Blumentochter - Vanessa da Mata - E-Book

Blumentochter E-Book

Vanessa da Mata

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Beschreibung

Das beeindruckende Debut einer neuen großen brasilianischen Erzählerin In einer kleinen Stadt in den brasilianischen Tropen, in einer farbenfrohen Welt voller Mango- und Avocadobäume, lebt die junge Giza mit ihren Tanten Florinda und Margarida. Hinter ihrem Haus bestellen sie einen prächtigen Garten. Die Blumen verkauft Giza überall in der Stadt, und so erfährt sie auch von Liebesgeschichten, über die sonst nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt wid. Doch Giza fühlt sich wie eine Außenseiterin. Die junge Frau sehnt sich danach, so frei davonfliegen zu können wie die buntschillernden Papageien über ihrem Kopf. Als Florinda ihre erste große Liebe verhindert, flieht Giza in die große Stadt. Erst zwölf Jahre später kehrt sie zurück, mit ihrem Sohn, bereit sich ihrer Liebe und ihrer Vergangenheit zu stellen. Vanessa da Matas Debütroman überzeugt dank der Kraft ihrer Phantasie und der Musikalität ihrer Sprache.

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Das Buch

Giza ist eine Außenseiterin in ihrer Familie. In einer kleinen Stadt in den brasilianischen Tropen, in einer farbenfrohen Welt voller Mango- und Avocadobäume, lebt die junge Frau mit ihren Tanten Florinda und Margarida. Hinter ihrem Haus bestellen sie einen prächtigen Garten. Die Blumen verkauft Giza überall in der Stadt, und so erfährt sie auch von Liebesgeschichten, über die sonst nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt wird. Giza sehnt sich danach, so frei davonfliegen zu können wie die buntschillernden Papageien über ihrem Kopf. Als Florinda ihre erste große Liebe verhindert, flieht Giza in die große Stadt. Erst zwölf Jahre später kehrt sie zurück, mit ihrem Sohn, bereit, sich ihrer Liebe und ihrer Vergangenheit zu stellen.

Die Autorin

Die Brasilianerin Vanessa da Mata, geboren 1976, ist in ihrem Heimatland eine sehr erfolgreiche Sängerin und Songwriterin. Sie wurde mit dem Latin Grammy Award ausgezeichnet, spielte mit dem US-amerikanischen Musiker und Komponisten Ben Harper den Erfolgssong »Boa Sorte« ein und wurde von der wichtigsten Kulturzeitschrift Brasiliens Criativa unter die 25 kreativsten Frauen gewählt. Vanessa da Mata hat drei Kinder und lebt heute in Rio de Janeiro.

Vanessa da Mata

Blumentochter

Roman

Aus dem brasilianischen Portugiesisch

von Kirsten Brandt

List

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Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel

A Filha das Flores bei Companhia das Letras, São Paulo.

Die Übersetzung dieses Buches wurde vom Ministério da Cultura do Brasil/Fundação Biblioteca Nacional gefördert.

Obra publicada com o apoio do Ministério da Cultura do Brasil/Fundação Biblioteca Nacional.

List ist ein Verlag

der Ullstein Buchverlage GmbH

ISBN 978-3-8437-1053-4

© 2013 by Vanessa da Mata

© der deutschsprachigen Ausgabe

2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Geviert, Christian Otto,

unter Verwendung eines Motivs von © shutterstock

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Evas Mango

Eine lange, gewundene Landstraße teilt unsere Stadt in zwei Hälften, führt in die Ferne, wohin der Blick ihr nicht folgen kann. Sie verbindet den Süden des Landes mit dem Norden und betont zugleich ihre Unterschiede, lässt Sehnsüchte wach werden. Mitten im Nichts treibt unsere Stadt, gegen Vergessen und Langeweile ankämpfend. Auf den Straßen und in den Höfen sieht man die Alten. Kindergeschrei erfüllt die Luft. Mein Gesicht wendet sich dem Gestern zu, und sofort – als berührten sie noch immer die Gegenwart – erinnere ich mich an vergangene Tage.

Jedes Jahr um diese Zeit kommen die gelb- und rotbrüstigen Aras zu uns, und der Himmel wird lebendig. Zu Dutzenden verschmelzen sie mit den verwaschenen Farben des Horizonts. Das Tohuwabohu, das sie verursachen, reißt alle mit; uns und alles, was bunt und lebendig ist, auch die Zitronen- und Mangobäume, die Mangabeiras und die Avocadobäume.

Fast bekommt man Lust, mit den Aras davonzuziehen. Viele sind es allerdings nicht mehr, sie sind so gut wie ausgestorben. Das stimmt uns traurig. Tatsächlich trauern wir aber nur um ­Lebewesen, die schön anzusehen sind. Was, wenn es Gürteltiere wären? Wespen? Langusten oder Hyänen? Für uns zählt nur, was uns bezaubert; die Hyänen mit ihrem scheußlichen, spöt­tischen, stinkenden Gelächter können sehen, wo sie bleiben. Ich gestehe: Wenn die Aras kommen, würde ich mich gerne unter sie mischen und mit ihnen in den Himmelsgrund hinauffliegen, bis mir die Luft ausgeht.

Ich erinnere mich, wie ich als kleines achtjähriges Mädchen mit meiner vier Jahre älteren Tante Florinda dem Pfad der Feuerameisen folgte, der endlos zu sein schien. Mit ein oder zwei anderen Kindern bildeten wir einen Trupp und machten Jagd auf diese Teufel in Tiergestalt, die unseren Rosengarten zerstörten. Sie stürzten sich auf die Blätter, fraßen sich in gieriger Ignoranz hindurch. Und wir tauchten ein in die Nacht, mit Taschenlampen bewaffnet, den Blick immer auf den Pfad gerichtet. Die Rosenblätter bluteten auf dem Rücken der Tiere, die kein Herz hatten, nur Hunger. Doch sie ließen sich die mühevoll errungene Beute nicht abjagen. Wenn man ihren dicken Hinterleib festhielt und an den Blättern zog, riss man ihnen eher den Kopf ab – was häufig geschah – als die Blätter. Die Blätter hielten sie fest.

Wir Kinder suchten unermüdlich nach den Ameisenhaufen, ohne jemals den ältesten Hügel zu finden, die Mutter aller Ameisenhaufen. Er galt als ein großes Geheimnis, und die Ameisen verstanden es zu wahren. Ihr Heim war ein Heiligtum. Auf ihrer Prachtstraße herrschte nachts immer ein emsiges Treiben – vielleicht war sie als Lebensader wichtiger als unsere Landstraße. Der für diese Nächte typische Duft, ihr Friede, schwebte über uns, legte sich auf unsere Stirnen.

Tante Florinda war für diese Jagd wie geschaffen, sie war ein Jaguar, der seine Beute im Blick behält. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dieser Aufgabe. Manchmal lief sie richtig schnell, sehr darauf bedacht, nicht mit den nackten Füßen die von den Tieren kahl gefressene, vom unablässigen Hin und Her leicht ausgehöhlte Straße zu berühren. Genauso schwer wie der Ausgangspunkt des Gewimmels – und der gewaltigen Zerstörung, die es anrichtete – war seine Mitte zu finden. Das Leben der Ameisen ist ein Mysterium.

