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Berlin vor dem Fall der Mauer, China vor dem Massaker am Tian'anmen-Platz: eine Welt voller uneinlösbarer Versprechen, eine Generation, die sich treiben lässt auf der Suche nach einem anderen Leben. Im winterlichen Berlin mit seinen dunklen Kneipen und plüschigen Cafés versuchen der Erzähler und sein bunt zusammengewürfelter Freundeskreis, eine neue Freiheit zu erfinden. In ihrem Mittelpunkt steht die schillernde Nina, die alle in ihren Bann zieht, selbst jedoch den gefährlichen Einflüsterungen ihrer inneren Stimmen ausgeliefert ist. Ein One-Way-Ticket nach Beijing wird zum Befreiungsschlag: Der Erzähler lässt alles hinter sich und reist durch ein China im Umbruch, durch ein großes, blaues Reich, in dem er vergeblich das Vergessen sucht.
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Seitenzahl: 266
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Hinrich von Haaren
Roman
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Umschlaggestaltung: Thomas Kussin / buero 8
Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien
Coverfoto: Alper Çuğun, »Kvartira«
Lektorat: Jessica Beer
ISBN ePub:
978 3 7017 4630 9
ISBN Printausgabe:
978 3 7017 1711 8
Die Weltfremden
Tischmanieren. Überfälle.
Götter. Feinde.
Die fremde Welt
Der Kutter, mit Kurs von Hongkong nach Rongqi in der Provinz Guangdong , legt gegen Mittag an. Ich habe den Kapitän, einen ausgemergelten Kantonesen, im Hafen von Hongkong, weit hinter dem Container-Kai aufgespürt (versuch es bei dem Tintenfischer … der braucht immer Geld …) und ihn nach kurzer Verhandlung dazu überredet, mich für 15 Hongkong-Dollar mitzunehmen auf seine Tour, die drei Tage dauert. Der Kutter fährt zunächst ins südchinesische Meer hinaus, zum Tintenfisch- und Rotbarschfang. Wir haben den dritten Tag hinter uns, die harte Arbeit ist getan und nun herrscht Ruhe an Bord. Die Fischer, ausgemergelt wie ihr Kapitän, in feuchter, viel zu dünner Kleidung für die Jahreszeit (Sommerhosen, zerfetzte Pullover), dösen in der blassen Wintersonne. Nur der Steuermann ist wach und lenkt den Kutter ins seichte Wasser des Hafens von Rongqi.
Ich blicke über die Reling in eine blaue Welt. Vor mir liegt die kleine Stadt. Es ist Markttag und der Kai voller Menschen. Händler, meist alte Frauen und Kinder mit Kisten und Körben, in denen es wimmelt, hocken auf dem matschigen Boden, kauern neben ihren Waren, die Alten mit einer Zigarette in der Hand, und alles ist blau – die Mao-Anzüge, die Mützen, die Kinderkappen, der Dezemberhimmel, in den der blaue Rauch der Fabriken und Kohleöfen von Rongqi steigt, ja die Luft selbst scheint blau, und auch die Menschen, denn aus den Pfützen fällt das blaue Licht des Dezemberhimmels zurück auf die Gesichter. Das Getümmel in den Körben ist blau. Wer hineinlangt, kann kleine Schildkröten ersteigern, Tintenfische, Aale, Schlangen, andere Körbe sind voller Hühnerfüße, Kohl, lila Auberginen, die Bottiche gefüllt mit Seetang, Wasserkastanien, Tofu. Daneben, auf dem nassen Boden, Schachteln mit Gewürzen, geschützt von blauen Plastiktüten, um die die Einkäufer vorsichtig herumgehen, so wertvoll sind sie. Blaue Hände in blauen Körben, abgezehrte Arbeitshände, mit spitz zulaufenden Nägeln. Die Hände verkaufen und verpacken, sie zählen Geld ab, sie winken die Kunden herbei, und nun zeigen sie mit nackten Fingern auf den Hong Mao Gui , den rothaarigen Teufel, der sich hier auf ihrem Markt unter die Menge gemischt hat, sie zeigen auf die sommersprossige Gestalt, sie starren und entblößen mit schierem Lachen ihre blaugerauchten Zähne, sie können ihre Erheiterung über den erstaunlichen Auftritt dieses Fremdlings nicht verhehlen. Jetzt strömen auch die Arbeiter der gerade zu Ende gegangenen Frühschicht auf den Markt, sodass sich das Getümmel noch vervielfacht, das Gedränge und Geschiebe in den engen Zeilen noch dichter, das Geschrei und die Verhandlungen aus den blauen Mündern noch lauter werden.
Das chinesische Blau ist wie kein anderes, das ich je zuvor gesehen habe. Es ist ein kühles, klares Winterblau, das Blau der großen Distanzen, das Blau eines Reiches, das Kaiser und Kapitalisten und Kommunisten überlebt hat, ein Blau, das nach harter Arbeit riecht, nach Kohlenrauch, das Blau der armen Leute, das Blau der Klassenlosigkeit, das Arbeiterblau, das durch die Adern dieser Menschen fließt. Blaues Blut. Ein Blau, das bald der Vergangenheit angehören wird.
