Lake Paradise – Ein Zuhause für das Glück - Manuela Inusa - E-Book
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Lake Paradise – Ein Zuhause für das Glück E-Book

Manuela Inusa

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Beschreibung

Die neue Bestsellerserie von Manuela Inusa: Lake Paradise – der Ort, an dem Herzen sich begegnen. Lexi Dawson will endlich diese schmerzhafte Leere hinter sich lassen. Die Hochzeit war bereits geplant – als ihre Jugendliebe Keith vor zwei Jahren beim Wandern tödlich verunglückte. Und Lexi blieb nichts als ein Traum, der nie wahr werden würde. Mittlerweile schafft sie es, ihren Alltag wieder zu meistern und nach vorne zu blicken. Auch wenn sie noch immer nicht glaubt, dass sie je einen anderen Mann als Keith lieben wird. Zumal es in dem kleinen, idyllischen Ort, in dem sie aufgewachsen ist, auch überhaupt keine Männer gibt, für die sie sich interessieren würde. Doch Lexi hat nicht damit gerechnet, dass eines Tages ein gut aussehender Fremder in Lake Paradise auftaucht. Und noch viel weniger damit, dass dieser eigentlich gar nicht so fremd ist …

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Manuela Inusa

Lake Paradise – Ein Zuhause für das Glück

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Auf nach Lake Paradise – der Ort, an dem Herzen sich begegnen

Lexi Dawson will endlich diese schmerzhafte Leere hinter sich lassen. Die Hochzeit war bereits geplant – als ihre Jugendliebe Keith vor zwei Jahren beim Wandern tödlich verunglückte. Und Lexi blieb nichts als ein Traum, der nie wahr werden würde. Mittlerweile schafft sie es, ihren Alltag wieder zu meistern und nach vorne zu blicken. Auch wenn sie noch immer nicht glaubt, dass sie je einen anderen Mann als Keith lieben wird. Zumal es in dem kleinen, idyllischen Ort, in dem sie aufgewachsen ist, auch überhaupt keine Männer gibt, für die sie sich interessieren würde. Doch Lexi hat nicht damit gerechnet, dass eines Tages ein gut aussehender Fremder in Lake Paradise auftaucht. Und noch viel weniger damit, dass dieser eigentlich gar nicht so fremd ist …

Der Auftakt zur neuen Serie von Bestsellerautorin Manuela Inusa.

Vita

Manuela Inusa wurde 1981 in Hamburg geboren und ist gelernte Fremdsprachenkorrespondentin. Aber schon als Kind wollte sie Autorin werden. Nach ersten Erfolgen im Selfpublishing kam der große Durchbruch mit der «Valerie Lane»-Reihe. Auch mit den «Kalifornischen Träumen» eroberte sie die Spiegel-Bestsellerliste. In ihrer neuen Reihe nimmt sie uns mit ins idyllische Lake Paradise im Herzen der USA, ein fiktiver Ort mit vielen liebenswerten Figuren und berührenden Schicksalen. Manuela Inusa lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in ihrer Heimatstadt.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01138-0

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Sibah, Leila und Hakim –

meine Familie, mein Zuhause, mein Glück

1

Es war ein gewöhnlicher Montagmorgen in Lake Paradise, Nebraska, einem Viertausend-Einwohner-Ort inmitten von Maisfeldern und mit einem idyllischen See, dem er seinen Namen verdankte. Murielle, Delores und Sadie saßen wie jeden Morgen um acht im Paradise Café und tauschten sich über den neuesten Klatsch aus, wobei sie kein noch so kleines Detail ausließen.

«Ich habe gehört, sie haben wieder gestritten. Ganz böse sogar. Man hat es bis ans Ende der Straße gehört», erzählte Sadie, die mit dreiundsechzig Jahren die Jüngste der drei und hauptberuflich Eisverkäuferin im Ice Cream Paradise war.

«Wer hat sich gestritten?», fragte Delores. Sie war zweiundsiebzig und manchmal ein wenig schwer von Begriff.

Murielle und Sadie sahen sie mit gekräuselter Stirn an, bis Delores den Mund auftat und ein stummes «Aaah» herausließ.

Selbstverständlich ging es um Savannah Keller, Sadies Nichte und Inhaberin des einzigen Hotels der Stadt, des Paradise Inn. Die junge Frau führte ganz offensichtlich nicht die glücklichste aller Ehen und war des Öfteren Thema in dieser Morgenrunde.

«Ich wünsche ihr so, dass er sich bald mal einkriegt und zu dem Mann wird, den sie verdient», meinte die mollige und dauergewellte Murielle, die unverheiratet war und zu Hause acht Katzen hatte.

Sadie und Delores stimmten ihr nickend zu, als eine aufgebrachte Stimme sie im Einklang zur Theke herumfahren ließ, hinter der Nolan stand und telefonierte. «Was soll das heißen, Sie können mir den Karamellsirup erst am Donnerstag liefern? Wie soll ich denn einen Karamell-Macchiato ohne Karamellsirup zubereiten?», fragte er fast schon hysterisch und wedelte sich dabei mit der Hand Luft zu.

Das kannte man schon. Jede Mücke wurde zum Elefanten für Nolan, was Murielle wieder einmal den Kopf schütteln ließ.

«Wir müssen dringend jemanden für ihn finden», beschloss sie.

«Das könnte sich aber als schwierig erweisen», gab Sadie zu bedenken. Immerhin war Nolan der einzige offen schwule Einwohner von Lake Paradise.

«Mein Neffe Paul, der in Lincoln wohnt, hat ein paar homosexuelle Freunde», erzählte Delores.

«Wir wollen aber nicht, dass Nolan in die Hauptstadt zieht. Er macht den besten Kaffee weit und breit», erinnerte Murielle sie.

Da mussten die anderen beiden ihr recht geben. Seit Nolan vor zwei Jahren hergezogen war, bekam man endlich einen richtigen Kaffee und musste sich nicht mehr mit diesem wässrigen Gebräu von der Tankstelle oder dem ökologischen, koffeinfreien Landkaffee aus der Bio-Bäckerei zufriedengeben.

Nolan hatte gar nicht vorgehabt zu bleiben, als er seine kranke Großtante Alma damals besuchte. Doch das Café stand leer, er verliebte sich sofort in die Ladenräume und hatte eine Vision, die er innerhalb von nur vier Wochen umsetzte. Seitdem war der zentrale Stadtplatz nicht nur um ein Geschäft reicher, sondern Lake Paradise auch um einen wertvollen Einwohner.

Nolan beendete sein Telefonat, stützte sich mit den Händen auf dem Tresen ab und seufzte tief. Dann sah er urplötzlich auf, als merkte er, dass er beobachtet wurde. Schnell widmeten die drei Frauen sich wieder ihrem Kaffee, den Bananenmuffins und ihrem vorherigen Gesprächsthema. Doch Nolan ließ sich nicht in die Irre führen.

Ehe sie es sich versahen, stand er schon an ihrem Tisch und sagte: «Na, Ladys, was gibt es heute für wichtige Dinge zu bereden? Ich habe ja so das Gefühl, als ob es dabei um mich gehen würde.»

«Ach, mein Guter, wir finden nur, dass du einen Partner an deiner Seite brauchst», sagte Delores und wurde gleich unterm Tisch von Murielle angestupst.

«Ihr seid ja reizend», erwiderte Nolan. «Tja, wenn ihr einen netten schwulen Mann bei der freiwilligen Feuerwehr kennt, schickt ihn gerne zu mir. Ich hatte nämlich schon immer was übrig für Feuerwehrmänner.»

«Wir werden unsere Augen und Ohren offen halten», versprach Sadie.

Und gerade als Delores wieder von ihrem Neffen Paul in Lincoln anfangen wollte, wurde die Tür geöffnet, die Ladenglocke erklang, und Lexi Dawson betrat das Café. Sie winkte ihnen lächelnd zu und ging zur Theke, wo sie von Rhonda bedient wurde, die heute eine leopardengemusterte Cappy trug.

