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Zwischen sanften Wellen, goldenem Sand und duftenden Rosen sucht Iris nach einem Neuanfang
Iris ist glücklich. Als Künstlerin hat sie in Boston eine gewisse Berühmtheit erlangt, sie lebt mit ihrer großen Liebe Tristan zusammen und hat mit Mia die beste Freundin an ihrer Seite, die sie sich nur wünschen kann.
Und dann zerbricht Iris‘ Glück in tausend Scherben, als sie mit einem Schlag beide Menschen verliert, die sie am meisten geliebt hat. Iris wird von Trauer und Schuldgefühlen überwältigt. Sie sucht Zuflucht bei ihrer geliebten Grandma June auf Martha's Vineyard, wo sie neuen Lebensmut findet. Ob der magische Ort mit den weiten Stränden und sanften Wellen dafür sorgen wird, dass sie sich irgendwann auch der Liebe wieder öffnen kann?
Der erste Band der gefühlvollen „Coastlines“-Reihe
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Seitenzahl: 456
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Buch
Sie setzte sich an den Strand, mitten in den kalten Sand, und hier war sie ganz allein an diesem Samstagmorgen um sieben Uhr. Lange saß sie da und starrte aufs Wasser, dachte an Mia, an ihre Freundschaft, an alles, was sie einmal gehabt hatten. Bis sich plötzlich das Meer teilte und jemand auf sie zukam. Es war ein Mann in einem Taucheranzug, der aus dem Wasser gestapft kam, sich die Maske mitsamt der Sauerstoffflasche abnahm und beides in den Sand legte. Er streckte sich und straffte die Schultern, fuhr sich mit der Hand über das nasse Haar und den Bart. Und da erkannte sie ihn. Er nahm seine Sachen und ging ein paar Schritte. Im nächsten Moment entdeckte er sie und lächelte nur eine Sekunde später, als er sie nämlich auch erkannte.
Die Autorin
Manuela Inusa wurde 1981 in Hamburg geboren und wollte schon als Kind Autorin werden. Kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag sagte sich die gelernte Fremdsprachenkorrespondentin: »Jetzt oder nie!« Seither verzaubert sie ihre Leser*innen regelmäßig mit gefühlvollen Romanen. Mit ihrer erfolgreichen Valerie Lane-Reihe, den Kalifornischen Träumen und Lake Paradise eroberte sie die Bestsellerlisten im Sturm. Die Autorin liebt es zu reisen, liest vorzugsweise Thriller und trinkt am liebsten Tee. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in ihrer Heimatstadt.
Manuela Inusa
Blumenmeere
Roman
WILHELMHEYNEVERLAG
MÜNCHEN
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Originalausgabe 03/2025
Copyright © 2025 by Manuela Inusa
Copyright © 2025 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Daniela Bühl
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (Александр Плисик, Iman, LOV, vetre, MNStudio, missisya)
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-32276-2V001
www.heyne.de
Für Sibah – meine Insel
Prolog
Boston, 19 Jahre zuvor
Iris zeichnete eine Blume in ihr Matheheft, während ihre Mitschüler die Aufgaben lösten. Sie mochte Mathe nicht und fand, es gab bessere Dinge, mit denen man sich die Zeit vertreiben konnte. Also zeichnete sie Blumen. Am liebsten Iris und Veilchen, denn nach denen waren sie und ihre Schwester benannt. Manchmal auch Mohnblumen, Gänseblümchen und Astern, nach denen ihre Cousinen benannt waren. Und ganz selten sogar eine Lilie. Weil Lily der Name ihrer Mutter war.
Iris hatte ihre Mom schon seit anderthalb Jahren nicht mehr gesehen. Genauer gesagt seit achtzehn Monaten, sieben Tagen und fünf Stunden. Als sie und ihre Schwester an jenem Freitag von der Schule nach Hause gekommen waren, war ihre Mom einfach nicht mehr da gewesen. Ihre Sachen waren weg und ein Brief lag auf dem Küchentisch. Darin ließ Lily ihre Töchter wissen, dass sie fortgegangen war und die beiden sich an ihre Grandma wenden sollten. Von da an lebten Iris und Violet also bei der Mutter ihrer Mutter und verbrachten viel Zeit in deren Blumenladen. Grandma June lehrte sie die Namen der verschiedenen Blumen, zeigte ihnen, wie man sie richtig pflegte und wie man sie zu Sträußen band. Manchmal nahm sie die Mädchen mit auf den Blumenmarkt, was besonders Violet begeisterte. Sie liebte es, die perfekten Blumen auszusuchen und daraus Sträuße und Gestecke zu fertigen. Iris dagegen zeichnete die Blumen lieber. Auch wenn sie noch lange nicht erwachsen war, wusste sie jetzt schon zwei Dinge: Sie wollte einmal Künstlerin werden und sie wollte niemals so werden wie ihre Mom.
Während sie nun einen blauen Buntstift zur Hand nahm, um die Blume auszumalen, hörte sie, wie ein paar Mädchen hinter ihr sich über die Neue lustig machten. Sie hieß Mia Walters und war erst vor ein paar Tagen auf ihre Schule gewechselt. Dass sie aus Salem hergezogen war, gab den Mädchen dummerweise Ansporn, sie als Hexe zu bezeichnen. Natürlich taten auch die rabenschwarzen Haare und die blasse Haut der Elfjährigen einiges dazu bei.
Iris fand ja eher, dass Mia aussah wie Schneewittchen.
Wenn sie sich selbst für eine Märchenprinzessin entscheiden dürfte, würde sie Arielle sein wollen. Denn Arielle hatte einen Vater, einen, der sie so sehr liebte, dass er sich sogar vor der bösen Meereshexe Ursula für sie aufopferte.
Doch Iris träumte gar nicht davon, eine Prinzessin zu sein. Weil sie schon lange wusste, dass das echte Leben nun mal kein Märchen war.
»Hexe!«, hörte sie Louisa Coleman der Neuen im Flüsterton zurufen. Kurz sah der Lehrer auf und blickte sich im Klassenzimmer um, widmete sich dann aber wieder den zu korrigierenden Mathetests der Parallelklasse.
Als es eine Viertelstunde später klingelte, klappte Iris ihr Heft zu, verstaute es in ihrem Rucksack und stand auf. Und als die dämliche Louisa Coleman an ihr vorbeiging, stellte sie ihr ein Bein, sodass sie hinfiel.
»Hey, was soll das, du blöde Kuh!«, kreischte Louisa, und ihr Gefolge, bestehend aus Mariah und Jennifer, kam ihr sofort zu Hilfe.
»Oh, sorry, das wollte ich nicht«, erwiderte Iris zuckersüß und ging dann aus dem Klassenzimmer. Dabei flüsterte sie: »Selber blöde Kuh.«
Mia grinste sie an und folgte ihr. »Danke«, sagte sie, als sie beide den Flur erreichten und nebeneinanderher schlenderten.
Sie grinste zurück. »Sie hat es mehr als verdient.«
»Wollen wir zusammen Mittag essen?«, fragte Mia.
»Klar.«
»Du heißt Iris, oder?«
»Japp. Ich heiße Iris, bin elf Jahre alt und lebe in einem Blumenladen«, stellte sie sich vor. Das mit dem Blumenladen stimmte zwar nicht ganz, aber zumindest fast. »Und was kannst du Spannendes über dich erzählen?«
»Ich heiße Mia, bin elf Jahre alt und komme aus einer gruseligen Hexenstadt.«
»Cool.«
»Findest du?«
»Total! Du hast bestimmt die besten Ideen für Halloween.«
»Könnte sein.« Mia strahlte sie an.
Iris strahlte ebenfalls und wusste bereits in dem Moment, dass dies der Beginn einer wunderbaren Freundschaft war.
1
Boston, heute
Sie stand vor dem Bild, das ein Mädchen mit einem Strauß blauer Veilchen in den Händen zeigte, und betrachtete es zufrieden. Dieses Bild war ihr das liebste, vielleicht, weil sie blaue Blumen schon immer allen anderen vorgezogen hatte, vielleicht aber auch, weil es sie an ihre Schwester Violet erinnerte, die ihr die ganze Welt bedeutete.
Sie spürte, wie Tristan von hinten an sie herantrat, und drehte sich in ihrem eng anliegenden schwarzen Kleid zu ihm um. »Hey«, sagte sie und schenkte ihm ein Lächeln. »Hast du was zu trinken gefunden?«
Tristan, der einen maßgeschneiderten dunkelgrauen Anzug trug, reichte ihr ein weiteres Glas Champagner. Er selbst hielt etwas in der Hand, das nach einem Smoothie aussah.