Es ist Ende Dezember 1988, und ich bin seit vier Tagen in China, seit meiner Flucht aus Berlin. Einer Flucht vor den tiefen Hinterhöfen, dem eisigen Winter, der ungnädigen Stadt, aber besonders ist es eine Flucht vor den letzten zwei Jahren. Ich muss mit dem Berliner Leben brechen. Darum bin ich hier, in Rongqi, wo das alte Jahr noch nicht zu Ende ist, wo es noch gut drei Monate dauert, bis die Schlange den Drachen ablöst.
Ich weiß sofort: in dieser Welt kann jeder Schritt in tausend Richtungen führen, hier gibt es kein Wiedererkennen, keine Geborgenheit, keine Selbstzufriedenheit. Hier kann mein Leben ohne feste Route weitergehen, ohne feste Zeiten, 7000 Kilometer weit von Berlin, der halben Stadt, wo meine lebendigen und meine toten Freunde zurückgeblieben sind.
In den letzten zwei Jahren hatten wir das Schlimmste durchgemacht – Angst, die Angst vor dem Tod, den Tod selbst. Dann: die langen Nächte, in denen wir mit den immer gleichen Gedanken wach lagen. Lebensmüde Gedanken im Kreis. Dann meine Entscheidung: ich räumte meine Wohnung aus, schmiss alles weg, außer ein paar Sachen, die ich in einen kleinen Rucksack packte, stieg eines Abends in den Nachtzug vom Bahnhof Zoo nach Frankfurt, für den Nachmittagsflug nach Hongkong. Durch das heruntergeschobene Fenster lehnte ich mich nach draußen, wo Daisy, Yukio und Monika Schneeweiß mit Sekt auf dem Bahnsteig standen, mir Illustrierte und Schokolade und Butterbrote ins Abteil reichten, fragten, ob mir noch etwas fehle (Bonbons? Chips? Aspirin?), die Hände ins Abteil streckten und mich festhielten, und selbst noch, als der Zug sich schon in Bewegung setzte, wie im Film nebenherliefen, mit vom Abschied besorgten Gesichtern, wenn die Besorgnis doch eigentlich hätte ihnen gelten sollen. Denn ich hatte mich mit dem ersten Rucken des Zuges frei gemacht von Berlin und den letzten Jahren, eine Freiheit, die ich gleich bei meinem ersten Schritt ins blaue Reich spüre, gleich, als mein Fuß vom Krakenkutter auf den Kai in Rongqi hinübertritt, auf das glitschige nasse Land, mit Märkten und Pfützen, mit Greisen und Kindern, gleich beim ersten Auftreten, bei der allerersten Berührung mit dieser für meine ungeschulten Augen gänzlich chaotischen Welt, wird mir klar, dass dieses Land die Macht hat, jede Vergangenheit aus dem Weg zu räumen.
Hier herrscht ein Tumult aus tausend Stimmen, Verkehr, Hupen, Klingeln, ein mittelalterlich-modernes Stadtbrausen, von dem jeder, der hier ankommt, mitgerissen wird. Ich lasse mich vorwärtstreiben, noch weiß ich nicht wohin, Ziehen, Schieben, Schubsen von allen Seiten, in alle Richtungen. Welche Vergangenheit käme schon gegen diese Macht an! Wer seinen Fuß nach China setzt, dem bleibt nur die unaufhaltsame Gegenwart.
Und die alten, die vergangenen Farben? Das kaiserliche Gelb? Es ist lediglich in den Gardinen und Sesselbezügen im Hotel der Freunde der Arbeiterklasse anzutreffen, ein armseliger Verwandter des wahren Gelbs, hergestellt aus drittklassigen synthetischen Farben. Das Freunde der Arbeiterklasse ist der einzige Ort in Rongqi, wo Ausländer absteigen dürfen. Strenge Zeigefinger haben mich hierher gewiesen, und panische Abwehrhände hinter den Rezeptionen anderer Hotels und Pensionen, bei denen ich auf dem Weg vom Hafen wegen eines Zimmers nachfrage, machen mir unmissverständlich klar, dass aufgrund irgendwelcher Regeln aus Peking nur das Freunde der Arbeiterklasse für rothaarige Teufel infrage kommt. Im Roten Soldaten, vor der Revolution der Rote Hahn, wie mich mein Reiseführer belehrt, meiner ersten Station auf der Suche nach Obdach, öffne ich zum ersten Mal meinen Mund in der fremden Sprache (nur drei Worte Englisch auf dem Boot), die ich im Ostasiatischen Seminar in Berlin-Dahlem, in Räumen, die nach feuchtem Parkett und alten Gardinen rochen, so mühevoll und, wie sich jetzt herausstellt, nur ausgesprochen rudimentär erlernt habe, denn allein die Zimmernachfrage im Roten Soldaten stellt mich, den Studenten der Sinologie, vor schier unüberwindbare Ton- und Vokabelprobleme und ruft bei dem Mädchen hinter der Rezeption einen derartigen Lachkrampf hervor, dass sie nur mit den Händen wedeln kann, sonst aber jede weitere Kommunikation mit mir verweigert, nicht etwa, weil sie um irgendwelche Parteiregeln besorgt ist, die jeden noch so unschuldigen Kontakt mit Ausländern hier bestimmen, sondern weil sie sonst Gefahr liefe, von der Belustigung