Murielle, Delores und Sadie starrten Lexi unauffällig an, die ihr lockiges blondes Haar zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden hatte und Bluejeans trug sowie einen kuscheligen hellblauen Pullover und weiße Turnschuhe. Nolan setzte sich zu ihnen an den Tisch und starrte ebenfalls zu der jungen Frau hinüber. «Was habt ihr Neues über sie zu berichten?», fragte er flüsternd.

«Rein gar nichts», erwiderte Sadie.

«Absolut tote Hose», meinte Murielle.

«Die Arme scheint noch einsamer zu sein als du», gab Delores von sich, woraufhin Nolan ihr einen missbilligenden Blick zuwarf.

«Du weißt, was mit ihr passiert ist, ja?», fragte Murielle, und Nolan nickte.

«Es war vor gut zwei Jahren, oder? Ein paar Wochen bevor ich hergezogen bin.»

«Ja.» Sadie senkte kurz den Blick. «Ein tragischer Unfall. Die Hochzeit war schon geplant, das Kleid angepasst, das Geschirr ausgesucht, die Blumen bestellt, der Caterer engagiert … Arme, arme Lexi. Das hat wirklich niemand verdient.»

Alle vier sahen die junge Frau bedauernd an. Sie bezahlte, nahm ihren Coffee to go entgegen und wünschte ihnen beim Rausgehen einen schönen Tag.

«Arme, arme Lexi», wiederholte Delores Sadies Worte. Und der Rest am Tisch konnte ihr nur zustimmen.

2

Lexi trat aus dem Café und schüttelte belustigt den Kopf. Dass die Tratschtanten der Stadt gerade über sie geredet hatten, war offensichtlich, und das war auch nichts Neues, doch dass Nolan so langsam zu einem von ihnen wurde, war wirklich witzig. Na, sie gönnte es ihm. Wenn es ihm Spaß bereitete, über die Leute zu tratschen, sollte er doch. Sie war der Meinung, solange man niemandem wehtat, durfte man ruhig machen, was man wollte. Und verletzen tat das Trio ja niemanden, und das würde sich auch als Quartett nicht ändern. Sie waren eben wie eine wandernde Zeitung, in der jeder lesen konnte, der sich für die Neuigkeiten in Lake Paradise interessierte.

Lexi nahm einen Schluck ihres Caffè Latte und spazierte, weil es so ein schöner, sonniger Septembermorgen war, einmal über den Stadtplatz. Sie kam am Zeitungskiosk, am Tiersalon und an Rupert vorbei, der gerade dabei war, draußen vor seinem Supermarkt Maiskolben aufzutürmen. Weiter ging es an der Boutique ihrer Mutter vorbei, die noch geschlossen hatte, am Rathaus mit der großen Uhr, die immer drei Minuten zu spät war, und an der Post, die gleichzeitig auch als Bank, Notariat und Rechtsanwaltskanzlei diente. Dann begegnete sie Buddy, einem kleinen untersetzten Mann um die fünfzig, der sich selbst als «Stadtpoet» bezeichnete und jeden Morgen ein neues Gedicht verteilte, das ein aktuelles Thema aus Lake Paradise behandelte. Er reichte ihr einen Zettel, und Lexi schlenderte weiter an dem mit Rasen bewachsenen Mittelstück des Platzes entlang, auf dem die amtierende Maisprinzessin Lindsay gerade ihren morgendlichen Yogakurs für Senioren anbot. Lexi winkte den älteren Herrschaften und ging auf das alte Haus im Kolonialstil zu, das Bürgermeister Doyle vor zwei Jahren in ein Maismuseum umgewandelt hatte, da er der Meinung war, die Stadt brauche unbedingt eins. Damals war Lexi das ganz recht gekommen. Sie hatte nach Keiths Tod überhaupt keinen Sinn mehr im Leben gesehen und war froh gewesen, als bei der Stadtversammlung nach Freiwilligen gesucht wurde, die Lust und Zeit hatten, das Museum einrichten zu helfen. Zeit hatte sie mehr als genug gehabt, denn nicht nur die Hochzeit sowie die Flitterwochen waren dahin, sondern auch alles, was sie sich für die nächsten Jahre ausgemalt hatte. Das Leben als Ehefrau und Mutter, das sie sich erträumt hatte. Stattdessen hatte sie im Museum Wände gestrichen, Böden gebohnert, Möbel gerückt, Vitrinen dekoriert, Plakate aufgehängt und schließlich sogar angeboten, in dem Museum mitzuarbeiten. Als Führerin, Kassiererin, Mädchen für alles, als was auch immer, Hauptsache, es lenkte sie von dem Schmerz ab, der so überwältigend war, dass sie nicht wusste, wie sie fortan damit leben sollte. Alles, was sie davon abbrachte, weiter über Keith und ihre verlorenen Chancen nachzudenken, war willkommen.

Lexi schloss das Museum auf, hängte das «Geöffnet»-Schild in die Tür und stellte sich hinter den Empfangstresen, der sich direkt am Fenster befand. Von hier aus hatte sie einen fantastischen Blick auf den gesamten Stadtplatz, auf all die Geschäfte und die Menschen, die sie kannte, so lange sie sich erinnern konnte.

Lexi, oder auch Alexis Ursula Dawson, war in Lake Paradise geboren und aufgewachsen, hatte den Ort niemals verlassen und freute sich darauf, hier alt zu werden. Ihre Familie lebte hier, ihre beste Freundin Trish und jeder, der ihr wichtig war. Ausgenommen von ihrer älteren Schwester Helena, die mit Mann und Kindern in Kansas City wohnte, und ihrem jüngeren Bruder Tommy, der sich ans College nach Omaha aufgemacht hatte.

Keith war auch von hier gewesen, Lexi und er waren seit der Vorschule immer in eine Klasse gegangen, hatten sich mit siebzehn ineinander verliebt, mit neunzehn verlobt und mit zwanzig die Hochzeit geplant. Alles war schon vorbereitet, und sie freuten sich darauf, den Rest ihres Lebens miteinander zu verbringen. Sie beschlossen beide, nicht ans College zu gehen, sondern in Lake Paradise zu bleiben. Keith arbeitete in der Tortilla-Fabrik seines Vaters mit, und Lexi fand eine Aushilfstätigkeit in der Bio-Bäckerei. Außerdem lernte sie Backen und Kochen und richtete ihnen das Haus ein, in dem einst ihre Großeltern Murphy und Ursula gelebt hatten. Zwei Wochen vor der Hochzeit fragte Keith sie, ob es okay wäre, wenn er einen Trip in den Wald unternehmen würde, um ein bisschen zu wandern und ein, zwei Nächte zu campen. Das war Keiths Art, den Kopf frei zu bekommen – wie hätte sie es ihm ausschlagen können? Und wie hätte sie ahnen sollen, dass er nicht zu ihr zurückkehren würde?

Lexi seufzte und sah hinüber zur Paradise Lane, einer kleinen Seitenstraße, in der das zweitpompöseste Haus der Stadt stand. Es war viktorianisch, blau-weiß angestrichen und wurde bewohnt von einer ehemaligen Hollywood-Diva namens Ava Garland, die dort mit ihrem Papagei Sinatra wohnte. Das Haus war wunderschön, doch gar kein Vergleich zu dem Anwesen des reichsten Mannes der gesamten Umgebung: Vincent Highmore, der endlose Maisfelder besaß und mit seinem Maisimperium Millionen gemacht hatte. Seine imposante Villa befand sich am Rande der Stadt, was den meisten Bewohnern von Lake Paradise ganz recht war, denn Vincent Highmore war zwar ein angesehener, doch kein sehr beliebter Mann, und in Lake Paradise war man froh, wenn er einem nicht zu nahe kam.