Ganze Nächte verbrachten wir mit der Suche, begannen immer da, wo wir in der Nacht zuvor aufgehört hatten. Um den Überblick zu behalten, markierten wir die Stellen mit roten Fähnchen – alles in allem eine elende Plackerei. Entdeckten wir eines der Nester, durften wir uns nach Lust und Laune daran austoben, bevor Gift hineingespritzt wurde, aber nie fanden wir den allerersten Hügel, nach dem wir so verzweifelt suchten, nie das Versteck der Königin. Zu unserem Vergnügen malte meine Tante uns aber aus, wie das Ende der Schlacht aussehen könnte. Der Fund würde mit Kerosin übergossen werden, oder wir würden zuerst einen Knallfrosch auf ihn werfen. Dann käme der Alkohol – eine gewaltige Explosion, verursacht von einem selbstgebastelten Sprengkörper –, und das war’s! Wir würden den Viechern einen Krieg liefern, dass ihre unförmigen Körper nach allen Seiten flogen. Das wäre der Anfang vom Ende. Auf dem Weg nach Hause hüpften und sprangen wir und atmeten die Luft der Sieger: fein und rein. Frisch.

Unser Garten war bunt und abwechslungsreich: Rosen für die Sakristei, Blumen für die Arztpraxis, für das Schulsekretariat und für Beerdigungen. Todesfälle waren eher selten in der Stadt, aber wenn sie auftraten, dann immer gleich gehäuft, »siebenhundert auf einmal«, pflegten die alten Leute zu sagen. Da auch kaum Kinder geboren wurden, blieb die Zahl der Einwohner gleich. Was die Alten in ihrer Angst maßlos übertrieben, war in Wirklichkeit nur der ganz normale Zyklus des Lebens … oder des Todes. Und dann waren da auch noch die Privataltäre in den Gassen, die ebenfalls mit Blumen geschmückt wurden. Unser Garten produzierte genug für alle, selbst für die fast zwei Dutzend Ameisenpfade, die wir Monat für Monat zerstörten. Er ­umfasste zwei Alqueires, also etwa acht Hektar (was uns aber mindestens zweimal so groß vorkam), und die Stadt wurde reicher und schöner durch ihn.

Damals fand ich die harte Arbeit lästig, die Blumen zu versorgen, einen Sack Dünger auf dem Rücken zu schleppen, immer schmutzig von Erde, Blättern und Zweigen und von spitzen Dornen zerstochen. Als ich größer wurde, entwickelte ich ein Gespür für jede einzelne Rose, für ihr Wesen, für ihre Botschaft, den Atem, den sie verströmt, die Liebesgeschichten, die sie wiederbelebt, den Zauber, den sie verbreitet. Die Schönheit der verschiedenen Sorten. Man kann eine Blume nur mit dem Herzen betrachten, eigentlich ist es das Herz, das sie erkennt. Hätte ich das früher gewusst, es hätte mir weniger ausgemacht, sie alle zu schneiden, ihre dicken Stängel zu kürzen und die kranken Blütenblätter abzuzupfen.

Jeden Abend nach der Arbeit wartete Tante Margarida, Florindas ältere Schwester, vor dem Haus auf uns. Sie saß auf einem alten Stuhl, dessen Sitzfläche im Laufe der Zeit die Form ihres Gesäßes angenommen hatte, lachte über unsere Jagd auf das Ungeziefer und sagte mit Donnerstimme, die sie von Kopf bis Fuß erbeben ließ, immer das Gleiche:

»Das kommt davon, wenn man Tag für Tag nichts Besseres zu tun hat. Morgen drücke ich jedem von euch eine Hacke in die Hand, dann könnt ihr auch noch den Garten vom alten Tenório umgraben, der ist voller Unkraut und Gestrüpp. Na, was haltet ihr davon?«

Worauf Tante Florinda schnippisch antwortete, ihr mache es Spaß, uns zuzusehen, unser Vergnügen sei auch das ihre. Ihr Leben schien so eintönig zu sein, dass sie von den Gefühlen der anderen zehrte.

Margarida war gerade achtzehn geworden und damit im richtigen Alter für die erste und letzte Liebe. In den Großstädten nimmt man es mit den Traditionen nicht mehr allzu genau, aber bei uns war das anders. Viele kleinere Städte sind der Vergangenheit noch heute verpflichtet, den festen Strukturen, die die Gesetzlosigkeit in Schach halten und Ausbrüche aller Art verhindern. An diesen Orten ist die Zeit stehen geblieben, die Menschen führen ihre kleinlichen Zwistigkeiten und Intrigen fort, lieben ihr Inseldasein, achten darauf, dass immer und überall der Schein gewahrt wird.

Auch Margarida wahrte bei der Vorbereitung ihrer Hochzeit, die der Leidenschaft einen Rahmen bot, den Schein.

»Ein vielversprechender junger Mann von hier«, sagte sie, »der alles hat, was sich eine Frau von einem Mann wünschen kann.«

Wenn sie seine Vorzüge aufzählte, kam sie ins Schwärmen. Es waren: seine Schönheit, die machte, dass man gut gelaunt neben ihm einschlief und wieder erwachte; seine Freundlichkeit und Zärtlichkeit, so dass man sich nach ihm sehnen konnte; seine vorgebliche Treue, die einen dazu bewog, ihm den ersten Seitensprung zu verzeihen und zu glauben, dass es nicht zu einem zweiten kommen werde; die Klugheit, mit der er die weiteren vor einem verbarg; seine Offenherzigkeit, die einem all die hässlichen Dinge verriet, die einem sonst erst das Zusammenleben enthüllte; seine schöne Stimme, das anziehendste Attribut eines Mannes, mit der er einer Frau am Telefon wie die Radiosprecher verführerische Dinge ins Ohr hauchen konnte; und zu guter Letzt seine Entschlossenheit, eine angesehene Arbeit zu finden, ein wichtiger Garant für das Fortbestehen der Liebe in einer Ehe. In der Tat ein respektabler Mann! Zu alledem führte er ein zurückgezogenes Leben, während die Klatschbasen unermüdlich Dinge erfanden als Ausgleich dafür, dass nichts geschah.

Über diese Frauen hieß es in der Stadt, dass bei ihrer Beerdigung alles, was sie anderen angetan hatten, ans Licht käme. Die Zunge einer Klatschbase würde sich wie ein eng beschriebenes Pergament entrollen und von ihren bösen Taten künden. Im Tod würde sie sich auflehnen und aus dem Körper herausschlüpfen, um auf Karren, Wagen oder Kutschen neben dem Sarg herzufahren, je nach Umfang ihrer Lästerei und des Schadens, den sie angerichtet hatte. Sie würde so entsetzlich stinken, dass niemand sonst den Toten das Grabgeleit geben würde, nicht einmal ihre Liebsten. »Ihre Zunge wird auf einem Karren verrotten und zum Himmel stinken!«, schrien die Leute, wenn das Gerede ans Licht kam. Wenn die Klatschbasen diese Verwünschungen hörten, hielten sie sich für einige Zeit zurück, beteten Dutzende Rosenkränze … und verfielen dann wieder ihrem Laster.

