Bloß weg hier! - Frank Böhmert - E-Book

Bloß weg hier! E-Book

Frank Böhmert

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Beschreibung

Berlin (West), Herbst 1973. Betreten des Rasens verboten. Fußballspielen verboten. Kinderspielen in der Durchfahrt nicht gestattet. "Dir werde ich die Hammelbeine langziehen!" - "Der braucht nur mal eine tüchtige Abreibung!" Langhaarige empfehlen: Verbieten verboten. Im Grunewald stößt der elfjährige Ausreißer Olli auf den gleichaltrigen Bernd, der sich während eines Klassenausflugs verlaufen hat. Olli wittert die Gelegenheit zu einer Heldentat und beschließt, den "Brillenbubi" auf eigene Faust nach Hause zu bringen. Nach Kreuzberg. Ausgerechnet. Wo die ganzen Asozialen wohnen! Ein Großstadtabenteuer nimmt seinen Lauf ...

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Seitenzahl: 180

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Frank Böhmert

Impressum:

Frank Böhmert

Bloß weg hier!

© 2011 by Frank Böhmert

Mit freundlicher Genehmigung des Autors

© dieser Ausgabe Mai 2011 by Golkonda Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Hannes Riffel

Korrektorat: Ilona Pritzens

EPUB: Karlheinz Schlögl

GOLKONDA Verlag

Charlottenstraße 36

12683 Berlin

Kontakt: [email protected]

www.golkonda-verlag.de

PROLOG

Ich erkannte ihn schon von Weitem. Die breite Clayallee war völlig leer, aber er hielt sich auf seinem Rad ganz dicht an den parkenden Autos. Die Macht der Gewohnheit. Es war der 25. November 1973. Berlin erlebte im Zuge der Ölkrise den ersten autofreien Sonntag. Bernd hätte mitten auf der Straße fahren können, in wilden Schlenkern. Bloß dass er das nicht drauf hatte. Noch nicht. Aber dafür gab es ja mich.

Er hatte schon viel gelernt seit unserer ersten gemeinsamen Expedition im Frühherbst.

Ich rollte mein Bonanzarad vom begrünten Mittelstreifen hinunter und fuhr ihm entgegen. Es wäre natürlich lässiger gewesen, einfach dort stehen zu bleiben und auf ihn zu warten, aber ich freute mich viel zu sehr, ihn wiederzusehen. Was schon ein Wunder war, wenn man bedenkt, dass wir uns eigentlich bloß kannten, weil er mir in einem ungünstigen Moment in die Quere gekommen war und ich ihn verkloppt hatte.

Ich drehte einen großen Kreis über sämtliche Fahrspuren Richtung Norden, ließ dabei meine Sturmklingel gellen und stieß irgendwelche Kampfschreie aus. Dann blieb ich neben dem Mittelstreifen stehen und sah Bernd an, und er scherte jetzt auch von den parkenden Autos weg. Na also, ging doch.

Weit und breit war kein fahrendes Auto zu sehen. Fußgänger auch kaum, bei dem ollen Wetter. Es war kalt, windig, und überall glänzten noch die Pfützen des letzten Regens.

Dann war Bernd da.

Ich grinste ihn an. »Hey, duftes Rad. Ich denk, du hast bloß so’n olles Klapp.«

»Mein Vater hat’s umgebaut neulich.«

Ich sah es mir an. Die metallicrote Lackierung konnte nicht ganz mit meinem grellen Orange mithalten, aber sie war schon okay. »Nicht schlecht, Herr Specht. Die Stange hinten ist natürlich zu niedrig, aber dafür ist der Bananensattel echt wuchtig. Da passen ja fast noch zwei Leute mit rauf. Und der Rückspiegel ist der Hammer.«

»Ist ein Motorradrückspiegel.«

»Ein echter?«

»Glaub schon. Hat mein Vater gesagt.«

Er sah jedenfalls echt aus. Eine bestimmt dreißig Zentimeter lange Metallstange und daran ein runder Spiegel so groß wie der Handteller eines Erwachsenen.

»Doppelhammer«, sagte ich. »Und ne neue Brille hast du auch. Dann fällt Weihnachten aus, ja?«

Bernd schob das Drahtgestell weiter auf die Nase hoch. »Nee. Letzte Verwarnung. Und dann.«

Wir grinsten uns an.