Lexi nahm nun den Zettel aus der Hosentasche, den Buddy ihr vorhin gereicht hatte, und las das heutige Gedicht. Wie immer war es handgeschrieben und auf einen gelben Zettel gedruckt.

Oh, du leerer Kirschjoghurtbecher

Wie machst du mich traurig

Noch eben warst du voller Leben

Geschmack und Unversehrtheit

Jetzt bist du nur noch leer

Leer

Für immer leer

Sie musste schmunzeln. Oh, Buddy, deine Themen werden auch immer belangloser, dachte sie. Und sie überlegte, was der Joghurtbecher wohl für ein aktuelles Thema widerspiegeln sollte. Vielleicht war er ja eine Metapher für etwas ganz anderes und für Buddy von großer Bedeutung, wer wusste das schon? Während Lexi noch grübelte, wofür er wohl stehen könnte, bimmelte die Ladenglocke, und sie sah zur Tür. Edda betrat das Museum, sie war die Leiterin und einzige weitere Angestellte hier. Lexi kannte sie schon ewig, da sie eine Freundin ihrer Großeltern war.

Die ältere Frau bedachte sie mit einem unglaublich bedauernden Ausdruck, und Lexi ahnte bereits, worum es ging. Insgeheim wartete sie seit Monaten auf diese Hiobsbotschaft. Und nun war es wohl so weit.

«Lexi, Liebes, es tut mir so leid, aber es wurde wohl noch gestern Abend im Stadtrat beschlossen, und ich habe es eben selbst erst erfahren», begann Edda. Ihr weißes Haar hatte sie sich zu einem Dutt gesteckt, ihre tiefen Falten erzählten eine lange und interessante Lebensgeschichte.

«Ich packe meine Sachen», sagte Lexi sogleich, um es für Edda nicht noch schwerer zu machen.

«Es tut mir so leid», sagte diese erneut. «Aber du siehst ja, dass hier überhaupt nichts los ist. Das Budget reicht einfach nicht mehr für zwei Mitarbeiter.»

Lexi nickte. Sie wunderte sich, dass man das Museum überhaupt aufrechterhalten konnte, denn in der gesamten letzten Woche hatten sie gerade mal zwölf Besucher gehabt. Und bei einem Eintritt von vier Dollar pro Person konnte man sich ausrechnen, dass das nicht einmal die laufenden Kosten deckte, geschweige denn den Lohn der Mitarbeiter. Vor zwei Jahren, direkt nach der Eröffnung, hatten alle neugierigen Stadtbewohner vorbeigeschaut, doch warum sollte man mehr als einmal ein Maismuseum besuchen? Und es kamen zwar hin und wieder Schulklassen aus Lake Paradise und auch aus den Nachbarstädten herbei, doch es verirrten sich nur selten mal ein paar Touristen her, die auf der Durchreise waren oder die das Paradise Inn beherbergte. Es schienen sich einfach nicht allzu viele Leute für die Geschichte des Mais zu interessieren, und Lexi befürchtete sogar, dass das Museum bald ganz schließen musste.

Sie sah Edda an. «Ich verstehe das schon. Es ist okay, ich finde bestimmt eine neue Aufgabe.»

«Da bin ich mir sicher. Du bist doch so ein freundlicher Mensch. So fröhlich.»

Fröhlich, ja, das war sie mal gewesen. In letzter Zeit allerdings gab es Tage, an denen sie Schwierigkeiten hatte, überhaupt noch ein Lächeln über die Lippen zu bekommen. Es war einfach alles so aussichtslos, ihr fehlte jegliche Perspektive.

Das Einzige, was ihr noch Freude bereitete, war das Zeichnen. Schon immer hatte sie gern Porträts gefertigt, und sie nahm auch hin und wieder Aufträge an. Leider konnte sie davon allein aber nicht leben.

Lexi trank ihren letzten Schluck Kaffee, der bereits kalt war, und warf den Pappbecher in den Mülleimer. Dann nahm sie sich eine der mit kleinen Maiskolben bedruckten Papiertüten, in die sie sonst die Souvenirs taten, die im Museum zu kaufen waren, und packte ihre wenigen Sachen zusammen: ein Keramikbecher mit der Aufschrift Beste Tochter der Welt, den ihre Mutter ihr eines Nachmittags vorbeigebracht hatte, ein paar Stifte, ihr Hygienegel, zwei Hershey’s-Schokoriegel, die Packung Ingwerbonbons und … das war’s auch schon. Mit der Tüte in der Hand wünschte sie Edda alles Gute und versprach, hin und wieder reinzuschauen. Dann ging sie aus der Tür.

Und wieder war sie ohne Beschäftigung mit ganz viel freier Zeit, vor der es ihr jetzt schon graute.

3

«Du brauchst nicht zufällig Unterstützung im Laden, oder?»

Lexi sah ihre Mutter fragend an, die zwischen den Kleiderständern der Boutique herumwuselte und Blusen einsortierte. Sie schenkte ihr einen von diesen mitleidigen Blicken, von denen sie in den letzten zwei Jahren, drei Monaten und siebzehn Tagen sicher an die fünfundachtzigtausend erhalten hatte, und erwiderte: «Im Laden helfen kannst du mir gerne jederzeit, ich würde mich über deine Gesellschaft sogar sehr freuen, zahlen kann ich dir aber leider nichts dafür.»

Ja, das hatte sie sich schon gedacht. Die Paradise Boutique war genauso ein Ein-Mann-Unternehmen – oder vielmehr Ein-Frau-Unternehmen – wie die meisten anderen Geschäfte der Stadt. Es konnte ihre Eltern über Wasser halten, weil es immerhin das einzige Bekleidungsgeschäft weit und breit war, doch viel mehr gab es leider nicht her.

«Schon okay, ich werde bestimmt etwas anderes finden.»

Wieder dieser Blick. Ihre Mutter, die ihr Ebenbild war, nur dreißig Jahre älter, strich eine Bluse mit Blumenmuster glatt, die an einem der Ständer hing. «Wie schade, dass sie dich im Museum nicht mehr brauchen. Wirst du über die Runden kommen? Dein Dad und ich könnten dir etwas leihen, bis du was Neues gefunden hast.»

«Schon gut, ich hab ein bisschen was beiseitegelegt.» Und zur Not hatte sie auch immer noch das Geld von den weiter entfernten Verwandten, das diese ihr zur Hochzeit geschickt hatten. Lexi hatte es zurückschicken wollen, doch davon hatten ihre gebrechliche Großtante Betsy in Orlando und Ludwig, ihr Cousin zweiten Grades in Düsseldorf, nichts hören wollen. Bisher hatte sie es nicht angerührt, es nicht gekonnt, doch wenn sie bald nicht einmal mehr in der Lage wäre, sich etwas zu essen zu kaufen, würde sie es wohl müssen. Denn ganz so leicht, wie sie es ihrer Mutter gegenüber klingen ließ, würde es nicht sein, in Lake Paradise einen neuen Job zu finden. Vielleicht könnte sie ein paar ältere Bewohner der Stadt pflegen, immerhin half sie oft ehrenamtlich im Seniorenheim aus. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob das als nicht ausgebildete Pflegekraft überhaupt möglich war. Aber vielleicht suchte ja einer der beiden konkurrierenden Supermarktbesitzer Hilfe im Laden, sie könnte Regale auffüllen oder Ähnliches. Und wenn sich gar nichts anderes fand, würde sie eben auf einer der Farmen rund um Lake Paradise arbeiten müssen.

In diesem Moment bereute Lexi es richtig, nach der Highschool nicht aufs College gegangen zu sein und nichts gelernt zu haben. Sie hatte sich ihr Leben nun mal immer so vorgestellt: den Schulabschluss machen, Keith heiraten, zwei bis vier Kinder bekommen, kochen, backen, gärtnern, lesen, die Kinder in die Schule oder zu den Pfadfindern fahren, ehrenamtliche Tätigkeiten ausüben, weiterhin zeichnen, ab und zu ein Bild verkaufen und rundum zufrieden sein. So, wie ihre eigene Mutter es viele Jahre gehalten hatte, ehe die Kinder groß geworden waren und sie sich irgendwann gelangweilt und die Boutique eröffnet hatte.