Tante Margarida war sich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Mit ihren einladenden Hüften konnte sie sich nicht überall in der Stadt blicken lassen, und auch ihre Brüste und Beine waren fest und straff, einfach umwerfend. Darum kam sie dem Gerede zuvor, noch bevor es begann. Bei uns diktierte der Neid die Regeln, und meine Tante stellte sie nicht in Frage. Vielleicht hatte sie tatsächlich jenes Stadium des Erwachsenseins erreicht, in dem man eine Familie gründet und nicht länger auf Ameisenjagd gehen oder Stunden mit Nichtstun verstreichen lassen kann. Nachts träumte sie oft von Kindern, während wir auf einem alten Ingabaum ruhten, in die langgezogenen, einladenden Astgabeln geschmiegt wie in eine Umarmung, den Blick auf seine schlangengleichen Früchte gerichtet. Im Morgengrauen wiegte er sich hin und her, und sein Laub raschelte unheilvoll und wisperte Geschichten, die wir einander mit leiser Stimme weitererzählten. Wir empfanden ein wohlig wärmendes Gruseln, das in der tiefsten Traumwelt der Sümpfe ebenso pulsiert wie in der Mittagsruhe braver Kinder. Der Baum roch nach Schatten und dunklen, verborgenen Dingen.

Die Sterne über uns strahlten ruhig und klar. Im August tauchte das Licht des Sonnenuntergangs alle und alles in ein zartes Orange. Dann kam das rostige Goldgelb und schien den Rest des Nachmittags zu verbrennen. Wenn die Sonne unterging, konnte man vom Baum aus das andere Ende der Welt ­sehen, wir konnten es sogar riechen: den Geruch von deftigen Worten, gut durchgezogenen Bemerkungen, nach Stunden aufgetischten Sätzen. Wir Kinder ergingen uns in der Zwischenzeit in wilden Spekulationen: dass die Nacht den Tag getötet hatte und dass die Farben um uns herum die Etappen seines Kampfes und Todes waren, von dem sie in allen Einzelheiten kündeten.

Tante Florinda hielt oben im Ingabaum regelrecht Hof. Sie erzählte ihre Geschichten wie ein Jahrmarktschreier: Mit dem Gelb entzündete sich der Streit zwischen Tag und Nacht, es war der Beginn des großen Kampfes; das Violett war der erste Messerstich, gefolgt vom Todesstoß; das Tiefrot das am Horizont vergossene Blut des Tages; und zuletzt das Zwielicht der Dunkelheit: Das war die Nacht, die den Leichnam des Tages fortschleppte, um ihn in den Abgrund am anderen Ende der Welt zu stoßen und endlich seinen Platz einzunehmen. Um den Tag zu töten, benutzte die Nacht einen besonderen Dolch, besetzt mit Brillanten, die sich nach der Tat zerstreuten und zu dem wurden, was wir Sterne nennen.

Der Himmel meiner Heimat ist schöner, weiter und tiefer als irgendwo sonst. Wenn die Legende vom Kampf zwischen den beiden Riesenwesen – der Nacht und dem Tag – erzählt wurde, gab auch ich immer meine eigene Version zum Besten:

»Unsere Liebe Frau bestickt den Himmel für uns, einen Stoff, der kein Ende kennt. Es ist, als gäbe es einen Himmel für jede Nacht und für jeden Ort, der uns begleitet. Unsere Liebe Frau hat uns diesen Himmel hier geschenkt. Der Tag stirbt nicht, sie deckt ihn nur zu, damit wir unter einer dicken, jahrtausende­alten Decke schlafen. Durch winzige Löcher im alten Stoff dringt das Licht, damit wir nicht völlig im Finsteren sind.«

Tante Florinda lachte nur und erzählte die Geschichte bei ­allen Nachbarn herum, wobei sie natürlich auch ihre Antwort wiederholte:

»Unsere Liebe Frau hat etwas Besseres zu tun, als immerfort zu sticken.«

Und jedes Mal, wenn sie das sagte, wurde ich aus meinem Traum gerissen.

Wenn ich morgens erwachte, war die Zeit ausgefüllt. Der Tag verging weder zu schnell noch zu langsam, alles war neu und aufregend, allen Entdeckungen begegnete ich ungezwungen und mit großer Gelassenheit. Alles hatte gewaltige Ausmaße, vom Haus bis hin zu den Früchten. Ich glaube, mit den Jahren sehen wir nicht mehr so genau hin, riechen und ertasten we­niger, die Lebensenergie schwindet, Ablenkungen und Alltagspflichten trüben nach und nach unsere Wahrnehmung. Die Weite der Kindheit, in der wir das Gewaltigste und das Kleinste erfassen, geht uns verloren.

In einem entfernten Winkel des großen Hofes, dort, wo er in den Garten überging, standen uralte Mangobäume. Wenn sie Früchte trugen, war der Boden mit Mangos übersät. Es roch nach den verschiedensten Mangosorten. In den vollen Laubkronen tummelten sich Aras und andere Vögel. Vogelpaare, die ein Leben lang zusammenblieben, einander treu bis in den Tod und darüber hinaus, turnten geschickt in den Zweigen. Die Mangobäume, die wir wegen ihrer ausladenden Formen Bahaianerinnen nannten, teilten die Früchte großzügig mit allen Tieren, von den großen bis hin zum Krabbelgetier – sogar mit den Kühen unseres Nachbarn Tenório. Sie streckten die Hälse durch die Zäune und lernten, sich mit jedem Muh eine Frucht zu erbetteln. Es fehlte nur noch, dass sie »bitte« oder »um der Liebe Gottes willen« sagten. Alles schwelgte im Überfluss. Wenn eine kleine, frühreife Mango vom Baum abfiel, steckten wir ein Stöckchen hinein, ans andere Ende eine größere Mango und in diese vier weitere Stöckchen, die Arme und Beine darstellen sollten.

Die verbotene Frucht war ein Apfel?

Nur weil Eva die Mango nicht kannte!

Unsere Gesichter waren bis über beide Wangen saftverschmiert, die Hände bis hinauf zu den Armen, und schon war unsere Welt eine andere.

Wir hatten köstliche Alternativen, die uns glücklich machten, brauchten keinen Luxus oder Aufregenderes als unsere kind­lichen Streiche. Während die Kinder in der Großstadt mit Legosteinen spielten, hatten wir unsere Ameisen. An jedem Tag begann immer wieder alles von neuem, und das war großartig. Das Leben bedachte uns mit Zärtlichkeiten, war voller wunderbarer Erfahrungen. Nicht, dass wir nicht auch Schlimmes erlebt hätten, aber es verweilte nicht, streifte uns nur im Vorübergehen, wie der Nordwind oder die Aras, die uns nicht gehörten.

Meine beiden Tanten stammten aus einer traditionell vorwiegend weiblichen Familie. Florinda war die Einzige, die sich weigerte, die typischen Schuhe zu tragen, die die jungen Frauen von ihren Patentanten geschenkt bekamen. Von diesen Schuhen träumten alle Mädchen, sobald sie die Pubertät erreichten: Je nach Vermögen waren die Spitzen mit glitzernden echten oder falschen Schmucksteinen bestickt.

»Diese Schuhe sind dafür gemacht, vor Gott zu treten, die trägt man nicht zum Spaß oder macht sie schmutzig – man zieht sie erst zur Verlobungsfeier an«, sagte die Patentante, wenn sie ihrem Patenkind zum zwölften Geburtstag den »unbefleckten Korb« voller Geschenke überreichte: Armreifen, Samtbänder, Haarnadeln, Parfüm – Waffen für den Kampf der Verführung, die nicht vor der Zeit eingesetzt werden durften, wollte man nicht Chaos stiften.

