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Die lang ersehnte Rückkehr in die Welt von Kate Daniels!
Atlanta war schon immer eine gefährliche Stadt. Doch seit Magie und Technik einen Kampf um die Vorherrschaft ausfechten, suchen Monster die Straßen heim und Magiebegabte kämpfen um Macht und ums Überleben.
Vor acht Jahren verließ Julie Lennart die Stadt, um herauszufinden, wer sie ist. Nun ist sie zurück - mit einem neuen Gesicht, einem neuen Namen - Aurelia Ryder. Sie ist gekommen, um ihre Familie zu beschützen, denn eine uralte, finstere Macht hat es auf ihre Adoptivmutter Kate Daniels abgesehen und das Spiel mit einer Reihe von Morden eröffnet.
Sollte Aurelia wahre Identität aufgedeckt werden, würde dies alle das Leben kosten, die ihr nahestehen. Und so hat sie einen einfachen Plan: Die Morde aufklären, verhindern, dass eine dunkle Prophezeiung wahr wird, schnell wieder verschwinden, und das, ohne dass jemand sie erkennt. Sie hat alle Gefahren einkalkuliert, doch nicht die, dass ausgerechnet der einzige Mann, den sie je geliebt hat, alles aufs Spiel setzen könnte. Der kleinste Fehler kann ihr Verderben bedeuten. Doch für Aurelia ist es einfacher, sich dem Untergang zu stellen als den Gefühlen, die mit aller Macht wieder hervorzubrechen drohen.
"Einfach perfekt.Wunderbare Charaktere, die zum Leben erwachen, Action und ein Love Interest, der alle bisherigen in den Schatten stellt." THE NERD DAILY
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Seitenzahl: 568
Titel
Zu diesem Buch
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Epilog
Der Brief
Der König des Feuers
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Ilona Andrews bei LYX
Leseprobe
Impressum
ILONA ANDREWS
Blood Heir
VERBORGENE WAHRHEIT
Roman
Ins Deutsche übertragen von Marcel Aubron-Bülles
Atlanta war schon immer eine gefährliche Stadt. Doch seit Magie und Technik einen Kampf um die Vorherrschaft ausfechten, suchen Monster die Straßen heim und Magiebegabte kämpfen um Macht und ums Überleben.
Vor acht Jahren verließ Julie Lennart die Stadt, um herauszufinden, wer sie ist. Nun kehrt sie zurück – mit einem neuen Gesicht, einem neuen Namen – Aurelia Ryder. Sie ist gekommen, um ihre Familie zu beschützen, denn eine uralte, finstere Macht hat es auf ihre Adoptivmutter Kate Daniels abgesehen und das Spiel mit einer Reihe von Morden eröffnet.
Sollte Aurelia wahre Identität aufgedeckt werden, würde das alle das Leben kosten, die ihr nahestehen. Und so hat sie einen einfachen Plan: Die Morde aufklären, verhindern, dass eine dunkle Prophezeiung wahr wird, schnell wieder verschwinden, und all das, ohne dass jemand sie erkennt. Sie hat alle Gefahren einkalkuliert, doch nicht die, dass ausgerechnet der einzige Mann, den sie je geliebt hat, alles aufs Spiel setzen könnte. Der kleinste Fehler kann ihr Verderben bedeuten. Doch für Aurelia ist es einfacher, sich dem Untergang zu stellen als den Gefühlen, die mit aller Macht wieder hervorzubrechen drohen.
Der Vollmond leuchtete silbern. Er bedachte mich durch Wolkenfetzen mit seinem Blick, während ich auf meinem Pferd die alte I-20 entlangritt, mitten auf dem Highway. Die Magie hatte schon seit Jahrzehnten an den Rändern befestigter Straßen genagt, und der Asphalt am Seitenstreifen gab oft unter dem Gewicht eines Pferdes nach.
Es gibt hier nichts zu sehen, Mond. Nur eine einsame Frau in ihrem ramponierten Mantel, die auf ihrem Pferd nach viel zu langer Zeit wieder in ihre Heimatstadt reitet.
Der früher so betriebsame Highway war nun von dichten Kiefernwäldern umgeben. Glühende Augen musterten Tulip und mich aus der Dunkelheit zwischen Wurzeln und Geäst, gelb bei Waschbären, weiß bei Wild, grün bei Füchsen und ein Dreieck aus elektrisch flackerndem Rot bei etwas, von dem ich nicht wusste, was es war. Die Biester in diesen Wäldern warfen mir wütende Blicke zu, aber blieben, wo sie waren.
Mit einem Mal verschwanden die Bäume und wurden durch Felder ersetzt, die mit Stacheldraht umzäunt waren. Vor mir tauchte ein Schild auf.
WILLKOMMEN IN ATLANTA
Georgia wird Ihnen immer in Erinnerung bleiben.
Ein bisschen optimistisch.
Jemand hatte in weißer Tinte etwas darunter hinzugefügt.
»Gepriesen sei der Herr und macht die Feuerbälle klar.«
Das klang schon realistischer.
Ein dunkler Schatten flog über meinen Kopf hinweg. Das Mondlicht glitt darüber, tänzelte an seinen Federn entlang, und dann erhob er sich in das endlose Dunkelblau des Himmels. Den meisten Adlern gefiel es nicht, nachts zu fliegen, und Turgan war keine Ausnahme, aber etwas musste meinen Raubvogel verstört haben. Er hatte sich in dem Augenblick erhoben, als wir die Ley-Linie verlassen hatten, und er weigerte sich, wieder auf meiner Schulter Platz zu nehmen.
Ein weiteres Schild tauchte aus der Dunkelheit der Nacht vor mir auf.
ALLE GESTALTWANDLER AUF BESUCH
melden sich binnen 24 Stunden beim Rudel
Folgt der I-85, Richtung Nordosten, immer eurer Nase nach.
Vierundzwanzig Stunden? Als ich vor acht Jahren fortgegangen war, hatten fremde Formwandler drei Tage Zeit, sich beim Rudel zu melden. Die Zeiten hatten sich geändert.
Weit über mir schwebte eine gespenstische Eule auf einer leichten Brise hinauf in den nächtlichen Wolkenhimmel. Kein Gestaltwandler. Einfach nur ein Feld-Wald-und-Wiesen-Monster, das dem Mond seine Meinung mitteilte. Außerdem zu weit weg, als dass sie mir Sorgen bereiten sollte. Tulip zuckte mit den Ohren und trabte weiter.
Gestaltwandler waren eine misstrauische, paranoide Spezies. Lyc-V, das symbiotische Virus, das ihnen die Fähigkeit verlieh, sich in Tiere zu verwandeln, brachte zahlreiche Gaben mit sich. Einige, wie beispielsweise größere Stärke, ein höheres Tempo und eine empfindlichere Wahrnehmung, waren ein Geschenk. Andere eher nicht so.
Wer seine Gestalt wandelte, lebte ein diszipliniertes Leben, das von Selbstbeherrschung geprägt war. Am anderen Rande des Spektrums lauerte der Loupismus, der katastrophale Sturz in die hormongesteuerte Hölle, die aus verwandelten Formwandlern sadistische Amokläufer machte. Es gab für den Loupismus keine Heilung, nur eine Klinge durch den Hals oder eine Kugel in den Schädel.
Gestaltwandler brauchten die Art von Struktur im Leben, die die normale Gesellschaft nicht mehr bieten konnte. Sie organisierten sich untereinander in Rudeln, und die restliche Bevölkerung, die sich schmerzlich bewusst war, dass jeder Gestaltwandler in sich auch das Potenzial eines Amokläufers trug, freute sich, wenn sie sich selbst regierten.
Atlantas Rudel, das Freie Volk des Kodex, war bei Weitem das größte und stärkste Gestaltwandlerrudel der kontinentalen Vereinigten Staaten. Die wenigsten Rudel besaßen mehr als hundert Mitglieder. Atlantas Rudel hingegen verfügte über fast dreitausend Gestaltwandler und sieben verschiedene Clans, die sich über ihre tierischen Formen definierten und der Führung eines Herrn der Bestien unterstanden. Es war so groß, dass man es einfach nur als das Rudel bezeichnete. Nur das Ice-Fury-Rudel in Alaska war noch größer.
Vor langer, langer Zeit war ich einer der wenigen Menschen gewesen, die man als Rudelmitglieder angesehen hatte. Ich hatte in der Festung gelebt, dem riesigen Lager der Gestaltwandler im Nordosten der Stadt. All meine Freunde hatten sich Fell und Krallen wachsen lassen. Damals hatte das Rudel noch einen anderen Herrn der Bestien gehabt, und er hatte mich wie eine jüngere Schwester behandelt.
Die Felder nahmen ein Ende, und Ruinen tauchten vor mir auf. Ich rückte den schweren Speer in seiner Scheide auf meinem Rücken zurecht, trieb Tulip an, und sie begann sich schneller zu bewegen. Ich musste heute früh einen Termin einhalten, der kurzfristig angesetzt worden war.
Der Highway wurde schmaler. Wir bogen nach links auf die Basilisk Road ab und folgten ihrem sich windenden Weg Richtung Nordosten, auf dem sie sich zwischen Wohnhochhäusern hindurchschlängelte, die nur noch zertrümmerte Ruinen waren.
Magie hasste Technik. Sie tauchte in Wellen auf, überflutete unsere Welt, löschte alles elektrische Licht, machte Benzinmotoren unbrauchbar, fraß sich durch die Hochhäuser und erschuf Monster. Und dann zogen sich diese magischen Wellen wieder zurück, ebenso unvorhersehbar wie sie herangerollt waren, und erneut würde sich die Technik die Vorherrschaft zurückerobern. Zauber würden im Sande verlaufen, und Waffen feuerten abermals Kugeln ab.