Wie naiv sie doch gewesen war, dachte Lexi.

Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum und wusste schon jetzt, dass ihr am Ende wahrscheinlich nur eine Möglichkeit bleiben würde – und davor hatte sie sich bisher erfolgreich gedrückt.

«Wie wäre es denn, wenn du Trish nach einem Job fragst?», meinte ihre Mom in dem Augenblick, als könnte sie ihre Gedanken lesen.

Lexi starrte sie an. Wie machte sie das nur immer?

«Ja, vielleicht», antwortete sie halbherzig.

Was blieb ihr denn anderes übrig?

 

Nachdem sie noch ein wenig herumgefragt hatte und absolut überhaupt nichts dabei herausgekommen war, außer dass sie dem Geheimnis des Kirschjoghurtbechers auf die Spur gekommen war – Rupert bot diese Woche Kirschjoghurt für neunundvierzig Cent an, wie ein Plakat in seinem Schaufenster verkündete –, stand Lexi ein paar Stunden später vor Trishs Tiersalon. Ihre beste Freundin hatte das Animal Paradise vor gut einem Jahr eröffnet, nachdem sie ein paar Kurse in Tierpflege belegt hatte. Und sie war der festen Meinung, dass ein Tiersalon das wohl lukrativste Geschäft von ganz Lake Paradise werden könnte, da fast die Hälfte aller Bewohner ein Haustier hatte. Die Tierhandlung in der Paradise Avenue machte unglaublich guten Umsatz, und all die Tiere, die dort gekauft oder mit Futter versorgt wurden, mussten doch auch gebadet und frisiert werden, ihnen mussten die Nägel und die Schnäbel gekürzt, sie mussten entlaust werden und sonst was alles. Als Lexi das Wort «entlaust» das erste Mal aus dem Mund ihrer Freundin gehört hatte, hatte sie eine Grimasse gezogen und Trishs Angebot, bei ihr einzusteigen, dankend abgelehnt.

Nun jedoch … wusste sie keinen anderen Ausweg.

Sie betrat den Salon und erblickte Trish, die gerade dabei war, einen Hund einzushampoonieren. Wenn sie sich nicht täuschte, handelte es sich dabei um Howies Collie Flax. Howie war der andere Supermarktbesitzer in Lake Paradise, der mit Rupert seit Jahren einen hitzigen Konkurrenzkampf ausfocht. Kein Wunder, denn beide Supermärkte befanden sich direkt am Stadtplatz: der von Howie auf der Westseite, der von Rupert auf der Ostseite. Sie hätten einander zuwinken können, wenn sie es gewollt hätten. Aber selbstverständlich wären sie nie auf die Idee gekommen, vielmehr waren sie damit beschäftigt, sich anzufeinden, einander preislich zu unterbieten, die neuesten und exklusivsten Produkte anzubieten und sich die bösesten Beleidigungen zuzurufen. Als Howie dann Rupert auch noch die Freundin ausgespannt hatte, war das Fass übergelaufen. Seitdem hassten sie sich aus tiefstem Herzen – sehr zum Leidwesen ihrer Kunden, die sich ständig irgendwelche Geschichten anhören mussten, wenn sie doch eigentlich nur eine Salatgurke kaufen wollten.

Manchmal war Lexi deshalb sogar schon zum großen Discounter gefahren, aber der befand sich eine halbe Stunde weit entfernt, was es ihr dann doch nicht wert war. Sie musste schließlich kaum Lebensmittel einkaufen, immerhin lebte sie allein, und das würde sich sicher so bald auch nicht ändern.

«Hey, Lexi, was für eine Überraschung», hörte sie Trish sagen, während der Hund sich schüttelte und ihre Freundin, die über ihrem schwarzen Outfit eine rosa Plastikschürze trug, mit Schaum bespritzte. Trish lachte.

Lexi sah sie hoffnungsvoll an. «Hi, Trish. Wie geht es dir?»

«Mir geht es blendend. Und dir?»

«Leider nicht so berauschend. Ich wurde heute gefeuert.»

Trish sah auf. «Im Museum? Wieso denn das?»

«Sie können sich zwei Mitarbeiterinnen einfach nicht mehr leisten.»

«Oh, das tut mir leid, aber der Job war doch eh total öde. Und du kannst jederzeit bei mir anfangen, mein Angebot steht.»

«Du hast doch aber längst Rebecca eingestellt.» Rebecca war Trishs 16-jährige Schwester, die oft nach der Schule und an den Samstagen im Salon mithalf.

«Becky ist nur eine Aushilfe. Ich könnte wirklich eine Vollzeitmitarbeiterin gebrauchen, weil mir die Arbeit langsam über den Kopf wächst.»

«Ehrlich? Und das kannst du dir auch leisten?»

«Kann ich. Wenn du mit einsteigst, könnten wir sogar noch mehr Aufträge annehmen. Es lohnt sich, Lexi, das hab ich dir von Anfang an gesagt, aber du wolltest ja lieber in einem verstaubten Museum herumsitzen, in das sich täglich höchstens ein Besucher verirrt.»

«Ein paar mehr sind es schon», stellte sie richtig. «Letzte Woche waren es zwölf.»

«Ach, zwölf? So viele? Bitte entschuldige, dass ich es so falsch eingeschätzt habe», sagte Trish sarkastisch.

«Haha.»

«Weißt du, ich finde, dass du da rausgeflogen bist, ist das Beste, was dir passieren konnte. Also, willst du den Job, oder nicht?» Ihre Freundin sah sie fragend an.

«Ich will. Allerdings hab ich keine Ahnung von Tierpflege. Du wirst mir einiges beibringen müssen», gab sie zu bedenken, denn obwohl sie Tiere wirklich gernhatte, wusste sie nur wenig über deren Gepflogenheiten. Als Kind hatte sie mal einen Hamster gehabt, sie erinnerte sich aber nicht, ob ihre Mutter den jemals in einen Tiersalon gebracht hatte.

«Das bekommen wir schon hin.» Trish lächelte sie breit an. «Ach, ich freu mich», sagte sie dann und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Da überall an ihr Schaum hing, war auch Lexi gleich voll davon, doch gerade machte ihr das nicht das Mindeste aus. Hauptsache, sie würde nicht Mais pflücken gehen müssen.

«Danke, Trish, ich weiß echt zu schätzen, dass du das für mich tust.» Sie war ehrlich erleichtert.

«Kein Problem.» Trish fing an, den Hund trocken zu rubbeln. «Ich freu mich, dass du endlich zur Besinnung gekommen bist. Das wird bestimmt großen Spaß machen, wir beide hier im Salon und …» Weiter kam Trish nicht, denn in diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen, und eine aufgeregte Murielle rief: «Es gibt große Neuigkeiten!»

Trish sah auf. «Ja, ich weiß bereits, dass Lexi ihren Job im Museum verloren hat.» Sie deutete auf Lexi, die außerhalb von Murielles Sichtfeld stand.

Murielle sah um die Ecke und sagte kopfschüttelnd: «Nein, nein, das ist doch Schnee von gestern.»

Lexi runzelte die Stirn. «Wie kann es Schnee von gestern sein, wenn es doch heute erst passiert ist?»

«Wollt ihr es nun wissen, oder nicht?», fragte Murielle, und man konnte sehen, dass sie es eilig hatte weiterzukommen und auch allen anderen die Neuigkeiten zu verkünden, bevor ihr jemand zuvorkam.

«Ja, klar», sagte Trish. «Erzähl schon!»

