Vor uns das Leben - Manuela Inusa - E-Book

Vor uns das Leben E-Book

Manuela Inusa

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Beschreibung

Auf der Reise durch die USA zur ersten großen Liebe! Als ihr Vater bei einem Unfall ums Leben kommt, bricht für die 17-jährige Alice eine Welt zusammen. Monatelang zieht sie sich in ihr Schneckenhaus zurück. Bis sie einen Stapel alter Briefe ihrer Mutter findet, welche die Familie vor Jahren verlassen hat. Alice beschließt, ihre Mutter zu suchen. Mit dem alten Auto ihres Vaters macht sie sich auf den langen Weg durch den Westen der USA. Und dort, auf einsamen Highways, in wunderschönen Nationalparks und aufregenden Städten findet Alice schließlich nicht nur zu sich selbst, sondern auch ihre erste große Liebe.

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Seitenzahl: 305

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Manuela Inusa

Vor uns das Leben

 

 

Über dieses Buch

 

 

Auf der Reise durch die USA zur ersten großen Liebe!

 

Als ihr Vater bei einem Unfall ums Leben kommt, bricht für die 17-jährige Alice eine Welt zusammen. Monatelang zieht sie sich in ihr Schneckenhaus zurück. Bis sie einen Stapel alter Briefe ihrer Mutter findet, welche die Familie vor Jahren verlassen hat. Alice beschließt, ihre Mutter zu suchen. Mit dem alten Auto ihres Vaters macht sie sich auf den langen Weg durch den Westen der USA. Und dort, auf einsamen Highways, in wunderschönen Nationalparks und aufregenden Städten, findet Alice schließlich nicht nur zu sich selbst, sondern auch ihre erste große Liebe.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Manuela Inusa wurde 1981 in Hamburg geboren und ist gelernte Fremdsprachenkorrespondentin, aber schon als Kind wollte sie Autorin werden. Nach ersten Erfolgen im Selfpublishing eroberte sie die SPIEGEL–Bestsellerliste. Manuela Inusa lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in ihrer Heimatstadt.

It’s buried in my soul

Like California gold

You found the light in me

That I couldn’t find

 

Always Remember Us This Way

(Lady Gaga)

Davor

«Wie war euer Tag?», fragt Dad, sobald wir im Wagen sitzen. Er hat Mika und mich vor der Schule eingesammelt, weil wir heute alle mal wieder schwimmen gehen wollen. Das haben wir schon eine Ewigkeit nicht getan. Für kalifornische Verhältnisse hatten wir die letzten Wochen echt mieses Wetter. Aber seit zwei Tagen sind über fünfundzwanzig Grad, und da hat Dad vorgeschlagen, doch einfach mal ein bisschen im kühlen Nass abzuhängen. Mika war sofort dabei. Ich habe eigentlich eine Million andere Dinge zu tun. Aber weil ich keine Spielverderberin sein will, hab ich mich einverstanden erklärt, für ein paar Stunden mitzukommen, solange ich abends zur Bandprobe kann. Denn es ist wichtig, heute noch mal unser Set einzustudieren, bevor wir morgen auftreten.

«Mein Tag war cool», meint Mika und erzählt irgendwas von ihrer Freundin Annabelle, die Geburtstag hat und Cupcakes für alle dabeihatte. Ich höre nicht richtig hin, weil ich im Kopf die Songliste durchgehe und überlege, ob ich alle Texte draufhabe. Ich bin Mitglied der Ballad Queens. Wir sind vier Mädchen, die sich vor zweieinhalb Jahren zusammengetan haben, um, wie man sich bei dem Namen schon denken kann, Balladen zu singen. Nicht auf die schnulzige Art, sondern immer auch ein bisschen rockig und mit dem gewissen Etwas. Wir treten bei Schulveranstaltungen auf oder bei privaten Feiern unserer Mitschüler, Geburtstagen und so weiter. Diesmal hat uns sogar ein Lehrer engagiert, Mr. Davenport, mein ungefähr vierzigjähriger Englischlehrer, der morgen seine Verlobung feiert. Wir sind schon mega aufgeregt, Ivy, Keisha, Lori und ich, und haben ein ziemlich cooles Programm zusammengestellt. Perfekt, dass unser Repertoire nicht nur aus aktuellen Hits, sondern auch aus gecoverten Neunzigerjahre-Songs besteht, die Mr. Davenport und seine Liebste hoffentlich direkt in ihre eigene Jugend zurückkatapultieren. Damals gab es wirklich gute Musik und beeindruckende Herzschmerz-Melodien, und ich bin froh, dass meinen Bandkolleginnen meine Idee gleich gefallen hat, auch ein paar ältere Songs mit aufzunehmen. Dabei kommt uns natürlich die Tatsache zugute, dass ich so ungefähr jeden Neunzigerjahre-Hit kenne, der je geschrieben wurde, weil mein Dad mir die, solange ich denken kann, vorgespielt und -gesungen hat.

Dad ist selbst in einer Band. Früher war er sogar mal ziemlich erfolgreich und ist in bekannten Clubs im ganzen Land aufgetreten. Jetzt macht er das nur noch hobbymäßig neben seinem langweiligen IT-Programmierer-Job. Er hat eine Mega-Stimme, spielt Klavier und Gitarre, und er hat Mika und mich schon immer ermutigt, auch Musik zu machen. Hat uns dabei geholfen herauszufinden, welches das richtige Instrument für uns ist. Mika spielt also Keyboard, und ich spiele Gitarre. Meine Gitarre ist wie mein dritter Arm, ich glaube, ohne sie würde ich mich fühlen, als wäre mir was amputiert worden.