»Und du«, sagte Bernd. »Hast dir ja die Haare abgeschnitten.«

»Jau«, brummte ich nur. Darüber wollte ich nicht reden. Ich war mit meiner Mutter bei C&A gewesen, und die Verkäuferin hatte mich wegen meines Übergewichts und der kinnlangen Haare für ein Mädchen gehalten. Das, so hatte ich mir geschworen, sollte nicht noch mal passieren.

Und Haare schneiden ging schneller als das mit dem Abnehmen.

Ich nickte nach hinten zur Kreuzung. »Wollen wir?«

Bernd antwortete, indem er in die Pedale trat. Wir lieferten uns ein kleines Wettrennen, das nicht ernst gemeint war: Er hatte ordentlich Kraft in den Beinen, da konnte ich nicht mithalten, trotz schicker 3-Gang-Knüppelschaltung.

Bernd bog als Erster in den Hüttenweg ein. Nach rechts.

Ich grinste. »Weißt du’s noch oder hast du auf die Karte gekuckt?«, rief ich.

»Karte!«

»Gut. Wir müssen aber nach links.«

»Oh. Stimmt.«

Bernd hatte ein Mordstalent dafür, sich zu verlaufen; nur darum war er mir ja neulich überhaupt in die Quere gekommen.

Wir strampelten zurück über die Kreuzung. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Die Stadt lag da wie ausgestorben, dabei waren doch alle Leute noch vorhanden; sie fuhren bloß nicht Auto. Ein paar Taxen hatte ich gesehen, einmal einen Streifenwagen, das war alles. Angeblich durfte man ganz schön abdrücken, wenn sie einen ohne Ausnahmegenehmigung erwischten.

Als Radfahrer konnte man nun mitten auf der Straße herumgurken, in allen Kurven, auf die man nur Lust hatte, und das war gleichzeitig berauschend und verstörend. Eigentlich hätte es ein Fest sein können, zumindest für die Fußgänger und Radfahrer, aber die Mehrheit der Leute hockte zu Hause. Was natürlich vielleicht auch am Wetter lag. Nasser Asphalt und schon richtig kalte Luft luden nicht gerade zu einer Partie Federball über den Mittelstreifen ein.

Nach ein paar Minuten waren wir im Wald. Auf dem Hüttenweg herrschte nie ein solcher Verkehr wie etwa auf der Havelchaussee, die an Sommersonntagen ein einziger Stau war, aber ganz leer hatte ich ihn noch nie erlebt. Weit vorn waren ein paar Radfahrer zu sehen, eine Familie in knallgelben Friesennerzen, das war alles.

Wir zockelten ihnen hinterher.

Ich war hier draußen aufgewachsen, in der Nähe des Grunewalds, und an diesem Sonntag hatte ich das einmalige Gefühl, plötzlich nach Westdeutschland versetzt worden zu sein und irgendwo in der tiefsten Pampa eine Landstraße entlangzuradeln.

Wobei, mir fällt ein: Hüttenweg muss ich für Nichtberliner vielleicht erklären. Der war auch damals in den 1970ern schon eine stinknormale Straße, im Wald natürlich nicht mehr komplett mit Gehwegen ausgestattet, aber eben asphaltiert und zweispurig.

Wir radelten vor uns hin und quatschten den Blödsinn, den elfjährige Jungs damals so quatschten. Wir witzelten rum, vorzugsweise über Körperfunktionen, wir diskutierten die aktuellen Fortsetzungen unserer Lieblingssuperheldencomics, wir tauschten uns über die Handvoll Fernsehprogramme aus, die man damals in Berlin-Klammer-auf-West-Klammer-zu empfangen konnte. Ich eines mehr als Bernd, weil wir zu Hause auch AFN reinkriegten. Wo mich allerdings schon die Sesame Street vor genügend Probleme stellte, um es mit dem Rest gar nicht erst zu versuchen. Inzwischen konnte man sich zum Glück schon auf Deutsch darüber beömmeln. Besonders Ernies Was-passiert-dann-Maschinen hatten es mir angetan; ich zeichnete manchmal welche.