Sobald jemand Florinda damit in den Ohren lag, sie solle endlich heiraten und einen guten Ehemann finden, gab sie vor, auf Toilette zu müssen. Dann kletterte sie auf der Flucht vor diesem verhassten Thema aus dem Fenster und an der Bougainvillea ­hinab, die vor ihrem Zimmer wuchs. Sie hatte den Tratsch und die Ratschläge satt, die sie während der Sonntagsmesse zu hören bekam, wollte nicht länger die haarige Hand des Priesters küssen, sich brav hinsetzen und Braten essen; sie wollte fort von hier, sehnte sich nach einer Gelegenheit, auf die Landstraße zu laufen und zu verschwinden, weit weg von hier oder wenigstens weg vom langweiligen Alltag. Die Schuhe, sagte sie, würde sie irgendwann im nächsten Jahr anziehen. Dann lief sie zur Straße, die am Friedhof vorbei zu entlegenen Höfen und an Orte führte, die für uns tabu waren.

Sie wuchs heran, wurde fünfzehn, sechzehn und ritt immer noch am liebsten aus, sprang mit dem Pferd über Hindernisse, die Haare im Wind flatternd, die festen Brüste vorgereckt und frei, so dass sie mit den Sprüngen des Pferdes auf und ab hüpften. Beim Reiten spannte sie die Oberschenkel an und lockerte sie wieder, ver­lagerte ihr ganzes Gewicht auf sie, rieb sich am Rückgrat des Pferdes. Sie verströmte einen Duft nach gerösteten Mandeln mit Honig und Schokolade, lag auf dem Pferd, als wäre es ihr Liebhaber und sie ein unbezähmbarer Wind. Wer sie sah, war wie berauscht. Ihr Anblick war erregend und beklemmend zugleich, er ließ einem auf unerklärliche Weise das Wasser im Munde zusammenlaufen, ohne dass man gewusst hätte, woher dieses Gefühl kam und wie man es wieder loswurde. Das Pferd wieherte, verdrehte den Hals und leckte verstohlen ihren Knöchel. Nichts hätte die Hitze derer zu dämpfen vermocht, die die beiden so sahen. Wir mussten uns in den Fluss stürzen, untertauchen, hin und her rennen und nervös lachen, um uns von diesen ungewohnten Empfindungen zu befreien. Tante Florinda gehörte zu den Jugendlichen, die sich um Mitternacht auf dem Friedhof trafen, die mit Vorliebe den Vollmond betrachteten und Ungeheuer darin zu erkennen glaubten, die mit dem fahrenden Volk durch die Welt ziehen und mit dem Zirkus durchbrennen wollten – und sie war mehr als meine Freundin, sie war meine Vertraute.

Zufallswege des Schicksals

Es war Tante Florindas siebzehnter Geburtstag. Ich selbst würde in wenigen Tagen dreizehn werden. An diesem Morgen lag eine starke Anspannung in der Luft, eine Gereiztheit, die es einem unmöglich machte, tief durchzuatmen. Die Sonne brannte heißer als sonst auf der Kopfhaut, brachte Stellen zum Jucken, die man zuvor in der kühlen Luft gar nicht wahrgenommen hatte.

In unserem Haus wagte niemand ein lautes, fröhliches »Guten Morgen!«. Die Tanten hatten hinter verschlossenen Türen mit dem Anwalt der Familie gestritten – wegen einiger Papiere aus Großvaters Hinterlassenschaft, wie ich vermutete. Unterlagen, die ich als Nesthäkchen nicht zu sehen bekam. Ich war nicht schnell genug gewachsen, hatte nicht die Größe, die ich haben sollte, meine Brust war nicht auf der Höhe meiner Tanten, ja, ich hatte nicht einmal Brüste und verdiente damit weder Respekt noch gleiche Rechte. Eine mickrige Gestalt, ein unbestimmtes Wesen, etwas, was noch nicht ist, erst noch werden muss. Je größer meine Tanten wurden und je mehr der Abstand zwischen uns wuchs, desto mehr wurde ich in die Ecke gedrängt. Auch schien es niemandem gut oder weise, mich zu lehren, die scharfe Waffe der Wörter zu gebrauchen. Die Geheimnisse der Saison konnten im Mund eines Kindes zu einer Gefahr werden, zu einer Bombe, die bei der Explosion nesselgleich brennende Wörter verspritzt.

Mir war es gleich, dass der Kaffee heute anders schmeckte. Die Rosen raunten einer Eidechse die Neuigkeiten dieses Tages zu, und die Ameisen führten Krieg gegen die geschwächten ­Rosen.

Eine meiner Tanten hatte einen Brief erhalten.

Florinda war rot im Gesicht und nervös. Der Streit im Wohnzimmer war über den Brief entbrannt. Ich fand später heraus, wo sie ihn versteckt hatten, und kopierte ihn auf dem alten ­Fotokopierer in unserem Büro. Seinen Inhalt verstand ich kaum, für mich war er wie in einer Geheimsprache geschrieben. Es waren die Galanterien eines Mannes, und er drückte sich seltsam aus – zu dieser Zeit war ich noch zu naiv, um ihn zu verstehen. Er war zusammen mit einem Blumenstrauß aus unserem Garten gekommen, einem gewagten Geburtstagsgeschenk.

Ich lief auf und ab, tat, als suchte ich nach dem schönsten ­Vogel, versuchte aber in Wirklichkeit nur, meine Unruhe zu beschwichtigen. Ich erinnere mich, dass wir an diesem Tag viel vorhatten, meine Tante Florinda und ich. Obwohl sie anders war als sonst, bestand sie darauf, Pater Carlos seine Blumen zu bringen. Danach wollten wir Eis essen gehen – mein liebster Zeitvertreib in jener Zeit. Darauf freute ich mich am meisten: auf das Eis und Nestor, den Eisverkäufer.

Pater Carlos war ein Mann mit unerschütterlichen Grund­sätzen. Die Gemeinde und sein Pfarrbezirk, ein paar ringsum verstreute Höfe, waren mit bescheidenem Reichtum gesegnet, der dem in dieser Gegend vorkommenden Gold zu verdanken war. Er war ein hochgewachsener Mann mit sanften, aber klaren Gesichtszügen, einer lebendigen Stimme und dem unabhän­gigen Geist einer Autorität. Schwarze Augen ohne die Andeutung einer anderen Farbe, herabgezogene Mundwinkel und – das ­Erstaunlichste von allem – Füße, die selbst dem un­­auf­merksamsten Betrachter auffielen. Diese Füße faszinierten mich. In meiner kindlichen Phantasie stellte ich mir vor, dass er kein Boot oder Floß brauchen würde, sollte er eines Tages einen Fluss überqueren müssen – er könnte in den Schuhen übersetzen wie in einem Kanu. Sie waren groß wie Baumstämme, wie Kajaks! Wie konnte ein Mensch so große Füße haben?

