Brandhagen - Hinrich von Haaren - E-Book

Brandhagen E-Book

Hinrich von Haaren

4,9

Beschreibung

Brandhagen, ein norddeutsches Dorf in den späten 1960er und 1970er Jahren: Hier herrscht eine Welt der selbstzufriedenen Abgeschlossenheit, in der die Alteingesessenen das Sagen haben und sich mit stoischer Arroganz gegen jeden Einfluss von außen wehren. Der Ich-Erzähler wächst in einer Familie auf, die von exzentrischen Frauen regiert wird, der geliebten, aber tyrannischen Großmutter, der rechthaberischen Tante Alma, dem Hausmädchen Erdmute. Es ist eine Welt, in der die verblichene Bürgertradition gegen alle Zeitströmungen und gegen jeden wirtschaftlichen Abstieg hochgehalten wird. Doch mit der Rückkehr von Tante Lise und ihrem unehelichen Kind Krystina treten erste Risse in diese Fassade. Lise, die vor langem aus dem Haus getrieben wurde, stört die Familienharmonie. Mit ihr hält eine neue Welt in Brandhagen Einzug, die sich über die alte Moral hinwegsetzt. Hinrich von Haarens Entwicklungs- und Gesellschaftsroman steht stellvertretend für das, was wir alle erleben, wenn der Moment der Kindheit bricht: die erste Erfahrung des Betrugs, des Selbstbetrugs, der Trauer, des Schmerzes. Ein feinfühliges und mitreißendes Zeitporträt, das mittels dieser Grunderfahrungen über seine Zeit hinausweist.

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Brandhagen, ein norddeutsches Dorf in den späten 1960er und 1970er Jahren: Hier herrscht eine Welt der selbstzufriedenen Abgeschlossenheit, in der die Alteingesessenen das Sagen haben und sich mit stoischer Arroganz gegen jeden Einfluss von außen wehren. Der Ich-Erzähler wächst in einer Familie auf, die von exzentrischen Frauen regiert wird, der geliebten, aber tyrannischen Großmutter, der rechthaberischen Tante Alma, dem Hausmädchen Erdmute. Es ist eine Welt, in der die verblichene Bürgertradition gegen alle Zeitströmungen und gegen jeden wirtschaftlichen Abstieg hochgehalten wird. Doch mit der Rückkehr von Tante Lise und ihrem unehelichen Kind treten Risse in diese Fassade. Mit ihr hält eine neue Welt in Brandhagen Einzug, die sich über die alte Moral hinwegsetzt.

Hinrich von Haarens Entwicklungs- und Gesellschaftsroman steht stellvertretend für das, was wir alle erleben, wenn der Moment der Kindheit bricht: die erste Erfahrung des Betrugs, des Selbstbetrugs, der Trauer, des Schmerzes. Ein feinfühliges und mitreißendes Zeitporträt, das mittels dieser Grunderfahrungen über seine Zeit hinausweist.