Egal. Wir radelten da also vor uns hin. Dabei holten wir Familie Friesennerz allmählich ein und zogen schließlich an ihr vorbei. Als wir auf der Höhe des Grunewaldsees waren, kamen rechts auf den Straßen und im Gelände ein paar Leute mehr in Sicht, aber voll konnte man das auch nicht nennen.

Dann kam der letzte Knick, dann die große Kreuzung Königsallee bzw. Onkel-Tom-Straße, und dann waren weit vorn schon die Unterführungen zu sehen. Was wir da jetzt vor Augen hatten, war bloß die Böschung der S- und Eisenbahnstrecken, aber ich wusste, gleich dahinter kam die Avus.

Oder besser: die AVUS. Die Automobil-Verkehrs- und Uebungs-Straße. Das erste Stück echte Autobahn von ganz Europa, geplant ab 1909, gebaut ab 1913, Rennstrecke und dann auch für den privaten Verkehr freigegeben ab 1921. Benutzungsgebühr für die einfache Strecke ursprünglich 10 Mark, Vierteljahreskarte 1.000 Mark.

Das hört sich nach viel an und ist sicher auch nicht wenig gewesen, wobei damals die Hyperinflation natürlich schon kurz bevorgestanden und die Mark um diese Zeit noch ungefähr ein Zehntel der Vorkriegskaufkraft besessen hat. Die Avus zu benutzen, ist also ein durchaus exklusives Vergnügen gewesen, und irgendwie war sie den Westberlinern (wie man damals nicht bei uns, sondern nur in Berlin-Hauptstadt-der-DDR sagte) auch 1973 noch ein Symbol von Wohlstand und Freiheit. Der Berliner (so sagte man bei uns) hing an seinem Auto in einem weit höheren Maße als jeder Westdeutsche. Freie Fahrt für freie Bürger! Wer mal richtig gemütlich durch die Landschaft kutschieren oder auch ordentlich Gas geben wollte, musste erst mit 100 Stundenkilometern mindestens die Transitstrecke nach Helmstedt runterzockeln – oder eben in Berlin die Avus benutzen, die ja sogar immer noch eine richtig offizielle Rennstrecke war.

Genau dort wollten wir mit unseren Rädern hin. Was natürlich trotz autofreiem Sonntag verboten war.

Und uns darum erst recht reizte.

Die Avus! Wo der legendäre Silberpfeil gefahren war! Die Avus! Die gleich 1926 beim Großen Preis von Deutschland vier Rennfahrer aus dem Leben gerissen und auch das Blut von Zeitnehmern und Schildermalern nie verschmäht hatte!

Die Avus.

Gleich hinter der Eisenbahntrasse hielt ich an. »Da wären wir.«

Vor uns lag die Unterführung, obendrauf die Autobahn. Links kam die Ausfahrt herunter, rechts ging es die Auffahrt hoch. Beide leer, wie ausgestorben.

»Und jetzt?«, fragte Bernd.

Es war schon ein mulmiges Gefühl. Nirgendwo Autos, aber auch nirgendwo Polizei. Ich sah mich um.

Weit hinter uns leuchteten die Friesennerze. Verflixt!

Andererseits: Wenn die sich hier überhaupt rauftrauten, dann würden sie garantiert brav die Auffahrt nehmen.

Ich nickte nach links zur Ausfahrt. »Hier hoch.«

Bernd schluckte. »Und wenn doch einer angerast kommt?«

»Da kommt schon keiner.« Ich trat an, schaltete in den Ersten und strampelte los.

Bernd ging sofort wieder in Führung. Aber ganz weit links, außerhalb des Begrenzungsstreifens. Der Feigling!

Ich schnaufte mich natürlich die Überholspur hoch. Da kam schon keiner.

Aber das Merkwürdige war: Meine Ohren spitzten sich. Buchstäblich. Ich spürte richtig, wie sich irgendwelche uralten Sehnen vormenschlicher Entwicklungsstufen spannten; die Ohrmuscheln wollten sich ausrichten, auch wenn das nicht mehr ging.

Keine Motorengeräusche. Nur das Schmatzen der Reifen, das Schnurren der Kette, irgendein Schleifen vorn am Schutzblech und drüben in den Bäumen das Krächzen einer einsamen Krähe.