Je höher ein Gebäude war, umso gnadenloser nagte die Magie an ihm. Die meisten Hochhäuser und Bürogebäude waren schon vor langer Zeit diesem Angriff erlegen. Auch Überführungen waren zu Staub zerfallen oder zusammengebrochen. Die alte Skyline war nur noch ein Schatten ihrer selbst.
An ihrer Stelle waren neue Gebäude in die Höhe gewachsen, in der Regel von Hand errichtet, um die magische Erosion zu minimieren. Hier und da standen diese neuen Gebäude direkt an der Straße, robuste Häuser und Büros mit dicken Wänden, stabilen Türen und schmalen Fenstern, die durch Stahlstäbe gesichert waren. Das sanfte gelbe Schimmern elektrischer Leuchten kämpfte gegen die Finsternis an. Jetzt war von der Magie kaum etwas zu spüren. Hätte sie die Welt beherrscht, dann hätten einige der Fenstergitter silbern geleuchtet, und bläuliche Feenlichter hätten die Glühbirnen ersetzt.
Die Stadt sah genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Sie fühlte sich auch genauso an, wie ich sie verlassen hatte – gefährlich, gleichgültig, wachsam, aber irgendwie mir auch stets vertraut. Sie war mein Zuhause, obwohl ich seit Jahren nicht mehr hier gewesen war. Ich war mit knapp achtzehn gegangen. Heute war ich sechsundzwanzig. Es fühlte sich an, als wäre es eine Ewigkeit her.
Ich hatte nie vorgehabt, so lange wegzubleiben, und so hatte ich mir meine Rückkehr nach Atlanta auch nicht vorgestellt. Meine Blutsverwandten waren tot, aber meiner Wahlfamilie ging es hervorragend, und sie hatten sich meine Rückkehr schon seit Langem gewünscht. In meiner Vorstellung hätte ich ihnen Bescheid geben sollen, damit sie mich an der Ley-Linie hätten empfangen, umringen und umarmen können, um anschließend gemeinsam nach Hause zu gehen. Das war auch mein ursprünglicher Plan gewesen.
Aber wenn ich jetzt nach Hause zurückkehrte, würde ich damit ihre Todesurteile unterschreiben. Ich musste unbemerkt bleiben, und ich konnte es mir nicht leisten, erkannt zu werden.
Nicht dass man mich erkennen würde. Wenn man normalerweise nach langer Zeit nach Hause zurückkehrte, würde die Familie einen Dinge fragen wie ›Hast du abgenommen?‹ und ›Hast du dir die Haare schneiden lassen?‹. Wenn ich nach Hause kam, würde mich meine Familie fragen, ›Wer zu Hölle bist du?‹. Nichts an mir war mehr wie früher. Weder mein Körper noch mein Gesicht, meine Stimme oder mein Geruch.
Eine kaum merkliche Bewegung links von mir riss mich aus meinen Gedanken und brachte mich in die Gegenwart zurück.
Ich bewegte mich schon seit mehreren Straßenblöcken auf einer verlassenen Straße. Zu meiner Linken lag ein zertrümmertes, in Nachtschatten gehülltes Gebäude. Zu meiner Rechten erhob sich eine neu errichtete Wand, robust, wuchtig und an ihrer Spitze mit Stacheldraht überzogen. Vor mir endete die Straße, als ob sie ein Riese mit seinem Messer abgetrennt hätte. Der Abgrund tat sich vor mir auf, gut fünfzehn Meter tief und etwa fünfhundert Meter breit.
Der Abgrund war neu, aber wenig überraschend. Magiewellen brachten nicht nur Monster hervor, sondern sie erschufen auch neue Flüsse, ließen neue Hügel aus dem Boden hervorbrechen oder verursachten Risse im Boden. Atlanta war mit dem Abgrund fertiggeworden. Der Beweis war die einspurige Holzbrücke, die ihn überspannte.
Die Brücke war nicht das Problem. Sondern die drei Gestaltwandler, die sich aus den Schatten gelöst hatten, um mir den Weg zu versperren.
Es gab überhaupt keinen Grund für eine Rudelpatrouille, auch nicht um diese Uhrzeit. Sein Territorium befand sich auf der anderen Seite der Stadt. Außerdem passte es zeitlich gar nicht, so kurz vor dem Tagesanbruch, wenn sie schon auf ihrem Weg in die Festung hätten sein sollen, um ihre morgendliche Meditation hinter sich zu bringen, um sich anschließend zu einem Nickerchen zusammenzurollen, wie es sich für brave Monster gehörte. Aber trotz all dem waren sie hier, trugen passende Rudeltrainingsanzüge, und versperrten mir den Weg.
Atlanta war halt eine Scheißstadt.
Sie waren alle männlich, jung und hatten offensichtlich nicht die Absicht, mir aus dem Weg zu gehen. Das klitzekleine Empfangskomitee.
»Hallo allerseits«, rief ich. »Ich muss über die Brücke.«
Der mittlere, sonnengebräunte Gestaltwandler, der um die zwanzig zu sein schien, hatte langes dunkles Haar und lächelte mich an. »Passwort?«
Ach, wie süß? »Wozu brauche ich ein Passwort? Befindet sich die Brücke auf Rudelterritorium?«
»Das ist nicht wichtig«, sagte der Anführer. »Wichtig ist, dass wir zu dritt sind, und du allein.«
Na, schau mal an, wer hatte denn da sein Einmaleins gelernt?
»Wenn du über die Brücke willst, musst du uns das Passwort nennen«, sagte der Gestaltwandler. »Wenn du es nicht kennst, dann musst du die Strafe zahlen.«
Der kleinere Gestaltwandler zu seiner Rechten grinste und gab ein unheimliches Kichern von sich. Boudas. Natürlich.
Boudas, die Werhyänen, gehörten zu einem der kleineren der sieben Rudel-Clans. Es gab nicht viele von ihnen, aber sie waren gefährlich und völlig durchgeknallt. Mit Wölfen, Schakalen und Ratten konnte man immer vernünftig reden. Boudas hingegen stiegen in das Gehege eines gefangenen Eisbären und kitzelten ihn mit ihren Krallen, um herauszufinden, was passieren würde.
Na schön. Ich würde ihnen aus dem Weg gehen.
Ich spannte mein rechtes Bein leicht an. Tulip drehte sich in weiser Voraussicht zur Seite, eher weniger, weil sie meinem Befehl folgte. Das Klappern ihrer Hufe auf der Straße klang viel zu laut in der Nacht. Zwei weitere Gestaltwandler verließen die Schatten und verhinderten, dass ich wegreiten konnte.
Na gut. So lief es doch immer bei mir.
»Hatte ich drei gesagt?«, rief der Bouda hinter mir. »Ich meinte fünf.«
Einer normalen Rudelpatrouille gehörten zwei Gestaltwandler an, drei, wenn sie sich an der Grenze zum Volk befanden, denn Nekromanten waren gefährliche Feinde. Fünf Gestaltwandler bedeutete ein Angriffsteam. Sie waren auf irgendeinem Einsatz in der Stadt gewesen, und ich hatte einfach das Pech, auf ihrem Rückweg auf sie zu treffen. Sie sahen bloß eine einsame Frau vor sich, in einer verschlissenen Jeans, alten Stiefeln und einem ramponierten Mantel, die nachts auf ihrem Pferd durch die Stadt ritt. Ein leichtes Ziel mit geringem Gefahrenpotenzial. Wären sie Wölfe, Schakale oder Mitglieder des Clan Heavy gewesen, dann hätte ich die Brücke schon zur Hälfte überquert gehabt. Aber sie waren nun mal Boudas, und sie liebten es, mit ihren Opfern zu spielen.
Ich brachte Tulip dazu, sich weiter zu drehen, bis wir beide wieder auf die Brücke blickten. Fünf Boudas bedeuteten einen harten Kampf, und in dem Augenblick, in dem sie begriffen, dass mit mir nicht zu spaßen war, würde es zu ernsthafter Gewalt kommen. Ich wollte wirklich niemanden töten. Ich hatte aber auch keine Zeit, bei ihren Spielchen mitzumachen.
»Ich warte immer noch auf das Passwort«, sagte der Anführer der Boudas.
»Fünfzehnter Mai«, sagte ich.
»Wie bitte?«, fragte der Gestaltwandler zur Linken.
»Andrea Medranos Geburtstag«, sagte ich. »Reicht das?«
Die Gestaltwandler hielten inne. Der Anblick war wirklich witzig: In der einen Sekunde strahlten sie absolute Arroganz aus, und in der anderen löste die sich in Luft auf, als hätte ihnen jemand mit einer zusammengerollten Zeitung eins auf die Nase gegeben. Für sie war Andrea Medrano Chefin, Richterin und Henkerin in einer Person. Sie nannten sie ihre Alpha. Ich nannte sie Andrea. Oder Tantie Andie, wenn ich sie um ihre Unterstützung bei einer üblen Tat anbetteln musste.
Die drei an der Brücke beäugten mich misstrauisch. Wenn sie mich weiterhin aufhielten, und ich mich als jemand erwies, den Andrea kannte, dann wären die Puppen am Tanzen. Die einzige Möglichkeit, das herauszufinden, wäre ein Anruf im Haus des Clan Bouda und das mit ihr zu klären. Dann müssten sie aber auch unangenehme Fragen beantworten, warum sie mich überhaupt aufgehalten hatten. Das Rudel bemühte sich sehr, ein freundschaftliches Verhältnis mit allen Menschen zu haben, und vor allem mit der Stadt Atlanta. Ihre Bestrafung würde nicht lange auf sich warten lassen.