Dad, Mika und ich spielen oft zusammen, halten Wohnzimmer-Sessions ab. Wir haben ehrlich immer enorm viel Spaß, und manchmal finde ich es gar nicht mal so schlimm, keine Mutter zu haben, weil Dad reicht. Weil er genug ist. Weil er der coolste Dad ist, den man nur haben kann. Meine Freundinnen, deren Väter alt sind und sich auch so benehmen, die Bierbäuche haben, Anzüge tragen und tausend Regeln aufstellen, sind ziemlich neidisch.

«Am Samstag geht sie mit einigen Freundinnen ins Kino und hat mich eingeladen mitzukommen. Kann ich, Dad?», fragt Mika, und ich muss kurz überlegen, worum es noch mal geht. Ah, richtig, Annabelles Geburtstag.

«Klar. Ich fahre dich hin», meint Dad.

«Nicht nötig. Ich werde abgeholt.»

«Umso besser. Hmmm … was fange ich dann nur mit meiner vielen freien Zeit an?», scherzt er und legt grübelnd eine Hand ans Kinn.

«Haha», macht Mika. Sie ist dreizehn und mitten in der Pubertät.

Ich bin aus dem Gröbsten raus. Glaube ich.

Ich bin siebzehn, habe einen festen Freund namens Jaden, die Band, ganz gute Noten (außer Mathe) und nur noch ein Jahr und ein paar Monate Highschool vor mir.

«Und wie war dein Tag, Al?», fragt Dad. Er dreht den Kopf nach hinten, wo ich meistens sitze. Ich mag es, mich auf der Rückbank breitzumachen. Und oft hab ich ja auch meine Gitarre dabei.

«War okay», antworte ich. Wir haben eine Mathearbeit geschrieben, der Tag hatte also von Anfang an nicht allzu viel Potenzial.

«Bist du schon aufgeregt wegen eurem Auftritt morgen Abend?», fragt er. Er guckt jetzt wieder auf die Straße. Da ich direkt hinter ihm sitze, kann ich von ihm nicht viel mehr als sein blondes, ziemlich verwuscheltes Haar sehen. Und Schultern, die in einem schwarzen T-Shirt stecken. Ich tippe auf die Red Hot Chili Peppers oder Aerosmith. Dad hat viele Band-T-Shirts, er trägt kaum was anderes.

«Ehrlich gesagt ja», antworte ich. «Auf einer Verlobungsparty zu spielen ist schon was anderes als auf Tina Andrews’ achtzehnter Geburtstagsparty, wo schon vor dem ersten Song alle betrunken waren.»

Ups.

Ich rutsche ein bisschen nach rechts und sehe im Rückspiegel, wie Dad die Stirn in Falten legt.

«Ich hab natürlich nichts getrunken», füge ich schnell hinzu. «Alle schließt die Band nicht mit ein.»

«Na, dann bin ich ja beruhigt.»

Dad weiß natürlich, was abgeht. Er ist in den Neunzigern aufgewachsen und war auch kein Kind von Traurigkeit. Trotzdem predigt er Mika und mir immer wieder, wir sollen nichts trinken. Mir hat er einmal gesagt: «Und wenn du doch unbedingt mal was trinken musst, dann bitte nur so viel, dass du dich selbst noch unter Kontrolle hast.»

Ich habe es ihm versprochen und mich bisher immer dran gehalten. Weil ich Dad keinen Kummer machen will, denn davon hatte er ehrlich mehr als genug.

 

Wir erreichen das Schwimmbad. Es ist noch nicht so überfüllt wie im Spätfrühling oder Sommer, immerhin haben wir erst Anfang April. Aber ein paar Leute sind da und haben sich mit ihren Decken auf der Wiese ausgebreitet.

Das Freibad ist eigentlich nicht sehr spektakulär. Es wurde bestimmt seit dreißig Jahren nicht renoviert, was aber nicht schlimm ist. Es ist trotzdem zu einem unserer Lieblingsorte bei schönem Wetter geworden, denn es gibt vier verschieden große Becken, ein paar Sprungbretter, Rutschen und das beste Kirscheis der Welt. Findet zumindest Mika, und ich kann ihr nur zustimmen.

Wir bezahlen den Eintritt von sechs Dollar pro Person und suchen uns eine Ecke, wo auch wir unsere Decke ausbreiten. Ich gehe zu den Umkleiden, um in meinen Bikini zu schlüpfen, den ich im Gegensatz zu Mika nicht drunter habe. Dann sammle ich all unsere Wertsachen ein und lege sie in eins der kleinen Schließfächer. Den Schlüssel binde ich mir ums Handgelenk. Als ich zurück zur Decke komme, um meine Klamotten abzulegen, sind Dad und Mika schon nicht mehr da. Ich sehe sie beim großen Becken, wo Mika gerade die Treppe zum Drei-Meter-Brett hochklettert. Dad nimmt sich den Fünfer vor. Mika springt. Dad springt. Beide tauchen lachend wieder auf, und ich lache mit.

Es war eine gute Idee herzukommen. Bei all dem Stress gerade – Bandproben, Mathearbeiten, die Überlegungen, wo ich nächstes Jahr aufs College gehen will, immer mal wieder Streit mit Jaden – wird es mir guttun, ein paar Bahnen zu schwimmen. Ich steige in den länglichen Pool ohne viel Schnickschnack, der sich neben dem mit den Sprungbrettern befindet, zu denen Dad und Mika schon wieder hochklettern. Ich schwimme ein paarmal hin und zurück und schalte ab. Blende alles andere aus, genieße die Sonne und den Tag.

Irgendwann überkommt mich eine unglaubliche Lust auf dieses megaleckere Kirscheis am Stiel, das es nur hier gibt. Ich laufe los, erst zu den Schließfächern, um Geld zu holen, dann zum Kiosk. Mit drei Eis in den Händen schlendere ich zurück zum Pool, beobachte einen Vater mit seinen zwei kleinen Töchtern – wir vor zehn Jahren.