über das Fremde vollends überwältigt zu werden. Auch im Großen Gelben Fluss und im Einheitshotel löse ich mit meinem Anliegen nur Gelächter aus. Zwar ist die Erheiterung über meinen Auftritt im Freunde der Arbeiterklasse die gleiche, doch nimmt hier das Mädchen an der Rezeption, nachdem es sich wieder gefangen hat, meine Bitte endlich ernst, auch weil die Direktive aus Peking lautet, beim Auftreten eines Ausländers angemessene Gastfreundschaft zu zeigen, um so das internationale Ansehen der Volksrepublik zu stärken. Mich aber verwirren gar nicht das Kichern oder der Mangel an Fremdenzimmern für Fremde, sondern mein eigener Mund, der plötzlich in dieser anderen Sprache funktionieren soll. Ich bin weit gereist, um hier im blauen Reich verloren zu gehen, stattdessen aber verirre ich mich, noch bevor ich überhaupt angekommen bin, in der Sprache. Ich mache den Mund auf und heraus kommen die im Seminar in der Podbielskiallee geübten Laute, die Nis und Ges und Fengs, die ich korrekt zu intonieren versuche, die aber aus der von mir beabsichtigten Tonlage eine Terz abrutschen und gleich derart perfide ihre Bedeutung ändern, dass auf dem Gesicht des Rezeptionsmädchens, das gerade den ersten Schock über diese Ansprache verdaut hat, nun ein krauses Unverständnis sichtbar wird über meinen Wortsalat, von dem sie offensichtlich nichts versteht, und der sie in ihrer allerersten Vermutung bestätigt, dass aus meinem roten Teufelsmund also doch nicht Mandarin, sondern nur Kauderwelsch kommen kann. Meine Zunge dreht und wendet sich, versucht die fremden Worte so getreu wie möglich nachzuahmen, bis mir schließlich doch eine ganz passable Frage gelingt, in der die Worte »Bett« und »zwei Tage« und »Preis« wie Rettungsbojen aufleuchten. Und tatsächlich flackert nun das Verstehen in den Augen des Mädchens auf, wenn auch ihr Unglaube gleich wieder wächst, denn dieser Fremdling fragt nicht nach dem besten Zimmer des Hauses, sondern nach einem Bett im Schlafsaal. Sie muss mehrere Male nachhaken, um sicherzugehen, dass sie mein Anliegen auch richtig verstanden hat, dass ich trotz meines westlichen Wohlstands (Anorak und Turnschuhe) nicht das Freundschaftszimmer mit anliegendem Bad und Blick auf den Freundschaftsplatz möchte. Nein, Schlafsaal. Unter weiterem Prusten schiebt sie mir ein langes Formular hin, auf dem ich nur drei oder vier der hundert Zeichen verstehe, doch muss jeder Gast das lange Blatt ausfüllen, egal ob Freundschaftszimmer oder Schlafsaal. Ich arbeite mich vorwärts, von Zeile zu Zeile, und das Mädchen, das nun ganz in ihrer Rolle als Botschafterin der internationalen Freundschaft aufgeht und das diese Berührung mit dem Exotischen reizt – die roten Haare, die Blauäugigkeit, das vergnügliche Mandarin –, das Mädchen leitet mich an, ach Blödsinn, es mischt sich einfach ein, nimmt mir kurzerhand den Stift weg und füllt das Formular selbst aus, ohne auch nur einen einzigen Blick auf meinen Pass zu werfen, den sie nur flüchtig und misstrauisch durchblättert. Formular fertig, Bett schon bezogen. Ich kann mich endlich hinlegen und ein paar Stunden schlafen, bevor meine Chinareise richtig beginnt. Aber da hat das Mädchen ganz andere Pläne, hat bereits im Hotel und, wie es scheint, in der ganzen Stadt Nachricht gegeben, wer hier gerade eingecheckt hat. Denn nun laufen in der Halle, wo über einer Sitzgruppe mit hellblauen Schonbezügen Mao Zedong von einem grellen Poster auf uns herabblickt, die Hotelangestellten zusammen, und mit ihnen eine ganze Schar Unbekannter, die das Mädchen, ohne dass ich es bemerkt hätte, zur Fremdenschau eingeladen hat. In China – aber davon weiß ich noch nichts – verbreitet sich jede Nachricht wie ein Lauffeuer, und jederzeit kann überall von nirgendwoher und in Nullkommanichts eine Menschenmenge zusammenlaufen. Ich stelle mir überfüllte Stuben, Schlafzimmer, Wartezimmer, Sterbezimmer vor, das Drängen und Schubsen, das Halsrecken (wer schläft? wer ist krank? wer stirbt?), die Schaulustigkeit, das flatternde Stimmengewirr, das auch jetzt hier Krach macht und in zwei Dutzend Tonlagen Verwunderung von sich gibt. Ein Krakeelen ist das, ein Klappern, ein Juchzen, ein Jammern, ein Klacken mit tausend Zungen, und dann ein rasendes Rascheln, bevor die Menge wieder auseinanderfliegt. Die Lobby ist leer, das Mädchen döst hinter der Rezeption, weder im Speisesaal, noch in der Küche, noch im Schlafsaal regt sich etwas.