»Ja, zum Glück haben sie hier auch was Gesundes.«
Sie musste innerlich schmunzeln. Das war typisch Tristan. Er war so ein Gesundheitsfanatiker – ganz anders als sie. Doch bei ihnen beiden traf tatsächlich das wohlbekannte Sprichwort zu, dass Gegensätze sich anzogen.
Tristan legte einen Arm um ihre Hüfte und studierte das Bild ihrer neuen Serie, das sich die letzten Monate noch in ihrem Atelier befunden hatte, jetzt aber in dieser wunderschönen Galerie aushing. Der Abend war allein ihren Werken gewidmet, etwas, wovon Iris noch vor wenigen Jahren nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Zumal sich die Galerie auch noch in der angesagten Newbury Street in Bostons Back Bay befand, wo praktisch jeder Künstler gern ausgestellt werden würde. Die Vernissage an diesem Freitagabend war nun die Eröffnung der dreiwöchigen Ausstellung, auf der Iris ihre achtzehn Blumenmädchen präsentieren durfte.
»Ich bin ungemein stolz auf dich«, sagte Tristan.
Iris konnte nur erneut lächeln und wusste jetzt schon, dass sie das an diesem wunderbaren Abend noch sehr oft tun würde.
Violet und Mia traten zu ihnen. Ihre Schwester umarmte sie zum wiederholten Mal. »Ich kann es noch immer nicht glauben! Eine ganze Galerie voll mit deinen Bildern!«, sagte sie überwältigt.
»Ja, ich denke auch immer noch, ich träume«, erwiderte Iris.
»Und diese Blumenmädchen …« Violet schüttelte fassungslos den Kopf. »Wie real die wirken. Ich meine, das Veilchenmädchen sieht genauso aus wie ich als Siebenjährige.«
Iris nickte selig. Das war ihr in Bezug auf diese Serie schon des Öfteren gesagt worden. Dass die Mädchen so wirklichkeitsgetreu erschienen und die Gesichter so ausdrucksstark.
Mia legte den Kopf ein wenig schräg und schließlich grübelnd einen Finger ans Kinn. »Warum noch mal lächelt keines dieser Mädchen?«
»Weil nun mal nicht alle kleinen Mädchen glücklich sind«, erklärte sie. »Lächelnde Kinder zeichnen kann jeder, ich aber habe es auf das Besondere abgesehen.«
»Deprimierte kleine Geschöpfe?«, fragte Mia, doch sie schmunzelte dabei, und Iris wusste, dass ihre Freundin sie nur ein wenig necken wollte.
Sie stupste sie an. »Hey, pass auf, was du sagst, sonst lade ich dich nie wieder auf eine meiner Vernissagen ein.«
»Na, du bist ja zuversichtlich«, meinte Mia mit ihrem typischen trockenen Humor.
»Gleich schütte ich dir meinen Champagner ins Gesicht«, drohte Iris, und Tristan musste lachen.
Wahrscheinlich hätte er das zu gern gesehen. Es war nicht so, dass er und Mia sich nicht mochten, aber warm geworden waren die beiden auch nie so richtig miteinander. Es gab zwischen ihnen nach wie vor eine gewisse Distanz. Vielleicht lag es daran, dass Tristan mit Mias neckischer Art nicht klarkam oder daran, dass sie kurz mal für ihn geschwärmt hatte, bevor Iris und er ein Paar wurden. Vielleicht aber waren die beiden einfach nur zu unterschiedlich, um beste Freunde werden zu können. Und das fand Iris auch gar nicht weiter schlimm, die Hauptsache war doch, dass sie ihr zuliebe miteinander auskamen. Etwas anderes hätte sowieso nicht funktioniert, gehörten die beiden doch zu den wichtigsten Menschen in ihrem Leben.
»Grandma June hat mir übrigens den größten Blumenstrauß geschickt, den ihr euch vorstellen könnt«, fiel ihr da ein.
»Er ist beachtlich. Wir haben nicht einmal eine passende Vase dafür gefunden und mussten ihn in einen Eimer stellen«, fügte Tristan hinzu.
»Typisch June«, meinte Mia.
»Hey, was? Grandma hat dir Blumen geschickt?«, meldete sich Violet empört zu Wort. Immerhin hatte sie erst vor Kurzem den Blumenladen ihrer Großmutter übernommen, und diese Blumen waren offensichtlich nicht bei ihr bestellt worden.
»Es sind ganz besondere«, beschwichtigte Iris sie sogleich. »Welche, die nur auf Martha’s Vineyard wachsen oder so.« Dorthin war Grandma June vor einigen Wochen gezogen, um sich zur Ruhe zu setzen. Sie alle konnten noch immer nicht glauben, dass die alte Dame Boston den Rücken gekehrt hatte. Und sie wussten, dass sie das niemals getan hätte, wäre June’s Flowers nicht in der Familie geblieben.
»Na dann …«, sagte ihre Schwester, die eine würdige Nachfolgerin war, wie Iris fand. Schließlich fragte Violet Mia, ob sie sich noch ein Glas Champagner holen wollten.
»Bei Champagner sage ich nie Nein«, erwiderte die und hakte sich bei Violet ein. »Wollt ihr auch noch etwas? Tristan? Noch so ein schleimiges grünes Getränk?« Sie zwinkerte Tristan zu.
Er bedachte Mia mit einem nicht sehr belustigten Blick. »Nein danke, ich bin versorgt.«
Mia und Violet schlenderten davon, Tristan sah den beiden kurz kopfschüttelnd hinterher und schenkte seine Aufmerksamkeit wieder ganz Iris. »Meiner bescheidenen Meinung nach hättest du noch einen viel größeren Blumenstrauß verdient. Nein, eine ganze Wagenladung voll.«
»So süß von dir«, erwiderte sie und drückte ihm einen dicken Kuss auf den Mund.
Eine Minute später sah sie Nicole Myers, die Inhaberin der Bay Gallery, auf sich zukommen. Die Frau strahlte förmlich.
»Wir haben gerade ein weiteres Bild verkauft«, verkündete sie mit leiser Stimme, als sie sie erreicht hatte. Es war bereits das dritte Bild des Abends. Das dritte, das einen roten Klebepunkt erhielt.
»Das ist ja großartig!«
»Ich gratuliere!«, sagte Tristan und zog sie noch ein wenig näher an sich.
»Tut mir leid, euch Turteltauben trennen zu müssen«, meinte Nicole dann. »Aber Iris, da möchte dich jemand kennenlernen, ein wirklich bedeutender Kunstprofessor. Kommst du kurz mit?«
»Ja, klar.« Sie sah sich schnell nach Violet und Mia um und entdeckte sie am anderen Ende des Raums. »Vielleicht magst du dich zu den beiden gesellen? Ich bin gleich wieder bei dir«, sagte sie zu Tristan und folgte Nicole.
»Darf ich bekannt machen?«, meinte die Galeristin kurz darauf, während ein ergrauter älterer Herr Iris schon die Hand schüttelte. »Die Künstlerin des Abends: Iris Hill.«
»Sehr erfreut«, sagte der Mann, den Nicole ihr sogleich als William Carlile vorstellte und der nicht nur Professor an der School of Visual Arts in Boston war, sondern auch ein begeisterter Kunstsammler. »Ich habe gerade schon zu meiner Frau gesagt, dass ich es grandios finde, wie realitätsgetreu Ihre Bilder wirken. Und meine Frau meinte … Barbara, erzähl es ihr selbst.«
Barbara, die Frau, ebenfalls Kunstkennerin, ergriff das Wort. »Also, mich beeindrucken besonders die Augen. Dass Sie sie überdimensional gemalt haben, ist zwar ein Charakterzug, den ich schon bei einigen Künstlern gesehen habe, und doch erkenne ich, je länger ich Ihre Bilder betrachte, die Besonderheit Ihrer Arbeit. Ich bin schwer beeindruckt: Was Sie den Mädchen in den Blick gelegt haben, Miss Hill, ist außergewöhnlich. Diese Tiefe – das habe ich nur selten erlebt, höchstens noch bei Margaret Keane. Man kann überhaupt nicht mehr wegsehen, will ergründen, was im Innern der Mädchen versteckt liegt. Möchte ihre Geschichten erfahren.«
Iris kribbelte es am ganzen Körper. Mit Margaret Keane verglichen zu werden, war einfach nur überwältigend. Sie bewunderte die Malerin nämlich sehr, ihr Lieblingsbild von ihr war In the Garden von 1964, das ein kleines, trauriges Mädchen inmitten von Blumen zeigte.