°luftschacht

Hinrich von Haaren

Brandhagen

Panorama einer kleinen Gesellschaft

Roman

Luftschacht Verlag

© Luftschacht Verlag – Wien 2012 Alle Rechte vorbehalten

www.luftschacht.com

Umschlagsillustration: cédrickaub www.cedrickaub.com

Satz: Florian Anrather

Druck und Herstellung: CPI Moravia

ISBN: 978-3-902373-94-6 eISBN: 978-3-902844-34-7

Für Robert

Die Kleine Straße

Abends im Bett hatte ich Hunger. Solange meine Mutter bei mir saß, eine Geschichte erzählte und dann hastig mit mir das Lieber Gott, mach mich fromm, damit ich in den Himmel komm betete, war alles gut, ich verspürte nicht den geringsten Appetit. Wenn sie aber das Licht ausschaltete und leise, obwohl ich noch gar nicht schlief, auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schlich, stellte sich unerbittlich der Hunger ein. Still lag ich im Bett und versuchte ihn zu unterdrücken, doch schon bald fühlte ich ein unerträgliches, vom Magen ausgehendes und sich in allen Gliedern ausbreitendes Hungerkitzeln. Ich zwang mich, noch ein bisschen länger liegen zu bleiben, konnte es aber schließlich nicht mehr aushalten, stand in meinem zu engen Frotteepyjama auf, lief barfuß über den kalten Linoleumfußboden zum Fenster und blickte auf die Kleine Straße hinaus. Um mich vom Hunger abzulenken, versuchte ich mir vorzustellen, was sich den Tag über dort unten zugetragen hatte. Je länger ich stand und je kälter meine Füße wurden, desto klarer sah ich die Tagesbilder. Ich sah meine Großmutter, wie sie in unnötiger Eile zum Bäcker Fink lief, ich sah meine Mutter, wie sie einen Topf Linsensuppe zu Tante Alma hinübertrug, meinen Vater nach Geschäftsschluss auf dem Weg zum Kegelclub. Ich sah, wer im Schreibwarengeschäft Tabel ein- und ausging, wer unseren Laden betrat, wer wen grüßte oder schnitt. Hinter mir lag das Haus in nächtlicher Stille. Allein der laute Fernseher meiner Großmutter dröhnte wie eine ferne Fabrik aus ihrem Wohntrakt. Ich versuchte, andere Nachtgeräusche zu erkennen, aber das war nun schwer, denn meiner Vorstellung drängte sich der laute geschäftige Tag auf: die Klingel der Ladentür, die jeden Tag Dutzende Male anschlug, die Stimmen meiner Mutter, der Angestellten und der Kunden, das Klappern der Schreibmaschine aus dem Kontor, wo Frau Funke über einem Stapel Rechnungen saß, die, sobald abgearbeitet, in den vielen grauen Aktenordern der hohen Wandregale verschwanden, nur um von neuen Stapeln ersetzt zu werden, der Stock meiner Großmutter, der klick-klock überall durchs Haus ging, das Radio, das mein Vater bei der Arbeit in der Werkstatt laufen ließ, das Klappern der Teller um die Mittagszeit in der Hintenstube. So hatte jedes Zimmer im Haus sein eigenes Geräusch. Nur die gute Stube, die wir ausschließlich an Feiertagen benutzten, in der zu Weihnachten der Tannenbaum stand, zu Ostern ein Osterstrauß mit Kätzchen und Ginster und zu Pfingsten ein Maibusch, die aber den Rest des Jahres wie ein totes Herz im Zentrum des Hauses lag, gab keinen Ton von sich. Ich wartete so lang am Fenster, bis endlich ein Auto über das Kopfsteinpflaster der Kleinen Straße ratterte, die Scheinwerfer an der Fassade unseres Hauses hochkrochen, über die Fensterbank in mein Zimmer leckten, das dann einen Augenblick lang wie im Theater erleuchtet dalag, bis der Lichtkegel sich vom Fußende meines Bettes her wieder aus dem Zimmer verzog und gleich darauf mit einem Schlag verschwunden war. Dann sprang ich zurück ins Bett und starrte in die feste Dunkelheit, noch kurz den Glanz der Scheinwerfer in den Augen. Mein Hunger aber quälte mich nach wie vor, doch musste ich warten, bis meine Eltern das Licht in der Hintenstube ausgeschaltet hatten und zu Bett gegangen waren. Wenn sich ihre Schlafzimmertür schloss und ich bald darauf das Schnarchen meines Vaters und das pfeifende Traumatmen meiner Mutter hörte, war die Luft rein und ich schlich nach unten in die Küche. Nichts brachte mich ab von der Idee, dass ich nur nach einem Nachtmahl würde einschlafen können. Überhaupt schien mir zu schlafen das Allerschrecklichste, und wenn ich mich bei meiner Mutter, bevor sie mein Zimmer verließ, beklagte, dass ich noch nicht müde sei und bestimmt lange nicht würde schlafen können, sagte sie nur „Du hast es ja noch gar nicht