Die Fenster des Schlafsaals sind mit Bettlaken verhängt und lassen nur ein diffuses gelbes Licht durch. Endlich kann ich mich hinlegen. Mein erster chinesischer Schlaf. So sehe ich von oben betrachtet aus: einer, der sich unruhig hin und her wälzt, krumm auf dem schmalen Bett, ein Knie angezogen, ein Fuß über der Bettkante hängend, Beine und Torso verheddert in die Laken, die gleichen, die vor den Fenstern hängen. Dahinter geht die Sonne unter in dem Land, wo seit 23 Jahren eine Lücke für mich offensteht. Das ist die Pflicht des Reisenden. Man hat mir hier einen Platz frei gemacht. Ich muss die mir angebotene Lücke füllen.
Als ich aufwache, blicke ich in das Gesicht eines Fremden. Er lehnt sich dicht über mich, als wolle er meinen Schlaf studieren. Es ist ein junger Mann in einer seltsamen Aufmachung. Es scheint, als sei er bei dem Versuch, die Mao-Uniform modisch aufzulockern, in einer Strandszene von 1970 gelandet. Unter der blauen Jacke trägt er ein geblümtes Hemd mit weitem Kragen, der schlagerstarartig offen steht. Die zu weite Hose wird kraus von einem eng geschnallten Gürtel um seine schmalen Hüften gehalten (er kann nicht älter sein als zwanzig). Die blauen Hosenbeine sind bis unters Knie hochgerollt und geben so ein Paar bleiche, unbehaarte Beine frei, die in schwarzen Nylonsocken stecken und in einem Paar androgyner Sandalen mit reichlich hohen Absätzen. Der junge Mann lacht. Er ist erfreut, mich wach zu sehen, und bläst mir beim Lachen den Rauch seiner Zigarette ins Gesicht. Die Haare stehen ihm ungekämmt zu Berge, und mir kommt es vor, als drücke diese Frisur seine Freude über den unerwarteten Schlafsaalgesellen aus.
Mein freundlicher Mitschläfer ist Fang Lo, Metallarbeiter, der hier in Rongqi aus zentralpolitischen Gründen fern seiner Heimat Qinghai stationiert ist. Ich verstehe nur einen Bruchteil seines über mich hereinbrechenden Wortschwarms (Klappern und Klacken), aber mein Lächeln vom Kopfkissen her vermittelt wohl den Eindruck, dass ich alles begreife, ja mehr noch, dass ich sogar eine Meinung habe zu den Fragen, die er in seine Rede einstreut und die ich an seinem aufmunternden Kopfnicken erkenne, wenn er offenbar eine Antwort erwartet, dann aber zu ungeduldig ist für meinen schläfrigen Mund. Eine dieser Fragen ist, wo wir heute zu Abend essen sollen, denn Fang Lo will unter keinen Umständen, dass ich mutterseelenallein in ein unbekanntes Restaurant wandere, um dort, von aller Welt verlassen, eine Schale Nudelsuppe leer zu löffeln. Denn so – von aller Welt verlassen – sieht er mich auf meinem Bett liegen. In China reist niemand allein, und daher bin ich in seinen Augen ein ganz armer Teufel, ohne Freunde, ohne anhängliche Gruppe. Er sagt daher all seine Pläne für die nächsten zwölf Stunden ab, um mit mir im Restaurant Grüne Jade zu essen, wo ich weder bestellen noch bezahlen darf, im Grüne Jade also, wo sich die versammelten Gäste am Hunger des roten Teufels freuen, der ein Gericht nach dem anderen verputzt, wo die blauen Vorhänge aus Uniformstoff sind und die Tischdecken ein verwaschenes kaiserliches Gelb, das Gelb von Ninas Bettwäsche, an dem Tag, als sie das erste Mal Alexandra liebte.
Eine andere Flucht: Am Ernst-Reuter-Platz stieg Alexandra an einem Oktoberabend 1986 aus einem fremden Auto. Nahm ihre Tasche, lief in Richtung Zoo. Hatte alles über den Haufen geworfen.
Zur selben Stunde kam ich mit Daisy Oberon aus dem Delphi-Filmpalast in der Kantstraße; saß Yukio mit steifen Fingern an der Orgel in der Sankt-Matthäus-Kirche an der Philharmonie; lagen Tina Tina und Jack nach zehn Minuten kühlem Sex im Bett in der Potsdamer Straße; verließ Monika Schneeweiß den Frisörsalon Walter in der Kavalierstraße in Pankow.
Zur selben Stunde ändern sich die Farben in Berlin. Das Licht wird durchlässig und scheint gelb durch die adrigen Blätter der Hinterhofbäume. Die kriegszerschossenen Fassaden säumen grau und blaugrau und graubraun die Straßen. Die Berliner Farben machen keine Komplimente. Das Licht ist hier unbarmherzig.
Zu einer anderen Stunde, an einem anderen Ort saß ich mit Daisy im Ostasiatischen Seminar an einem Tischhufeisen und zählte meine Kommilitonen ab, um auszurechnen, mit welchem Satz in der chinesischen Übersetzung ich an die Reihe kommen würde. Es war die Klasse von Frau Dr. Brandes, und ich hatte schon nach sechs Wochen Chinesischunterricht den Faden verloren, obwohl sich die Übersetzung noch auf dem allereinfachsten Niveau bewegte: Herr Li arbeitet in der Fabrik , Kleine Schwester Ming trinkt Tee , Frau Wang ist eine Heldin der Revolution . Aber ich hatte meinen Satz vorbereitet: Um 8 Uhr beginnt die Schule . Da überspringt die Brandes ohne Vorwarnung meinen Nebenmann, der noch unvorbereiteter ist als ich, und nun ist die Reihe an mir. Vor meinen Augen tanzen die Schriftzeichen auf dem Papier, fallen hin, bleiben liegen, ein Mikado-Haufen, ein undurchdringliches Gestrüpp. Ich stottere etwas von Autobus und Haltestelle, ernte aber nur einen missbilligenden Blick, dann ein ungeduldiges Räuspern, dann eine scharfe Handbewegung, mit der die Brandes auch mich überspringt. Kurze Scham, dann enorme Erleichterung. Was zum Teufel mache ich hier?