Ich stellte mich auf die Pedale und ackerte mich da hoch. Aber merkwürdig: Immer wieder zog mein Rad nach rechts Richtung Leitplanke. Richtung Begrenzungsstreifen.

Ich wollte diese Überholspur hochfahren. Unbedingt. Aber mein Körper wollte mich daran hindern, der Feigling.

Kam gar nicht infrage! Ich ließ meine Sturmklingel gellen und bog wieder nach links, hielt mich an die gestrichelte Mittellinie. »Mit Karacho!«, rief ich. Aber viel Sturmklingel war da nicht, wenn man im ersten Gang einen langen Hang hochschnaufte.

Langsam kam vor uns die eigentliche Ausfahrt in Sicht. Die Steigung flachte sich ab, immer weiter, und jetzt hätten wir uns wieder richtig in die Pedale stemmen können, aber der Anblick war – nicht einschüchternd, aber definitiv beeindruckend.

Bernd kam zu mir rüber; jetzt, wo man weiter sehen konnte. Kein Auto, kein Radfahrer, nichts. Eine völlig leere Straße. Wie die gigantische Hinterlassenschaft einer untergegangenen Zivilisation. Weil sie nicht neu wirkte: Bremsspuren zogen sich über die Fahrbahnen und an den Leitplanken entlang, und überall an den Rändern wucherte Grünzeug, schon welk und abgestorben.

Dann waren wir richtig auf der Autobahn. Sie zog sich in beide Richtungen dahin zwischen den Bäumen. Die Fahrrinnen glänzten unter dem Himmel vom Regen der Nacht.

Wir blieben unabgesprochen stehen mit unseren Rädern.

»Wow«, seufzte ich.

Bernd nickte und schob sich die Brille hoch.

Er war mein bester Freund. Ich sah ihn gerade zum zweiten Mal.

KAPITEL 1

Ich hatte Schwein und gerade eine Kastanie in der Hand, als mich die leere Kakaopackung am Kopf traf.

Ich wirbelte herum, und im selben Moment, als ich die drei Blödmänner aus der 4b wegrennen sah, schleuderte ich ihnen die Kastanie auch schon hinterher. Dabei stolperte ich über die Kakaopackung, aber das machte nichts.

»Ja! Volltreffer!« Ich reckte die Faust und drehte mich in Null Komma nichts wieder herum. Nur jetzt nicht erwischen lassen!

Vor mir stand Frau Klehm, die Pausenaufsicht. Sie glotzte mich an. Ihr langer, dunkelblauer Faltenrock war mit braunen Spritzern übersät. »Oliver Karsunke. Wieder einmal!«

Ich sah auf den geteerten Boden. Da lag die dreieckige Kakaopackung, völlig flachgetreten. Der Strohhalm zeigte auf Frau Klehm. »Ich ... ich bin da aus Versehen raufgetreten. Das war nicht mit Absicht.«

»So? Und warum hast du dich dann über den Volltreffer gefreut?«

Ich sah rasch nach hinten. Der Blödmann, dem ich die Kastanie verpasst hatte, hielt sich den Kopf und heulte. Ich sagte lieber nichts mehr. Loch im Kopf war ja noch schlimmer.

»So. Jetzt wirfst du deinen Karton schön in den Papierkorb, wo er hingehört, und dann kommst du schön mit!«

Ich holte tief Luft und folgte der Lehrerin.

»Hey, kuckt mal, Breitarsch hat die Klehm vollgespritzt«, tuschelte es hinter uns, während wir den Hof überquerten. Leider erkannte ich die Stimme nicht.

Ich folgte Frau Klehm ins Sekretariat und hinter den Tresen, am Schreibtisch der Sekretärin vorbei. Frau Klehm klopfte an eine weitere Tür und öffnete sie.

Ich holte tief Luft und ging hindurch.

»Oliver Karsunke. Wieder einmal.« Der Schuldirektor warf einen vielsagenden Blick auf meine Fellkutte. Ich war der Einzige an der ganzen Schule, der eine trug. Man knöpfte das ärmellose Teddyfutter aus seinem Parka und drehte es auf links. »Was ist es diesmal?«

Frau Klehm zeigte nur auf ihren Rock.