Der Professor nickte zustimmend. »Ja, ich gebe meiner Frau recht. Und ich muss Sie einfach fragen: Was ist die Geschichte dieses Mädchens?« Er deutete auf das Sonnenblumenmädchen, vor dem sie standen.
Iris lächelte verzückt, und sie nahm aus dem Augenwinkel wahr, dass Nicole ebenso angetan war von dem Interesse des Ehepaars. »Es tut mir leid, aber wenn ich Ihnen das erzählen würde, dann würde ich dem Ganzen ja den Reiz nehmen. Blicken Sie tief und erkennen Sie selbst, was die Mädchen Ihnen zu erzählen haben.«
»Wie gemein von Ihnen«, sagte der Professor, lachte aber dabei und nahm es ihr nicht übel. Wahrscheinlich war er es gewohnt, dass Künstler ihre Geheimnisse hatten. Ohne diese wäre die Kunst doch eine viel langweiligere und durchschaubarere Angelegenheit.
»Trinken Sie ein Glas Champagner mit uns?«, fragte der Professor, und seine Frau schalt ihn: »Nun versuch aber nicht, die junge Dame abzufüllen, nur um ihr eventuell doch noch etwas zu entlocken.«
»Das würde ich nie wagen!«, sagte William Carlile. »Aber auf solch eine gelungene Ausstellung muss man einfach anstoßen.«
Da stimmte Iris ihm zu und als sie nun ein weiteres Glas entgegennahm, war sie froh, dass Tristan nur grüne Smoothies trank und sie am Ende des Abends sicher nach Hause bringen würde.
Sie blickte sich nach ihm um. Er stand bei Violet, Mia und einem Mann mit Elvis-Tolle. Die vier schienen sich gut zu amüsieren, ebenso wie alle anderen, und Iris konnte sich nur über den Erfolg ihrer ersten Vernissage freuen.
Es waren vielleicht nicht alle kleinen Mädchen glücklich, aber sie war es an diesem Abend, und dieses Gefühl würde sie noch eine ganze Weile begleiten, da war sie sich sicher.
2
Nachdem Iris sich noch mit einigen anderen Kunstinteressierten, Händlern und Pressevertretern unterhalten und ein weiteres Mal mit Mia, Violet und Tristan angestoßen hatte, verabschiedeten sie sich voneinander und machten sich auf den Heimweg.
»Wow!«, sagte Tristan, als sie im Auto saßen. »Ich habe ja gewusst, dass deine Bilder außergewöhnlich sind, aber nicht, dass sie so extrem gut ankommen würden.«
»Ich sag’s doch: Die Blumenmädchen waren die beste Entscheidung aller Zeiten.«
Sie hatte die Idee dazu gehabt, als sie im letzten Jahr auf der Hochzeit ihrer Freundin Andrea gewesen war und dort zwei niedliche Blumenmädchen dabei beobachtet hatte, wie sie der Braut auf dem Weg zum Altar bunte Blütenblätter vor die Füße gestreut hatten. Gleich am nächsten Tag hatte sie sich an eine leere Leinwand gesetzt und sich darangemacht, das erste Mädchen zu malen. In den folgenden Wochen waren es immer mehr geworden, darunter waren kleine Mädchen mit Blumensträußen, Blumenkörben oder auch mal einer einzelnen Blume in der Hand. Einige trugen einen Blumenkranz auf dem Kopf, andere standen auf einem Teppich aus Blumen. Und immer hatten die Mädchen einen ernsten Gesichtsausdruck und tiefgründige, leicht überdimensionale Augen. Als Iris sich mit den ersten Bildern an einige Galerien der Umgebung gewandt hatte, war sie ganz überrascht von deren Resonanz gewesen. Und so hatte die Sache ihren Lauf genommen. Inzwischen waren siebenundzwanzig Blumenmädchen-Bilder entstanden, die in vier Galerien in Boston und Umgebung aushingen. Sieben waren bisher verkauft gewesen, für zweitausend Dollar und mehr pro Bild, und weitere sechs waren heute Abend hinzugekommen. Es war also Zeit, neue zu malen.
»Wie viele davon willst du denn noch malen?«, hatte Mia sie erst kürzlich beim gemeinsamen Lunch gefragt.
»Na, bis es mir keinen Spaß mehr macht«, hatte sie geantwortet. »Oder bis die Leute keine Blumenmädchen mehr haben wollen. Aber so lange male ich weiterhin welche.« Und zwar, wann immer sie die Muse küsste. Und das konnte auch mal mitten in der Nacht sein.
Iris sah zu Tristan, der sich auf die Straße konzentrierte. Sie war so froh, dass es ihm nichts ausmachte, wenn sie hin und wieder die Nächte durch malte und dafür bis mittags schlief. Obwohl er doch selbst so ein durchstrukturierter Mensch war. Tristan war Steuerberater und Montag bis Freitag von neun bis fünf im Büro. Oft brachte er sich auch Arbeit mit nach Hause, was ihn aber nicht davon abhielt, jeden Tag zwischen sechs und sieben zu Abend zu essen und um halb elf ins Bett zu gehen, nur um am nächsten Morgen um Punkt sieben Uhr eine Runde zu laufen.
»Tut mir leid, dass es so spät geworden ist«, sagte sie, als sie über die Brücke rüber nach Charlestown fuhren, wo sich ihre Dreizimmer-Altbauwohnung befand. Tristan träumte ja von einem Reihenhaus, aber Iris war ganz zufrieden mit ihrem Heim, das ihr vor allem dieses großartige Zimmer mit den bodentiefen Fenstern bot, das sie in ein Atelier umgewandelt hatte.
»Kein Problem«, erwiderte Tristan, nachdem er einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett geworfen hatte. Es war bereits Viertel nach elf, obwohl die Vernissage nur bis zehn hätte gehen sollen.
»Vielleicht lässt du ja das Joggen morgen einfach mal ausfallen«, schlug sie vor und erntete daraufhin einen ungläubigen Blick von ihrem Freund.
»Kennst du mich so schlecht?«, fragte er.
»Okay, du hast recht. Wie konnte ich nur annehmen, du würdest lieber mal ausschlafen wollen?«, fragte sie lachend. Es war wirklich ein dummer Vorschlag gewesen, denn in den dreieinhalb Jahren, die sie nun schon mit Tristan zusammen war, hatte er das Joggen noch nie ausfallen lassen.
Er grinste zurück und kam dann wieder auf die Vernissage zu sprechen. »Du, da waren ja ein paar höchst angetane Leute dabei heute Abend.«
»Ja, und es hat sich einfach nur toll angefühlt, so gelobt zu werden.« Sie merkte, wie ihr bei dem Gedanken daran erneut ein paar Schmetterlinge durch den Bauch flatterten. »Sorry, dass ich ständig in Gespräche verwickelt war. Ich hoffe, du hast dich trotzdem gut unterhalten können? Ich habe gesehen, ihr habt euch zu Trance Jones gesellt?«
»Der mit der Elvis-Tolle?«
Sie musste lachen. »Ja, genau der. Er ist ein weiterer Künstler, den Nicole manchmal ausstellt, und schon ein wenig schräg. Hat er euch erzählt, was er malt?«
Tristan hielt an einer Ampel und schüttelte den Kopf.
»Rate mal!«, forderte sie ihn auf.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Bilder von Rock’n’Roll-Sängern vielleicht?«
»Knapp daneben. Bilder von Ziegen.«
Tristan starrte sie an. »Dein Ernst?«
»Mein absoluter Ernst. Und auf jeder seiner Vernissagen gibt es Ziegenkäse.«
»Das ist echt schräg.«
Sie lachte. »Sag ich ja.«
Tristan fuhr sich durchs schwarze Haar, das er wie immer mit Seitenscheitel trug. »Schade, dass deine Grandma heute Abend nicht dabei war«, meinte er.
Grandma June hatte kommen wollen – natürlich, denn es war der große Abend ihrer Enkelin –, aber dann wurde sie von einer Erkältung heimgesucht und hatte sich zu schwach gefühlt.
»Ach, gar nicht schlimm. Ich sehe Grandma doch bald.«
Heute in einer Woche wollte sie nach Martha’s Vineyard fahren, um Grandma June in ihrem neuen Heim zu besuchen. Diese hatte nämlich zu einer Einweihungsparty eingeladen. Auf die Insel. Nach Oak Bluffs, wo sie ihren Lebensabend verbringen wollte.