Universitätslicht: trüber Schein aus Kriegsglühbirnen. Universitätsfarben: verblasste Gardinen, rote Wörterbücher, grüne Parkas.
Ich hatte Daisy gleich am ersten Studientag kennengelernt, in der Einführung in die chinesische Sprache, Grundkurs 1 und dann wieder getroffen im Basiskurs Ming-Dynastie. Beide hatten wir uns aus Fernweh für das Sinologiestudium eingeschrieben. Daisy kam aus der rheinländischen Provinz, ich aus Brandhagen. Von Berlin aus wollten wir weiter nach Osten – Hongkong, Shanghai, Kunming, Tibet. Große Welt und große Freiheit. So hatten wir uns das vorgestellt. Doch die Lehrer am Ostasiatischen Seminar sahen die Sache anders. Vom ersten Tag an erklärten sie bieder und überheblich, dass die Eroberung des blauen Reichs nicht einfach, ja, für die meisten von uns unerreichbar sein würde. Dr. Hubert Kind, Akademischer Rat, stand im Mao-Anzug (das chinesische Blau im Kriegsschein der Glühbirnen) vor den Seminarteilnehmern des Grundkurses 1 und deklamierte die vier chinesischen Töne, »die täglich zu tausend Missverständnissen führen«: mā, má, mă, mà, gē, gé, gě, gè, shī, shí, shĭ, shì. Seine phonetischen Unterweisungen unterbrach Dr. Kind mit Anekdoten aus seiner 25jährigen orientalischen Karriere: Hubert besticht die Fahrkartenverkäuferin am Bahnhof von Kunming, Hubertus wird während der Kulturrevolution als westliches Imperialistenschwein des Landes verwiesen, Hubert-Hubert soll in einem Dorf in Ostturkestan eine fünfzehnjährige Uigurin heiraten, der er angeblich schöne Augen gemacht hat. Wir bewunderten Dr. Kind, wie er sich auf einheimische Weise im Allerinnersten des blauen Reichs bewegte, bewunderten sein im gleitenden Parlando gesprochenes Chinesisch. Das wollten wir auch. Wollten unsere Lücke in China finden und füllen.
Alexandra hatte ihre Lücke nicht gefüllt, war nicht nach Brandhagen zurückgekehrt, um pflichtbewusst in das Geschäft meiner Eltern einzutreten. So hatte die Familie es für sie vorbestimmt, so hatte unsere Großmutter es in Sütterlin in ihrem Testament festgelegt und beim Notar Dorn in C. hinterlegt: Nicht ich, der Junge und eigentliche Erbe, sondern meine Cousine sollte das Geschäft übernehmen. Wegen ausgezeichneter kaufmännischer Fähigkeiten usw. Bei mir war in der Beziehung nichts zu erwarten. Da hatten sie mich sogar Chinesisch studieren lassen, solange nur Alexandra nach Brandhagen und in die Kleine Straße zurückkehrte. Aber so war es nicht gekommen. Und mein Onkel Olaf, ihr Vater, hatte den Zug aus Hamburg am Bahnhof in C. ein- und ausfahren sehen und war allein geblieben auf dem Bahnsteig. Keine Alexandra stieg aus. Er konnte es gar nicht fassen, der gütige Großkotz, konnte nicht glauben, dass seine eigene Tochter, von der hier alles abhing, ihn so im Stich ließ. Hatte vorher nicht einmal in Hamburg angerufen, um herauszufinden, mit welchem Zug sie wohl ankommen würde. Am Freitag war ihre Lehre bei der Import-Exportfirma Geest & Geest zu Ende gewesen, am Samstag gab es nur eine direkte Verbindung, sodass sie in keinem anderen Zug sitzen konnte. Saß da aber nicht drin. Trampte stattdessen nach Berlin. A24, Transitstrecke, Passkontrolle, Heerstraße, Ernst-Reuter-Platz. Stieg aus, atmete durch. Östliche Herbstluft. Dann zu Fuß in die Stadt rein, Hardenbergstraße, Zoo, Kurfürstenstraße, noch ein bisschen tiefer, Eisenacher, Barbarossaplatz, vorbei am Café Altar, wohin ich nachmittags mit Daisy aus den sterbenslangweiligen Kursen des Professor vom Kahn über das Thronbesteigungszeremoniell der späten Ming-Dynastie floh. Stundenlang saßen wir hier in der plüschigen Ausstattung herum, schlugen eine Ewigkeit nach der anderen tot, über uns die wackligen Wandleuchter, vor uns auf dem marmorierten Tisch ein Kaffee und ein Stück Kardinalstorte. Das Altar hatte seit seiner Eröffnung 1921 alles überlebt: Inflation und Armut, die Nazis, die Bombennächte, die Ruinen, die Abrisssucht der Sechziger, die Anonymitätssucht der Siebziger. Jetzt überlebten wir hier. Die Kellner waren berühmt für ihre Ruppigkeit, und an unserem Stammtisch im hinteren Teil bediente mit steifer Herablassung Herr Ludwig aus Spandau.