»Mein Mitteilungsheft ist noch in der Klasse«, sagte ich.

»Ach, diesmal brauchen wir das Mitteilungsheft nicht«, sagte der Direktor. »Diesmal bekommen deine Eltern einen Brief. Wir wollen ja sichergehen, dass sie wissen, was sie so alles unterschreiben.«

»Was meinen Sie denn damit?«

»Na, denk mal nach.« Der Direktor grinste.

Am liebsten hätte ich ihm kräftig gegen seinen Schreibtisch getreten. »Sie meinen, ich fälsch die Unterschrift von meinem Vater? Ich bin doch kein Feigling!«

»Das werden wir sehen, wenn deine Eltern den Brief bekommen haben.« Wieder grinste er, und die Klehm nickte dazu.

»Und außerdem hab ich den blöden Rock nicht mit Absicht vollgespritzt.« Mir zitterte die Stimme vor Wut.

»Sehen Sie«, sagte die Klehm. »Schon fängt er an, sich herauszureden. Im Hof hat er keinen Mucks gesagt.«

»Ein Glück, dass Sie Lehrerin geworden sind«, sagte ich. »Als Detektiv wären Sie längst arbeitslos und verhungert.« Ich zeigte auf ihren Rock. »Obwohl Sie sich ja so anziehen wie Miss Marple.«

»Das ist ja unerhört! Wie sprichst du denn mit einer Lehrerin?«

Der Direktor hustete. »Sein loses Mundwerk kennen wir doch«, sagte er dann. Und zu mir: »Was soll das heißen mit dem arbeitslosen Detektiv?«

»Für Sie und Frau Klehm ist immer alles ganz klar. Ich bespritz Leute mit Kakao, ich fälsch Unterschriften, alles klar wie Kloßbrühe. Braucht man gar nicht drüber nachzudenken!«

»Wenn ich darüber nachdenke, wie du sagst, fällt mir einiges ein, was gegen dich spricht. Zum Beispiel das Auto von Herrn Hahn.«

»Das hab ich komplett wieder abgewaschen.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Wenn ich an diesen blöden Hahn bloß dachte, kam mir schon das Frühstück hoch! »Und ich hab nie versucht, mich rauszureden.«

»Wäre ja auch schwer gewesen, wo dich der Hausmeister doch dabei erwischt hat.«

Mir platzte der Kragen, und ich trat gegen den Schreibtisch. »Aber ich hab’s gar nicht erst versucht! Sind Sie denn blöde?«

»Hüte deine Zunge, junger Mann«, sagte Frau Klehm, und gleichzeitig sagte der Direktor: »Tob deine Wut nicht an einem Möbelstück aus.«

Tob deine Hütezunge Möbelstück bla bla, dachte ich und musste grinsen. Tob deine Hütezunge Möbelstück bla bla.

Es war wie ein Zauberspruch. Der Direktor drohte mir wieder mit dem blauen Brief. Ich grinste.

Dann hieß es: zurück in den Unterricht. Sport. Bei Hahn. Ich grinste.

In der menschenleeren, verkrempelten Umkleide fand ich meine Tasche. Irgendwer musste sie mitgeschleppt haben. Bestimmt nicht freiwillig. Ich grinste, als ich mir die Tasche auf den Rücken schnallte und – tob deine Hütezunge Möbelstück bla bla! – wieder aus der Umkleide verschwand. Durch die Flügeltüren zur Halle hörte ich das Gegröle der anderen. Ich grinste und ging an den Türen vorbei. Kein Sport heute bei Hahn! Heute nicht. Heute schwänzen wir mal.

Vor dem Schultor schaute ich in den Himmel hinauf. Ganz schön viele Wolken, aber es sah nicht nach Regen aus. Das richtige Wetter, um in den Wald zu fahren.

Au ja! Das neue Spinnenkönig kaufen und was zu futtern, und dann ab in den Wald!

Grinsend pflanzte ich mich auf mein Bonanzarad und radelte los. Grinsend schlug ich im Vorbeifahren mit einem abgerissenen Stock nach den Hecken. Grinsend kaufte ich beim Bäcker meine Sachen ein.