Einmal, als Tante Margarida mich dabei erwischte, wie ich unablässig auf die Füße starrte, erzählte sie mir, dass Pater Carlos früher einfach nur Carlos geheißen hatte und es sein Beruf gewesen war, ein Lächeln auf die Gesichter der Leute zu zaubern: Er war Clown gewesen. Einer der größten! Der berühmte Clown Cáca. Seit ich das wusste, ging es mir nicht mehr aus dem Kopf. Eine Sehnsucht wuchs in mir, die Liebe zu einem Verstorbenen. Eine postume Liebe.

Unter seiner Soutane trug er immer noch die Clownsschuhe, und ab und zu lugten sie darunter hervor, blitzten immer wieder auf, was mich während der Messe ganz unruhig machte; es war, als ob hinter dem Pater ein Junge wäre, der immer Holzstücke vorschob, um mich abzulenken. Er ließ seine lachende Maske im Hinterraum der Kirche zurück und setzte die andere auf, die des Gottesmannes, des Glaubensarztes, der die Wunden der Seele heilt und den Kummer lindert. Er hatte die Fröhlichkeit hinter sich gelassen wie eine Hure, die sich von der Vergangenheit befreit und sie nicht einmal mehr erwähnt oder auch nur andeutet, sondern längere Röcke trägt und darauf achtet, sich anders als früher durchs Haar zu streichen. Wenn er die Kirche betrat, versteckte er sich hinter dem Glauben und gab sich ernst. Vielleicht aus Angst, wieder seinem anderen Wesenszug zu verfallen, dem Spott, den schlafenden tierischen Instinkten. Er war diszipliniert, versuchte seine Fröhlichkeit zu kontrollieren, nicht mehr wiehernd zu lachen. Er war immer ausgeglichen und gelassen, bekam nie wilde Wutausbrüche oder reagierte unangemessen. Jemand, der kein Fleisch verschlingt und der vor allem nicht dem Fleisch verfällt.

Als Pater wurde Carlos umlagert und begehrt, war einfühlsam und einsam. Er versuchte, seiner Fehler Herr zu werden, indem er die Menschen eng um sich scharte und so seine Sehnsüchte, seine Worte der Liebe und seine hingebungsvollen Beichten auf alle verteilte. Neugierig beobachtete ich seine Fähigkeit, mit sich selbst zufrieden zu sein. Er redete sich ein, es wäre zum Besten dieser Menschen, und sonnte sich in ihrer zärtlichen, ernsthaften Bewunderung. Der Pater stand in den Reihen Gottes, nahm die Macht in Anspruch, einer Seiner Männer zu sein.

Während die anderen Gläubigen um Vergebung für ihre Sünden oder ­Erbarmen für ihre Liebsten baten, saß ich mit meinen kleinen Sorgen und Problemen eines Backfischs aus gutem Hause auf meiner Bank und bat Gott, uns von diesem öden Vormittag zu erlösen und den alten eingeschlafenen Clown mit neuem Leben zu erfüllen. Dann hätten die endlos wiederholten Sätze, die ich damals nicht verstand, und die Aufforderungen »steht-auf-setzt-euch« ein Ende. Als Kind der Fröhlichkeit und des freien Geistes würde er dafür sorgen, dass sich die Bänder unserer Sonntagskleider lösten und wir alle, Kinder wie Erwachsene, nicht in irgendeinen angeblichen Kontakt, sondern in ein direktes Telefongespräch mit Gott traten, mit einem Gott der Freude. Seit ich seine Vergangenheit kannte, hoffte ich darauf, sooft ich ihn sah. Er hatte vergessen, nach seinem letzten Auftritt die Schuhe auszuziehen, und ich vergaß, Schminke und Kostüm des Bildes wegzulassen, das ich mir in dem Augenblick von ihm gemacht hatte, in dem meine Tante mir diese Geschichte über ihn erzählt hatte.

Nachdem wir dem Pater die Blumen vorbeigebracht hatten, gingen wir in den Eissalon, in dem es das köstlichste Eis der ganzen Stadt gab. Man betrat ihn durch eine kleine, eher unscheinbare Tür. Die Einrichtung bestand gerade einmal aus der Kühltruhe, einer Reihe großer bunter Eisbecher und zwei Tischchen. Schon seit Tagen hatte ich von Bergen von Eis geträumt. Tante Florinda erging es nicht anders; sie gestattete sich zur Feier ihres Geburtstags eine kleine Portion, und ich leistete ihr als treuer weiblicher Knappe Gesellschaft. Das Eis war wie ein Streicheln oder, noch besser, wie eine lang ersehnte Liebkosung. Es glitt durch meinen annähernd erwachsenen Körper, weckte ein angenehmes Kribbeln und ließ mich fast jeden Kummer vergessen. Von den wenigen Freuden, die ich bisher kannte, war diese die größte. Das süße Eis, das die qualvolle Hitze am Ende der Welt linderte. Nestors leckeres Eis, das einem auf der Zunge zerging, köstlicher als alles andere. Ich wollte mehr als die üb­lichen zwei Kugeln Schokoladeneis, die man bestellte, wenn man nicht gierig erscheinen wollte – Schokolade an sich war schon eine Ausnahme, aber ich war trotzdem nicht zufrieden. Mein Verlangen wuchs mit jedem Schlecken, und ich bat um mehr und immer mehr und führte mich zuletzt auf wie ein Kleinkind – schließlich wurde ich ja immer noch wie ein Kind behandelt –, ich brüllte, plärrte, tobte, setzte jede nur erdenkliche Waffe ein, damit man mich mit einer weiteren Portion Eis besänftigte. Ein Erpressungsversuch, über den ich zuvor Tage und Nächte nachgegrübelt hatte: wie ich an mehr als zwei, drei, vier Kugeln gelangen könnte. Der Geschmack des Eises war intensiv, cremig, milchig und knusprig. Es war mit Stückchen aus reiner Schokolade und gerösteten Cashewnüssen gespickt. Manchmal träumte ich sogar davon, den Eismann zu heiraten.

Nestor war klein gewachsen und übellaunig, immer dunkel gekleidet und schaute einen nie direkt an. Beim Gehen hob er die Füße kaum, sondern schleppte seinen bierschweren, fleischigen Körper geradezu durch die Gegend, die Stirn mit dem kalten Schweiß eines Todgeweihten bedeckt. Sein Haar war strähnig, und er sprach kaum, doch wenn er einmal ein paar Worte ausspuckte, klang er wie seine Mutter, Dona Luísa; seine Gesichtszüge waren weich, er hatte aber den verbissenen Ausdruck eines Menschen, der seine großen Sorgen weder in den frühen Morgenstunden noch vor dem Schlafengehen ablegen kann.

Ich hatte nur einen einzigen Wunsch: Ich wollte jede Geschmacksrichtung eimerweise essen, eine Badewanne mit Eis füllen und mich hineinwerfen, mit offenem Mund und nacktem Körper das Gesicht darin versenken. Ich würde mir die Füße und die Hände ablecken, notfalls sogar die Knie, würde man mir diesen Wunsch erfüllen. Der Eismann weckte in mir die größten Hoffnungen. Für mich war er bedeutender als der Bürgermeister, stärker als ein Superheld und unausweichlicher als das Schicksal. Nestor war wunderschön!