Iris hatte von Oak Bluffs vorher noch nie etwas gehört, und auch als Grandma June sie darüber informierte, dass dort das älteste Karussell der USA stehen würde, sagte ihr das nicht viel mehr. Nächste Woche allerdings sollte sie nun herausfinden, in welches schöne Städtchen es ihre Grandma verschlagen hatte. Und dass es äußerst schön war, hatte diese ihr schon etliche Male am Telefon erzählt, wenn sie sich wieder einmal nach ihrem Befinden, ihren Bildern, Mia und Tristan erkundigt hatte. Sie war aus dem Schwärmen gar nicht herausgekommen und Iris war schon sehr gespannt und freute sich auf das Wochenende. Vor allem, weil auch Violet und ihre Cousinen mit von der Partie waren. Zusammen würden sie sicher eine wunderbare Zeit verbringen, mit Grandma June, die sie alle verwöhnen würde, wo sie nur konnte. Die Gute hatte neben dem Blumenbinden nämlich noch zwei weitere Talente: das Kochen und das Backen. Fähigkeiten, die sie Iris leider nicht vererbt hatte. Sie selbst war die schlimmste Köchin aller Zeiten, weshalb sie es irgendwann aufgegeben hatte und entweder unterwegs etwas aß oder es sich liefern ließ. Tristan hatte sich damit abgefunden, dass seine Liebste ihn nicht bekochte. So, wie sie sich damit abgefunden hatte, dass er immer nur gesund aß und das nie nach sieben Uhr abends. Wenn man jemanden liebte, lebte man mit diesen kleinen Macken.
»Du kannst es bestimmt kaum erwarten, alle wiederzusehen, oder?«, fragte Tristan. Ihre drei Cousinen Poppy, Daisy und Aster, die inzwischen in New York lebten, hatte Iris schon eine ganze Weile nicht gesehen. Dass sie ebenfalls nach Blumen benannt waren, rührte daher, dass Grandma June sich von ihren Töchtern Lily und Dahlia gewünscht hatte, sie würden diese Tradition, die sie eingeführt hatte, bei ihren eigenen Kindern fortführen. Es musste dann Schicksal gewesen sein, dass beide ausschließlich Mädchen zur Welt gebracht hatten, denn es wäre schwierig geworden, einen passenden Blumennamen für einen Jungen zu finden.
Iris musste gestehen, dass sie sich richtig auf dieses Frauenwochenende freute, und auch, dass es ihr gar nicht so viel ausmachte, Tristan nicht dabeizuhaben.
»Ich zähle schon die Stunden«, sagte sie. »Und ich hoffe, du bist nicht enttäuscht, dass du nicht mitkommen kannst. Aber wir kommen alle ohne unsere Partner.«
»Mach dir keine Gedanken. Ich bin eh nicht so scharf darauf, ein Wochenende mit Klatsch und Tratsch und Frauenfilmen zu verbringen.«
Sie grinste breit. Denn Tristan hatte recht, genau so würde es sicher ablaufen. Und neben Klatsch und Tratsch und Frauenfilmen würde es Massen an leckerem Essen geben und jede Menge köstlicher Kuchen. Denn wenn Grandma June Kuchen backte, dann backte sie selten nur eine Sorte.
»Es wird außerdem haufenweise ungesunde Sachen geben, das wäre eh nicht dein Ding«, sagte sie zu Tristan, der das Gesicht verzog.
»Keine Sorge, ich werde mich schon zu beschäftigen wissen. Ich nehme mir Arbeit mit nach Hause, bestelle mir eine Protein-Bowl von Mister Greenhead und sehe mir noch mal A Beautiful Mind an oder etwas in der Art.«
»Das klingt nach einem guten Plan«, sagte sie und wurde kurz ein wenig traurig. Denn sie musste an Mia denken.
Auch wenn sie wegen Tristan nicht allzu betrübt war, war sie das doch wegen ihrer besten Freundin. Denn sie beide waren seit der sechsten Klasse unzertrennlich und Mia war seither bei jeder Familienfeier mit dabei. Grandma June behandelte sie fast wie eine weitere Enkelin, und sie würde sehr bekümmert sein, wenn sie nicht mitkam. Erst hatte Mia es fest vorgehabt, im Moment sah es allerdings danach aus, als würde ihr die Arbeit einen Strich durch die Rechnung machen. Leider musste sie als Raumausstatterin oft auch am Wochenende bereitstehen und glaubte nicht, dass sie den Auftrag noch vor dem Familientreffen fertigbringen würde. Das hatte Mia ihr heute Abend gestanden und es hatte ihr eine Sekunde die gute Laune verdorben. Dann hatte sie aber beschlossen, die Hoffnung nicht aufzugeben und es vor allem Grandma June noch nicht zu sagen. Vielleicht schaffte ihre Freundin es ja am Ende doch.
Wie auch immer es ausgehen würde, Iris freute sich darauf, ihre Grandma nach acht Wochen endlich wiederzusehen, und sie würden das Beste aus der gemeinsamen Zeit machen.
Sie parkten am Straßenrand, Iris stieg in ihren Sieben-Zentimeter-Pumps aus dem Wagen und nahm die Hand, die Tristan ihr reichte.
»Danke, dass du heute Abend an meiner Seite warst«, sagte sie.
»Das hätte ich für nichts auf der Welt versäumen wollen«, erwiderte er und küsste sie sanft auf die Wange, während sie in dieser dunklen Bostoner Nacht die Straße überquerten.
3
Noch ein Pinselstrich hier, noch ein Farbklecks da, und schon bald würden die Blumenmädchen fertig sein. Ja, diesmal machte Iris eine Ausnahme und malte zwei Mädchen nebeneinander, eins mit einem Veilchen in der Hand und eins mit einer Iris. Sie hatte vor, es Grandma June zur Einweihung zu schenken und malte Tag und Nacht daran, um es rechtzeitig fertig zu bekommen. Sie stellte sich das Lächeln im Gesicht ihrer Grandma vor und wusste, dass es das wert war. Wer brauchte schon Schlaf, wenn er jemanden glücklich machen konnte?
Als es klingelte, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Sie wischte sich die Hände an dem alten Lappen ab, der immer bereitlag, und streckte sich. Denn das Handy befand sich ausgerechnet auf dem hintersten der drei kleinen Tische, auf denen ihre Malutensilien verteilt waren: Flachpinsel, Fächerpinsel, Rundpinsel, Winkelpinsel, Zeichenstifte, Farbpaletten, Farbtuben, Strukturpasten, verschiedene Spachtel, ein Wasserglas zum Vermischen der Ölfarben, Reinigungsseife für Pinsel, Reinigungspaste für die Hände und so weiter und so fort.
»Tristan?«, ging sie ran und wischte sich eine honigbraune Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Hey. Störe ich dich gerade?«
»Nein, nein, ich arbeite nur an dem Bild für Grandma. Was gibt’s?«
»Du wolltest mir doch geschrieben haben, was ich zum Dinner mitbringen soll.«
Sie sah auf die Uhr. »Ist es schon so spät? Sorry, ich habe wohl die Zeit vergessen.«
»Ich bin bereits auf dem Weg und wollte nur kurz hören, ob ich Thai oder Sushi besorgen soll.«
Pizza wäre noch besser, dachte sie. Da sie ja aber wusste, dass Tristan niemals welche essen würde, antwortete sie: »Sushi.«
»Wie gehabt? Avocado Maki und California Rolls?«
»Ja, bitte. Und Edamame.«
»Alles klar. Ich bin in einer Dreiviertelstunde da. Bist du bis dahin fertig für heute?«
»Oh nein, noch lange nicht. Aber ich mache eine Pause für dich.«
»Ich fühle mich geehrt.« Sie konnte Tristan lächeln sehen und sie freute sich auf einen gemeinsamen Abend mit ihm.
Eine Stunde später aßen sie bei Kerzenschein und Smooth Jazz, den Tristan gern hörte, Sushi. Was Iris an eines ihrer ersten Dates erinnerte, bei dem sie Tristan in seiner alten Wohnung in South Boston besucht und er ihnen ebenfalls Sushi bestellt hatte. Sie waren so wild am Knutschen gewesen, dass sie den Lieferboten beinahe nicht klingeln gehört hatten. Mit verwuscheltem Haar hatte Tristan ihm geöffnet und Iris hatte sich schlappgelacht.
Ganz so verspielt und ausgelassen waren ihre Abende nun nicht mehr. Dafür waren sie etwas anderem gewichen: Geborgenheit. Iris konnte sich Tristans Liebe sicher sein und wusste: Er war für sie da, wenn sie ihn brauchte, legte ihr die Welt zu Füßen und hatte ihr, als sie nach anderthalb Jahren Beziehung in die gemeinsame Wohnung gezogen waren, das dritte Zimmer überlassen, statt ein Büro für sich selbst daraus zu machen. Weil er wusste, wie viel die Kunst ihr bedeutete. Weil er sie verstand.