An den langen Nachmittagen hier – »noch ʼn Kaffee?«, »ʼn Stück Himmelstorte dazu?«, »eigentlich schon Zeit für ein Glas Wein« – kam es mir vor, als würde etwas in mir befreit. Wir sprachen über alles, reimten uns eine neue Weltanschauung zusammen, oder eine, von der wir glaubten, sie sei neu, und ich pellte mich nach und nach aus den alten Brandhagener Lebensregeln (Tütelkram, stell dich nicht so an, reiß dich zusammen), die bis dahin so absolut gewesen waren, nun aber, mit der geografischen Entfernung, eine nach der anderen in sich zerfielen. Plötzlich hatte ich Gedankenfreiheit, denn mit Daisy waren alle Gedanken erlaubt. Sogar über den bis dahin immer verschwiegenen Sex wollten wir frei reden, waren entschlossen, die verkniffene Scham abzuschütteln, die uns zu Hause eingetrichtert worden war. Wir waren Anfang zwanzig, lebten in der konservativen Republik von 1986, und Daisy fand, wir sollten uns befreien von der Prüderie unserer Kindheit. Doch die neuen sexbehafteten Worte blieben noch klobig und linkisch und waren uns nach alter Gewohnheit peinlich. Es fehlten die feineren Schattierungen. Daisy neigte ohnehin zu maßlosen Übertreibungen, manipulierte Fakten, um einen Effekt zu erzielen, oder sie erfand einfach Sachen. Allein in der Übertreibung schien die Welt für sie Gültigkeit zu haben. Alle Empfindungen waren um zweihundert Grad nach oben geschraubt, eine Temperatur, die nicht zur Feinfühligkeit unserer neuen intimen Gespräche passte, ja eine Temperatur, hinter deren rotem Drama wir uns allzu leicht verbergen konnten.
Licht: rostgelbes Licht aus den klapprigen Wandleuchtern im Altar. Zungenlösendes Licht. Licht der langen Nachmittage und zeitfüllende Worte.
Und ein anderes Licht: das Neonlicht der Schokoladenfabrik am Bukower Damm im Süden Neuköllns, wo Daisy und ich in diesem ersten Winter von acht bis fünf in der Nachtschicht abgezählte Süßigkeiten verpackten. Mit uns am Fließband stand im kränklich grünen Licht Yukio, der die Packregeln nicht verstand und immer wieder die Geschmäcker vertauschte. Dann hielt Otto Prumpf, Vorarbeiter und Schinder, die falsch gepackte Schachtel hoch und schrie: »So packen se vielleicht in Tsching-Tschong Land, aber doch nicht hier!«
Am Fließband erzählte uns Yukio Nacht für Nacht seine Geschichte: seit zwanzig Jahren Musikstudent, in Salzburg Oboe, in Saarbrücken Flöte, in Malmö Violine, in München Cello, in Bordeaux Klavier. Jetzt nahm er bei Professor Irene Dublai Orgelunterricht. Eminente Lehrerin, sagte Yukio, und diesmal schaffe ich es bis zum Abschluss. Mit der blinden Dublai saß Yukio in der eiskalten Matthäus Kirche an der Philharmonie vor den Manualen und spielte sich durch Bach und Buxtehude. Die Dublai war streng und ungeduldig, hielt stets einen Bleistift in der Hand, mit dem sie erbarmungslos zuschlug, wenn ihm ein Fehler unterlief. Keine Ahnung, warum ich das mitmache, sagte Yukio, aber aufhören geht auch nicht. Das wäre jetzt Scheiße nach all den Jahren. Statt Scheiße sagte er Schweiße. Wir betrachteten die vorbeifahrende Schokolade auf dem Fließband und waren uns einig: Er hatte recht, aufgeben wäre jetzt Schweiße.
Ich hatte eine kleine Wohnung, Zimmer, Küche, Außenklo, in der Balbecer Straße in Schöneberg gemietet. Geheizt wurde mit einem Kachelofen, der die allerschönste Wärme abgab und dessen Kohlengeruch sich in allem festsetzte – Bettwäsche, Pullover, Haare. Meine Fenster gingen auf einen braunen Berliner Hinterhof, in dem bei den Mülltonnen ein Kastanienbaum um Licht kämpfte. Das Klo lag eine halbe Treppe tiefer und war nachts schon im Herbst eine eisige Angelegenheit. In der Küche stammte das Waschbecken noch aus den Dreißigerjahren und wurde irgendwann mit einem kleinen Boiler nachgebessert, der zwei Liter hielt, gerade genug zum Rasieren oder für den Abwasch, aber längst nicht für eine gründliche Körperreinigung. Zum Duschen ging ich also dreimal die Woche ins Schwimmbad am Sachsendamm.
Schwimmbadfarben: das blaue Becken, die blauen Schwimmer, die silbernen Duschen, die nassschimmernde Haut.