Dem Nachmittag blieben nur noch wenige Stunden, und der Tag stand kurz vor seinem Kampf gegen die Nacht. Ich widmete mich voll und ganz den beiden Eisbechern, die ich hatte er­gattern können, als der Eisverkäufer bemerkte, was für ein hübsches Mädchen ich doch geworden sei. Das gefiel mir. Ich dankte es ihm mit einem breiten Lächeln. Sein Kompliment war das Sprungbrett, das mich auf Augenhöhe mit meinen Tanten katapultierte. Eine Begegnung unter Gleichen im Erwachsenenleben. Ich war in den begehrtesten Eisverkäufer der Stadt verliebt. Nun, da ich in seinen Augen kein Kind mehr war, würde ich nicht mehr so viel Eis essen können. Andererseits schien sich seine Familie nicht darum zu scheren, ob man fett war oder nicht. Ich könnte nach und nach Fett ansetzen. Es war, als würde man einen Millionär heiraten. Von nun an wäre alles schön, jeder Tag wäre ein kleiner Festtag. Plötzlich war ich dort im Eis­salon zu einer jungen Frau geworden und bemühte mich, entsprechend aufzutreten.

Kurz darauf brachen wir auf. Mir war, als hätte ich die Pubertät schon hinter mir, als spürte ich das schwere, gleichmäßige Gewicht meiner Brüste, obwohl sie noch gar nicht begonnen hatten, sich zu zeigen.

Bog man von der Hauptstraße rechts ab, kam man in eine Straße, in der sich Dutzende alter Herrenhäuser aneinander­reihten, schlicht gebaut, aber mit Veranden und hohen Eingangshallen, deren Decken Wappen und Traubenbündel aus Stuck zierten. Statt einfacher Fenster hatten sie Buntglasscheiben, die mir einladend zuzwinkerten. Alle sahen sie gleich aus, waren in höchstens vier matt wirkenden Farbtönen gestrichen.

Der älteste Bewohner, der Arzt unserer Stadt, hatte diese Mode begründet. Dann hatten andere Doktor Heitor nachgeahmt, Ton für Ton, Detail für Detail, selbst die Klinken hatten alle die gleiche Farbe, die Türen die gleiche Holzmaserung, die Fensterrahmen waren im gleichen Grün gehalten, die Wände im gleichen Weiß – wie das eben so ist in einer Stadt mit kaum einem Geschäft und wenig Auswahl. Immer richtete man sich nach denen, die am meisten verkauften, imitierte die, die am meisten Einfluss hatten. Große Bäume sorgten vor den Häusern für Schatten, und der Asphalt, in den sie eingelassen waren, wurde von Steinen in allen Größen begrenzt. Schlagloch reihte sich an Schlagloch, so dass man in der Regenzeit Fische darin hätte halten können. Für mich war diese Straße ein einziger Hindernislauf. Die Löcher waren insgeheim die Herrscher der Rua Tiradentes, die ihren Namen – »Straße der Zahnzieher« – nicht länger zu Recht trug, weil sie alle ihre Zähne verloren hatte. Eigentlich hätte sie Rua Tirados-os-dentes – »Straße der gezo­genen Zähne« – heißen müssen. Ihren Ruf verdankte sie den für ihre Wohltätigkeit bekannten Bewohnern. Früher, während des goldenen Zeitalters, hatten hier Bälle und große Feste stattgefunden, und das Gold sprudelte aus der Erde wie ein Wasserquell, der die Rocksäume der Damen und die Hufeisen der langbeinigen, aus den großen Städten herbeigebrachten Pferde mit Schlamm bespritzte. Wenn die Alten von den Jahren des Überflusses und ihren Vergnügungen erzählten, lachten sie mit leuchtenden Augen. In dieser Straße stieß man noch auf Spuren der längst vergangenen Pracht: die Prunkvillen mit ihren Veranden und der kostbaren Inneneinrichtung.

Im prächtigsten und ältesten dieser Häuser war auch Doktor Heitors Hund zu finden – Alfredo. Der Hund war der engste Vertraute seines Herrchens, sie glichen einander sogar körperlich: Beide hinkten, zogen das linke Bein nach, das mit jedem Schritt krummer und schlimmer zu werden schien. Beide waren gutmütig, hatten das gleiche Lächeln und die gleiche Neigung, immer und überall einzuschlafen, sobald sie sich setzten. Doktor Heitor war der angesehenste und gefragteste Arzt der Stadt, vielleicht darum, weil er sich in seinem Beruf selten oder nie irrte – oder wegen seines Lächelns, das selbst die dunkelste Wohnung erhellte. Doktor Heitor war Arzt durch und durch.

Ich versuchte immer, ins Innere seines Hauses zu spähen, machte Stielaugen, um einen Blick auf die alten Fotos zu erhaschen, die ihn mit jeder Frau zeigten, die er je besessen hatte. Ja, der Arzt war ein notorischer Schürzenjäger, und er hatte alle seine Eroberungen fotografisch dokumentiert. Mich interessierten seine ehemals jungen Wangen, der kräftige Körper und das Gesicht, die die Mädchen dazu bewogen hatten, ihm ihre Brüste, ihr Haar und ihre Unschuld zu schenken – gegen den erbitterten Widerstand der Väter, denen die Unschuld ihrer Töchter mehr wert war als ihr Gold, oder doch zumindest genauso viel wert. Manchmal zahlte der Arzt mit dem einen für das andere, und damit war das Problem dann auch gelöst. Seine bloße Existenz hatte für viele verhängnisvolle Folgen, und Frauen führte er reihenweise ins Verderben. Er musste nicht einmal mit ihnen reden, damit sie, ohne zu zögern, vom Pfad der Tugend abwichen. Die Nähe des Arztes machte, dass sie ihre Zukunftsaussichten fortwarfen. Ihm zu entgehen oder ihm zu erliegen war eine süße Gefahr, die ihnen klarmachte, dass Gott sich auf diese Weise manifestierte: indem Er die Versuchungen den Zufallswegen des Schicksals überließ. Und auch die Männer führte Er ins Unglück, wenn ihre Frauen – oder zukünftigen Frauen – den Blick von ihnen ab- und dem Arzt zuwandten. Leicht wie der Flug einer Feder: Man sieht sie schweben und versucht, sie nicht anzupusten. Vergebens.

Sein Auftreten, sein Gesicht waren wie aus einem Fotoroman, sie verhießen Liebe, und das machte ihn fast unwiderstehlich. Es war, als stoße man zufällig auf ein Bankett, wenn man gerade den ersten Hunger verspürt. Seine ganze Erscheinung war ein Versprechen der starken Regungen, die man sich von der Leidenschaft erhofft. Niemand verstand das besser als er.