»Wie war dein Tag?«, fragte Tristan und nahm dabei gekonnt ein Nigiri mit den Stäbchen auf.
»Gut. Ich habe Dankesbriefe an die Gäste der Vernissage versendet, mit Grandma telefoniert und danach an ihrem Bild weitergemalt.«
»Hast du ihr schon verraten, dass du ihr eins malst?«
»Nein, das soll doch eine Überraschung werden!« Sie füllte sich Cola light und Tristan Wasser nach.
»Danke«, sagte er, und: »Sie wird sicher außer sich sein vor Freude.«
»Ganz bestimmt.« Sie lächelte, ließ eine Edamame-Schote aufploppen und sog die grünen Sojabohnen in ihren Mund. »Und wie war dein Tag?«
»Der war gut. Ein wenig stressig vielleicht, aber das ist ja nichts Neues.«
Iris konnte sich nicht vorstellen, einem geregelten Job nachzugehen, einem Bürojob wie Tristan, aber zu ihm passte es. Wenn sie ehrlich war, mochte sie ja gerade das an ihm. Dass er zuverlässig war und sich um sie kümmerte. Als Kind, nach dem Weggang ihrer Mutter, hatte sie lange unter Verlustängsten gelitten. Bei Tristan aber fühlte sie sich … sicher. Zu Hause. Als wäre sie angekommen. Und das war wunderbar.
Sie betrachtete Tristan, der mit seinem dunklen Haar, dem Seitenscheitel und der Brille ein wenig nerdig aussah. Ja, wie eine Mischung aus Genie und südländischem Macho. Und tatsächlich hatte er italienische Wurzeln, seine Großeltern väterlicherseits waren vor vielen Jahren aus Neapel in die USA eingewandert. Auf diese Tatsache war Tristan sehr stolz, auch wenn es leider nicht bewirkte, dass er mal ein paar Kohlenhydrate in Form von Pizza oder Pasta zu sich nehmen mochte.
»Morgen früh schüttelst du den Stress beim Laufen einfach ab«, sagte sie ihm.
»Exakt!« Er blickte sie an. »Ich wünschte, du würdest mal mitkommen«, sagte er, und das kam überraschend, denn so etwas hatte er schon lange nicht mehr geäußert. Als ihre Liebe noch frisch war, hatte er ein paarmal gesagt, dass er gerne gemeinsam mit ihr joggen würde. Aber zu diesem Zeitpunkt würden Paare ja am liebsten alles zusammen machen – damals hatten sie keine gemeinsame Dusche ausfallen lassen –, und Tristan hatte schnell gemerkt, dass sie eben nicht auf Sport stand. Sie hatten gelernt, einander zu nehmen, wie sie waren, mit allen Macken und Marotten, und genau das war ja so schön und hatte ihre Beziehung mit der Zeit immer stabiler gemacht.
»Tut mir leid, Schatz, aber mal abgesehen davon, dass ich Sport noch immer nicht besonders mag«, sagte sie und grinste, »werde ich bestimmt die ganze Nacht malen und morgen früh um sieben im Land der Träume sein.«
Tristan zuckte die Achseln, sagte aber nichts.
Während sie weiteraßen, kam ihr erneut die gemeinsame Dusche in den Sinn, und da sie etwas gutzumachen hatte, stand sie nach der letzten California Roll auf. »Mir fällt da vielleicht doch eine Sportart ein, die mir gefallen könnte. Komm mit.«
Tristans Mundwinkel zogen sich nach oben, er folgte ihr in die Dusche, und sie ließen alte Zeiten wieder aufleben – gemischt mit neuen, die noch so viel besser waren. Weil Vertrauen so wichtig war und Akzeptanz so essenziell. Weil Iris sich nicht vorstellen konnte, jemals wieder mit einem anderen Mann zu duschen oder Sushi zu essen oder zu einer Vernissage zu gehen. Weil sie immer nur Tristan als Erstes ein neues Bild zeigen, nur ihm einen Gutenachtkuss geben und nur mit ihm alt werden wollte.
Nur gut, dass sie ihr Sushi bereits gegessen hatten, denn sicher hätten sie auch heute den Lieferboten nicht gehört – oder sonst irgendetwas wahrgenommen außer einander.
4
»Bist du ganz sicher, dass du nicht mitkommen kannst?«, fragte Iris ihre beste Freundin zwei Tage später.
Es war Mittwoch, Mia machte gerade Mittagspause, und sie hatten sich im Public Garden getroffen, wo sie gemeinsam auf einer Bank saßen und ein Sandwich aßen.
»Es geht wirklich nicht«, sagte Mia bedauernd. »Du weißt, ich wäre unglaublich gern dabei, ich meine, allein von Daisy all die Details zu ihrer Verlobung und der geplanten Hochzeit zu hören, wäre bestimmt spannend. Und ich würde natürlich zu gern Junes neues Heim sehen, ihr ein paar Einrichtungstipps geben und so weiter, aber ich kann leider nicht an zwei Orten gleichzeitig sein. Und diesmal muss meine Arbeit einfach vorgehen.«
Iris seufzte. Sie verstand es ja. Mia arbeitete seit Wochen an einem wahren Traumprojekt. Sie gestaltete eine Stadtvilla in Beacon Hill komplett um, arbeitete immer dann, wenn sie nicht schlief, und hängte sich noch mehr rein, seit es in den Endspurt ging. Sie hatte sich bereits den vergangenen Freitagabend freigenommen, um bei der Vernissage dabei zu sein, mehr konnte Iris wohl nicht verlangen. Traurig war sie trotzdem.
»Wir müssen dann aber unbedingt ein anderes Mal zusammen hin. Bald. Spätestens im Sommer.«
»Das werden wir. Versprochen. Sei nicht böse, ja?«
»Bin ich nicht. Wie könnte ich? Arbeit geht vor, oder?«
Mia nickte. »In diesem Fall schon. Mr. Grayson will unbedingt, dass ich noch dieses Wochenende mit dem Schlafzimmer fertig werde. Es ist das letzte Zimmer. Am Montag kommt seine Frau von ihrer Europareise wieder und er möchte sie mit dem neu eingerichteten Haus überraschen.«
Mia hatte ihr das Haus, oder besser die viktorianische Villa, neulich bei einem Spaziergang von außen gezeigt. Es war grandios.
»Ich hoffe, Mr. Grayson zahlt wenigstens gut?«
»Ja, schon.«
Iris nickte. Sie wollte Mia ja auch gar kein schlechtes Gewissen machen, immerhin konnte sie nichts für die Situation.
»Alles gut«, sagte sie also. »Irgendwie werden wir es trotzdem schaffen, dass du dich so fühlst, als wärst du mit dabei. Wir könnten zum Beispiel facetimen, und ich mache ganz viele Fotos von der Insel, dem Haus und der Familie und schicke sie dir.«
»Das wäre wirklich schön.« Mia schenkte ihr ein Lächeln und sie lächelte zurück.
Sie aßen weiter und blickten zum See, auf dem im Frühling Entenküken schwammen und im Sommer Boote fuhren. Da es aber erst Ende März war, wirkte der Park noch ein wenig grau. Dennoch hatten sie es sich nicht nehmen lassen, ihren Lunch auf ihrer Lieblingsbank zu sich zu nehmen – selbst bei bewölkten dreizehn Grad.
»Richte June bitte meine herzlichsten Grüße aus. Und deinen Cousinen auch«, bat Mia.
»Das mache ich.« Iris sah ihre Freundin an. »Hm, na ja, eigentlich könntest du Grandma auch selbst grüßen, wenn du sie anrufst und ihr absagst.«
Mia grinste schief. »Könntest du das nicht für mich übernehmen? Sie wird bestimmt sehr enttäuscht sein, dass ich nicht mitkomme.«
Ein erneuter Seufzer. »Na gut, aber nur, weil du es bist.«
»Und falls es dir nicht zu viel ausmacht und es wieder diese leckeren kleinen Vier-Käse-Quiches gibt, könntest du dann …?«
»Ja, ja, ich bringe dir welche mit.«
»Du bist die Beste!«, sagte Mia und drückte sie.
»Dafür bist du mir aber was schuldig.«
»Ein Mittagessen? Nächste Woche? Wenn du zurück bist und ich endlich mit der Villa fertig bin? Ich will dann auch alles hören, von June und Daisy und was es sonst noch spannendes Neues gibt.«
»Wenn ich entscheiden darf, wo wir essen?«
»Abgemacht!«, sagte Mia und schüttelte ihre Hand.