»Wisch dir mal das Gesicht ab, Junge.« Die Verkäuferin gab mir das Wechselgeld über den Tresen. »Du siehst ja schlimm aus.«

Ich fuhr mir mit den Fingern über die Wangen. Sie wurden nass.

Tränen. Ich hatte es nicht mal gemerkt.

Tob deine Hütezunge Möbelstück bla bla!

»Nicht noch mehr verschmieren!«, sagte die Verkäuferin. »Hast du kein Taschentuch? Soll ich dir eins geben?«

»Danke«, sagte ich. »Ja, bitte. Nein, ich hab selber eins. Wiedersehen.«

Ich stopfte die Brötchentüte in eine der beiden riesigen Innentaschen, die meine Oma mir an die Fellkutte genäht hatte, das Spinnenkönig-Heft in die andere und rannte aus dem Laden.

KAPITEL 2

Erst als ich bei Aquarien Heckmann vorbeikam, fiel mir ein, was ich vergessen hatte. Mein Fischfutter!

Ich stellte mein Rad ab, putzte mir das Gesicht und betrat den Laden. Herr Heckmann war nirgends zu sehen, auch nicht in den dunklen Ecken. Wahrscheinlich war er hinten im Lager.

Die beleuchteten Aquarien brummten leise. Es roch nach Schildkröten und Schlangen. Mir gefielen die Fische besser. Sie waren bunter, und sie lebten in einer ganz anderen Welt. Unter Wasser!

Sie konnten einfach zum Meeresgrund runterschwimmen, zu den versunkenen Schiffen und untergegangenen Städten. Wer konnte sagen, ob nicht einer der Salzwasserfische hier schon auf dem Marktplatz von Atlantis herumgeschwommen war? Ohne es zu wissen. Und ohne, dass es sonst jemand wusste!

Ja, es wollte nicht einmal ernsthaft jemand glauben, dass es Atlantis wirklich gegeben hatte. Nur ich. Oliver Karsunke, der würdige Nachfolger von Heinrich Schliemann. Troja: versunken im Sand. Atlantis: versunken in der See. Die alten Geschichten, sie waren wahr. Heinrich Schliemann hatte es bewiesen, und als Nächstes würde Oliver Karsunke es beweisen.

DER REICHSTE JUNGE DER WELT!, würde in der Zeitung stehen. ZEHLENDORFER SCHÜLER HEBT SCHATZ VON ATLANTIS.

Ich hüstelte. Herr Heckmann musste doch langsam mal kommen.

Aber er kam nicht, und nun durfte ich mir dafür die Beine in den Bauch stehen. Ich schnallte die Schultasche ab und donnerte sie vor den Tresen.

Ich hustete lauter. Direkt vor meiner Nase war das Regal mit den Tubifex-Dosen. Na, ich konnte ja schon mal das Geld rausholen. Das Geld! Ich sah in mein Portemonnaie, grub in der anderen Tasche meiner Trainingshose. Gar nicht mehr genug, Mann. Es reichte nicht mal mehr für eine kleine Dose.

»Herr Heckmann?«

Vielleicht gab er mir das Zeug ja so mit, wir kannten uns doch schon. Ich hatte das Aquarium von hier, alle Fische und auch alles Zubehör – nur das kleine Schatzschiff aus Plastik nicht. Das hatte mir mein Vater von einem Kongress mitgebracht, aus Amerika.

»Herr Heckmann?« Ich lugte durch den Fadenvorhang ins Lager. Nichts zu sehen. Ich trat hindurch. »Herr Heckmann, sind Sie hier? Ich brauch wieder Tubifex.«

Stapel von Kartons. Leere Aquarien mit Styropor an den Ecken. Eine Kühltruhe.

Eine Kühltruhe? Wohl für Fischstäbchen, was?

Mann, und wie es hier nach Zigarren stank!

Ich ging wieder nach vorn. Zog die Ladentür auf. Das hatte mir ja gerade noch gefehlt. Da trieb sich dieser blöde Heckmann irgendwo rum, anstatt auf seinen Laden aufzupassen! Selbst schuld, wenn ihm dann jemand was klaute.