Noch ehe ich bei den Becken ankomme, höre ich Gelächter. Mika und Dad – meine zwei Lieblingsmenschen. Sie sind in dem zweitkleinsten Pool, nur der für Kinder ist noch kleiner und flacher. Mika ist im Wasser, Dad jetzt draußen, in der Nähe vom Beckenrand. Er läuft ein paar Schritte und springt kopfüber hinein. Und dann …

… ist irgendwas überhaupt nicht in Ordnung.

Dad taucht nicht wieder auf.

Scheiße! Das Becken ist gar nicht tief genug für einen Kopfsprung!

Ich lasse das dämliche Eis fallen. Renne los. Rufe nach Dad. Rufe nach Mika. Spüre Panik in mir aufsteigen.

Bestimmt macht Dad nur Spaß und taucht gleich lachend wieder an der Oberfläche auf, aber ich finde das, ehrlich gesagt, überhaupt nicht lustig.

«Dad?», schreie ich, als ich jetzt am Beckenrand stehe. Bilde ich mir das nur ein, oder verfärbt sich das Wasser rot?

«Dad?», ruft auch Mika. Sie taucht unter und dann ist auch sie verschwunden. Kurz darauf schnappt sie nach Luft und schreit mir ganz hysterisch etwas zu. «Ally! Dad hat sich verletzt! Hol schnell Hilfe!»

Das brauche ich gar nicht, denn der Bademeister kommt bereits angelaufen. Er springt rein und zieht Dad nach oben, hievt ihn mithilfe von zwei männlichen Badegästen aus dem Wasser und legt ihn auf die Wiese. Macht Mund-zu-Mund-Beatmung. Klopft Dad auf die Brust. Er blutet am Kopf. Oh Gott, da ist so viel Blut. Und dann spuckt er Wasser aus, und ich denke schon, es ist wie in einem dieser Filme, in denen jemand, der kurz vorm Ertrinken war, nur Wasser ausspucken muss und es geht ihm wieder gut.

Aber dann verliert Dad wieder das Bewusstsein.

Für einen kurzen Moment befürchte ich das Schlimmste. Dann fragt jemand der Umstehenden – ich bemerke die ganzen Leute erst jetzt –, ob er noch lebt. Und der Bademeister ruft zurück: «Ja, er lebt! Ich fühle einen Puls. Rufen Sie 911! Wir brauchen einen Krankenwagen! Schnell!»

Jetzt ist auch Mika aus dem Wasser raus, kommt weinend und völlig verzweifelt auf mich zu. Ich nehme sie in den Arm, und so stehen wir vor Angst bibbernd da, bis wir die Sirene hören. Ich kann noch so klar denken, dass ich schnell zu unserer Decke laufe und unsere Sachen zusammensammle. Ich werfe Mika ihre Klamotten zu, und sie zieht sie sich über ihren nassen Bikini. Ich steig nur schnell in meine Jeans und schlüpfe barfuß in meine Chucks. Klemme mir alles andere unter die Arme. Dann rennen wir den Sanitätern hinterher, die Dad auf einer Trage wegbringen.

Er lebt! Würde er nicht leben, würden sie ihn nicht eiligst ins Krankenhaus schaffen. Dann würden sie ihn liegen lassen und auf den Leichenwagen warten. Oder?

Oder?

«Seid ihr seine Kinder?», fragt einer der Sanitäter.

«Ja», antworte ich und merke, wie meine Stimme zittert.

«Wisst ihr, welche Blutgruppe er hat?»

Wir schütteln beide den Kopf.

«Okay, okay, das klären wir alles im Krankenhaus. Seid ihr mit dem Auto hier? Könnt ihr uns hinterherfahren? Wir bringen ihn ins Mercy General Hospital.»

«Ja», sage ich, obwohl ich wünschte, wir könnten im Krankenwagen mitfahren. Doch sie brauchen sicher den Platz, um Dads Leben zu retten, also müssen Mika und ich stark sein. Hinterherfahren, wenn mir das irgendwie möglich ist.

Wir sehen dabei zu, wie Dad auf der Trage in den Krankenwagen geschoben wird. Wie sich die Türen schließen. Wie er wegfährt.

«Schnell zum Auto!», sage ich und laufe los, bleibe aber im nächsten Moment stehen.

Die Autoschlüssel! Sie sind noch im Schließfach! Mit allem anderen, Dads ID und seiner Krankenversicherungskarte. Ich renne zurück, hole die Sachen, und dann sitze ich neben meiner weinenden kleinen Schwester in unserem Ford.

Ich fahre wie in Trance. Als wäre ich gar nicht richtig da, als würde irgendein Teil von mir funktionieren, weil er das muss. Der Rest ist aber taub, weg, verloren irgendwo zwischen Hoffnung und Angst.

Als wir im Krankenhaus ankommen, laufen wir direkt zur Anmeldung. Jemand fragt mich nach Dads Krankenversicherung und ich gebe ihm Dads Brieftasche. Dann frage ich, flehe ich, ob wir zu ihm dürfen. Doch sie sagen uns, dass wir uns gedulden müssen. Sie werden uns Bescheid geben, wenn wir zu ihm rein können.

Eine halbe Stunde später kommt ein Mann im weißen Kittel heraus. Er stellt sich als Dr. Cho vor. Fragt, wo unsere Mutter ist.

Ich sage ihm, ich weiß es nicht.

Er fragt, wie wir sie erreichen können.

Ich sage ihm, ich weiß es nicht.

Verwirrt sieht er mich an.

«Wir haben unsere Mutter seit zehn Jahren nicht gesehen», erkläre ich ihm. «Wir wissen nicht, wo sie ist.»