Ich reckte mich und hüpfte auf und ab, während ich gleichzeitig versuchte, mich umzusehen, damit mein geliebter Nestor, sollte er durch einen schrecklichen Zufall gerade vorbeikommen, mich nicht beim Spionieren erwischte. Im Näherkommen hörten wir ein Lied, das klang wie aus früheren Zeiten und dessen Eingangsakkorde so träge waren, dass sie nicht enden zu wollen schienen. Nach der Frauenstimme mit ihrem eine Oktave umfassenden Vibrato zu schließen, stammte es aus den zwan­ziger Jahren. Jeder Mensch hat seine eigene Zeit, und der Arzt lebte für immer in der Zeit seiner schönsten Jugend, seiner größten Vitalität. Geht uns das nicht allen so? Er lebte noch immer in der Zeit der Goldminen und der ungeheuren Reichtümer, er lebte im Herzen jener Jahre und vernahm ihren Pulsschlag. Das Bild, das ihm der Spiegel in seiner Eitelkeit zurückwarf, zeigte ihn noch immer jung, hübsch, mit straffer Haut und Kinder­augen – sicher gibt es einen dazu passenden psychologischen Begriff –, und er war der vermögendste Mann der Gegend, we­niger wegen seines Besitzes, sondern vielmehr wegen seines ­Rufes. Dabei war er eiskalt, in der Lage, schmutzige Lieder zu singen, während er einen Verstorbenen aufschnitt und wieder zunähte. Mit seiner samtweichen Haut und seinem gottgleichen Beruf konnte er sich alles erlauben: Nur zum Vergnügen setzte er die Galle an die Stelle des Herzens, schnipste dem Toten ans Ohr oder steckte ihn in Frauenkleider, setzte ihm eine Perücke auf und schminkte ihn mit Lippenstift. Dann rief er Pater Carlos für die Letzte Ölung oder eine Trauung auf dem Totenbett. Den armen alten Cáca traf fast der Schlag, als er sah, dass der Verstorbene wie zu einer Hochzeit gekleidet war. Der Arzt hingegen war sich sicher, dass der Tote so viel Respekt vor ihm hatte, dass er ihn nicht heimsuchen würde. Er bezauberte jeden, selbst die, die aus dieser Welt in eine schlechtere eingegangen waren.

Die Erinnerung an die Jahre, in denen er Herzen gebrochen und gleich darauf reuevoll wieder zusammengeflickt hatte, hielt ihn jung, und so zeigte er immer noch Spuren seiner vornehmen, wenn auch falschen Schönheit. Die »Frau seines Lebens« hatte ihn schon viele Liebschaften zuvor verlassen, dass sie sich betrogen gefühlt hatte, verstand er nicht. Der Charme war für immer in seine Mundwinkel eingebrannt, darüber der spiegelnde Schädel, ein paar dünne Strähnen fielen ihm locker in die Stirn, an den Seiten leistete das dichtere Haar hartnäckig Widerstand. Wenn er ein neues Opfer ins Visier nahm, ging er auf und ab, gestikulierte wie ein junger Mann kurz vor dem Salto mortale, spreizte sein buntes Gefieder und wetzte den Schnabel, blähte sich auf wie zum Balztanz vor seiner Auserwählten. Einem Mann, für den Schönheit und Jugend Lebensinhalt gewesen waren, blieb nichts anderes übrig, als weiterzumachen wie bisher. Die Erkenntnis, dass der Glaube an jenen Gott unüberlegt gewesen war, wäre zu schmerzlich, ja sogar gefährlich ge­wesen, wenn man bedenkt, dass für ihn außer Schönheit und Jugend nichts im Leben jemals von Bedeutung gewesen war. Selbst sein Doktortitel, erworben an einer der besten Universitäten, und sein guter Ruf als Arzt befriedigten seine Eitelkeit nur unwesentlich.

Meine Tante lächelte geheimnisvoll und schien in Gedanken versunken, vielleicht in Erinnerung an den glühenden Brief, den sie frühmorgens bekommen hatte. Wir kamen nur langsam vor­an, bewegten uns wie beim Himmel-und-Hölle-Spiel mit kleinen Vogelhopsern um die Löcher herum. Direkt vor dem Haus des Arztes hatte ich einen schmalen Streifen Licht entdeckt, der durch das angelehnte Wohnzimmerfenster auf die Rua Tiradentes fiel, und die Schnauze des Hundes, die sich durch den Spalt zwängte. Langsam schlich ich näher, doch ein Baum stand meiner Neugier im Weg, und ich musste ihn umrunden, wollte ich etwas sehen. Das Haus war noch gut zwei Meter entfernt, aber ach – da war ein Vorhang, der sich mit dem Baum verbündet zu haben schien! Glücklicherweise blähte ihn gleich darauf der Wind wie ein Schiffssegel, wehte ihn nach draußen und ermunterte mich voranzugehen. Schritt um Schritt näherte ich mich dem Fenster, meine Augen waren fast da, noch ein Schritt, und das Fenster würde mir seine Geheimnisse verraten. Und gerade, als ich dachte, dass mein Blick in eine andere Epoche eintauchen würde, stolperte ich über eines der Löcher im Pflaster.

Ich wankte.

Ich schwankte …

und fing mich wieder!

Doch auf ein weiteres Loch war ich nicht gefasst, und so platschte ich wie eine überreife Jackfrucht, aus der man Frucht­suppe macht, auf den Boden. Ich fiel in eines dieser teuflischen Löcher, das größer war als ich, das eher einem Hexenkessel glich, und musste an die Ermahnungen der Tanten denken: »Neugier kann tödlich sein«. War das die Strafe?

Über und über mit Schlamm bedeckt, setzte ich mich auf, während Tante Florinda sich vor Lachen ausschütten wollte. Völlig verdattert sah ich nach allen Seiten; ich hielt nach niemand anderem Ausschau als nach Nestor und betete, er möge nicht gerade jetzt auftauchen. Doch noch bevor mich die Scham überwältigte, kam das Blut. Es strömte mir aus der Nase wie Wasser aus einem Hydranten. Tante Florinda hörte auf zu lachen, kauerte neben mir nieder und fragte, ob es weh täte. Ich hob die Hand an die Nase, die sich rasch fleischrot färbte – ich konnte mich nicht erinnern, jemals zuvor so heftig geblutet zu haben, auch nicht, wenn ich ungeschickt gefallen war und mir die Knie aufgeschlagen hatte. Nun entdeckte ich, dass mein Inneres aus noch etwas anderem bestand als meinen Gedanken.

Als kleines Kind hatte ich ein erstaunliches Bedürfnis nach Aufmerksamkeit gehabt und wäre zu allem Möglichen bereit ­gewesen: mir den Arm oder die Beine zu brechen oder sogar für einige Zeit bettlägerig zu sein. Jetzt dachte ich, dass mein Wunsch nun vielleicht verspätet erfüllt wurde. Endlich würde ich umhegt werden, und alle würden erkennen, dass ich Küsse und Liebkosungen verdiente und mehr Aufmerksamkeit, als mir bisher zuteilgeworden war.

Dann berührte Tante Florinda ohne Vorwarnung meine Nase, und mich durchfuhr ein Schmerz, der mich alles Sehnen meiner Kindheit vergessen ließ. Mein Schrei zerriss die Stille des Abends, pflügte ein Loch in die Ruhe, weit größer als das Loch, das mich zu Fall gebracht hatte, und ich plärrte ohne die geringste Scham drauflos. Der Schmerz hörte nicht auf, und mein Geschrei auch nicht. Tatsächlich pochte er immer heftiger. Als ich die Augen aufschlug, fand ich mich im Wohnzimmer des Arztes wieder; er stand direkt über mir und fragte mich etwas, während ich mein Schluchzen nur unterbrach, um meine Lungen mit Luft zu füllen. Ich hörte sofort auf zu plärren, doch das Schluchzen hielt an. Dann wanderte mein Blick über die zahl­losen Fotografien, die man in so kurzer Zeit unmöglich im Detail erfassen konnte, und darüber vergaß ich meinen Schmerz.