Iris musste an ihre gemeinsame Kindheit zurückdenken und insbesondere an einen Sommernachmittag. Sie mussten vierzehn oder fünfzehn gewesen sein und Mia war unsterblich in Danny Robinson verliebt. Da sie aber sehr schüchtern war, bat sie Iris, ihr zu helfen. Und sie, die das Gegenteil von schüchtern war, versprach, die beiden zu verkuppeln.
»Aber nur, wenn du mich auf ein Eis einlädst. Ein großes. Mit mindestens drei Kugeln, Sahne und Streuseln.«
Mia hatte glücklich gelächelt und ihr die Hand gereicht. »Abgemacht!«
Also vereinbarte Iris ein Doppeldate mit Mia und Danny und dem süßen Julio, der schon einen Jahrgang über ihnen war. Und nachdem sie alle zusammen im Kino gewesen waren, trafen die Freundinnen sich zum Eisessen.
»Ich hoffe so, er möchte noch ein Date mit mir«, sagte Mia schwärmerisch, während sie an ihrem Himbeereis schleckte.
»Ich drücke die Daumen«, erwiderte Iris, ihr riesiges Eis vor sich – mit Sahne und Streuseln.
Leider half alles Daumendrücken nicht, und Danny wollte lieber nur mit Mia »befreundet« sein. Julio dagegen lud Iris am nächsten Wochenende erneut ins Kino ein und wurde der dritte Junge, den sie küsste.
Julio, dachte sie jetzt. Was wohl aus ihm geworden ist?
»Wie läuft es mit Tristan?«, hörte sie Mia fragen und riss sich aus ihren Gedanken.
»Gut. Wie immer.«
»Das freut mich.«
»Und bei dir? Gibt es irgendwelche neuen süßen Typen in deinem Leben?«
»Mir würde schon einer reichen«, lachte Mia.
»Was ist mit Trance Jones? Ich habe gesehen, ihr habt euch nett unterhalten in der Galerie.«
»Der mit der Elvis-Tolle?« Mia verzog das Gesicht.
Iris musste lachen. »War er nicht so dein Geschmack?«
»Der hat von nichts anderem als Ziegen geredet.«
Kurz flackerte etwas bei Iris auf.
Wieso sagte Mia, dass Trance Jones von nichts als Ziegen gesprochen hatte, und Tristan behauptete, er hätte nicht einmal gewusst, dass der Mann Bilder von Ziegen malte? Nun, vielleicht war er abgelenkt gewesen, mit seinen Gedanken woanders, und hatte gar nicht richtig zugehört. Es war ja auch überhaupt nicht wichtig. Schade nur, dass Trance Mia nicht zugesagt hatte, denn insgeheim hatte Iris gehofft, dass die beiden sich mögen würden.
»Okay, okay, ich kann verstehen, dass dich das auf den ersten Blick abtörnt, aber …«
»Hör auf, Iris! So weit bin ich noch nicht gesunken. Ganz im Gegenteil: Ich habe heute Abend ein Date.«
»Ein Date? Wirklich?«
»Ja. Mit dem Geschäftsführer der Firma, wo ich die Sofas für die Villa eingekauft habe. Er hat mich auf einen Drink eingeladen, und ich dachte, ich kann ja nicht immer nur arbeiten und sollte mir wenigstens mal eine Stunde für einen Martini freinehmen.«
»Sehr gut! Ich wünsch euch einen schönen Abend. Und berichte bitte morgen, wie er war.«
»Der Abend oder der Mann?«
»Beide.«
»Das mache ich.« Mia erhob sich. »Ich muss leider los. Die Arbeit wartet. In einer Stunde werden die erwähnten Sofas geliefert.«
Mia tat ihr leid. Seit sie sich vor zwei Jahren selbstständig gemacht hatte, war sie ständig im Stress. »Kein Problem. Ich komme noch ein Stück mit dir mit.«
»Bis zur U-Bahn-Station?«
Sie schüttelte den Kopf. »Bevor ich nach Hause fahre, möchte ich noch in den Laden für Malzubehör. Ich brauche einen neuen Winkelpinsel.«
»Na dann …«
Sie schlenderten den Parkweg entlang und verabschiedeten sich an der Ecke Tremont und Park Street.
»Ganz viel Spaß auf Martha’s Vineyard!«, wünschte Mia und umarmte Iris liebevoll.
»Danke«, sagte sie und blieb noch eine Minute stehen, während ihre Freundin nördlich in Richtung Beacon Hill eilte.
Am Abend saß sie abermals an ihrem Bild, als Tristan von der Arbeit kam. Heute wollte er kochen, eine italienische Gemüsesuppe, die um Punkt Viertel vor sieben fertig war. Sie aßen am Küchentresen, der eigentlich eher eine Insel war, an der sie oftmals frühstückten und an der Tristan hin und wieder arbeitete.
»Lecker«, sagte Iris, nachdem sie den ersten Löffel genommen hatte.
»Freut mich, dass es dir schmeckt.«
»Sehr. Heute Mittag hatte ich nur ein Sandwich, von daher tut es gut, jetzt etwas Warmes zu essen.«
»Ach, stimmt, du hast Mia getroffen, richtig?«
»Ja. Wir waren im Public Garden.«
Tristan pustete auf seine Suppe und wirkte abgelenkt. Bestimmt war es wieder ein stressiger Tag gewesen.
»Wie geht es Mia?«, fragte er schließlich.
»Gut. Sie hat heute Abend ein Date.«
Erneut nahmen Tristans Augen einen merkwürdig abwesenden Ausdruck an. Dann lachte er und sagte: »Na, dann hoffe ich für sie, dass es diesmal länger als nur ein Date hält.«
Tristan wusste natürlich genauso gut wie sie, dass Mia in Liebesangelegenheiten nicht gerade das Glück gepachtet hatte. Allerdings wünschte Iris, er würde sich nicht darüber lustig machen. Ihre Freundin hatte es nämlich verdient, auch endlich den Richtigen zu finden.
»Ja, das hoffe ich auch«, erwiderte sie also nur und sah Tristan kritisch an.
Er bemerkte ihren Blick. »Ich meinte das ganz ernst. Ich wünsche es Mia sehr.«
»Dann ist ja gut.« Sie nahm noch einen Löffel Suppe. »Nach dem Essen will ich übrigens packen. In zwei Tagen geht es ja schon los.«
»Na, für ein Wochenende musst du wohl kaum viel packen, oder?«
»Das Wetter soll zwar gut werden, ich möchte aber trotzdem für alle Fälle auch wärmere Sachen mitnehmen. Grandma sagt, es kann ganz schön windig werden auf der Insel. Vor allem, wenn wir am Strand spazieren gehen.«
Wenn man von der Grandma spricht …
Ihr Handy klingelte und Iris erkannte die Nummer. »Sorry, ich muss da ganz kurz rangehen«, sagte sie zu Tristan und hielt sich das Telefon ans Ohr. »Grandma? Hallo!«
»Hallo, Liebes«, hörte sie es am anderen Ende der Leitung. »Störe ich?«
»Nein, nein, ich esse nur gerade Suppe mit Tristan.«
»Du hast gekocht?«
Iris lachte. »Nein, das war Tristan.«
»Grüß ihn von mir.«
»Ich soll dich grüßen«, richtete sie aus.
»Danke, grüß zurück.«
»Er grüßt zurück. Na, Grandma, hast du schon angefangen zu backen?« Denn es war mehr als klar, dass es wieder reichlich Kuchen geben würde.
Sie hörte Grandma June lachen. »Nein, noch nicht. Aber morgen werde ich das in Angriff nehmen.«
Iris lief bei dem Gedanken daran bereits das Wasser im Mund zusammen. Denn sie war schon immer die größte Kuchenliebhaberin gewesen. Selbst zum Frühstück oder zum Lunch hätte sie welchen essen können, und egal, wie schlecht es ihr ging, Kuchen machte alles ein wenig besser. Immer.
»Ich freu mich schon so. Auf dein Gebäck und natürlich auf dich«, sagte sie.
»Und ich freue mich auf dich. Ich will euch auch gar nicht vom Essen abhalten, sondern wollte dich nur daran erinnern, auch warme Sachen einzupacken.«
Sie musste lächeln. Ach, Grandma …
»Wird gemacht!«
»Gut, dann habt noch einen schönen Abend.«
»Du auch.«
»Entschuldige bitte«, sagte sie noch einmal zu Tristan und legte das Handy beiseite.
»Kein Problem.«
Sie nahm den Löffel wieder in die Hand. Dann bemerkte sie, dass Tristan sie betrachtete.