Ich hoffe, er hat es jetzt kapiert. Auf unsere Mutter können wir nicht zählen.

Er schüttelt den Kopf, fasst sich an die Stirn, reibt daran herum. Sieht mir schließlich ins Gesicht, aber nicht in die Augen. «Dann muss ich es euch wohl ohne die Anwesenheit eines Erziehungsberechtigten sagen.» Mit unendlich viel Mitleid sieht er uns abwechselnd an, meine Schwester und mich. «Kommt, wir setzen uns dorthin», sagt er und deutet auf ein paar Stühle.

Mika folgt ihm.

Ich will mich nicht vom Fleck bewegen. Will nicht hören, was er zu sagen hat.

Will es nicht wissen.

Will nicht, dass er meine heile Welt zerstört.

Doch nur einen Augenblick später ist klar, dass diese heile Welt schon längst in tausend Scherben zerbrochen ist. Und dass ich nichts, absolut nichts dagegen tun kann.

Playlist 1

Die traurigsten Songs aller Zeiten

The End of Everything – Noah Cyrus

Hurts Like Hell – Fleurie

Lovely – Billie Eilish & Khalid

Don’t Speak – No Doubt

I’ll Never Love Again – Lady Gaga

Always – Bon Jovi

Hurt – Christina Aguilera

Try – Nelly Furtado

Incomplete – Backstreet Boys

A Safe Place to Land – Sara Bareilles & John Legend

Change – Lana Del Rey

Dancing in the Sky – Dani & Lizzy

Lonely – Noah Cyrus

Wake Me Up When September Ends – Green Day

I’ll Still Have Me – CYN

Danach

Es klopft an meiner Tür.

«Komm rein!», rufe ich, und April steckt ihren Kopf in mein Zimmer. Eigentlich ist es ihr Gästezimmer, das ich seit zwei Monaten bewohne. Sie hat mir sicher schon hundertsechsundneunzigtausendmal gesagt, dass wir es mir ein bisschen persönlicher einrichten könnten. Bilder kaufen oder Fotos einrahmen, ins Einrichtungshaus fahren und neue Möbel kaufen könnten. Doch das will ich nicht. Brauche ich nicht. Ich brauche nichts als meine Gitarre und meine kleine Schwester, die gleich nebenan wohnt, im Zimmer, das früher mal ein Lesezimmer war.

«Es ist jemand da für dich», sagt April mir.

«Oh», erwidere ich ein wenig überrascht, weil ich niemanden erwartet habe. «Wer denn?»

«Es ist Ivy.»

«Sie kann gerne reinkommen», sage ich zu meiner Tante.

«Ich war mir nicht sicher, ob du Besuch haben möchtest.»

Ist ja auch nichts Alltägliches, ich kann schon verstehen, weshalb sie nachfragt.

«Doch. Ist okay.»

April nickt und verschwindet wieder. Keine Minute später steht Ivy in meinem Zimmer. Meine beste Freundin Ivy, die mir auch nicht helfen konnte.

Ich weiß, sie ist ziemlich verzweifelt, weil ich zu diesem Menschen geworden bin, der gar nicht mehr wirklich existiert. Jaden konnte damit nicht umgehen, er hat drei Wochen nach Dads Tod mit mir Schluss gemacht. Ivy hat bisher noch nicht aufgegeben. Ich könnte es ihr allerdings nicht verübeln.

Das Erste, was sie sagt, ist: «Wow! Deine Tante hat ja ein heftiges Haus!»

Ja, ich weiß. Es ist riesig, obwohl sie ganz allein wohnt. Gewohnt hat. Das Haus hat sechs Zimmer, zwei Bäder und eine Terrasse mit einem Mega-Ausblick auf die Umgebung. Die Natur, die April so liebt.

«Hey. Wie geht es dir?», fragt Ivy, umarmt mich und sieht mich mit diesem Blick an, den ich so schrecklich finde.

Einfach alle sehen mich mit diesem Blick an seit dem Unfall.

Ich zucke die Achseln. Was soll ich sagen? Wie soll es mir denn gehen? Ich bin eine Waise, habe fast alles verloren, was mir wichtig war. Soll ich lächeln und sagen, dass es mir gut geht, nur um es den Leuten einfacher zu machen? Sorry, aber scheinheilig war ich noch nie. Warum auch? Es geht mir scheiße, wem würde es in dieser Situation nicht scheiße gehen?

«Darf ich mich setzen?», fragt Ivy. Sie hat heute ein süßes blaugeblümtes Kleid an. Ich trage seit dem Tag nach dem Schwimmbad Schwarz. Ich bin in Trauer und werde es auch noch eine ganze Weile sein.

Vielleicht für immer.

«Klar.» Ich rutsche auf meinem Bett zur Seite und mache ihr Platz.

Sie lächelt mich an und setzt sich neben mich. «Wir vermissen dich in der Schule», sagt sie. «Lori, Keisha, Emma, Sandy und alle anderen richten liebe Grüße aus.»

«Danke», erwidere ich schlicht.

Keine von ihnen hat sich in den letzten Wochen bei mir gemeldet. Wahrscheinlich sind sie alle froh, dass ich nicht mehr zur Schule komme, weil sie eben auch nicht wüssten, wie sie mit mir umgehen sollten.

«Wie läuft es mit dem Homeschooling?», will Ivy wissen.

Schon klar, sie will Smalltalk machen. Will irgendwie die Stille füllen, doch das ist alles so unbedeutend. Am liebsten würde ich überhaupt nicht reden.

«Ganz okay», antworte ich aber, weil ich es trotz allem nett finde, dass Ivy sich die Mühe gemacht hat herzukommen.