In der Sammelumkleidekabine verkrampfte und verkrümmte ich meinen endomorphen Körper, zog wie eine lange Schleppe die Brandhagener Prüderie hinter mir her und verwickelte mich während des Aus- und Anziehens in das eng um die Hüften geschlungene Handtuch. Schlimmer noch war es unter der Dusche, wo ich neben den Stahlschwimmern stand, die zu Hause komplett ausgestattete Badezimmer hatten und nur aus athletischen Gründen zum Sachsendamm kamen. Die trugen ihre Blöße hier muskulös zur Schau, bewegten sich mit lapidar baumelnden Schwänzen zwischen Dusche und Kabine, als sei das überhaupt nichts, während ich zu einem linkischen Geflecht aus Scham und Krampf wurde.
Nach dem Schwimmen wartete ich am Damm im Novemberwind auf den Bus. Manchmal fuhr ich ins Altar und belohnte mich mit Kaffee und Kuchen für die sportliche Stunde. Alleine, ohne Daisy, wurde ich hier wieder zum früheren Beobachter aus Brandhagen, der mit der Erbsen schälenden Großmutter unter dem Holunderbusch im Garten gesessen und stundenlang dem Klock-Klock zugehört hatte, mit dem die grünen Perlen in den Plastikeimer fielen. Die gleiche voyeuristische Wohligkeit empfand ich jetzt im Altar. Ich brauchte weder Buch noch Zeitung, sondern konnte einfach nur auf meiner Bank an der rückwärtigen Wand sitzen und den durchziehenden Gesellschaftsreigen genießen. Hier saßen alte Damen mit pilzfarbenen Hüten, Damen, die, laut Daisy, zu Hause vergilbte Ausgaben des Völkischen Beobachters horteten und die Pensionen ihrer mörderischen Gatten kassierten. Hier saßen die Zwillingsschwestern Zacharias, dünn und blond und hochgeschminkt, die, so hieß es, 1934 ihre Revuekarriere von Berlin nach Paris verlegt hatten und von dort vor den einfallenden deutschen Horden über Bordeaux nach Carcassonne geflüchtet waren. Es gab andere Stammgäste: ein Herr mit Glatze, der nichts anderes las als den Stechlin, ein schüchternes Mädchen, das laut Herrn Ludwig Groschenromane schrieb, eine asiatische Schönheit mit aufgestecktem Haar und aparten Schuhen, ein älteres Ehepaar, das sich immer stritt.
Die Luft im Altar war dick vom Rauch, und manchmal, wenn die Kriegswitwen gekünstelt hüstelten, rissen die Kellner die im Winter mit einem dicken, burgunderfarbenen Vorhang verhängte Tür auf, um frische Luft hereinzulassen, was wiederum dem Herrn mit dem Stechlin nicht passte, da er auf keinen Fall eine Erkältung riskieren wollte. Es kam zu Klagen und Gegenklagen, und die Kellner sahen dem Zirkus unbeeindruckt und tatenlos zu. Sie waren solche Szenen gewohnt. Im Altar wurde generell viel gemeckert. Irgendjemand litt immer an irgendeiner Beschwerlichkeit oder hatte etwas auszusetzen. Die nazistischen Damen, der Herr mit dem Stechlin, das Groschenroman-Mädchen, sie alle gehörten zu einer jaulenden Bande, die in einem fort Klage führte über das, was längst hinter ihnen lag, was ihnen noch bevorstehen mochte und besonders über das, was sie gerade vor der Nase hatten: mal war es zu rauchig, mal zu zugig, mal war der Kaffee zu heiß, mal zu lau, mal konnten sie ihren Stammtisch nicht haben, mal wollten sie zur Abwechslung woanders sitzen. Gerade die Beschwerden, die Ruppigkeit und die schlechte Laune aber hielten diese Truppe zusammen und waren mein Theater. Und eines Tages – ich saß an einem der hinteren Tische und war gerade mit dem Frühstück Messdiener fertig – entdeckte ich in dieser launigen Menge Alexandra.
Der Schlafsaal hat sich über Nacht gefüllt, ohne dass ich das Geringste davon gemerkt hätte. Nachdem ich mit Fang Lo aus der Grünen Jade zurückgekommen war, dauerte es keine zehn Minuten, bis ich einschlief. Ich war erschöpft, und während meines Tiefschlafs haben sich auf Zehenspitzen die anderen Schlafsaalschläfer hereingeschlichen, haben sich in die anderen Betten gelegt und sind in den gleichen Tiefschlaf gefallen, aus dem sie am frühen Morgen wieder aufwachen werden, einem Morgen, der blau durch die verhängten Fenster scheint und in meinem Kopf Verwirrung stiftet. Wo bin ich? Wer sind diese Leute? Was ist dies für eine Sprache? Der Schlafsaal hat sich komplett verwandelt. Ich bin in einem fast leeren, in seiner Ordnung somnambulen Raum eingeschlafen und wache jetzt umgeben von teils noch schlafenden, teils halb angezogenen, teils mit Handtüchern, Kleidung und Gepäckstücken hantierenden Männern auf. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, ein Hin und Her zwischen den Betten, das an den Markt vom Vortag erinnert. Neben mir schnarcht Fang Lo vollkommen ungestört. Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, wie jemand bei diesem Krach schlafen kann, aber ihm und den anderen Übermüdeten in den benachbarten Betten scheint das alles nichts auszumachen.