Ein hochgewachsener Schatten trat aus den Ruinen hervor, als ob er der Finsternis entwachsen wäre, und glitt mit eleganten Schritten vorwärts. Breite Schultern, lange Beine, ein großer Kerl, dieselben grauen Rudelklamotten. Er kam einen weiteren Schritt auf mich zu, und ich sah sein Gesicht. Ein Gesicht, bei dem nicht nur der Verkehr stehen blieb, sondern Auffahrunfälle die Folge waren.
In seinen Augen spiegelte sich das Mondlicht. Ein blutroter Schimmer huschte über seine braunen Iriden.
»Nun, das ist doch eine interessante Entwicklung«, sagte Ascanio Ferara. »Bitte, sprich weiter.«
Verdammt noch mal.
Ascanio warf den Boudas an der Brücke einen Blick zu. Alle drei senkten sofort ihre Köpfe. Also war diese kleine Aktion eine nicht genehmigte Angelegenheit.
Als ich damals die Stadt verließ, waren Andrea und ihr Ehemann Raphael, die Alphas des Clan Bouda, gerade dabei, Ascanio auf die Aufgaben des Beta vorzubereiten, was ihn in der Befehlskette des Clans auf den zweiten Platz gerückt hätte.
Und diesen Posten hatte er mehr gewollt als alles andere. Anscheinend hatten sich seine Wünsche erfüllt, einschließlich all der Kopfschmerzen, die das mit sich brachte.
Ascanio wandte sich wieder mir zu und musterte mich eingehend.
Ich bemühte mich ganz bewusst, nicht den Atem anzuhalten. Ascanio kannte mich. Wir hatten uns kennengelernt, als ich vierzehn und er fünfzehn war, und wir hatten eine Menge Zeit miteinander verbracht.
Wir haben uns noch nie getroffen.
Seine Nasenflügel bebten leicht. Er stand windabgewandt von mir, und die nächtliche Brise hatte ihm meinen Duft zugetragen.
Ich bin eine Fremde. Du hast mich noch nie zuvor gesehen.
Ascanio atmete tiefer ein. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen.
Mein Herz schlug viel zu laut für meinen Geschmack, aber es schlug langsam und regelmäßig. Er würde mich nicht wiedererkennen.
Manchmal, wenn ich mich jetzt im Spiegel ansah, erkannte ich mich nicht einmal selbst wieder.
Die Zeit dehnte sich, langsam und zähflüssig wie Sirup. Er starrte mich an, und ich hatte keine andere Wahl, als seinen Blick zu erwidern.
Ascanio war als Teenager schon schön gewesen, androgyn fast. Die Schönheit war immer noch da, in den unergründlichen Augen unter den sanft geschwungenen, dunklen Augenbrauen und den perfekten Gesichtszügen, aber dieses Gesicht hatte an Stärke gewonnen. Es war etwas breiter geworden. Die Zeit hatte seinem Kinn deutlichere Konturen verliehen. Von Sanftheit war da keine Spur mehr. Es war jetzt das Gesicht eines Mannes mit klar definierten Linien und harten Kanten und einem Blick, der Autorität und Macht zum Ausdruck brachte. Wenn ich ihn nicht gekannt hätte, dann hätte er mich umgehauen.
»Du hast mit dem Namen meiner Alpha Eindruck schinden wollen«, sagte Ascanio. »Eine Erklärung dafür?«
»Nein.«
Rot blitzte in seinen Iriden auf. »Du hast vertrauliche Informationen über meine Alpha. Ich will wissen woher, denn ich bin seit über einem Jahrzehnt an ihrer Seite, und ich habe dich noch nie gesehen.«
»Und was wirst du tun, wenn ich es dir nicht erzähle?«
»Ich werde darauf bestehen müssen.« Sein Tonfall machte mir deutlich, dass es mir nicht gefallen würde.
Als wir uns das erste Mal getroffen hatten, war er zu dem Schluss gekommen, dass es eine hervorragende Idee wäre, mich zu küssen. Ich hatte ihm eine Handvoll Wolfseisenhut ins Gesicht gedrückt, ihn zu Boden geschmissen und ihm die Arme hinter den Rücken gebunden. Und dann hatte ich ihn gefragt, ob das kleine, verwöhnte Bouda-Baby sein Fläschchen und seinen Teddy verloren hätte.
»Also, lass mich das mal zusammenfassen«, sagte ich. »Fünf deiner Gestaltwandler haben mich ohne Grund außerhalb der Rudelgrenzen festgehalten, von mir verlangt eine Gebühr zu bezahlen, um eine öffentliche Brücke überqueren zu dürfen, und jetzt drohst du mir mit Körperverletzung.«
Er runzelte die Stirn, aber nur ganz leicht. All das wäre vor acht Jahren eine Missachtung aller Rudelregeln gewesen.
»Ich habe dir noch nicht gedroht.«
»Ich fühle mich bedroht. Ich zittere vor Angst.«
»Ich sehe nicht die geringste Spur von Zittern«, sagte Ascanio. »Es ist ziemlich einfach. Du sagst mir, woher du Andrea Medranos Geburtstag kennst, und du kannst sofort gehen.«
»Du hast nicht verstanden, worum es geht. Du hast überhaupt kein Recht, mich festzuhalten.« Ließ ich die Sache eskalieren oder sollte ich einen Rückzieher machen? Das war hier die Frage.
»Du wirkst verdächtig auf mich. Ich bin mir nicht sicher, ob du unbeaufsichtigt durch die Gegend laufen solltest.«
Für Ascanio kam es nicht infrage, mich gehen zu lassen, außer ich würde mich ihm unterwerfen. Wenn ich auch nur einen Schritt zurückwich, würde er meinen Namen wissen wollen, warum ich die Stadt betreten hatte, und wenn er erst mal mein Gesicht gesehen hatte, auch meine Adresse. Jetzt zurückzuweichen würde zu viel Zeit kosten und zu viele Lügen voraussetzen.
»Und du wirkst auf mich wie ein Idiot, den seltsamerweise niemand daran hindert, frei rumzulaufen.«
Einer der Boudas neben der Brücke kicherte unfreiwillig und schlug sich sofort die Hand über den Mund.
Ascanio hob seine Augenbrauen. »Ein Idiot?«
»Eine menschliche Frau mitten in einer Technikwelle gegen sechs Gestaltwandler. Nur ein Idiot begreift nicht, wie das bei den Polizeibehörden oder deiner Alpha aussehen wird. Ist sie dafür bekannt, dass sie dich dazu ermutigt, einsame Frauen des Nachts zu belästigen?«
Er trat einen Schritt vor. Die Bedrohung, die er jetzt ausstrahlte, fühlte sich an wie von heißem Asphalt aufsteigende Luft.
»Da ich ja ein Idiot bin, werde ich dich vielleicht auf idiotische Weise von deinem Pferd zerren, dich in eins unserer Häuser sperren, eins mit einem tiefen Keller, und warten, bis du dich dazu entschließt, meine Fragen zu beantworten. Du kannst deine Beschwerde einreichen, wenn du jemals wieder rauskommst.«
»Ist das jetzt eine Drohung? Ich frage nur nach, damit wir da beide auf demselben Stand sind.«
»Wenn ich dich bedrohe, dann wirst du nicht nachfragen müssen.«
»Nun, in dem Fall, tu es doch. Zerr mich von meinem Pferd.«
Er bewegte sich nicht. Ich hatte es darauf ankommen lassen. Ascanio hatte eine Menge Schwächen, aber er würde einer Wildfremden kein Leid antun, schon gar nicht einem Menschen, zumindest nicht ohne Grund. Wenn es sich herumsprach, dass das Rudel junge menschliche Frauen von den Straßen holte, wären die Auswirkungen katastrophal, und bei fünf Zeugen würde es definitiv herauskommen. Gestaltwandler tratschten schlimmer als gelangweilte ältere Damen in der Sonntagsmesse.
Der Frust blitzte kurz in seinen Augen auf und erlosch. Ich hatte gewonnen.
Es war an der Zeit, einen Gang runterzuschalten, da ich ihn nicht zu sehr gegen mich aufbringen wollte. »Warum machen wir nicht Folgendes: Du lässt mich gehen, und ich werde keine offizielle Beschwerde einlegen. So gewinnen beide Seiten.«
Ascanio hielt seine Hand hoch, um mich zu unterbrechen, und drehte sich, um auf die Mauer auf der anderen Straßenseite zu schauen. Einen Augenblick später wandten sich auch die anderen Gestaltwandler um und sahen in die Richtung.
Ein Junge sprintete aus der Dunkelheit hervor und landete auf der Mauerecke, die als einziger Punkt frei von Stacheldraht war. Er war robust, durch und durch muskulös, aber fünfzehn Zentimeter kleiner als ich. Dunkelbraunes kurz geschnittenes Haar, sonnengebräuntes Gesicht und graue Augen, die so hell schimmerten, dass sie praktisch silbern waren.
Conlan.
Als ich gegangen war, war er nicht mal zwei Jahre alt gewesen. Wir hatten uns im Laufe der Jahre Hunderte Male gesehen, wenn wir unseren Großvater in seinem außerweltlichen Gefängnis besuchten, aber es waren acht Jahre vergangen, seitdem ich ihn das letzte Mal persönlich zu Gesicht bekommen hatte. Wären wir allein gewesen, dann hätte ich ihn von dieser Mauer gezerrt und so ungestüm umarmt, dass er seine gesamte Gestaltwandlerkraft benötigt hätte, um sich meinem Griff zu entwinden.
Wir starrten einander tief in die Augen.
Er gab keinen Hinweis darauf, dass er mich wiedererkannte. Mein Bruder, der Meister der Täuschung.