»Was ist?«, fragte sie.
»Nichts. Ich werde dich nur vermissen.«
»Ich werde dich auch vermissen«, erwiderte sie und lehnte sich über die Kücheninsel, um Tristan zu küssen.
5
Noch während sie am Freitagmorgen ihre Reisetasche ins Auto lud, hoffte Iris darauf, Mia würde vielleicht doch noch anrufen und ihr sagen, dass sie mitkam. Sie hatte Grandma June bisher nicht informiert, weil sie sie nicht unnötig aufwühlen wollte und auch, weil sie ein wenig Angst vor deren Reaktion hatte. Schließlich hatte Mia bisher bei keinem Familientreffen gefehlt.
Sie lief in ihrem Jeans-Outfit noch einmal nach oben, um das Wichtigste zu holen: das Bild, das sie für Grandma June gemalt hatte. Auf dieses war sie ganz besonders stolz und wusste, dass es sich gut in Grandmas neuem Heim machen würde. Sie verstaute es im Kofferraum ihres alten, aber sehr geliebten Toyotas, lächelte voller Vorfreude und wollte gerade auf den Fahrersitz steigen, als sie eine Stimme hörte.
»Iris, warte!«
Sie stellte sich wieder aufrecht hin und drehte sich beglückt um. »Mia! Kommst du etwa doch mit? Bist du früher mit der Villa fertig geworden?«
Aber ihre Freundin, die in ihrem Arbeits-Outfit, einem eleganten schwarzen Ann-Taylor-Kostüm, steckte, schüttelte gleich den Kopf. »Nein, tut mir leid, es hat sich nichts geändert. Ich habe hier nur etwas für June und wollte dich bitten, es ihr zu geben. Ein kleines Einweihungsgeschenk. Vorsicht, es ist zerbrechlich.«
Iris nahm das Paket entgegen, das Mia ihr reichte.
»Das ist wirklich lieb von dir. Sie wird sich bestimmt freuen.«
Kurz blickten sie einander bedauernd an.
»Dann gute Fahrt!«, wünschte Mia. »Und berichte mir nächste Woche ausführlich, wie es war. Wie June sich als Rentnerin macht, wie Daisys Hochzeitsvorbereitungen laufen und ob Poppy schon wieder einen neuen Freund hat.«
»Na klar. Treffen wir uns wie geplant am Montag zum Lunch?«
»Unbedingt! Dann müssen wir auch feiern, dass ich diese schreckliche Grayson-Villa endlich fertig eingerichtet habe.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich dachte, es wäre so ein tolles Gebäude und du bist überglücklich, es neu ausstatten zu dürfen?«
»Zu Anfang war ich das. Aber nachdem Edmund Grayson die Tapete im Schlafzimmer, als sie schon dran war, doch nicht mehr gefallen hat, hat sich das geändert.«
»Musstet ihr sie etwa austauschen?«
»Wir haben sie wieder runtergerissen, was echt wehtat, weil es eine dieser wahnsinnig kostspieligen Tapeten mit Echtgoldverzierung war. Und rate mal! Nachdem sie ab war, meinte er, dass er sie eigentlich doch ganz gut fand, und hat uns gebeten, dieselbe noch mal neu zu besorgen.« Mia rollte genervt mit den Augen, und Iris konnte nicht anders, als zu lachen.
»Darüber musst du mir dann mehr erzählen. Ich muss mich jetzt leider sputen. Nur eine Frage noch: Wie war denn dein Date mit dem Sofa-Typen? Du hast dich gar nicht gemeldet, um mir davon zu erzählen.« Und sie war dann selbst auch so im Stress gewesen und hatte vergessen nachzufragen.
Mia seufzte. »Kein Kommentar.«
»Mist! Aber keine Sorge, wir finden dir schon noch jemanden.«
»Das sagst du immer, und dann schleppst du mir irgendwelche Freaks an«, meinte Mia.
»Ich werde mich bessern.« Sie lächelte ihre Freundin an, dann fiel ihr aber ein, wie eilig sie es hatte. Immerhin musste sie auf dem Weg auch noch Violet abholen. »Ich muss jetzt echt los, sonst verpassen wir die Fähre.«
»Oh Gott, kommt bloß nicht zu spät zum Lunch«, warnte Mia sie, die Grandma June bestens kannte und wusste, wie wichtig ihr das Mittagessen war, das sie traditionell gemeinsam zubereiten würden.
Iris zog eine Grimasse. »Sie reißt uns den Kopf ab.«
Sie umarmten sich, und in dem Moment kam Tristan herbeigejoggt.
»Du bist noch da? Ihr verpasst noch die Fähre!«, sagte er.
»Ich weiß, ich weiß. Ich bin auch schon weg!« Sie ließ sich von Tristan küssen und stieg ins Auto. Durch das heruntergelassene Fenster schlug sie den beiden vor: »Vielleicht wollt ihr ja am Wochenende mal zusammen laufen gehen.« Sie wusste nämlich, dass Mia in letzter Zeit ebenfalls gern joggte, vor allem, um Stress abzubauen, und das hatte sie anscheinend gerade bitter nötig.
Tristan sah zu Mia und zuckte die Schultern. »Klar, warum nicht?«
»Ich glaube kaum, dass ich die Zeit dafür finden werde«, meinte dagegen Mia. »Sorry.«
»Nicht der Rede wert.«
»Okay, wie ihr wollt.« Sie hätte gleich wissen müssen, dass die beiden nichts gemeinsam machen wollten. »Ich muss los. Bis Sonntagabend!«, rief sie Tristan zu und fuhr los. Im Rückspiegel sah sie Mia winken und dann zurück zu ihrem eigenen Wagen gehen und Tristan in ihr Wohnhaus laufen. Wo er jetzt als Erstes duschen, dann ein zuckerfreies Müsli mit Obst und einen koffeinfreien Kaffee mit Mandelmilch frühstücken und sich schließlich auf zum Büro machen würde, und zwar um Punkt acht Uhr fünfundzwanzig, damit er spätestens fünf Minuten vor neun eintreffen würde. Weil Tristan Pünktlichkeit so wichtig war.
Iris dagegen nahm die Dinge meistens, wie sie kamen. Hauptsache, man erreichte am Ende sein Ziel, war sie der Meinung. Und ihr Ziel für den heutigen Tag hieß Martha’s Vineyard.
Sie stellte das Radio an, aß beim Fahren ein abgepacktes Schokocroissant und war richtig guter Laune. Das Wochenende konnte beginnen!
Eine halbe Stunde später hielt sie vor dem olivgrün gestrichenen Haus im hübschen Vorort Newton, wo Violet vor fünf Jahren hingezogen war, um eine eigene Familie zu gründen. Und sie trat schon wieder aufs Gas, bevor ihre Schwester überhaupt dazu gekommen war, sich anzuschnallen.
»Immer mit der Ruhe«, sagte Violet.
»Willst du die Fähre verpassen und zu spät zum Lunch kommen?«, fragte sie mit ernstem Blick.
»Okay, du hast recht. Gib Gas!«
Sie stellten Musik an, sangen mit und freuten sich auf die Insel, von der Grandma June nun schon seit Wochen schwärmte.
»Und Roger kommt klar mit Maggie?«, fragte Iris irgendwann. Denn es war das erste Mal, dass Violet ihre kleine Tochter nicht mit dabeihatte.
»Der wird das schon schaffen.«
Iris blickte sie von der Seite an, nicht sehr überzeugt. Denn Roger war zwar ein guter Vater, und doch war die vierjährige Maggie nicht gerade einfach zu handhaben. Sie war ein liebes Mädchen, ohne Zweifel, aber sie redete den ganzen Tag lang, stellte altkluge Fragen und war anderen Kindern in ihrem Alter weit voraus. Iris hatte selbst schon oft den Babysitter gespielt, wenn Violet und Roger ausgegangen waren, sie wusste also nur zu gut, dass die Kleine auch ganz schön anstrengend sein konnte.
»Er schafft das«, wiederholte Violet und schien damit mehr sich selbst überzeugen zu wollen als Iris. »Er will morgen mit ihr in den Zoo gehen und am Sonntag ins naturhistorische Museum.«
»Die Dinosaurier werden Maggie sicher gefallen.«
»Ganz bestimmt. Ich darf nur nicht vergessen, sie jeden Abend um sieben anzurufen, das habe ich fest versprochen.«
»Als ob du das vergessen könntest.« Iris verdrehte die Augen. Denn Violet war die beste Mutter, die sie kannte, eine Million Mal besser als ihre eigene, an die sie nur unschöne Erinnerungen hatte. Die immer nur an sich selbst gedacht hatte und oftmals sogar vergessen zu haben schien, dass sie zwei Töchter hatte, die sie brauchten. Die sich genommen und gemacht hatte, was immer sie wollte, ohne Rücksicht auf Verluste.