Wir wohnen jetzt in Elk Grove, einem Vorort von Sacramento. Tante April, Dads ältere Schwester, lebt und arbeitet hier als Life Coach. Das bedeutet, dass sie Leuten, die es selbst nicht besser wissen, für viel Geld erklärt, wie sie ihr Leben leben sollen.

Im Krankenhaus damals habe ich dem Doc ihre Nummer gegeben, als er nach weiteren Angehörigen fragte. Erwachsenen Angehörigen. Und obwohl Dad und April nicht das innigste Verhältnis hatten, war sie immerhin doch seine Schwester. Sie kam dann auch so schnell sie konnte, nahm Mika und mich in die Arme und weinte mit uns, bevor sie irgendwelche Papiere unterzeichnen musste und uns zu sich nach Hause brachte. Seitdem sind wir bei ihr.

Sie hatte sogar angeboten, für eine Weile mit zu uns in die Wohnung zu ziehen, aber ich war absolut dagegen. Ich konnte mir nicht vorstellen, weiter dort zu wohnen, inmitten von einer Million Dingen, die mich an Dad erinnern. Ich wollte weit weg, und Elk Grove kam da gerade recht. Ich werde Mika ewig dankbar sein, dass sie gleich damit einverstanden war.

Ein paar Tage später sind wir also noch einmal nach Hause gefahren, haben unsere wichtigsten Sachen zusammengesammelt und unserer Welt für immer Lebewohl gesagt. April hat sich um alles Weitere gekümmert. Sie hat dem Vermieter gekündigt, die Wohnung aufgelöst und die Möbel und alles andere eingelagert. Falls wir die Sachen eines Tages doch haben wollen, hat sie gemeint.

Ich kann es mir nicht vorstellen. Denn jede Erinnerung schmerzt so sehr, dass ich es kaum aushalte.

Dank April musste ich nicht wieder in die Schule, zumindest nicht mehr in diesem Schuljahr. Sie hat mit dem Rektor geredet, und sie haben sich darauf geeinigt, dass ich die restlichen zwei Monate Homeschooling mache. April überwacht alles. Die Prüfungen absolviere ich online. Ich bin mehr als erleichtert. Unvorstellbar für mich, wie gewohnt jeden Tag durch die Schulgänge zu spazieren, den Unterricht mitzumachen, zur Bandprobe zu gehen und so zu tun, als ob überhaupt nichts wäre.

So, wie Mika es tut.

Ich liebe meine Schwester, aber ich weiß wirklich nicht, was mit ihr los ist. Schon eine Woche nach Dads Tod wollte sie wieder in die Schule, zu ihren Freundinnen, die ihr anscheinend Halt geben. Erst hieß es, sie müsse wechseln, weil wir jetzt in einem neuen Schulbezirk wohnen, aber auch da hat April sich durchgesetzt und erwirkt, dass Mika – wegen der besonderen Umstände – wenigstens bis zu den Sommerferien an unserer alten Schule bleiben darf. Jetzt nach zwei Monaten scheint es fast so, als hätte sich für sie überhaupt nichts verändert, außer natürlich der Tatsache, dass sie genauso eine Waise ist wie ich.

«Ally, ich wollte dich was fragen», meint Ivy jetzt und guckt mich ernst an.

Ich kann mir schon denken, was es ist. Bevor sie noch kleiner wird, sage ich: «Du willst fragen, ob ich zur Band zurückkomme oder ihr euch jemand Neues suchen könnt, richtig?»

Sie sieht total beschämt aus. «Die Ballad Queens klingen zu viert einfach viel besser.»

Ich muss nicht überlegen. «Macht euch ruhig auf die Suche. Ich glaube nicht, dass ich so bald wieder in der Lage sein werde zu singen und vor Menschen aufzutreten.»

Ich habe seit zwei Monaten nicht gesungen. Nicht einmal ganz allein in meiner kaputten Welt.

«Wir könnten auch noch warten», meint Ivy schnell. Sie fühlt sich schrecklich, überhaupt gefragt zu haben, das sehe ich ihr an. Ganz schön mies von den anderen, sie ganz allein zu mir zu schicken.

«Nein, ehrlich. Ist okay», beruhige ich sie. «Ich weiß auch noch nicht mal, ob ich nach den Sommerferien an die Fillmore High zurückkehre. Wahrscheinlich muss ich dann hier zur Schule.»

«Oh. Das wäre wirklich schade.»

«Ja.» Ich sehe sie an. Ich glaube, es gibt nichts mehr zu sagen. Und ich will jetzt auch viel lieber wieder allein sein. «Danke für deinen Besuch», sage ich und hoffe, sie versteht den Wink.

Sie steht vom Bett auf, lächelt mich noch einmal an und meint: «Wir werden trotzdem immer Freundinnen bleiben, ja?»

Ich versuche zurückzulächeln. «Klar.»

«Morgen Abend gibt Helena Atkins eine Party. Vielleicht hast du ja Lust mitzukommen.»

«Ich glaube eher nicht.»

Ivy tritt von einem Bein aufs andere, blickt zu den zugezogenen Gardinen, die die Sonne aussperren sollen. «Glaubst du nicht, es würde dir guttun, mal rauszukommen? Unter Leute zu gehen? Das würde dich sicher ablenken.»

Ich starre sie an. «Ablenken wovon? Von dem immer anwesenden, niemals nachlassenden Schmerz, der mich in seinen Fängen hat?»

Ivy starrt mich an. Weiß nicht, was sie darauf erwidern soll. «Ich meinte ja nur … Ally, ich weiß, es ist nicht leicht und ich fühle ehrlich mit dir, das kannst du mir glauben. Ich weiß doch, wie es ist, wenn man seinen Dad verliert.»

Ivys Dad hat die Familie vor zwei Jahren verlassen und ist zu seiner Geliebten nach Oklahoma gezogen.

Denkt sie ehrlich, das ist dasselbe??? Ihr Dad lebt immerhin, verdammt noch mal!