Ascanio stieß einen übertriebenen Seufzer aus. »Der kleine Prinz gibt uns die Ehre seiner Anwesenheit. Ihr seid sehr weit entfernt vom Territorium eurer Eltern, Eure Hoheit.«
Ihre Hoheit setzte sich im Schneidersitz auf die Mauer. »Ihr seid sehr weit entfernt von eurem Clan-Haus, Beta Ferara.«
Ein Lächeln breitete sich langsam auf Ascanios Gesicht aus, bis seine Zähne aufblitzten. »Hau ab.«
»Ach, und wenn ich nicht abhaue?« Conlan musterte Ascanio mit zusammengekniffenen Augen. »Wirst du versuchen, mich in deinem tiefen Keller einzusperren?«
Einer der Boudas würgte ein leises Kichern ab, bevor Ascanio ihn wütend anstarren konnte.
»Das geht dich nichts an«, sagte Ascanio mit rauer Stimme.
»Ich entscheide, was mich angeht.« Conlan stützte seinen Ellbogen auf sein Knie und legte sein Kinn auf die Faust. »Mach dir keine Sorgen. Ich komm dir nicht in die Quere. Mach ruhig weiter mit dieser versuchten Erpressung, dem Raub und der möglichen Entführung. Ich möchte nur herausfinden, wie sich das alles entwickelt.«
»Und was dann?«, fragte einer der Boudas hinter mir. »Läufst du dann nach Hause und sagst deinem Papa Bescheid?«
Mein Bruder wandte sich ihm zu und starrte ihn an. Seine Augen verwandelten sich in Gold und gaben ein helles Leuchten von sich. Der Bouda mit der großen Klappe versuchte seinen Blick zu erwidern. Eine Sekunde nervöser Anspannung verging. Der Bouda sah zu Boden.
Ascanio konnte das nicht durchgehen lassen. Conlan hatte gerade einen seiner Leute mit seinem Alpha-Blick unterworfen.
Ich musste die angespannte Atmosphäre lockern, bevor Gewalt ausbrechen konnte.
»Also belästigst du nachts nicht nur einsame Frauen. Du schikanierst auch Kinder.«
Ascanio sah wieder mich an.
Ja, genau. Ich bin immer noch hier.
»Ich werde jetzt über die Brücke reiten«, sagte ich zu ihm. »Du bist herzlich eingeladen zu versuchen, mich aufzuhalten. Ich bin mir ziemlich sicher, der Junge und ich kommen mit dir klar.«
»Du solltest versuchen, sie aufzuhalten«, rief Conlan. Fleisch wuchs über seine linke Hand, die sich in eine albtraumhafte Mischung aus Hand und Pfote verwandelte, die unverhältnismäßig groß und mit Krallen bewehrt war, die die Länge menschlicher Finger besaßen. »Das wird ein Riesenspaß.«
»Wir erinnern uns sicher beide daran, was passiert, wenn du Spaß haben willst«, sagte Ascanio. »Oder muss ich es dir ins Gedächtnis rufen?« Er sah sich übertrieben um. »Ich habe keine Loupismus-Handschellen zur Hand.«
Er hatte was nicht zur Hand?
Zorn wusch in Wellen über Conlans Gesicht. Er war nur einen Schritt davon entfernt, zum Fell zu wechseln. »Das war vor langer Zeit. Warum suchen wir uns nicht welche, und finden heraus, was dann passiert?«
Nichts. Nichts würde passieren.
Ich trieb Tulip sanft an. Sie senkte ihren Kopf und stampfte auf die Brücke. Die Boudas, die mir den Weg versperrten, zögerten noch.
Ich starrte zu ihnen und blaffte sie in dem Tonfall an, den ich einsetzte, wenn ich Soldaten während eines Gemetzels dazu bringen wollte, mir zu gehorchen. »Weg mit euch.«
Die zwei zu meiner Linken beeilten sich, mir aus dem Weg zu gehen. Der Bouda zur Rechten war nun allein und wusste offensichtlich nicht, was er tun sollte.
Ich erkannte aus dem Augenwinkel, wie Ascanio ihm ein Zeichen gab. Der Bouda wich auch zurück.
Ascanio hatte kurz durchgerechnet, wie die Situation für ihn ausgehen konnte, und ihm gefiel das Resultat nicht. In einem Kampf unter Gestaltwandlern gab es keine Garantien. Sollte Conlan verletzt werden, oder noch schlimmer, sollte er jemanden verletzen, gäbe es eine Menge Fragen zu beantworten. Ich konnte mir gut vorstellen, wie dieses Gespräch ablaufen würde. »Wie wurde Currans Sohn verletzt?«
»Nun ja, da war diese Frau …«
»Und was hat dich dazu getrieben, mitten in der Nacht eine menschliche Frau aufzuhalten? Und außerdem – warum fehlt Bob ein Arm?« Ascanio war ein Arsch, aber er war nicht dumm.
Ascanio schnippte mit seinen Fingern in Richtung Stadt. Die Boudas schossen an mir vorbei, sprangen auf die Brücke und rannten los.
Ich sah zur Mauer hinüber. Conlan war fort. Gut gemacht.
Ascanio wandte sich mir zu. »Du und ich, wir werden uns schon bald wiedersehen.«
»Nein, werden wir nicht.«
Blutrote Augen starrten mich an. »Denk an die Dinge, die ich dich gefragt habe.«
Er rannte an mir vorbei auf die Brücke und holte seine Leute mit unglaublicher Leichtigkeit ein. Sie rannten so schnell in die Nacht, dass Rennpferde grün vor Neid würden, und verschwanden aus meinem Blickfeld.
Meine erste Nacht in Atlanta nach langer Zeit hätte schlimmer ausfallen können. Ich hatte noch alle Arme und Beine, und meine Haare standen nicht in Flammen.
Was hatte das mit den Loupismus-Handschellen auf sich? Ich hatte Conlan jahrelang regelmäßig gesehen, alle ein oder zwei Wochen, und mein Bruder hatte nie irgendetwas erwähnt, das mit Ascanio und Loupismus-Handschellen zu tun hatte. Tatsächlich hatte er überhaupt kein Wort über Ascanio verloren. Ich musste das bei unserem nächsten Gespräch klären …
Der Geist einer Präsenz ließ alle Alarmglocken in mir schrillen. Mir standen die Haare zu Berge. Etwas wartete zur Linken von mir, verborgen in den Ruinen. Und beobachtete mich. Ich konnte es nicht sehen oder hören, aber ich wusste, dass es da war – verborgen in der Finsternis, so wie Mitglieder eines Naturvolkes wussten, wenn ein Tiger am Eingang zu ihrer Höhle auf sie wartete.
Ich hätte von meinem Pferd absteigen und Hallo sagen können, aber ich wusste nicht, was ich dort vorfinden würde. Jeder einzelne Instinkt in mir warnte mich davor. Unter mir verspannte sich Tulip merklich. Was immer dort in der Dunkelheit lauerte, gefiel ihr genauso wenig.
Es gab keinen Grund, Streit zu suchen. Ich hatte ohnehin schon genügend Zeit verloren. Ich verlagerte mein Gewicht im Sattel, und Tulip trabte auf die Brücke.
Niemand folgte uns.
Ich saß auf einem riesigen Betonbrocken mitten auf der Straße. Um mich herum erstreckte sich das, was früher einmal Midtown gewesen war, unter einem blassgrauen Himmel kurz vor dem Sonnenaufgang. Aus den Trümmern erhoben sich die zerklüfteten Gerippe der Hochhäuser. Einige waren komplett eingestürzt, andere auf halber Höhe eingeknickt. Leere Fenster klafften als schwarze Löcher in ihren Fassaden. Ihre Wände waren von seltsamen Flechten überzogen. Einige hatten sich wie uralte, fossilisierte Muscheln über die Ziegelsteine und den Stuck gelegt, andere hingen in langen karmesinroten Strängen herab, die sich bewegten und erzitterten, obwohl kein Wind wehte. Aus Zierhecken, die früher die Bürgersteige gesäumt hatten, standen nun über dreißig Zentimeter lange Dornen hervor. Unirdische Flechten, die mit Blüten überzogen waren, wucherten aus den ausgebrannten Ruinen hervor.
Die erste Magiewelle hatte Atlanta mitten in seinem pulsierenden Herz getroffen und eine klaffende, schartige Wunde hinterlassen, die sich quer durch Midtown gezogen hatte. Aus dieser Wunde strömte Magie hervor, selbst dann, als die Technik ihren Höhepunkt erreicht hatte, und ihr Strom hatte diesen Bereich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die Einheimischen nannten sie Unicorn Lane. Hier war nichts das, was es zu sein schien, und alles versuchte dich zu töten. Selbst die mächtigsten magischen Schwergewichte hielten sich von hier fern. Wer die Unicorn Lane betrat, musste entweder verzweifelt oder verrückt sein. Zum Glück war ich beides.
Vor mir hatte man einen kleinen Bereich von den Trümmern freigeräumt. Eine gut drei Meter hohe Stele erhob sich auf einer dünnen Steinplatte mit vier gleichlangen Seiten. Einige kleine Tiere mit rostrotem Pelz, die sich irgendwo zwischen Eichhörnchen und Mungos entwickelt haben mussten, huschten einen schmalen Pfad entlang um sie herum. Das Ding, das sie jagte, hatte keinen Namen. Es eilte auf sechs Beinen über den Müll und hatte die Größe eines ausgewachsenen Rottweilers. Sein Pelz bestand aus haarfeinen schwarzen Nadeln. Es wirkte wie ein Seeigel, nur war der Kiefer seines Schädels viel zu lang und wies Dinosaurierzähne auf. Das Monster rannte den Pseudo-Eichhörnchen hinterher, rutschte aus und krachte gegen einen zurückgelassenen Wagen, der mit orangefarbenem Moos überwuchert war.