«Der alte Highmore ist letzte Nacht verstorben», posaunte Murielle hinaus und sah sie beide mit großen Augen an, gespannt auf ihre Reaktion.

«Was, Vincent Highmore ist tot?», fragte Lexi schockiert.

«Nein, nicht der!», korrigierte Murielle sie gleich. «Sein Vater, Alfred Highmore.»

«Wow», sagte Trish. «Das heißt dann wohl, dass Vincent noch mehr Maisfelder erben wird und bald die komplette Stadt aufkauft.» Der Mann besaß schon gut ein Viertel aller Immobilien in Lake Paradise, inklusive ihrer Ladenräume.

«Kann gut sein. Ich muss weiter», rief Murielle und war bereits wieder aus der Tür.

Die beiden Freundinnen sahen durch das Ladenfenster, wie auch Delores über den Stadtplatz eilte, und Lexi war sich sicher, dass es in einen Wettkampf ausarten würde, wer wohl am Ende die meisten Leute informiert hatte. Bestimmt stand auch Sadie in der Tür ihrer kleinen Eisdiele und rief den Leuten zu, dass der alte Highmore letzte Nacht verschieden war.

Alfred Highmore war tot. Das bedeutete nicht nur, dass Lake Paradise jetzt nur noch 4018 Einwohner hatte, sondern auch, dass bald wieder eine Beerdigung stattfinden würde. Eine, zu der wahrscheinlich nicht viele hingehen würden, außer den Tratschtanten, und das auch nur, damit sie wieder etwas zu erzählen hatten. Denn Alfred war nicht sehr viel geschätzter als sein Sohn Vincent gewesen. Den beiden war es immer nur um Profit gegangen. Sie hatten in all den Jahren kein einziges Mal an einem Stadtfest oder einer Parade teilgenommen. Und allein damit waren sie bei den meisten Bewohnern unten durch. Im Gegensatz zu Vincents verstorbener Frau Mathilda. Sie war eine von ihnen gewesen, ehe sie reich geheiratet hatte und in die schicke Villa gezogen war, und sie war es bis zu ihrem Tod vor sechs Jahren geblieben.

Lexi sah Trish an. «Hast du vor, zur Beerdigung zu gehen?»

«Nein, du?»

«Nein. Ich kannte ihn ja kaum.» Sie blickte wieder aus dem Fenster, wo Murielle und Delores einander anrempelten, um zuallererst bei Nolan im Café zu sein. «Glaubst du …», begann sie.

«Was denn?»

«… dass Aaron Highmore zur Beerdigung kommt?»

Aaron war das einzige Kind von Vincent und Mathilda Highmore. Er war mit dreizehn Jahren aufs Internat geschickt worden, und man hatte seitdem nie wieder etwas von ihm gesehen. Allerdings kursierten die wildesten Geschichten, was aus ihm geworden war.

«Nee, das denke ich nicht», meinte Trish, gerade in dem Moment, als Murielle mit einem letzten großen Schritt zuerst die Tür des Cafés erreichte. «Der war doch nicht mal zur Beerdigung seiner Mutter in der Stadt.»

«Ja, wahrscheinlich hast du recht», sagte Lexi. Insgeheim wünschte sie sich aber etwas anderes. Nämlich, dass Aaron doch eines Tages zurück nach Lake Paradise kommen würde, damit sie mit eigenen Augen sah, was aus ihm geworden war. Denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass er wirklich zu diesem drogenabhängigen, sexsüchtigen, volltätowierten, kriminellen Biker geworden war, der schon einige Jahre Gefängnis hinter sich hatte. Für sie war er nämlich noch immer der Junge mit der Stupsnase, der ihr in der vierten Klasse ihre neue pinke Lunchbox zurückgeholt hatte, nachdem Rich Snider sie ihr weggenommen hatte. Damals hatte sie sich geschworen, Aaron auf ewig dankbar dafür zu sein, und bis heute hatte sie es nicht vergessen.

4

Er stieg aus dem Mietwagen und blickte sich um, konnte noch immer nicht fassen, dass er wirklich hier war. Ungläubig sah er ein paar kleinen Mädchen in Maiskolben-Kostümen dabei zu, wie sie in der Mitte des Stadtplatzes einen Tanz einstudierten.

Es war noch ganz genau so wie früher, nichts hatte sich verändert. Nur der offizielle Slogan des Staates Nebraska, der ein großes Banner schmückte, das zwischen zwei altmodischen Straßenlampen aufgespannt war – der war neu. Er lautete: Nebraska. Honestly, it’s not for everyone.

Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein, oder?

It’s not for everyone? Nebraska war nicht für jeden geeignet? Schon klar, nur Hinterwäldler und Dorftrottel konnten sich hier wohlfühlen. Aber warum musste man es auch noch so deutlich machen und groß auf ein Banner schreiben?

Aaron Highmore schloss die Tür des schlichten schwarzen BMW, den er sich am Flughafen von Omaha gemietet hatte, und konnte nur den Kopf schütteln. Ohne Ziel ging er den Paradise Boulevard entlang und bog dann in den Paradise Walk ein. Alles hier trug das Wort Paradise im Namen. Und das Thema von allem schien nach wie vor der Mais zu sein. Nicht nur die kleinen tanzenden Mädchen zu seiner Rechten sahen aus wie lebendig gewordene Maiskolben, auch der Platz war mit Maiskolben geschmückt, und zwar für das anstehende Corn Festival, das alljährliche Maisfest, wie ihm einige Plakate verrieten. Er entdeckte sogar ein paar Maiskolbengirlanden. Und in den Schaufenstern herrschte ebenfalls eine auffällige Maisdekoration.

Himmel, warum hatte sein Großvater sich denn ausgerechnet die Maiserntezeit aussuchen müssen, um sich zu verabschieden?

Während er eine der Schaufensterauslagen anstarrte, erinnerte Aaron sich an den Anruf zurück, der ihn zwei Tage zuvor erreicht hatte …

Es war gegen Mittag gewesen. Er hatte noch im Bett gelegen, in seinem Apartment an der trendigen Upper West Side in New York. Nur ein paar Seitenstraßen entfernt von dem berühmten Dakota Building, vor dem John Lennon Anfang der Achtziger erschossen worden war. Neben ihm hatte eine Frau gelegen, an deren Namen er sich nicht mehr erinnern konnte. Es war eine wilde Partynacht mit viel Alkohol gewesen, und am Ende hatte Aaron sie mit zu sich nach Hause genommen. Der Sex war gut gewesen, doch sie war nichts Besonderes, völlig austauschbar, und in wenigen Stunden würde er nicht nur ihren Namen, sondern auch sie vergessen haben. Wie all die anderen Frauen, die er in den letzten Jahren kennengelernt hatte und die ihm ebenso wenig bedeuteten.

Natürlich hatte Aaron schon von dieser Sache namens Liebe gehört. Er hatte Freunde, die sie praktizierten, doch er selbst wusste nichts damit anzufangen. Er hatte nie gelernt, was es hieß zu lieben, und es war für ihn etwas, das genauso gut von einem anderen Planeten stammen könnte.

Der einzige Mensch, den er je geliebt hatte, war seine Mutter gewesen. Doch auch sie hatte nicht verhindern können, dass sein Vater ihn im Alter von dreizehn Jahren fortschickte, auf ein Jungeninternat in New Jersey, wo er niemanden mehr hatte außer seinen Mitschülern, mit denen er schon bald jede Menge Unfug trieb. Seine Mom war auch die Einzige, die ihn die folgenden Jahre besuchen kam. Und ihn immer wieder bat, die Ferien doch zu Hause in Nebraska zu verbringen. Doch Lake Paradise war so unendlich weit weg – nicht nur geografisch –, und Aaron hatte absolut nicht das Bedürfnis, seinen Vater zu sehen. Weshalb er lieber auf dem Internat blieb, um mit den anderen Jungen, die auch nicht nach Hause wollten oder konnten, noch viel mehr Unfug anzustellen.