Ich sah die Straße entlang. Eine dicke Frau am Blumenladen. Gegenüber, vorm Friseur, stand der Karren vom Postboten. Bloß der Heckmann war nirgends zu sehen.

Ich ging wieder zurück in den Laden. »Herr Heckmann!«, rief ich nach nebenan zur Wohnung. Keine Antwort. Ich probierte die Tür. Sie war abgeschlossen. »Herr Heckmann!«

Jetzt reichte es aber. So kam ich ja nie in den Wald. Ich ging hinter den Tresen. Die ganzen Tubifex-Dosen. Ich sah zur Ladentüre.

Wie ging das noch? Tob deine Hütezunge –

Tob deine Hütezunge Schreibtisch?

Ich hatte meinen Zauberspruch vergessen.

Mein Herz machte einen Satz, und meine Hand griff nach einer der Pappdosen und nahm sie aus dem Regal.

BEIM KLAUEN ERWISCHT: ÜBERALL BLUT! ZEHLENDORFER SCHÜLER STIRBT UNTER LKW.

Ach Quatsch, ich klaute doch nicht, ich konnte das morgen bezahlen. Ich konnte Herrn Heckmann einfach einen Zettel hinterlassen. Bestimmt lag hier irgendwo ein Kuli.

Tob deine Hütezunge, Junge.

Plötzlich wurde es dunkel, dann wieder hell. Jemand war am Schaufenster vorbeigelaufen.

Ich stopfte die Dose zu dem Comicheft in die Innentasche meiner Fellkutte und machte, dass ich wegkam. Kaum war ich auf der Straße, da rannte ich direkt in einen Mantel hinein. Der Mantel stank nach Zigarren.

»Uuh«, machte Herr Heckmann und ließ seinen Flaschenmercedes los. Ich sprang darüber hinweg und auf mein Rad, strampelte die Straße hinunter Richtung Wald.

»He, warte mal!«, rief Herr Heckmann mir nach. »Dich kenn ich doch! Wie heißt du noch mal?«

Ich fuhr einfach weiter. Über die Onkel-Tom-Straße, hinein in den Wald. Erst beim Reitweg hielt ich wieder an, völlig außer Puste. Ich hängte mich über den Hirschgeweihlenker und spuckte auf die Erde.

Da hatte ich mir ja was eingebrockt. So ein Blödsinn! Nun musste ich mir einen neuen Zooladen suchen.

Aber wenigstens hatte ich mich nicht schnappen lassen.

Dann fiel mir meine Schultasche ein.

KAPITEL 3

Nach einer Stunde gurkte ich immer noch durch den Wald. Eigentlich hatte ich mich auf irgendeinen Baumstumpf setzen wollen, ganz gemütlich mit meinem Comicheft und den Brötchen. Aber nun, nach dieser dummen Aktion in der Zoohandlung, war mir anders zumute. Ich bretterte durch die Pfützen und Fahrspuren wie ein Besengter.

Irgendwann, ich war längst auf der anderen Seite der Havelchaussee, taten mir die Beine weh von dem vielen Auf und Ab in den Havelbergen. Ich fuhr langsamer, und als am Wegrand ein dicker Ast lag, den wohl der Herbstwind runtergeblasen hatte, hielt ich an.

Meine Armmuskeln wollten auch noch was zu tun haben. Richtig austoben wollten sie sich.

Ich lehnte mein Rad an einen Baum und hob den Ast auf. Er war vielleicht so lang wie mein Bein und so dick, dass ich ihn gerade noch umfassen konnte. Ein richtiger Prügel.

Ich sah mich um. Nirgendwo war jemand zu sehen. Am Wochenende war es hier immer voll, besonders an der Havelchaussee und am Wasser war richtig die Hölle los. Aber an Schultagen, wenn die Erwachsenen arbeiten gingen, hatte ich stellenweise das Gefühl, den Grunewald für mich allein zu haben.

Ja, ganz richtig: Ich hatte in letzter Zeit schon öfter geschwänzt.

Bamm, ging es mit dem Trumm gegen die Bäume, bamm und kracks! Bamm, bamm, bamm! Ich stampfte durch das Gelände wie ein Berserker.

Dann blieb ich abrupt stehen, keuchte.