Das Moos wurde beim Aufprall plötzlich knallrot. Das Biest wich stolpernd zurück, schwankte und brach zusammen. Seine gesamte Flanke hatte sich scharlachrot gefärbt. Die Nadeln hingen leblos herab und begannen sich zu verflüssigen. Unterhalb des Wesens sammelte sich eine Lache braunen Bluts. Dutzende kleiner Viecher, kaum größer als Ratten, huschten einer blaugrauen Flut gleich aus den Trümmern heran und begannen es zu trinken.
Tulip wieherte nun schon zum dritten Mal.
»Na gut.« Ich stieg vom Felsbrocken herab und band sie los. »Geh nicht zu weit weg.«
Tulip schüttelte ihren Kopf und zischte wie ein weißer Pfeil die Straße hinab.
»Ist das schlau?«, fragte eine vertraute weibliche Stimme.
Ich drehte mich um. Sienna stand neben der Stele. Sie trug einen langen dunklen Umhang und hatte ihre Kapuze zurückgeschlagen, sodass ihr Gesicht und ihre rotblonden Haare, die sie nun als Bob trug, deutlich zu erkennen waren. Sie war sehr blass, ihre Gesichtszüge sanft und zierlich, und ihr Blick wirkte stets abwesend. Vor der Wende hatten die Leute die Feen so gezeichnet wie sie aussah.
Doch niemand würde jemals wieder eine zierliche Fee zeichnen.
»Tulip kommt zurecht. Was ist mit deinen Haaren passiert?«
Sie lächelte. »Brauchte die Energie für einen Zauberspruch.«
Sienna war ein Orakel, das in die Zukunft sehen konnte. Ich hatte mich in den letzten Jahren so sehr auf ihre Prophezeiungen konzentriert, dass ich manchmal vergaß, dass sie eine Hexe war.
Ich ging zu ihr, und wir umarmten uns. Früher wirkte sie kränklich, ihr Körper bis auf die Knochen abgemagert, und manchmal vergaß sie immer noch zu essen, weil sie stets mit einem Fuß in einer anderen Zeit existierte. Aber jetzt fühlte sie sich robust an. Gut.
»Warum hier?«, fragte ich und nickte zur Stele.
»Ich habe meine Gründe.«
Sienna sah zu dem Denkmal hinüber und dem einzelnen Namen, der in den Stein gemeißelt stand. SAIMAN.
»Ich habe mich immer gefragt, warum dort sonst nichts steht«, sagte sie.
»So hat er es sich gewünscht.«
Ich erinnerte mich an den Tag, an dem wir ihn begraben hatten. Es regnete so stark, dass wir alle zu weinen schienen. Ich war mir nicht sicher, ob nur einer von uns eine Träne vergossen hatte. Dafür war er zu vielen seiner Sargträger in den Rücken gefallen.
Da Saiman der Enkel eines Frostriesens gewesen war, war er ein Experte der Magie gewesen. Und ein Vielgestaltwandler.
Er konnte sich in jede Person verwandeln, egal, welches Alter oder Geschlecht und eine Gestalt im Rahmen menschlicher Proportionen darstellen. Er hatte dieses Talent dazu genutzt, ein unglaublich egoistisches Leben zu führen, indem er andere Menschen missbrauchte, sie manipulierte und bei seiner Suche nach Spaß und Reichtum immer nur auf den eigenen Genuss bedacht gewesen war. Als sich die Stadt gemeinsam einer furchtbaren Bedrohung hatte stellen müssen, hatte Saiman die einzigartige Chance gehabt, sein feiges Dasein aufzugeben und sich der Herausforderung zu stellen. Das hatte er getan, und es hatte ihn das Leben gekostet.
Ich hatte ihn nicht betrauert, ich hatte ihm nie vertraut. Aber ich bedauerte, dass er gestorben war. In dieser Schlacht hatten eine Menge Leute ihr Leben gelassen, wesentlich bessere Leute.
Sienna warf einen Blick zur Stele. Nun, eigentlich schien sie durch sie hindurchzustarren, auf etwas, das nur sie sehen konnte. Ich wartete.
Sie hatte mich gestern angerufen. Das ist deine letzte Chance, es aufzuhalten. Triff mich vor Sonnenaufgang an Saimans Grab. Dann hatte sie aufgelegt.
Sie zu bedrängen und ihr Fragen zu stellen hätte keinen Zweck. Sie überlegte und wägte jedes einzelne Wort hundert Mal ab, bevor sie es aussprach. Und selbst dann ergab der größte Teil erst dann Sinn, wenn es schon zu spät war. Ich musste einfach geduldig sein und hoffen, dass ich ihre Worte rechtzeitig verstehen würde.
Die letzte Chance. Die allerletzte.
Vor vier Jahren hatte sie mich mitten in der Nacht angerufen. Sienna hatte schon früher Katastrophen vorhergesagt: Kriege, Seuchen, Drachen. Nichts brachte sie je durcheinander, aber damals, in dieser Nacht, hatte ihre Stimme gezittert. Sie hatte mir mitgeteilt, dass einer der Alten Götter in Arizona als Avatar wiedergeboren worden war. Moloch, der Kinderfresser, die Gottheit der Kanaanäer, die im Alten Testament verurteilt worden war. Moloch, der seine Kraft daraus zog, dass man in seinen Schmieden und in den ihm gewidmeten Metall-Stieren Kinder bei lebendigem Leib verbrannte. Knapp drei Jahrzehnte lang hatte er seinen Herrschaftsbereich aufgebaut und auf die Expansion vorbereitet. Und in dieser Nacht hatte Sienna sein erstes Ziel gesehen.
Moloch würde Kate töten. Die Frau, die mich wie ihre Tochter großgezogen hatte.
Kate war so viel mehr als meine Mutter. Sie war der Nexus, der Verbindungspunkt für viele Leute, die sich sonst gegenseitig die Kehlen durchgeschnitten hätten. Das Rudel, das allen Außenstehenden misstraute; die Herren der Toten, die mit ihrem Verstand Vampire wie Drohnen durch die Gegend steuerten; die Hexenzirkel, die ihr kostbares Wissen mit Monstern und Flüchen schützten; die Neuheiden, die unter ihrem Verfolgungswahn litten; der Orden der mildtätigen Hilfe, der immer behauptete, dass sein Weg der einzig richtige Weg war – sie alle schuldeten Kate Gefallen. Sie wurde von allen respektiert. Einige liebten sie, andere fürchteten sie, aber niemand würde sie auf die leichte Schulter nehmen. Kate war die einzige Person, die die verschiedenen Fraktionen Atlantas zu einer vereinten Streitkraft zusammenbringen konnte.
Vor acht Jahren hatte sie genau das getan. Und Atlanta hatte sich einer Bedrohung gestellt, die ihr Untergang hätte sein sollen. Allen Unkenrufen zum Trotz hatte die Stadt überlebt. Kate war weitergezogen, an die Küste in der Nähe von Wilmington. Sie kehrte nur im Sommer nach Atlanta zurück, und ohne ihre Führung war die Einheit der Stadt bald wieder zerbrochen.
Eine Einheit, die aber wieder hergestellt werden konnte.
Wenn Moloch Kate jedoch umbrachte, dann würde Atlanta in sich zusammenbrechen und seiner Macht unterliegen. Jeder, der für mich an der Ostküste von Bedeutung war, würde bei dem Versuch sterben, sie zu rächen. Die Konflikte zwischen den einzelnen städtischen Fraktionen würden sich zu einem Krieg hochschaukeln. An der Westküste bemühte sich Erra, Kates Tante und die Frau, die ich meine Großmutter nannte, das alte Königreich wiederauferstehen zu lassen, das sie vor Tausenden Jahren zurückgelassen hatte.
Meine Großmutter hatte sich schon einmal ihren Rachegelüsten ergeben und war zum Schutz ihrer Leute zu einer Abscheulichkeit geworden.
Kates Tod würde sie erneut den Pfad der Vergeltung beschreiten lassen, und diesmal würde sie das nicht überleben.
Sienna erklärte mir, dass ich der Joker war. Es lag an mir, zu verhindern, dass die Prophezeiung erfüllt wurde.
Es war vier Jahre her, dass ich eines Nachts ein Telefongespräch mit Sienna geführt hatte, und am nächsten Morgen mit Erra zu Molochs Festung aufgebrochen war. Er glaubte, er wäre sicher in seiner Zitadelle. Ich hatte mich gefangen nehmen lassen, seine Wachen umgebracht, mir den Weg zu seiner Werkstatt freigekämpft, und ihm die Wirbelsäule durchtrennt. Er riss mir mein Auge heraus. Mein Großvater hatte mir erzählt, dass Molochs Kräfte in seinen Augen lagen. Also hatte ich eins aus seinem Schädel geschält, als er zu meinen Füßen lag, und mir in meinen Kopf gesteckt. Dann hatte ich seine Leiche zerhackt und in das Feuer seiner eigenen Schmiede geworfen. Anschließend hatte ich seine Höllenfestung in Brand gesteckt.
Innerhalb von zwei Jahren regenerierte sich Moloch. Davor hatte mich mein Großvater schon gewarnt. Ich hatte uns Zeit verschafft, aber die Zukunft blieb unverändert. Kate würde immer noch sterben. Von dem Augenblick an, als ich spürte, wie Molochs Auge sein neues Zuhause in meinem Kopf fand, hatte ich alles getan, um die Erfüllung der Prophezeiung zu verhindern. Ich traf immer wieder auf Moloch, aber egal, wie hart ich dagegen ankämpfte, ich konnte Siennas Visionen nicht verändern. Wenn Kate auf Moloch traf, dann starb sie. Wenn ich nach Hause ging, dann starb sie. Wenn ich sie warnte, dann starb sie.
»Moloch hat wieder zu mir gesprochen«, teilte Sienna mit.