Er wurde ein richtiger Rabauke, machte ständig Ärger und hoffte insgeheim, seinen Vater damit auf die Palme zu bringen. Ihm zurückzuzahlen, was er Aaron angetan hatte, indem er ihn von seiner Mutter und seinen besten Freunden getrennt hatte. Oder vielleicht endlich mal ein wenig Aufmerksamkeit zu bekommen. Doch seinen Vater schien es überhaupt nicht zu interessieren, was er tat. Er ließ ganz genau zweimal im Jahr von sich hören, und das war an Aarons Geburtstag und zu Weihnachten, wenn er der Mutter kurz den Hörer abnahm, um ein paar Worte hineinzunuscheln. Aaron war sich sicher, seine Mom musste seinen Vater regelrecht zwingen, mit ihm zu sprechen. Und irgendwann war es ihm einfach nur noch egal. Sein Vater war ihm egal. Er ließ sich weiterhin die teure Schule von ihm bezahlen und war schließlich froh, in Yale angenommen zu werden, was bedeutete, er würde nicht zurück nach Nebraska müssen. Überhaupt hatte er nicht vor, jemals wieder dorthin zurückzukehren.

Dann erlag allerdings im Jahr darauf seine liebe Mutter ihrem Krebsleiden, das sie ihm bis dahin verheimlicht hatte, und Aaron war sich sicher, dass sie vor allem aus Kummer so früh gestorben war. Weil sie dieses Leben führen musste, das er so abgrundtief verabscheute. In diesem schrecklichen, großen, isolierten Haus, ohne ihr geliebtes einziges Kind. Mit einem Mann an ihrer Seite, der genauso gut aus Eis hätte sein können, so kalt und herzlos, wie er war. Nur so erinnerte Aaron sich an den großen Vincent Highmore, und eigentlich hatte er ihn nicht wiedersehen wollen. Nie mehr. Dennoch wollte er unbedingt zur Beerdigung gehen und seiner Mutter die letzte Ehre erweisen. Sich von ihr verabschieden. Also flog er nach Nebraska und fuhr nach Lake Paradise, er blieb jedoch keine zwei Stunden. In dem Mietwagen mit den getönten Scheiben fuhr er zum Friedhof, versteckte sich während der Beisetzung hinter einem Baum und weinte stille Tränen. Dann fuhr Aaron zurück zum Flughafen und stieg in den nächsten Flieger zurück an die Ostküste, wo sein Leben weiterging. Und wo er sich seitdem einsamer fühlte als je zuvor.

Das war sechs Jahre her. Damals war er neunzehn gewesen, kein richtiges Kind mehr und doch auch noch kein Mann. Heute jedoch war er erwachsen, verdiente sein eigenes Geld und wusste ganz klar, was er wollte. Nun, zumindest hatte er das noch bis vor Kurzem gedacht. Bis jener Anruf kam – nicht von seinem Vater, sondern von der Haushälterin Vera, die er immer gern gemocht hatte und zu der er bis heute Kontakt hielt. Aaron hatte neben dieser Fremden gelegen, und ihm war schlagartig etwas klar geworden: Er war genau wie sein soeben verstorbener Großvater.

Er war wie sein Vater!

Kein Funke Mitgefühl. Keine Emotionen. Nichts als Kälte. Kein Verständnis für Familie. Und keine Ahnung davon, was es hieß, einen anderen Menschen zu lieben.

Kurzerhand hatte er die Namenlose allein gelassen und war durch die Straßen von Upper Manhattan gestreift. Hatte über sein Leben nachgedacht und darüber, was es ihm bisher beschert hatte. Ja, er hatte es beruflich weit gebracht, hatte als Architekt mehrere New Yorker Gebäude entworfen, zuletzt ein Stadthaus, das er nur zu gern selbst bewohnen würde, hätte er die dazu passende Familie. Aber plötzlich hatte er sich vollkommen verloren gefühlt. Und da war ihm klar geworden: Er musste zurück nach Lake Paradise. Einigen Dingen auf den Grund gehen. Mit anderen abschließen. Das Gespräch mit seinem Vater suchen. Ihm sagen, dass er nur wegen ihm zu diesem unmenschlichen, gefühllosen Wesen geworden war.

Als er zurück in sein Apartment kam, war die Frau nicht mehr da, und auch seine Rolex, die er auf dem Nachttisch vergessen hatte, war weg. Aber es war ihm egal. Aaron öffnete seinen Laptop, buchte einen Flug nach Nebraska und saß die nächsten vierundzwanzig Stunden da, ohne sich zu rühren. Irgendwann packte er ein paar Sachen zusammen, aß etwas, schlief ein paar Stunden, nahm ein Taxi zum Newark Airport und machte sich auf die schwerste Reise seines Lebens.

«Dir scheint die Deko aber zu gefallen», hörte er jemanden sagen und rüttelte sich aus seiner Trance.

Zu seiner Linken entdeckte er eine junge Frau mit langen blonden Locken in einer kurzen Jeansjacke. Zu ihren Wildlederimitatstiefeln trug sie eine Strumpfhose und ein braunes Kleid. Breit lächelte sie ihn an.

«Ich … äh …», stotterte er und fragte sich, wieso er keinen vernünftigen Satz herausbekam. Wahrscheinlich war es diese überwältigende Freundlichkeit im Gesicht der Frau, die ihn aus dem Konzept brachte. Dann aber rief er sich ins Gedächtnis, wo er war. Einfach jeder in dieser Kleinstadt war doch so, oder? Hier kannte jeder noch jeden, interessierte sich für den anderen und nahm aufrichtig Anteil – gewisse Familienangehörige natürlich ausgenommen.

Ob diese Frau wohl wusste, dass sein Großvater gestorben war? Ob sie Alfred Highmore gekannt hatte? Wobei Aaron sich da ziemlich sicher war, schließlich handelte es sich bei seinem Großvater um den wohl reichsten Mann der Gegend. Oder den zweitreichsten. Er wusste nicht, ob sein Vater ihn inzwischen überholt hatte. Wahrscheinlich schon, schließlich hatte Alfred nur einen Haufen Maisfelder besessen, während Vincent dazu auch noch Eigentümer mehrerer Fabriken und Immobilien war. Zumindest war das sein letzter Stand.

«Du bist nicht aus der Umgebung, oder?», fragte die junge Frau ihn. «Sonst wärst du sicher nicht so fasziniert von all dem Mais.»

Fasziniert? Oh Mann, das sah sie aber völlig falsch. Aaron verabscheute Mais, hatte es schon immer getan. Nicht nur weil sein Vater sich seit jeher mehr für das blöde Getreide interessiert hatte als für ihn, sondern auch weil seine Familie mit dem Maisanbau dazu beitrug, dass die Umwelt nachhaltig zerstört wurde. Der hohe Nitratgehalt im Grundwasser, die eingesetzten Insektizide, die noch sehr viel mehr als nur schädliches Ungeziefer töteten, und die Genmanipulation mitsamt ihren gesundheitlichen Folgen waren Themen, über die er sich stundenlang aufregen konnte. Natürlich tat er das in diesem Moment nicht. Stattdessen sah er die junge Frau, die einen Strauß Sonnenblumen in der Hand hielt, etwas spöttisch an.

«Hier dreht sich noch immer alles um den Mais, hm?» Endlich brachte er einen vollständigen Satz heraus.

«Oh, du warst also schon mal hier? Ja, das siehst du ganz richtig. Hier dreht sich alles um den Mais.» Sie lächelte erneut und deutete mit den Blumen auf die Mitte des Stadtplatzes, wo gerade noch mehr Maisgirlanden aufgehängt wurden. «Am Wochenende findet hier das große Maisfest statt. Es gibt ein Maiskolbenwettessen, die neue Maisprinzessin wird gekürt, und man kann jedes nur erdenkliche Gericht mit Mais schlemmen. Meine Mom und ich werden den Stand mit der Maissuppe betreuen, die machen wir selbst. Wenn du dann noch da bist, schau doch mal vorbei.»