«Ach ja? Du weißt, wie das ist?», frage ich lauter als beabsichtigt. Ich werde plötzlich richtig wütend. «Hast du auch dabei zugesehen, wie dein Dad sich vor deinen Augen den Kopf zerschmettert hat? Kannst du noch immer das Blut riechen und in deinem Mund schmecken? Träumst du auch jede Nacht, in einem Meer aus Blut zu versinken?»

Ich hab gar nicht gemerkt, dass ich die Worte herausgeschrien habe. Erst als April in der Tür steht und fragt, ob alles in Ordnung ist, wird es mir bewusst.

Und als ich daraufhin in Ivys Gesicht blicke. Sie wirkt völlig verstört.

«Ich … äh … ich sollte wohl besser gehen», sagt sie, steht auf und huscht an April vorbei aus dem Zimmer. Sie umarmt mich zum Abschied nicht. Ich weiß, sie wird mich nie wieder besuchen kommen.

April sieht mich stirnrunzelnd an. Dann seufzt sie und folgt Ivy, um sie zur Tür zu begleiten.

Tja, ich hab dann wohl auch noch meine letzte Freundin verloren. Und das Merkwürdige ist, dass es mir nicht das Geringste ausmacht.

Supermarkt

Einmal die Woche zwingt April mich, das Haus zu verlassen. Ich soll mit zum Einkaufen kommen und aussuchen, was wir die kommenden Tage essen wollen.

April hat keine Ahnung von Kindern. Sie war nie verheiratet und hat nicht mal im Entferntesten darüber nachgedacht, jemals Kinder zu kriegen. Und jetzt hat sie gleich zwei.

Falls sie innerlich damit überfordert ist, kann sie es zumindest gut verstecken. Außer den paar Malen, die ich sie weinen gesehen habe, scheint sie alles im Griff zu haben.

An diesem Dienstagnachmittag also lädt sie Mika, die sie jeden Tag ganz nach Sacramento fährt und von dort wieder abholt, am Haus ab, und ich steige ein.

«Hast du eine Liste gemacht?», fragt sie wie jedes Mal.

«Nein», antworte ich wie jedes Mal.

Ich entscheide spontan, was ich in den Einkaufswagen tue, sobald wir im Supermarkt sind. Ich weiß, was Mika gerne isst, und ich kenne Aprils Regel: keine toten Tiere in der Küche.

April ist das, was man als modernen Hippie bezeichnen würde, schätze ich. Sie ist immer locker und ausgeglichen, liebt die Natur, hat Unmengen von Pflanzen in ihrem Garten, die sie hegt und pflegt. Sie baut sogar ihr eigenes Gemüse an. Und sie ernährt sich rein pflanzlich. Plantbased, nennt sie das, oder auch cruelty free, was so viel bedeutet wie, dass sie nichts mit dem Mord oder der Quälerei an Tieren zu tun haben möchte. Wegen der armen Tiere, der armen Arbeiter in den Schlachthöfen, bei denen die Selbstmordrate erstaunlich hoch ist, und natürlich wegen des Klimawandels. Es ist echt heftig, wie viele Regenwälder abgeholzt werden, um Tierfutter anzubauen. Und die Abgase von Kühen sind für die Umwelt noch schlimmer als die Abgase von Autos.

Wenn wir April früher gesehen haben, hat sie endlose Tiraden darüber abgehalten, doch seit wir bei ihr wohnen, ist sie sensibel genug, darauf zu verzichten. Das Einzige, was sie von Anfang an klargestellt hat, ist eben, dass sie rein vegan kocht; wenn wir etwas anderes haben wollen, dann müssen wir es uns selbst kaufen und zubereiten – Tierkadaver natürlich ausgeschlossen. Ehrlich gesagt ist mir das alles ganz recht – ich will nämlich selbst mit dem Tod so wenig wie möglich zu tun haben.

Und als wir jetzt durch die Supermarktgänge gehen, suche ich wie auch schon die letzten Male Tiefkühlpizzas, Mozzarellasticks, Chili-Cheese-Nuggets und vegetarische Frühlingsrollen zusammen, dazu noch Mikrowellen-Mac&Cheese, Chili sin Carne in der Dose, fleischlose Würstchen und dazu Hot-Dog-Brötchen und zu guter Letzt noch Zeugs wie Pop-Tarts, Chips und Schokoriegel.

April schüttelt wie immer den Kopf über all die ungesunden Sachen. Doch sie sagt nichts und lässt mich machen. Natürlich legt sie – wie immer – noch ein paar Bananen, Äpfel und anderes Obst, Kokosmilchjoghurts und Nüsse in den Wagen, wahrscheinlich um ihr Gewissen wenigstens ein bisschen zu beruhigen.

Auf dem Weg zur Kasse greift sie noch nach einer Packung Tesa Tape. «Unseres ist alle», erzählt sie mir, als ob es mich interessieren würde.

An der Kasse steht ein Stück vor uns in der Schlange ausgerechnet Jadens Mutter.

Fuck! Warum muss sie in Elk Grove einkaufen? Sie wohnen doch mitten im Stadtzentrum.

Ich bete, dass sie sich nicht umdreht. Aber sie tut es natürlich doch und entdeckt mich. Ich weiß, ich gebe keinen sehr hübschen Anblick ab in meinen schwarzen Joggingsachen, die dringend mal in die Wäsche sollten, und den ungebürsteten Haaren. Und ich sehe, wie sie überlegt, was sie jetzt machen soll. Schließlich winkt sie mir zu, bezahlt und bleibt hinter den Kassen stehen, um auf uns zu warten.

Verdammt!

«Wer ist das?», fragt April und mustert die afroamerikanische Frau in dem beigen Kostüm, die wie immer perfekt frisiert und geschminkt ist.