Den Namen laut zu äußern, fühlte sich an, als ob man eine blank liegende Leitung anfassen würde. Ich unterdrückte die Wut in mir. »Was hat er gesagt?«
Sie sah mich an. »Er hat mich verhöhnt. Er kann nicht das sehen, was ich sehe. Er macht sich Sorgen.«
Alles, was Moloch Sorgen bereitete, war großartig für uns.
»Ein heiliger Mann wurde ermordet. Sein Name war Nathan Haywood. Moloch schickte seine Priester in die Stadt. Er will etwas, was mit dem Mord in Verbindung steht.«
»Etwas oder jemanden?«
Sienna schüttelte den Kopf. Ich würde keine Antwort erhalten. »Finde es, bevor er es tut. Wenn er es bekommt, dann ist alles verloren. Die Zukunft wird zur Gewissheit.«
Kate würde nicht sterben. Nicht, solange ich noch atmete.
»Julie«, rief Sienna.
Ich fuhr zusammen. Diesen Namen hatte ich vor Jahren abgelegt. Julie Olsen existierte nicht mehr. Eingeschmolzen im Tiegel der Magie. Jetzt hieß ich Aurelia Ryder.
»Geh nicht nach Hause. Wenn Kate dich sieht, dann wird sie dich wiedererkennen. Sie wird sterben. Curran wird sterben. Conlan wird sterben. Jeder, den du liebst, wird nicht mehr sein.«
Ein Eiszapfen der Angst jagte durch meinen Körper. »Conlan hat mich gesehen.«
»Conlan ist nicht wichtig. Nur Kate.« Sie streckte ihre Hände nach mir aus und ergriff meine. »Du musst ihn diesmal aufhalten. Egal, was es kostet. Es gibt keine weiteren Versuche mehr. Jetzt oder nie.«
»Ich verspreche es«, sagte ich zu ihr.
»Nimm dir ein wenig Zitronensaft mit. Nur für den Fall.«
Sie hüllte sich in ihren Mantel und ging fort.
Zitronensaft. Okay, gut.
Ich stand am Grab und sah zu, wie die Sonne aufging und den Himmel mit rosafarbenen und roten Flecken übersäte. Noch herrschte die Nacht in Arizona. In drei Stunden würde Moloch erwachen und genau wie ich zum Himmel hinaufblicken. Er wurde von der Sonne angezogen. Sie war ein Feuerball, und Feuer verlieh Moloch seine Kräfte.
Du hast deine Priester nach Atlanta geschickt, hm? Keine Sorge, Kinderfresser. Ich werde mich gut um sie kümmern, und wenn ich mit ihnen fertig bin, wirst du dir wünschen, nie geboren worden zu sein.
Ich gab einen schrillen Pfiff von mir. Turgan erhob sich aus den Ruinen zu meiner Rechten und landete mit seinen gut fünf Kilogramm auf meinem Arm. Gelbe Füße umschlossen mit schwarzen Krallen die gepolsterte Armschiene auf meinem Unterarm.
Der Steinadler verlagerte sein Gesicht, während seine Flügel meinen Kopf umspielten, und er mich mit bernsteinfarbenen Augen anstarrte.
Tulip kam um einen Schutthaufen herum zu mir getrabt. Es war an der Zeit, zu unserem neuen Haus aufzubrechen und die Schlüssel abzuholen. Ich musste einen Mordfall lösen.
Tamyra Miller biss sich in die Unterlippe. Sie war etwa zehn Jahre älter als ich, Mitte dreißig, mit dunkelbrauner Haut, vollem schwarzen Haar, das sie immer geflochten trug sowie einer Brille mit großen runden Gläsern. Sie starrte auf das Haus vor uns mit einem Gesichtsausdruck, der nur als beklommen bezeichnet werden konnte. Ich konnte ihr keinen Vorwurf machen.
Das Haus war zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Ziel errichtet worden, eine riesige Villa aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg nachzustellen.
Als ich es vor zwei Jahren gekauft hatte, besaß es zwei Stockwerke, hatte weiße Wände, eine breite Veranda, die um das Gebäude herumlief, und sein Giebeldach wurde von wuchtigen ionischen Säulen getragen. Seine fast zweitausend Quadratmeter Wohnraum hatte man in acht Apartments aufgeteilt, die alle einen eigenen Eingang und Balkon besaßen.
Vor acht Monaten hatte ich Tamyra angeheuert, eine Baustatikerin, um das Ding zu demolieren. Sie machte sich mit einem Team aus Maurern und Zimmerleuten an die Arbeit, verstärkte die Baustruktur und gestaltete den Grundriss nach meinen Wünschen um. Innerhalb des Hauses erschuf sie einen gut fünfhundertfünfzig Quadratmeter großen Wohnraum, und dann brach sie vorsichtig die Außenwände weg und häufte zusätzliche Betonbrocken und Holz aus den eingestürzten Hochhäusern in der Nähe drumherum.
Von außen sah das Gebäude wie eine Ruine aus, ein Trümmerhaufen mit einem Dach, ein paar Säulen hier und da, die zwar noch standen, aber in Schutt begraben lagen. Der strukturell verstärkte Stall mit der gepanzerten Tür lag sicher verborgen auf der Rückseite. Ein schmaler Pfad führte zum Eingang mit seiner dicken Stahltür, deren Holzfurnier man mit Dreck verschmiert hatte. Keine Fenster, außer einem ganz kleinen, direkt rechts neben der Tür. Es war durch ein Metallgitter geschützt und bot mir aus der Küche einen Ausblick auf den Vorhof. Keinerlei Schwachstellen. Nicht das geringste Anzeichen, dass das Haus bewohnbar war, abgesehen vom Balkon. Er war von der Straße aus nicht einzusehen, außer man kletterte auf ein anderes Gebäude. Der Balkon war unter das Dach gebaut und durch dicke Stahl- und Silberstangen geschützt, die bis ins Fundament reichten. Ich hatte das Innere des Gebäudes gesehen, und es war all das, was ich mir immer gewünscht hatte.
Tamyra war zu einem Entschluss gekommen. »Ms Ryder …«
»Ja?«
»Mir ist klar, dass Sie ein halbes Vermögen in dieses Haus gesteckt haben, aber ein Menschenleben ist nun mal nicht mit Geld aufzuwiegen.«
»Versuchen Sie mir gerade zu sagen, dass das Haus nicht sicher ist?«
»Das Haus ist bombensicher. Es wird einem Erdbeben widerstehen. Es ist eine Feste, und ich bin stolz darauf. Aber ich spreche gerade davon.«
Sie drehte sich nach links und sah Richtung Westen, wo die 17th Street den Berg hinab verlief, bis zur Unicorn Lane, die nur fünfhundert Meter entfernt vor Magie brodelte. In der Vorwendezeit war dies eine Gegend mit prächtigen Anwesen und großen Gärten gewesen, von üppigem Grün umgeben und mit Ausblick auf die Bürohochhäuser Midtowns, natürlich zum entsprechend hohen Preis. Jetzt war die gesamte Gegend verlassen. Und mit jeder Magiewelle dehnte sich die Unicorn Lane aus und kroch Zentimeter um Zentimeter hinaus in die Welt.
»Sie machen sich keine Vorstellung, was für einen Scheiß wir in den letzten sechs Monaten da haben rauskriechen sehen«, sagte Tamyra.
Doch, das konnte ich mir lebhaft vorstellen. Deshalb hatte ich ihnen das Doppelte gezahlt.
»Es gibt noch andere Häuser«, sagte die Baustatikerin.
Aber keins wie meins. Vor zehn Jahren, als ich noch Julie war, war ich nach Hause zurückgekehrt, nachdem ich einen Mantikor getötet hatte. Kurz vor dem Tod hatte er seine Krallen in mein Bein geschlagen, tief, fast bis auf den Knochen. Ich war müde, dreckig und blutete. Also nahm ich eine Abkürzung, kam zu nahe an die Unicorn Lane und ein Rudel wilder Ghule jagte mich bis zu diesem Haus. Damals stellte ein Rudel aus sechs Ghulen noch ein Problem dar.
Ich war auf das Dach geklettert, um ihnen zu entkommen, und hatte zugesehen, wie die Sonne langsam hinter der Unicorn Lane unterging, bis Derek mich fand. Er verjagte die Ghule, fand mein Pferd wieder, und hielt mir dann einen Vortrag über die Vorteile, auf meinem Nachhauseweg keine dummen Abkürzungen zu nehmen. Die Erinnerung daran stand mir noch deutlich vor Augen. Wie ich auf meinem Pferd saß, während er neben mir durch die verlassene Nacht ging und mich mit seiner rauen Stimme zusammenstauchte.
Das war vor langer Zeit, in einem anderen Leben. Derek hatte Atlanta zwei Jahre nach mir verlassen. Seitdem hatte ihn niemand mehr gesehen.
Ein orangefarbenes Wesen sprang vom Dach auf der anderen Straße herab. Ich zog mein Messer, trat einen Schritt vor und schwang es in einer schnellen Bewegung zur Seite. Ein fledermausähnliches Wesen von der Größe eines mittleren Hunds krachte zu meinen Füßen auf den Boden. Seine Beine zuckten noch. Blut spritzte aus seinem Halsstumpf auf den Asphalt. Sein Schädel mit dem langen, spitzen Maul rollte noch kurz umher, bis er neben meinem Stiefel liegen blieb.
Tamyra legte ihre Hand auf die Waffe an ihrer Hüfte.
»Ein Kreischer«, sagte ich zu ihr und trat den Schädel zurück Richtung Unicorn Lane. »Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Vielen Dank für Ihre Besorgnis, Mrs Miller. Ich weiß es zu schätzen, aber ich bin genau an dem Ort, an dem ich sein muss.«
Sie seufzte und hielt mir einen Schlüsselring und ein paar zusammengerollte Zeitungen hin. »Das ist der einzige Satz, wie verlangt. Und das sind alle Zeitungen der letzten Woche.«
Ich nahm mir die Schlüssel und die Zeitungen. »Danke. Soll ich Sie ein Stück begleiten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mein Ehemann parkt nur ein paar Straßenblöcke weit weg auf der Fifteenth.«
»Schreien Sie, wenn Sie Hilfe brauchen.«
»Klar«, antwortete sie und machte sich auf den Weg.