«Ich bin mir nicht sicher …»

«Du musst ja nicht unbedingt am Wettessen teilnehmen.» Sie grinste und hielt sich dann die Sonnenblumen vors Gesicht, als würde sie daran riechen wollen.

«Nein, ich meinte, ich bin mir nicht sicher, ob ich dann noch da bin.» Es war Mittwoch Nachmittag. Am Freitag würde die Beerdigung stattfinden, und dann gab es eigentlich nichts mehr, das ihn hier noch hielt.

«Oh. Na, falls doch …» Sie sah ihn mit strahlenden Augen an, und irgendwie kam sie ihm in diesem Moment bekannt vor. Diese Sommersprossen, die über die ganze Nase verteilt waren, erinnerten ihn an irgendjemanden.

«Maissuppe, hm? Hört sich ziemlich eklig an.» Er verzog das Gesicht.

Sie lachte. «Die ist aber wirklich lecker. Wenn du kommst, gebe ich dir eine aus.»

«Na, dann überlege ich es mir vielleicht», sagte er und hakte seine Daumen in die Jeanstaschen. Auf einmal fühlte er sich merkwürdig, nervös irgendwie, und er wusste gar nicht warum. Etwa wegen dieser Maissuppe kochenden Dörflerin?

Er räusperte sich. «Also, ich muss dann weiter.»

«Viel Spaß noch in Lake Paradise. Und falls du noch nicht weißt, was du unternehmen sollst, kann ich dir das Maismuseum empfehlen. Oder den See, es ist wirklich hübsch da.»

Ach du Schreck, es gab inzwischen ein Maismuseum? Das wurde ja immer schlimmer. Den See allerdings hatte Aaron immer gemocht, daran hatte er ein paar echt gute Erinnerungen.

«Danke», sagte er noch und ging zurück in Richtung Auto. Er musste jetzt dringend einen Ort zum Übernachten finden. Wenn er richtig informiert war, gab es hier noch immer nur ein einziges Hotel. Er hoffte wirklich, dass dort ein Zimmer frei war, denn wenn nicht, wäre er aufgeschmissen. In der Familienvilla würde er bestimmt nicht nächtigen, und er war sich sicher, sein Vater würde ihn auch gar nicht lassen. Natürlich konnte er jederzeit bei seinem besten Freund Jonah unterkommen, der noch immer in Lake Paradise wohnte, doch der war eine richtige Quasselstrippe und würde ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Dabei war es genau das, was Aaron jetzt am meisten brauchte: Ruhe und Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. Er musste einfach ein bisschen für sich sein.

Dennoch fragte er sich, was er eigentlich hier machte, in Lake Paradise, am Ende der Welt, wenn er doch genauso gut gerade im Central Park sitzen und ein Buch lesen oder ein Bauprojekt skizzieren könnte. Es war eine dumme Idee gewesen herzukommen. Eine richtig, richtig dumme Idee.

Doch dann drehte er sich noch einmal um und sah der blonden Frau dabei zu, wie sie über die Straße hüpfte, fast als wäre sie ein Kaninchen. Unwillkürlich musste er schmunzeln. Vielleicht schmeckte diese Maissuppe ja doch. Ja, vielleicht sollte er sie am Wochenende wirklich mal probieren gehen.

Aaron sah ihr nach, bis sie in einem Laden namens Animal Paradise verschwand. Und er fragte sich, wer sie wohl war und ob er sie eventuell sogar von früher kannte. Er versuchte sich alte Zeiten ins Gedächtnis zu rufen, den See, den Spielplatz, den Schulhof … und plötzlich hatte er ein Bild vor Augen.

Da waren sie, die Sommersprossen, nur dass es damals noch viel mehr gewesen waren. Sie befanden sich im Gesicht eines kleinen Mädchens, das ihn strahlend anlächelte und ihm sagte: «Danke, dass du mir meine Lunchbox zurückgeholt hast.»

Und jetzt machte sich auch auf seinem Gesicht ein Lächeln breit.

5

«Ja, ich habe ihn bei Howie im Supermarkt gesehen», erzählte Delores ganz aufgeregt. Sie war gestern beim Friseur gewesen und trug ihr weißes Haar nun zu einem modischen Bob geschnitten. «Er hat sich ein paar Äpfel gekauft.»

«Und ich habe vorhin mit Savannah telefoniert», berichtete Sadie. «Sie sagt, er wäre gestern mit einem schicken schwarzen Wagen vorgefahren und hätte sich bei ihr im Hotel eingemietet.»

Man konnte Murielle ansehen, wie betrübt sie war, weil sie als Letzte erfuhr, dass Aaron Highmore zurück in der Stadt war. Er war das Gesprächsthema Nummer eins an diesem Donnerstagmorgen.

«Er ist also tatsächlich gekommen», sagte sie und starrte aus dem Fenster des Paradise Café, in der Hoffnung, er könne jeden Moment über den Platz spazieren. «Das hätte ich nicht gedacht. Da muss ihm sein Grandpa wohl doch am Herzen gelegen haben.»

«Es ist alles ein großes Rätsel», meinte Sadie. «Immerhin war er bei Mathildas Beerdigung nicht anwesend.»

«Da war er noch ein Teenager. Vielleicht hat er inzwischen begriffen, wie wichtig die Familie ist», überlegte Delores.

«Die Familie?», fragte Sadie. «Die Highmores kann man wohl kaum als solche bezeichnen. Sie sind eher ein Haufen überheblicher Einzelgänger, die nichts als Macht und Geld im Sinn haben, oder?»

«Ja», stimmte Murielle ihr zu. «Mit Mathilda ist auch das letzte bisschen Herzlichkeit der Highmores gestorben.»

«Ich habe gehört, dass Vincent Highmore im Grunde gar nicht so kalt und skrupellos ist, wie jeder denkt», erzählte Delores.

«Von wem hast du das gehört?», wollte Murielle sogleich wissen.

«Von Vera, der Haushälterin. Sie arbeitet immerhin seit beinahe zwanzig Jahren für ihn. Und sie hat mir erst neulich bei einem guten Brandy erzählt, dass er manchmal ganz traurig in seinem Lesesessel sitzt und grübelt. Als wäre er voller Reue.»

«Das sollte er auch sein», fand Murielle.

«Den Brandy hat Vera übrigens von ihm zum Geburtstag geschenkt bekommen. Eine teure Flasche, aus Übersee.»

«Oh. Ich hätte nicht gedacht, dass er überhaupt mal irgendwem etwas schenkt», sagte Sadie überrascht.

«Er scheint sich eben zu ändern.» Delores zuckte die Schultern. «Wir sollten die Menschen nicht vorzeitig aufgeben. Jeder kann eines Tages aufwachen und erkennen, welche Fehler er in der Vergangenheit begangen hat.»

«Vincent Highmore tut das ganz bestimmt nicht.» Murielle schüttelte den Kopf. Sie konnte den Mann nicht ausstehen, vor allem, weil er ihre Schwester Beverly aus ihrem Haus gejagt hatte, um dort einen Wohnblock mit teuren Apartments zu bauen, gleich außerhalb der Stadt. Dass er Beverly einen guten Preis bezahlt und zudem eine Abfindung von fünfundzwanzigtausend Dollar draufgelegt hatte, zählte für sie nicht.

«Glaubt ihr, sein Sohn ist hier wegen seines Erbes?», brachte Sadie das Gespräch wieder zurück auf Aaron Highmore. «Der Alte wird ihm doch sicher etwas hinterlassen haben, oder?»

«Ich habe gehört, der Junge wurde schon vor Jahren enterbt», erzählte Delores.

Wieder sah Murielle ganz neidisch aus. «Wo hast du das gehört?»

«Von Vera natürlich. Sie hat es aber auch nur vom Butler.»