Aber daran wollte Iris jetzt nicht denken. Ihre Mom war abgehakt, schon seit vielen Jahren. Sie brauchte sie nun nicht mehr, kam inzwischen gut ohne sie zurecht, und war eigentlich ganz froh, dass sie sich nur alle paar Jahre mal meldete. Wo sie sich zurzeit herumtrieb, wusste Iris nicht einmal, und auch das war egal. Sie hatte Violet und Mia und Grandma June, die waren mehr als genug.
Sie lächelte Violet an und sang dann noch ein bisschen lauter mit, weil sie gelernt hatte, das Leben positiv zu sehen. Trotz allem und mit allem.
Ganz knapp schafften sie es nach Woods Hole, fuhren mit dem Wagen auf die Fähre und konnten erleichtert aufatmen. Dann rief Iris Grandma June an, um ihr zu sagen, dass sie in einer Dreiviertelstunde auf der Insel sein würden.
»Wann wolltest du mir sagen, dass Mia nicht mitkommt?«, fragte Grandma empört.
»Woher weißt du das?«, entgegnete sie irritiert, obwohl sie ja im Grunde froh war, dass es raus war.
»Ich habe Mia angerufen, um sie an die warmen Sachen zu erinnern, und sie hat es mir gestanden.«
»Oh.«
»Kleiner Feigling.«
»Ja, das bin ich wohl.«
Grandma June lachte. »Na, dafür soll deine Ausstellung aber ein wahrer Erfolg sein, höre ich.«
»Ja, die läuft super.« Erst gestern hatte Nicole Myers sie angerufen, um zu berichten, dass zwei weitere Bilder verkauft waren.
»Darüber möchte ich mehr hören. Wir sehen uns ganz bald. Die Adresse habt ihr?«
Sie suchte in ihrer Jeanstasche nach dem Zettel, auf dem sie sie notiert hatte, und fand ihn kurz darauf. »Japp.«
»Gut, gut. Es ist sehr leicht zu finden. Vom Anleger aus fahrt ihr nach links, am Ocean Park vorbei und dann immer die Seaview Avenue entlang, bis ihr das pinke Haus mit dem gelben Dach erreicht, das ist nicht zu übersehen. Dort biegt ihr rechts ab, fahrt zwei Blocks geradeaus und dann wieder nach links …« Grandma June nannte ihr noch ein paar weitere Anweisungen, und Iris hoffte nur, sie würden ihr Haus auch finden. Zur Not würden sie sich halt vom Handy-Navi leiten lassen.
»Alles klar, Grandma. Wir sehen uns gleich. Sind die anderen schon da?«
»Oh ja. Die haben gleich die erste Fähre genommen«, erzählte Grandma June, und Iris konnte das unterschwellige Obwohl-sie-ganz-aus-New-York-kommen hören. Sie fragte sich, wann ihre Cousinen denn bitte losgefahren waren. Mitten in der Nacht? Oder hatten sie irgendwo einen Zwischenstopp eingelegt und in einem Hotel übernachtet? Egal, solange sie und Violet es noch rechtzeitig zu den Lunchvorbereitungen schafften, war alles gut.
»Frag sie, ob sie Kuchen gebacken hat«, bat Violet sie.
»Violet fragt, ob du Kuchen gebacken hast.«
»Na, was ist das denn für eine Frage? Natürlich habe ich Kuchen gebacken!«
Sie nickte ihrer Schwester bestätigend zu und fragte Grandma June: »Und welche Sorten?«
»Da dürft ihr euch überraschen lassen.«
»Gemein!«
»Nun macht, dass ihr herkommt! Es gibt neben Kuchen auch jede Menge Neuigkeiten!«
»Wir machen, so schnell wir können«, versprach Iris und steckte das Handy weg. Und dann stellten Violet und sie sich an die Reling und blickten hinaus aufs Meer. Den endlos weiten Atlantik, der an diesem milden Märztag so ruhig und wellenlos war, als würde er nur für ihre Ankunft den Teppich ausrollen.
In der Ferne sahen sie zwei Delfine aus dem Wasser auftauchen und kunstvolle Sprünge vollführen. Die Sonne schien ihnen ins Gesicht, die frische Brise ließ sie durchatmen, und plötzlich war das Leben einfach nur schön. Nichts war schlecht, alle Sorgen waren vergessen, und vor ihnen lag ein Wochenende, das nur perfekt werden konnte. Drei Tage mit der Familie, die sie viel zu selten sahen, eine fröhliche Zeit mit Geschichten und Erinnerungen, mit Filmen, Musik und Blumen. Allem voran Blumen, weil die in ihrer aller Leben schon immer die größte Rolle gespielt hatten und überhaupt nicht mehr wegzudenken waren.
Nachdem sie ihre langen Haare in einem Bun gebändigt hatte, blickte Iris auf das kleine Veilchen, das sie sich aufs Handgelenk hatte tätowieren lassen. Es stand für ihre Schwester, den neben Grandma June und Mia wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Und sie legte jetzt einen Arm um Violets Schulter und zog sie an sich. Wie froh sie war, sie zu haben.
Sie beide hatten zusammengehalten, nachdem ihre Mom mit einem Typen abgehauen war, dessen Namen Iris nicht einmal kannte. Lily hatte ständig neue Liebhaber gehabt, die ihr wichtiger gewesen waren als ihre Töchter. Nur der Himmel wusste, was aus ihnen geworden wäre, wenn Grandma June nicht gewesen wäre, die sich ihrer angenommen hatte. Die sie mit in den Blumenladen genommen hatte. Nur dank ihr war Iris’ Liebe zu den Blumen entstanden, die sie auch schon immer mit in ihre Werke eingebaut hatte. Wahrscheinlich hätte es ohne Grandma die Blumenmädchen nie gegeben. Iris wusste, sie hatte ihr viel zu verdanken, und sie hoffte, eines Tages würde sie ihr all das zurückgeben können, was sie einst von ihr bekommen hatte.
Der Anleger kam nun immer näher und ein breites Lächeln zog sich über ihr Gesicht.
»Hallo, Martha’s Vineyard«, sagte sie. »Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.«
6
»Meine Mädchen!«, hörte sie Grandma June rufen, als sie aus dem Toyota stieg, den sie am Straßenrand geparkt hatte, weil in der Einfahrt bereits zwei Autos standen. Während Violet die kleine weiße Pforte öffnete, sah Iris bereits ihre Grandma herbeikommen, die ihnen kurz darauf stürmisch in die Arme fiel. »Da seid ihr ja endlich!«
Sie erwiderten die Umarmung und drückten die alte Dame lange ganz fest. »Wir sind ja gekommen, so schnell wir konnten«, sagte Iris, löste sich von Grandma June und nahm nun endlich ihre Umgebung wahr.
Der Vorgarten des Hauses war wie zu erwarten sehr gepflegt, mit Rasen links und rechts vom Weg und unendlich vielen Blumen in Kästen und Kübeln auf der kleinen Veranda. Da erst Ende März war, waren das natürlich die typischen ersten Frühlingsblumen wie Stiefmütterchen, Narzissen und Hyazinthen. Das weiß angestrichene Haus mit dem taubenblauen Dach sah wunderschön aus und fast wie einem Märchen entsprungen.
Jetzt kamen auch die Cousinen herbei und es wurde sich wieder umarmt. Vor allem, weil sie einander schon eine ganze Weile nicht gesehen hatten, zu Weihnachten zuletzt, überlegte Iris.
Violet lachte. »Nicht ganz so wild, bitte. Ich bekomme ja kaum noch Luft.«
Aber so war das jedes Mal. Wenn die Hill-Frauen zusammenkamen, war es immer mehr eine fröhliche laute Reunion als ein langweiliges Familientreffen. Und genau das gefiel Iris so. Es passte zu ihr, da sie selbst keinesfalls ein langweiliger Mensch war. Sie mochte Musik und Gesang, sie mochte bunte Farben, und sie mochte es zu lachen. Viel und ausgelassen.
»Wie war die Überfahrt?«, erkundigte sich Poppy. »Genauso wellenreich wie bei uns heute Morgen? Mir war richtig schlecht auf dieser blöden Fähre.«
Grandma June warf Poppy einen tadelnden Blick zu. »Diese blöde Fähre braucht man nun mal, um auf die Insel zu kommen. Beim nächsten Mal kannst du ja schwimmen.«