Ich lief zum Eingang und steckte den Schlüssel ins Schloss. Die gut geölten Stifte glitten zur Seite, ich öffnete die Tür und betrat das Haus.
Von der Vordertür ging es direkt ins Wohnzimmer, wo sich zur Linken ein Kamin befand. Das Hausinnere mit seinen etwa fünfundsiebzig Quadratmetern sah nach nichts Besonderem aus: ein alter, sauber gefegter Holzboden; ramponierte Wände, die schon bessere Zeiten mitgemacht hatten; ein schäbiges, abgewetztes Sofa vor dem Kamin. Zur Rechten befand sich eine kleine Küche im Quadratformat, mit einem heruntergekommenen Frühstückstisch und zwei Stühlen. Alles sauber, wenn auch verschlissen und abgenutzt. In der Ecke summte ein kleiner, eingedellter Kühlschrank.
Direkt geradeaus, am anderen Ende des Wohnzimmers, führte ein kurzer Flur zu einem Schlafzimmer links und einem Badezimmer rechts.
Es wirkte alles so vertraut.
Mir war das bisher nicht klar gewesen, aber ich hatte unbewusst mein erstes Haus nachgebaut. Das Haus, in dem ich mit meinen biologischen Eltern gewohnt hatte. Es war keine exakte Kopie, aber es vermittelte denselben Eindruck – zu viel harte Arbeit für zu wenig Geld, und die sture Weigerung, sich die eigene Armut einzugestehen. Es fehlten nur noch leere Wodkaflaschen und billiger Fusel wie Wild Irish Rose im Spülbecken.
Ich betrat die Küche und warf einen Blick ins Spülbecken. Nichts.
Mein leiblicher Vater war ein Zimmermann gewesen. Er starb während eines Brückenbaus, als ich acht oder neun war. Ein Teil einer maroden Straßenüberführung krachte auf ihn herab und zerquetschte ihn. Die Trümmer waren zu schwer, um sie zu bewegen, und seine Leiche wurde nie geborgen. Wir mussten einen leeren Sarg mit einigen seiner Lieblingssachen beerdigen. Ich konnte mich nicht mehr entsinnen, wie er aussah.
Meine leibliche Mutter hatte ich ein wenig besser in Erinnerung. Sie war dünn, feinknochig, mit großen braunen Augen und blondem Haar. Früher sah ich mal aus wie sie. Ihr Name lautete Jessica Olsen, und in meiner Erinnerung war sie immer müde.
Als mein leiblicher Vater noch lebte, kamen wir zurecht. Ich hatte Klamotten, genug zu essen, Spielzeuge, sogar ein Skateboard. Sein Tod jedoch zerstörte uns. Kurz nach der Beerdigung war ein Mann in unser Haus gekommen und hatte versucht, Mutter davon zu überzeugen, ihm die Werkzeuge Vaters zu verkaufen. Sie behielt sie und ging stattdessen bei einem Zimmermann in die Lehre.
Wir hatten immer weniger Geld. Unter der Woche arbeitete meine Mutter zu viele Schichten. Sie war ganz bestimmt nicht dafür gemacht, schwere Holzbalken durch die Gegend zu schleppen, aber sie tat es trotzdem. Am Wochenende war es am schlimmsten. Es gab nichts zu tun, außer sich daran zu erinnern, dass mein Vater nicht mehr da war. An einem Wochenende begann sie zu trinken und hörte bis Montag nicht mehr auf. Am nächsten Wochenende tat sie das wieder. Dann begann sie, nach der Arbeit zu trinken.
Jeder hat damit zu kämpfen, den Verlust eines geliebten Menschen zu verarbeiten. Meine Mutter war kein schlechter Mensch. Ihr fiel nur alles viel schwerer als den meisten anderen Leuten. Sie hatte nie vorgehabt, mich zu verlassen. Sie versuchte bloß, ihrem Elend zu entkommen, und irgendwie vergaß sie, dass ich existierte. Ich hatte oft Hunger. Ich trug abgewetzte Klamotten. Gelegentlich hatte sie einen klaren Moment, in dem sie mich erkannte, und dann stand Essen auf dem Tisch, und meine T-Shirts waren ausgebessert und sauber. Aber dann entglitt sie mir wieder.
Ich wurde ein Straßenkind. Ich hungerte, ich stahl, ich bekam Prügel, und ich lernte, dass menschliche Räuber schlimmer waren als alles, was mir Magiewellen entgegenwerfen konnten. Ich suchte so verzweifelt nach Liebe, dass ich die Straßenjungen für meine Freunde hielt, selbst als sie mich verprügelten und mich beklauten. Nachts ging ich nach Hause. Ich erinnerte mich noch an die schwache Hoffnung, die mich jedes Mal vor der Eingangstür erfüllte. Vielleicht würde ich diesmal die Tür aufmachen, und Mom würde es gut gehen.
Dann, eines Tages, verschwand meine leibliche Mutter – und Kate fand mich. Damals arbeitete sie für den Orden der mildtätigen Hilfe, und sie las mich zufällig während einer ihrer Aufträge auf. Sie hätte sich nicht um mich kümmern müssen, aber sie tat es trotzdem. Und sie versprach mir, meine Mutter ausfindig zu machen. Doch die Dinge verliefen nicht wie geplant, und meine Mutter und ich fanden uns inmitten einer Meeresdämoneninvasion wieder. Die Erinnerung war wie ein Schlag ins Gesicht, widerwärtig, feuchtkalt: Ich hing an einem Kreuz, an dem ich mit Seilen festgebunden war, die nach verfaultem Fisch stanken. Und unter uns eine Horde Meeresdämonen, die mit ihren Zungen das Fleisch von der Leiche meiner Mutter lösten.
Ihre braunen Augen hatten in den bewölkten Himmel gestarrt, ausdruckslos und milchig weiß …
Ich hatte am Kreuz gehangen und musste zusehen, wie die Dämonen die Leiche meiner Mutter verschlangen und hoffte entgegen jeder Wahrscheinlichkeit, dass Kate mich retten würde. Und sie hatte es tatsächlich getan.
Ich verließ die Küche und durchquerte das Wohnzimmer bis zu dem Flur, der zum einsamen Schlafzimmer und dem Badezimmer führte. Auch die Wände am Flur sahen furchtbar aus. Sie waren nur grob verputzt, die Tapeten waren uralt, und überall befanden sich Löcher, wo früher wohl Bilder gegangen haben mussten. Ich folgte dem Flur bis zum Punkt, wo er direkt vor dem Badezimmer abbog und blieb am schmutzigsten Punkt stehen. Sie hatten erstklassige Arbeit geleistet, die Tür zu verbergen.
Ich suchte einen großen Metallschlüssel an dem Schlüsselring, den Tamyra mir gegeben hatte, und führte ihn in ein nichtssagend aussehendes Loch im Putz ein, etwa ein Meter über dem Boden, und drehte ihn. Ein Teil der Mauer wich zurück, als die schwere Tür nach innen schwang. Ich trat hindurch.
Vor mir erstreckte sich ein großer Raum, der im Sonnenlicht erstrahlte, das durch ein riesiges Oberlicht hereinfiel. Vier Gipssäulen erhoben sich bis zum Oberlicht. Ihre raue Oberfläche war in einem hellen, aber beruhigenden cremefarbenen Ton gehalten. Der Boden bestand aus Kalksteinfliesen, die im selben sandfarbenen Ton wie die Säulen und die Wände gehalten waren. Ein Kanal von gut einem halben Meter Breite mit frischem Wasser verlief von der Eingangstür bis zur Rückwand und teilte das Haus in zwei Hälften. Wir hatten eine Quelle dafür angezapft. Der Kanal endete in einem flachen Becken, wo Lilien und Lotosknospen auf dem Wasser schwebten.
Zur Linken des Wasserlaufs führten drei Stufen zu einer erhobenen Plattform, auf der ein Holztisch stand. Dahinter war ein metallener Kessel in den Boden eingelassen. Sein Durchmesser betrug ein Meter zwanzig, groß genug für ein kleines Feuer.
An den Wänden boten zahlreiche Regale schier endlosen Stauraum, und einige meiner Vorräte hatte man schon geliefert: unterschiedliche Holzsorten, sauber gespalten und in Stapeln, Beutel mit getrockneten Kräutern und Mineralien, und Kisten mit Krügen und Flaschen aus Glas und Plastik, die nur darauf warteten, sortiert zu werden. Hinter ihnen standen an der freien Wand fünf lange Kisten. Meine Waffen.
Rechts an der Wand war eine Küche platziert worden. Ein Gasherd, eine große Kücheninsel, ein Esstisch mit Platz für acht Leute, und einige grün und blau bezogene Plüsch-Diwane. In den Regalen auf dieser Seite des Raums würden die Bücher und die Zutaten Platz finden.
Überall im Raum befanden sich kleine Tische und Plüschkissen, auf denen man sich unter grünen, lichtdurchlässigen Baldachinen hinsetzen konnte, die mit goldenen und scharlachroten Elementen geschmückt waren. Pflanzen wucherten in großen Keramiktöpfen, und Ranken wuchsen an den Wänden hinab. Zwischen den Blumen standen Metallstatuen, die mal grazil, mal wild aussahen. An den Wänden hingen wunderschöne Feenlampen aus Glas und elektrische Leuchten.