Die Männer kümmern sich nicht weiter um mich. Sie müssen sich fertig machen, müssen los, müssen zum Schichtbeginn um sechs in die Metallverarbeitungsfabrik Volksbewegung am anderen Ende der Stadt. Sie sind Fremdarbeiter aus Xinjiang , die man per Befehl aus Peking hierherverfrachtet hat, während Männer und Frauen aus Rongqi wiederum in andere Ecken des Reichs geschickt werden, um dort in Metallverarbeitungsfabriken ihren Beitrag für das Wohl des Volkes zu leisten. So ist ganz China ständig im Aufbruch, der Osten nach Westen, der Süden nach Norden und so fort. Menschenmassen wälzen sich unaufhaltsam durchs Land und von irgendwoher, vielleicht von einem Bürokratenschreibtisch in Peking aus, wird dieser lange Volksmarsch, dieses tausendfache Reisen dirigiert.
Im Bahnhof von Rongqi, wo ich an diesem Morgen meine Fahrkarte nach Wuzhou kaufen will, herrscht ein verrücktes Gedränge. Solche Massen habe ich in meinem Leben noch nie gesehen. Als wäre die ganze Stadt hier versammelt. Als wäre der Bahnhof eine eigene Stadt. Eine blaue Stadt. Eine Stadt der blauen Menschenschlangen. Das ist alles, was ich beim Eintritt in die Halle sehe. Hunderte Menschen in Mao-Anzügen, die um Fahrkarten anstehen. Die verschiedenen Schalter sind jeweils nur mit einer Nummer gekennzeichnet (1–23), sodass mir vollständig unklar ist, warum manche Schlangen doppelt so lang sind wie andere. Offensichtlich haben die blauen Kartenkäufer einen Informationsvorsprung mir gegenüber, denn auch neu Hinzustoßende stellen sich mit der allergrößten Selbstverständlichkeit bei bestimmten Schlangen an. Die Blauen mustern mich aus sicherer Distanz. Niemand nimmt den dummen Fremden bei der Hand und reiht ihn ein. Hier kämpft jeder für sich allein. Einige der Schlangen sind jetzt so lang, dass sie sich ineinander verwickeln, sodass nicht mehr zu erkennen ist, welche Schlange zu welchem Schalter gelangt. Ich wähle Schalter 14, an dem die wenigsten Leute anstehen. Von der Frau vor mir versuche ich herauszufinden, ob dies die Schlange für Züge nach Wuzhou oder generell nach Nord-Westen ist, ernte aber nur ein perplexes Schweigen. In den nächsten Stunden nimmt das Gedränge noch zu. Ich verliere vollends den Überblick und stehe plötzlich in der Schlange für Schalter 17. Ich habe ein ungutes Gefühl. Die Schalter, bei denen es sich um kleine, gelb erleuchtete Fenster handelt, scheinen ferner als je zuvor. Dahinter sitzen strenge Frauen mit altmodischen Schmetterlingsbrillen und schrillen Stimmen. Laute langatmige Verhandlungen mit jedem Käufer. Was gibtʼs hier zu verhandeln? Viele der Wartenden haben dicke Bündel mit Bargeld in der Hand. Nach mehreren Stunden der Beobachtung komme ich zu dem Schluss, dass nicht Preise oder Daten zur Debatte stehen, sondern etwas viel Grundsätzlicheres, nämlich die Frage, ob jemand überhaupt die Reise antreten darf. Hat er alle notwendigen und offiziell abgestempelten Papiere? Die korrekte Erlaubnis, den ihm staatlich zugewiesenen Wohnort zu verlassen? Eine Vielzahl von Bescheinigungen sind notwendig, Formulare müssen ausgefüllt, dann wieder neu ausgefüllt werden. Und wenn man endlich die Schalterdamen überzeugt hat, dass alles mit rechten Dingen zugeht, stellt sich die noch wichtigere Frage, ob überhaupt eine Fahrkarte erhältlich ist. Manchmal ja, manchmal eben nicht. Ganz nach Gutdünken der Schalterdamen, wie es scheint. Auch je nachdem, wie viel Renminbi Bestechungsgeld durchs Fenster geschoben wird. Jede dieser Transaktionen kommentieren meine Mitwartenden ausgiebig und lautstark. Der ganze Bahnhof hallt wider von dem Schlangengeschrei. In diesem Tumult ist es nicht einfach, meinen Platz zu halten. Von allen Seiten ernte ich bohrende Blicke, aber meine Größe, die roten Haare und die Sommersprossen verschaffen mir eine Art Respektabstand. Ich bin in die riesige chinesische Reiseschlacht verwickelt, die Tag für Tag landauf, landab ausgefochten wird. Eine Schlacht, die selbst den erfahrensten Kämpfer auf eine harte Probe stellt und in der ich wohl nicht die besten Chancen habe. Ich werde nervös, bin aber zum Kampf entschlossen, verteidige meinen Platz und bewege mich im Schneckentempo auf Schalter 17 zu, aus dessen gelbem Inneren die Kartenverkäuferin mich bereits über mehrere Meter misstrauisch anblickt. Vor sich hat sie in akkuraten Häufchen die begehrten Fahrkarten aufgereiht. An der Wand hinter ihr hängt ein knitteriges Poster, das den Parteivorsitzenden Deng Xiao Ping