«Die Mutter meines Ex-Freundes», antworte ich nüchtern, doch innerlich beginne ich, total hibbelig zu werden, je näher wir der Kasse kommen.

Ich lege die Lebensmittel aufs Fließband, April sammelt sie am anderen Ende ein und tut sie in die Bio-Baumwollbeutel, die sie immer und überall dabeihat. Wir packen acht davon voll, die wir zurück in den Einkaufswagen stellen. April bezahlt, und dann steht Mrs. Westley plötzlich neben mir und umhüllt mich in einer warmen Umarmung.

Ich weiß gar nicht, wie ich reagieren soll. Also lasse ich sie weitermachen. Irgendwann wird sie schon wieder loslassen. Doch das tut sie nicht. Sie wiegt mich hin und her und sagt immer wieder: «Mein armes Kind, mein armes Kind. Es tut mir so leid.»

Zum Glück kommt mir irgendwann April zu Hilfe. Sie sagt nämlich: «So, das reicht jetzt!», wie eine strenge Mutter, oder eine Polizistin.

Mrs. Westley lässt mich los und sieht April an. «Entschuldigung, ich wollte nicht … Sind Sie Alice’ Mutter?»

Ich bin verwundert. Hat Jaden seiner Mom etwa nie erzählt, dass ich keine Mutter habe? Hm, vielleicht hat er ihr auch nur gesagt, dass meine Mutter verschollen ist, und Mrs. Westley denkt sich jetzt, dass sie wiederaufgetaucht ist.

«Ich bin die Tante. April Thompson.»

«Oh. Es freut mich, Sie kennenzulernen. Ich wollte Alice und ihrer Familie schon so lange mein Beileid ausdrücken.»

«Warum haben Sie es dann nicht getan?», fragt April direkt.

Woah! Was ist denn mit der sonst so gelassenen April los?

Auch Jadens Mom wirkt ziemlich verdutzt. «Nun … na ja, weil die Kinder doch Schluss gemacht haben, war ich mir nicht sicher …»

«Ich verstehe», erwidert April und setzt ein falsches Lächeln auf.

«Ich bin auf jeden Fall froh, dich hier getroffen zu haben, Alice», meint Mrs. Westley und umarmt mich noch einmal, diesmal jedoch nur ganz kurz. «Wenn du irgendetwas brauchst, kannst du dich trotz allem jederzeit melden, ja?»

Ich nicke. «Danke.»

April nickt ihr noch einmal zu und schiebt dann den Wagen aus dem Supermarkt und in Richtung Parkplatz. Sobald wir im Auto sitzen, sagt sie: «Ich kann die Frau nicht ausstehen.»

Ich muss grinsen. Das hat man gemerkt.

«Eigentlich ist sie ganz nett», sage ich, auch wenn ich sie jetzt nicht so gut kenne. Jaden und ich waren nicht länger als ein halbes Jahr zusammen und ich war höchstens fünfmal bei ihm zu Hause. Die meiste Zeit haben wir draußen abgehangen, im Kino, im Diner oder im Park, wo wir mit unseren Freunden geredet, gelacht, Musik gehört und ab und zu ein Bier getrunken haben.

Es scheint eine Ewigkeit her. Als hätte ich dieses Leben überhaupt niemals selbst geführt, sondern hätte nur irgendwelchen Menschen in einer Fernsehserie dabei zugesehen.

«Na, wenn du meinst», sagt April und fährt uns nach Hause.

Ich helfe noch, die Einkäufe auszupacken, schiebe zwei Pizzas in den Ofen – Pilze für Mika, Margherita für mich – und verschwinde in mein Zimmer. Ich schmeiß mich aufs Bett und mache Musik an. Setze mir meine Kopfhörer auf, damit niemand mit anhören kann, was ich mir die ganze Zeit für Depri-Songs antue. April würde das sicher ziemlich bedenklich finden. Als Life Coach und so.

Ich höre Billie Eilish dabei zu, wie sie es eines Tages hier rausschaffen will. Auch wenn es einhundert Jahre dauert.

Das will ich auch. Es rausschaffen aus dieser Einsamkeit. Aus dem Schmerz. Dem Loch, in dem ich mich seit Dads Tod befinde. Ich habe mich völlig zurückgezogen, nehme nicht mehr am Leben teil. Ich weiß, das macht alles nur noch schlimmer, aber ich kann einfach nicht anders. Kann nicht sein wie Mika, die einfach weitermacht wie vorher, oder wie April, die trotz allem immer positiv ist.

Denn meine heile Welt ist zerbrochen. Ich bin zerbrochen, genau wie mein gläsernes Herz. Und ich weiß nicht, ob es auf der Welt genug Tesa Tape gibt, um es wieder zusammenzukleben.

Mein Handywecker klingelt. Die Pizza ist fertig.

Ich nehme die Kopfhörer ab, stehe auf und gehe in die Küche, auch wenn ich mich wie so häufig frage, wie meine Füße mich überhaupt noch tragen können. Wie ich überhaupt noch funktioniere.

«Cool, gibt’s Pizza?», fragt Mika, die fröhlich in die Küche kommt.

Ich starre sie an. Vielleicht sollte ich erleichtert sein, dass sie einfach weitermacht. Vielleicht ist es sogar ein Zeichen von Tapferkeit. Meine kleine Schwester ist so viel stärker als ich.

«Ja, ich dachte, es ist mal wieder Zeit für Pizza», antworte ich und hole sie aus dem Ofen. Dass wir erst gestern welche hatten, ist genauso egal wie alles andere.