«Also, wenn etwas an dem Bankraub dran ist, dann braucht Aaron auch gar kein Erbe», sagte Sadie.

«Er wurde doch aber erwischt, das Geld ist futsch», erinnerte Murielle sie.

«Ich habe aber gehört, das Geld hätten sie niemals gefunden», widersprach Sadie.

«Wo hast du das ge…?»

«Darf ich euch noch Kaffee nachfüllen, Ladys?», fragte in dem Moment Nolan, der wie aus dem Nichts an den Tisch getreten war. Eigentlich hatte ihn aber nur keine der drei Damen bemerkt, weil sie alle aus dem Fenster gestarrt hatten.

Alle drei hielten ihm ihre Tassen hin, und er füllte nach.

«Was gibt es denn da draußen so Spannendes?», erkundigte er sich.

«Wir erhoffen uns einen Blick auf Aaron Highmore», informierte ihn Sadie.

«Aaron Highmore … Der verschollene Sohn?»

«Exakt!», sagte Murielle.

«Sieht er gut aus?», fragte Nolan.

«Ach, mein Lieber, bei dem brauchst du dir gar keine Hoffnungen zu machen, der ist nämlich ein ganz Schlimmer. Ein Weiberheld, wie er im Buche steht», klärte Delores ihn auf.

«Ah ja?»

«Ja. Und kriminell ist er auch», meinte Murielle.

«Und am ganzen Körper tätowiert», erzählte Sadie.

Nolan lachte, und ihm fiel eine rotblonde Haarsträhne ins Gesicht, die er beiseiteschob. «Ist das alles bewiesen, oder sind das nur wieder irgendwelche Klatschgeschichten?»

Die drei wandten ihm gleichzeitig ihre Gesichter zu und funkelten ihn böse an. «Zweifelst du etwa an unserer Glaubwürdigkeit?», fragte Murielle, die heute einen lila Jogginganzug trug.

«Ich würde es nie wagen», beschwichtigte Nolan sie schnell.

«Na, dann ist ja gut.»

In dem Moment kam Buddy ins Café und ging von Tisch zu Tisch, um sein heutiges Gedicht zu verteilen. Sadie nahm es entgegen und las laut vor:

Sonnengelber Mais

Sachte schaukelt er im Wind

Wie ein Sohn in den Armen seiner Mutter

Mein süßes kleines Kind

Am besten schmeckt er mit Butter

Sadie runzelte die Stirn, Nolan musste schmunzeln, und Murielle sagte das, was sie alle dachten: «Buddy, du solltest vorsichtig sein, denn das könnte man auch falsch verstehen.»

Verwirrt sah Buddy sie an.

«Na, man könnte dich für einen Kannibalen halten.»

Buddy schüttelte entgeistert den Kopf und ging aus der Tür.

Delores sah ihm nach. «Der Arme. Er fühlt sich stets so missverstanden.»

«Also, ich finde, es ist das beste Gedicht seit Langem», meinte Nolan, der sich nur zu gut an die Verse über Schimmel in der Mülltonne hinter Howies Supermarkt, den linken Schuh der Maisprinzessin oder einen leeren Joghurtbecher erinnerte.

«Ja, wir sollten seine Kunst wirklich mehr zu schätzen wissen», fand Delores. «Er gibt sich doch so viel Mühe.»

«Kunst?», fragte Murielle. «Also, so kann man das doch wohl nicht nennen, oder?»

«Nun, es ist die einzige Kunst, die wir in Lake Paradise haben», meinte Delores achselzuckend, und da konnten die anderen ihr dann doch nur recht geben.

6

Lexi betrat den Tiersalon und wurde ganz aufgeregt von Trish empfangen. «Erzähl, erzähl, ich will alles wissen!»

Sie musste lachen. «Was willst du denn wissen? Es ist rein gar nichts passiert.»

«Na, du bist ihm doch aber begegnet, hast dich mit ihm unterhalten, oder etwa nicht?»

«Ja, das stimmt», bestätigte Lexi, die noch spät am gestrigen Abend eine Handynachricht von Trish erhalten hatte. Die Freundin hatte geschrieben:

Kannst du es glauben! Aaron Highmore ist zurück in Lake Paradise!!!

 

Ja, ich weiß.

Dashatte sie geantwortet, während sie sich in ihrem gemütlichen Häschen-Pyjama unter die Bettdecke gekuschelt hatte.

Ich bin ihm heute begegnet, und wir haben ein paar Worte gewechselt.

 

Oh mein Gott, ist das dein Ernst? Ich will Details!!!!!!!!!!

 

Und ich will schlafen. Es ist fast Mitternacht. Morgen erfährst du alles, okay?

 

Ja, lass mich nur zappeln. Gemein bist du! Morgen lasse ich dich zur Strafe alle Hunde einshampoonieren.

Lexi hatte schmunzeln müssen, das Smartphone beiseitegelegt und schließlich das kleine Nachtlicht ausgeschaltet. Und sie hatte nicht verhindern können, beim Einschlafen an eine bestimmte Person zu denken.

Jetzt sah Trish sie mit großen Augen an. «Na, dann erzähl schon! Ich will alles wissen, und lass nichts aus.»

«Da gibt es wirklich nicht viel zu erzählen. Ich bin ihm vorm Supermarkt begegnet und …»

«Vor welchem? Vor Ruperts oder Howies?»

«Ist das wirklich von Bedeutung?»

«Alles ist von Bedeutung!», stellte Trish klar. Sie zog sich eine dunkelbraune Haarsträhne aus der locker sitzenden Hocksteckfrisur und spielte daran herum.

«Okay, okay. Also, es war vor Howies Supermarkt. Er hat doch diese hübsche Deko im Fenster, mit Maiskolben, Kürbissen und so weiter.»

«Ja, die ist toll. Und er ist früh dran dieses Jahr. Es ist ja erst Ende September. Rupert sollte sich sputen, es ihm gleichzutun.»

Lexi stemmte die Hände in die Hüften. «Lässt du mich nun erzählen, oder nicht?»

«Ja, na klar. Fahr fort!»

«Okay. Also, er stand da und …»

«Howie oder Aaron Highmore?»

Lexi musste erneut lachen. Trish war so was von heiß auf die Neuigkeiten über Aaron Highmore, sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie es erst Murielle, Sadie und Delores ging. Oje, wenn die erst herausfanden, dass sie mit Aaron gesprochen hatte!

«Na, Aaron natürlich! Er betrachtete das Schaufenster, und da hab ich ihn angesprochen. Hab zu ihm gemeint, dass er wohl nicht von hier sein könne, da er so fasziniert von der Maisdeko sei.»

Trishs Augen weiteten sich nur noch mehr. «Du hast ihn einfach angesprochen?»

«Ja.»

«Und hast du ihn denn nicht erkannt?»

«Nein, das hab ich tatsächlich nicht. Ich meine, überleg doch mal, was die Leute sich über ihn erzählen! Ich hatte natürlich eine komplett andere Vorstellung von ihm.» Erst später hatte sie erfahren, dass es sich bei dem Fremden um Aaron handelte, weil die ganze Stadt darüber redete, dass er zurück war. Da hatte sie eins und eins zusammengezählt.

«Er sieht also nicht aus wie ein Knasti?»

Lexi schüttelte den Kopf. «Nein, überhaupt nicht.»

«Und wie sieht er dann aus?» Trish drehte und zog jetzt so sehr an ihrer Haarsträhne, dass Lexi befürchtete, ihre Freundin würde sie sich noch ausreißen.

«Lass das!», sagte sie und haute Trish auf die Hand. Dann musste sie erst mal überlegen. «Also, er sah ganz normal aus. Dunkles Haar, Lederjacke, warme Augen … Eigentlich sah er sogar richtig nett aus.»

«Richtig nett, ja?», fragte Trish mit einem großen Grinsen im Gesicht.