Wenn ich unter dem gewölbten Türbogen hinten im Raum hindurchging, würde ich das Schlafzimmer erreichen, und das Badezimmer mit der prächtigen Dusche und dem im Boden eingelassenen, etwa zwei Meter im Quadrat großen Tauchbecken.
Zu Hause … Nun ja, fast.
Ich trat an den Schreibtisch auf der Plattform und zog den Deckel von einer kleinen Kiste, die direkt daneben stand. In ihr lagen ein schlichter Gladius in einer schlichten Scheide und ein Bündel weicher Baumwolle. Ich nahm den Gladius heraus, zog die Klinge aus ihrer Hülle, und legte sie auf den Schreibtisch. Das erste Schwert, das Kate mir je geschenkt hatte.
Das Bündel war als Nächstes dran. Ich entrollte es und nahm eine schlanke grüne Vase heraus, in der sich ein weiteres, schlankes Bündel befand. Ich stellte die Vase auf den Schreibtisch, zog das kleinere Bündel heraus und zupfte die Baumwollschichten sanft auseinander, während ich die Luft anhielt. Im Stoff verborgen wartete eine metallene Rose auf mich.
Puh. Sie hatte die Reise überstanden. Derek hatte sie vor vielen Jahren für mich angefertigt, als ich ihn gerade kennengelernt hatte. Damals hatte er Kate bei einem Auftrag geholfen.
Ich ließ sie in die Vase gleiten. So. Jetzt hatte ich ein Zuhause.
Ich breitete die Zeitung auf dem Schreibtisch aus. Es dauerte nicht lange, bis ich es gefunden hatte. Pastor Nathan Haywood, zweiundfünfzig, Methodist, in seiner eigenen Kirche ermordet, mitten in der Nacht von etwas zerrissen. Vor drei Tagen. Warum hatte Sienna drei Tage gewartet, bevor sie es mir erzählte?
Ich überflog die Artikel und den Nachruf. Pastor Haywood schien sehr beliebt gewesen zu sein. Im Artikel sprach man von ihm, als ob er ein Heiliger gewesen wäre. Auf einer Fotografie war eine lange Reihe Trauernder zu sehen, die sich um den gesamten Straßenblock zog. Die Menschen weinten. Die Menschen umarmten sich gegenseitig. Sein Tod hatte Atlanta fassungslos gemacht. Die gesamte Stadt trauerte um ihn.
Im neuesten Artikel wurde erwähnt, dass die Untersuchung an den Orden der mildtätigen Hilfe übergeben worden war.
Perfekt. Das verschaffte mir meinen Zugang. Es war riskant, aber wesentlich besser, als sich mit Atlantas Paranormal Activity Division – auch PAD genannt – herumschlagen zu müssen.
Es war noch nicht mal acht Uhr morgens. Wenn ich mich ein wenig beeilte, konnte ich um neun beim Orden sein.
Ich sah auf. Die Klinge des Gladius lag auf meinem Schreibtisch und spiegelte das Schimmern des Oberlichts wider.
Kate hatte mich nicht nur gerettet. Sie hatte mich bei sich aufgenommen. Wenn etwas versuchte, mir wehzutun, hatte sie es getötet. Wenn ich ein Problem hatte, ließ sie mir den Raum, es in den Griff zu bekommen, und wenn ich Hilfe brauchte, dann hatte sie sie mir angedeihen lassen. Sie meldete mich in der Schule an und trieb mich an, meine Hausaufgaben zu erledigen. Sie brachte mir bei, wie man Waffen benutzte und erteilte mir meine erste Lektion am Speer. Sie liebte mich, ehrlich und ohne Vorbehalt.
Ihre Familie wurde meine Familie. Andrea Medrano, ihre beste Freundin, wurde zu Tantie Andie. Kates Tante, Erra, die Städteverschlingerin, die uralte Prinzessin, die in unserem Zeitalter Erwachte, wurde meine Großmutter.
Kates Vater, der größenwahnsinnige Unsterbliche, entschloss sich, mein Großvater zu sein. Curran, Kates Ehemann und früherer Herr der Bestien, kümmerte sich um mich, als wäre ich sein eigenes Kind, und als Conlan geboren wurde, hatte ich ihn immer nur als meinen Bruder angesehen.
Wir benutzten nie Worte wie »Mutter« und »Tochter«, auch nicht, nachdem die Adoption rechtskräftig geworden war. Sie nannte mich Julie, und ich nannte sie Kate.
Ich vertat mich nur einmal. Vor acht Jahren war ich mit Erra aus Atlanta fortgegangen. Ich wollte meinen eigenen Weg finden, und ich hatte meine Gründe. Innerhalb von zwei Wochen hatte das Heimweh eingesetzt und mir so zugesetzt, dass ich es nicht mehr ertragen konnte. Drei Monate, nachdem ich aufgebrochen war, hatte ich zu Hause angerufen. Kate nahm den Anruf entgegen. Ich wollte eigentlich Hallo sagen, aber stattdessen brachte ich ein »Mama?« hervor. Sie hatte mit »Ja, meine Kleine?« geantwortet. Und dann hatten wir miteinander gesprochen, als ob nichts passiert wäre. Danach erwähnten wir es mit keinem Wort mehr. Sie machte mir auch nie Vorwürfe, dass ich fortgegangen war.
Sie hatte dasselbe getan, als sie in meinem Alter gewesen war. Sie musste mir nicht sagen, dass ich jederzeit daheim willkommen war. Das war eine Selbstverständlichkeit.
Kate, Curran und Conlan, sie waren mein Zuhause. Mein sicherer Ort, meine Zuflucht, der mir Halt und Wärme gab, und wo ich geliebt wurde. Es war nun an mir, sie vor der Gefahr zu bewahren. Und mein erster Schritt lautete, den Haywood-Fall zu übernehmen und Molochs Priester davon fernzuhalten.
Der Orden der mildtätigen Hilfe besaß ein Anwesen an der Kreuzung von Centennial Park Drive und Andorf’s Avenue. Das fünfstöckige Gebäude war eine Mischung aus Festung und Bunker und verfügte über jeden Schnickschnack, den Neubauten nach der Wende bekommen konnten: schmale Fenster, die durch Gitter abgeschirmt wurden, deren Stangen Silber enthielten, über dreißig Zentimeter dicke Steinwände und ein Flachdach, das durch Ballisten und mittlere M240-Maschinengewehre geschützt wurde. Es war von einer drei Meter hohen, stacheldrahtbewehrten Mauer umgeben, auf der sich in regelmäßigen Abständen Wachtürme befanden. Ob nun Magie oder Technik, die Ritter würden alles zu Staub zermalmen.
Ich ritt direkt zum vorderen Tor und hielt an einem gedrungen wirkenden Wachhaus mit verstärkten Mauern und getönten Fenstern an, vor denen Metallgitter angebracht waren. Das Tor in der Steinmauer neben dem Wachhaus stand offen, und ich konnte dahinter einen Exerzierplatz und die Ställe sehen. Der Orden hatte ganz offensichtlich aufgerüstet.
In dieses neue Gebäude hätte man vier ihrer alten Hauptquartiere unterbringen können.
Ein dunkelhäutiger Ritter mit kurz geschnittenem schwarzen Haar, der etwa in meinem Alter war und eine Narbe an seinem Hals trug, trat heraus.
Er hatte ein Kampfschwert um die Hüfte geschnallt.
»Name?«
»Aurelia Ryder.«
»Besuchsgrund?«
»Ich bin hier, um mit Protektor Nikolas Feldman zu sprechen.«
Der Ritter beäugte mich misstrauisch. »Erwartet er Sie?«
»Nein. Aber er wird mich empfangen.«
»Was macht Sie da so sicher?«
»Ich trage den Turm.«
Der Gesichtsausdruck des Ritters veränderte sich kein bisschen. »Soll mir das irgendwas sagen?«
Nein, ich bin eine Verrückte, die vor eine Festung voll bewaffneter Fanatiker marschiert, um unzusammenhängenden Blödsinn von sich zu geben. »Warum melden Sie es nicht und finden es heraus?«
»Warten Sie hier.«
Er kehrte in das Wachhaus zurück.
Ich wartete.
Der Orden hatte seinen Ursprung in dem Chaos, das nach der Wende ausbrach, direkt nach jener ersten Magiewelle, die Flugzeuge vom Himmel fallen ließ und alle Energie aus dem Stromnetz abgezogen hatte. Diese Welle hielt drei Tage lang an. Sie gebar Monster und erweckte völlig willkürlich Kräfte. Die Apokalypse war eingetreten und hatte unsere technologische Zivilisation mit einem Schlag zerstört, einem kosmischen Hammer gleich. Während dieser Welle hatte sich Jared Stone, ein ehemaliger Army Ranger, mit einigen seiner Nachbarn zusammengetan, um ihre Häuser vor den magischen Albträumen zu bewahren, die die Umgebung verheerten, und so war der Orden entstanden.
Stone nahm sich für seine Schöpfung die mittelalterlichen Ritterorden zum Vorbild, die strikte Disziplin hervorhoben, erstklassige Ausbildung und vor allem Tüchtigkeit. Er gab dem Ganzen eine einfache Aufgabe – die Menschheit vor sämtlichen magischen Dingen zu beschützen. Die Ritter halfen allen, die sie darum baten. Reich, arm, es spielte keine Rolle. Wenn man sich einem magischen Problem gegenübersah, das man nicht lösen konnte, dann würde der Orden dem Gesuch stattgeben und das Dilemma klären – zu seinen Bedingungen.
Im Laufe der Jahre wuchs der Orden. Je mehr die Landesregierung an Macht verlor und die Staaten an Einfluss gewannen, umso stärker verließen sich die Strafverfolgungsbehörden auf die Ritter. Sie hatten Ordenskapitel in allen größeren Städten, sie waren Experten in der Entsorgung magischen Gefahrguts, und sie waren tödlich.