Musik

Mika und ich lümmeln auf der Couch und gucken alte Folgen von Glee, während wir zu Abend essen. Wir haben jeder eine Bambusschüssel mit Chili sin Carne auf dem Schoß und sitzen im Schneidersitz da. Zwei Schwestern, die sich eine Serie ansehen, in der gesungen wird, eigentlich eine ganz normale Sache. Nur dass uns beiden dabei das Herz bricht.

Und doch schaltet keiner den Fernseher aus oder wechselt das Programm. Weil der Schmerz manchmal, in Momenten wie diesen, sogar ganz gut zu ertragen ist. Wenn man ihn gemeinsam durchsteht. Wenn er schöne Erinnerungen mit sich bringt.

Ich habe einen dicken Kloß im Hals. Als Finn anfängt, Don’t Speak zu singen, kann ich kaum noch schlucken. Dad hat diesen Song mit uns einstudiert, als wir noch kleiner waren. Nur einer der Songs, den wir wieder und wieder in unserem Wohnzimmer gespielt haben. Irgendwann, als wir größer wurden, hatten Mika und ich keine Lust mehr, immer nur Dads Lieblingssongs zu performen, und gemeinsam haben wir beschlossen, dass jeder von uns neue Songs vorschlagen darf, die wir mit in unsere Playlist aufnehmen.

Zu den Neunzigerjahrehits kamen dann also welche von Justin Bieber, von denen Dad echt begeistert war (Sarkasmus an!), und welche von One Direction, die er noch viel cooler fand (der Sarkasmus-Schalter ist immer noch eingeschaltet). Irgendwann wuchs wenigstens ich aus dieser Phase heraus und schlug Songs von P!nk, Lady Gaga oder meiner absoluten Lieblingssängerin Lana Del Rey vor. Und dann wurde auch Mika ein wenig erwachsener und brachte was von Billie Eilish oder den Cyrus-Schwestern mit ein. Miley fand ich schon immer ziemlich cool, aber dass ihre Schwester Noah so unglaublich singen kann, wusste ich bis dahin nicht.

Es war genau wie im echten Leben: Die kleine Schwester haut die große weg wie nichts! Was mir niemals etwas ausgemacht hat. Singen war halt nie meine Stärke, mein Talent war und ist das Gitarrespielen.

Doch auch meine Gitarre habe ich seit zwei Monaten nicht angefasst.

Ich vermisse es.

Die Gitarre steht in der Zimmerecke und schenkt mir Trost, ist wie eine Freundin, die immer bei mir ist und mich niemals im Stich lässt. Doch irgendwie konnte ich mich noch nicht dazu überwinden, wieder zu spielen. Es würde mich zu sehr an Dad erinnern, wahrscheinlich würde ich dabei immer nur seine Stimme im Kopf haben. Und das könnte ich nicht ertragen.

Ich starre auf die roten Kidneybohnen in meinem Chili und merke zum ersten Mal, dass die Dinger wirklich wie kleine Nieren aussehen.

«Hast du den Typ gesehen?», fragt Mika.

Kurz denke ich, sie meint irgendwen aus Glee. Doch dann erinnere ich mich an den Mann, der vor etwa einer Stunde eingetroffen ist und seitdem mit April in ihrem «Labor» sitzt. So nennen Mika und ich ihr Sprechzimmer, das sich ebenfalls im Erdgeschoss befindet. Denn irgendwie finden wir, dass unsere Tante den Leuten eine Gehirnwäsche verpasst wie eine durchgeknallte Wissenschaftlerin.

Wer zur Hölle gibt denn bitte Hunderte Dollar dafür aus, sich Ratschläge geben zu lassen, wie er sein Leben am besten lebt? Sollte man das nicht selbst herausfinden? Ich meine, wenn man ein ganz normales Leben führt und nicht gerade ein Elternteil gestorben ist, dann sollte doch eigentlich alles im Lot sein, oder? Dann sollte man einfach auf sein Herz hören und wissen, dass man Lehrer werden will oder Apotheker oder Bauarbeiter. Dann sollte ganz klar sein, ob man heiraten oder Kinder haben, ob man in einer Bruchbude oder einer Villa wohnen will. Doch April nimmt ihren Klienten dreihundert Dollar pro Stunde dafür ab, dass sie sich von ihr anhören: «Bringen Sie Ihr Studium zu Ende und eröffnen Sie eine gemeinnützige Anwaltskanzlei, ich sehe darin ganz klar Ihre Bestimmung.» Oder etwas wie: «Machen Sie Ihrer Freundin endlich den lang ersehnten Heiratsantrag. Sie sind innerlich mehr als bereit dazu, das spüre ich.»

«Ja, der totale Nerd. Könnte in einer WG mit Sheldon und Leonard wohnen», sage ich. The Big Bang Theory war eine von Dads Lieblingsserien.

Mika lacht. «Hast du seine Brille gesehen?»

Hab ich. Sie hatte so dicke Ränder, dass man darauf spazieren gehen könnte.

«Ich glaub, das nennt man Hornbrille. Auf alten Fotos trägt Grandma Josephine auch so eine.»

«Echt?»

Ich nicke.

«Wo sind die alten Fotoalben eigentlich?», will meine Schwester wissen.

«In einer der Kisten, schätze ich.»

April hat ein paar davon in die Lagereinheit gebracht und ein paar in die Garage gestellt.

«Ich glaub, ich such morgen mal danach», meint Mika und streicht sich ihr blondes Haar hinters Ohr. Sie hat es sich vor Kurzem von April zu einem kinnlangen Bob schneiden lassen und sieht jetzt viel älter aus.

«Viel Glück.»

Ich hoffe, dass sie die Alben nicht findet. Denn dann würde sie damit zu mir kommen, um sie sich zusammen mit mir anzusehen. Ich will aber keine Fotos von früher sehen, als die Welt noch in Ordnung war. Als unsere Mutter noch da war und unsere Großeltern und unser Dad noch am Leben.