richtig versucht“, als fehle mir der rechte Wille zur Müdigkeit, als könne ich mich mit Selbstdisziplin zum Schlafen zwingen. Ich wusste jedoch, dass im Kühlschrank saure Gurken, kalte Kartoffeln, Käse, Ketchup und im Brotfach Toast nur darauf warteten, heimlich von mir verzehrt zu werden. Je länger ich wartete, desto heftiger beschuldigte ich meine Eltern dafür, dass sie mich hier mit leerem Magen einsperrten und mir verbaten, zu essen und trinken, wann ich wollte. Natürlich war ich weder eingesperrt noch mit leerem Magen zu Bett geschickt worden. Vielmehr hatte ich beim Abendbrot weder Käse noch Wurst noch Gurken oder Bratkartoffeln angerührt. Nun aber konnte ich vor Hunger nicht schlafen und musste es unbedingt bis in die Küche schaffen. Wenn es spät genug war und alle schliefen, bereiteten die nächtlichen Exkursionen keine Probleme. Ich wusste genau, welche Treppenstufen knarrten und wie die Küchentür zu öffnen war, damit sie nicht quietschte. Wenn meine Eltern aber bis spät in die Nacht, bis über meine Schmerzgrenze hinaus, in der Hintenstube aushielten, der schmale Lichtstreifen unter der Tür meine Warnung, mein Mienenfeld, gestaltete sich mein Ausflug schwieriger. Dann war die Gefahr, selbst auf bloßen Füßen (das war mir die Sache wert, trotz des eiskalten Fliesenbodens) ertappt zu werden, umso größer. Aus diesem Grund hatte ich mich vorbereitet, alle Möglichkeiten eingeplant, alle Situationen in meinem Kopf durchgespielt und mir eine Tarnung zurechtgelegt. Aus dem Schirmständer im Flur hatte ich einen alten Krückstock entwendet, der hier schon ewig unbenutzt gesteckt hatte und den ich für solche Fälle unter dem Bett verbarg. Mein Plan war, mittels des Stocks die humpelnden Schritte meiner Großmutter artgetreu nachzuahmen. Obwohl diese um neun zu Bett ging und sich schon allein aus diesem Grund nicht zu später Stunde per Krückstock auf dem Flur zu schaffen machte, geschweige denn in der Küche, die sie aus Verachtung für die Kochkünste meiner Mutter ohnehin nur selten betrat, bildete ich mir ein, meine Eltern mit der kleinen Farce täuschen zu können. Tatsächlich wurde ich nie „erwischt“, jedoch nicht, weil Mutter und Vater ahnungslos blieben, sondern weil sie durch ihre Ignoranz den Aufwand und die Einbildungskraft, die in meine nächtlichen Vorstellungen flossen, still würdigten. Weniger Fantasie bewies ich dagegen bei der Zubereitung meiner späten Snacks. Die Nachtmahle bestanden aus Toast mit Ketchup, Mayonnaise oder was die gleiche Konsistenz wie Mayonnaise besaß und mit dem Finger aus dem Glas geschleckt werden konnte, sauren Gurken, kalten Nudeln und Kartoffeln (mit Ketchup und Mayonnaise), kaltem Blumenkohl, dicken Stücken Mettwurst, kurz allem, was der Kühlschrank und die Speisekammer hergaben. Es versteht sich von selbst, dass zu einem vollständigen Nachtmahl auch ein Nachtisch in Form von Süßigkeiten gehörte. Um diese zu erreichen, musste ich allerdings auf die Anrichte steigen, da meine Mutter das „Schöne“ – Tüten mit den Bonbons („Bonschen“, sagte meine Großmutter), Haselnussschokolade, Pralinen und auch das salzige Naschzeug wie Chips, Würmer und Salzstangen – in einer alten Sarotti-Dose auf dem obersten Regal aufbewahrte, damit ich gar nicht erst in Versuchung kam. Weder die Höhe der Schränke, noch die Verkleidung der Dose hielten mich jedoch davon ab, mein Ziel zu erreichen. Bei einem dieser Klettermanöver stürzte ich ab und schlug mit dem Kopf gegen die Spülmaschine, die daraufhin monatelang leckte. Einen Moment lang blieb ich auf dem Boden liegen, mir war schwarz vor Augen, und sobald ich mich aufrichtete, hämmerte mein Kopf vor Schmerzen. Trotz des heftigen Gepolters, das mein Sturz verursacht hatte, und obwohl meine Eltern nur wenige Schritte entfernt in ihren Sesseln hockten, kam niemand in die Küche gelaufen. Vielmehr schien das Haus noch stiller, als säßen sie mit angehaltenem Atem in der Hintenstube, gespannt, wie ich die Situation meistern würde. Mit meinem Stock, den ich vom Boden aufgesammelt hatte, etwas wankend, aber doch mit meinem allerbesten Großmutterschritt, kehrte ich ohne Süßigkeiten in mein Zimmer zurück, wo ich den Schmerztränen endlich freien Lauf lassen konnte.

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