sah die Sache anders aus.

Hier allerdings nicht. Überhaupt nicht.

»Mr. Sanders. Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Victoria Lloyd, nachdem sie seine Hand geschüttelt hatte. Auf ihrer Stirn lagen jetzt so tiefe Falten, dass man darin sicher ein paar Walnüsse hätte verstecken können.

Er lachte. »Sie wissen nicht, wer ich bin, richtig?«

»Sollte ich?« Sie stemmte die Hände in die Hüften. Wieder musste er lachen. Sie war einfach entzückend. Und er kam sich gerade ziemlich idiotisch vor. Und eingebildet – was er doch absolut nicht war!

»Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Sie nicht überfallen, und auf keinen Fall wollte ich arrogant klingen. Es ist nur so, dass die meisten Menschen mich kennen. Es ist aber sehr erfrischend, dass das in diesem Fall mal nicht so ist.«

Das klang auch nicht weniger eingebildet. Er sollte einfach die Klappe halten.

»Na, und wer sind Sie denn nun?«, wollte sein Gegenüber wissen. Sie klang langsam eher genervt statt interessiert.

Höchste Zeit, sich richtig vorzustellen.

»Verzeihen Sie, ich wollte nicht … Also, ich bin Autor. Schriftsteller. Ich schreibe Romane, und mein nächster soll auf einer Walnussfarm spielen, weshalb ich gerade auf Recherchereise bin und mir einige Farmen ansehe. Bei meinen Nachforschungen bin ich darauf gestoßen, dass Ihre die älteste Walnussfarm von ganz Kalifornien ist. Ist das richtig?«

»Ob das wirklich stimmt, weiß ich nicht. Man sagt es sich. Und mein Dad erzählt es auch gerne jedem, der es hören will.«

»Oh. Ich würde mich gerne mit Ihrem Dad unterhalten. Ist er zufällig in der Nähe?«

»Er sitzt mit seinen Kumpels vor einem Café und versucht, Frauen aufzureißen.« Sie rollte die Augen.

Wieder einmal musste er lachen. »Er tut was?«