Die Augen des Arztes waren grau, und die wenigen Haare auf der hohen Stirn waren fein, wie drei ebenfalls ergraute Kame­raden. Gehorsam klebten sie am Schädel, so gekämmt, dass sie den Exodus der anderen kaschierten. Die Spärlichkeit seines Haarwuchses versuchte er dadurch auszugleichen, dass er seinen Körper in Parfüm förmlich badete, er hoffte, dem Geruchssinn damit eine Fülle vorzutäuschen, die die Augen auf dem Kopf vergeblich suchten. Er war Ende sechzig, und aus der Nähe, wenn man also die Grenze überschritten hatte, die normalerweise zwei Menschen voneinander trennt, roch er streng. Der Duft der jahrelangen Gesellschaft der gewohnten Zigarette – der treuen Gefährtin in der Einsamkeit – vermischte sich mit dem Geruch nach Mottenpulver, der alten Leuten immer anhängt. Gegen das Rauchen hatte er in den letzten Jahren heftig angekämpft, doch es brachte ihm die Erinnerung an die Eltern zurück, die immer eine Zigarette zwischen den Fingern gehabt hatten. Der Zigarettenrauch war der Faden, der den Doktor mit ihnen verband. In seinen eitelsten Träumen sah er sich im Schoß seines nächsten Verführungsobjekts liegen, und auch hier war die Zigarette dabei und ließ ihn gut aussehen. Morgens, nach dem Aufstehen, hatte er, bevor er sich der beruhigenden Gewohnheit wieder hingab, einen Stift zwischen Zeige- und Mittelfinger genommen – wie zum Beweis, dass er ein kluger Arzt war. Doch die Zigarette richtete seinen gebeugten Körper in schwierigen Momenten auf. Und so hatte er es schließlich aufgegeben, dagegen anzukämpfen. Er klammerte sich an seine Komplizin und an die Zerstörung, die diese mit sich brachte, und stürzte sich wissentlich ins Verderben.

Jedenfalls trug die Vergangenheit des Arztes dazu bei, dass mein Schluchzen und meine Angst nachließen. Ich begann mit fast schon professionellem Eifer, die Beweise seines losen Lebenswandels zu studieren. Dutzende Fotos, und auf allen war der Arzt mit jeweils einer Frau zu sehen. Brünette, Blondinen, Mulattinnen und Rothaarige. Im Hintergrund: China, Paris, Manaus. Patientinnen in den verschiedensten Stadien, von gesund und munter bis fast schon dahingerafft. Auf allen Fotos umspielte ein Lächeln seine Mundwinkel, und er stand da in einer einstudierten Pose, die Hände in den Jackentaschen, mit un­tadelig sitzenden Hosen und einem Blick aus weit geöffneten Augen, der seine graugrüne Iris größer erscheinen ließ.

Während er mich abtastete, spürte ich ein wachsendes Kribbeln meiner Nerven, wie Wasser, das auf ausgedörrten Boden geschüttet wird. Dann ließ es nach und machte sich in einem tiefen, scharfen Schmerz in dem Teil der Nase bemerkbar, in dem ein stumpfes Messer zu stecken schien, in einem unerträglichen Pochen. Nachdem er die Wunde mit einem Wattebausch und einer bedrohlich roten Flüssigkeit gereinigt hatte, die nach Kampfer roch, klebte er eine Mullkompresse und ein Pflaster dar­auf. Meine Tante, aufgrund der Hitze des Tages nur leicht bekleidet, erkannte am Blick des Arztes, dass ihre Brüste sich durch den hellen, durchscheinenden Stoff des Kleides deutlich abzeichneten. Es war, als würden sie laut reden, dem armen Mann förmlich ins Gesicht springen. Ich und meine Nase waren sofort vergessen, wie ein altes Auto, kaum dass ein neues Modell vor der Tür stand. Meine Nase galt nichts mehr angesichts dieser Brüste, die man mit einer großen Hand vollkommen umschließen und mit denen man auf vielerlei Weise spielen konnte.

Direkt vor meinen Augen entstand innerhalb von Sekunden in der Hose des Arztes eine Ausbuchtung, erhob sich wie ein Zelt. Das Ding darin regte sich wie eine große Schlange, die sich aufrollt und reckt, um ein Paka zu fassen, das Ding versteifte und neigte sich meiner Tante zu. Der ein Meter fünfzig große Alte wurde von einem kühnen, ein Meter neunzig großen Geist erfüllt. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, seine Augenbrauen hoben sich. Seine Hände glitten in die Taschen und rückten das Ding mit einer energischen Geste zurecht, die ihm half, weiterhin die Aufmerksamkeit meiner Tante auf sich zu ziehen. Sein Tonfall veränderte sich, wurde samtig und tief. Während er uns zuvor aus Bequemlichkeit und Desinteresse kaum eines Wortes gewürdigt hatte, sprudelten die Worte nun in wohlformulierten Sätzen nur so aus ihm heraus, als wären wir mit einem Mal ihrer würdig, eines kleinen Beweises seiner Gelehrtheit. Begleitet von ausladenden Gesten, lachenden Augen und dem spitzen Mund, führten sie einen wahren Tanz auf.

Wie bei einer Aufführung lehnte ich mich zurück und be­obachtete, was geschah. Meine Tante würde niemals zulassen, dass dieser Tausendfüßler sich in ihr Ohr hineinschmeichelte. Sein Spiel war leicht zu durchschauen, selbst für ein Kind, und ich hasste es. Doch nicht meine Tante. Sie nahm eine seltsame Haltung ein und sagte leise ein paar Worte, lächelte mit den Augen, strich leicht mit der Hand über ihren Rock, hob ihn bis über ihre Knie und ließ ihre Pfirsichhaut, ihre üppigen Schenkel sehen. Sie spielte sein hypnotisches Spiel mit, als hätte sie keine andere Wahl, ließ sich auf einen Tanz zu zweit ein und tat so, als wäre sie auf ewig sein, nahm seine Einladung an. Schlimmer noch: Sie war der Inder, der die Flöte für die arme alte Schlange spielte, die sich betört aufrichtete. Der Balztanz hatte begonnen.

Mich ärgerte ihr Blabla, die schleppende, selbstbezogene Unterhaltung, und so erinnerte ich mich an meine Nase – und sie sich an mich –, und ich plärrte wieder los. Schließlich blutete meine Nase! Das Weinen setzte im Kopf des Alten, dort, wo er seine Posen und seine Kräfte verwahrte, eine Alarmglocke in Gang. Er vergaß die Aufgeblasenheit der letzten Minuten, sackte in sich zusammen und fauchte:

»Aber, aber, glaubst du denn nicht, dass du zu klein bist für ein so großes Theater? Du musst die Schmerzen ertragen, wenigstens ein paar Stunden lang, das ist ganz normal. Deine Nase ist gebrochen.«

Das war zu viel für mich. Mit einem einfachen Satz hatte er meine Selbstachtung in der Luft zerrissen. Ich spürte einen scharfen Schmerz in meinem Herzen, und mir wurde klar: Er wusste um die Löcher da draußen und hatte nichts unternommen, er war der Teufel höchstpersönlich.

Meine Tante kam zur Besinnung:

»Sie hat sich die Nase gebrochen? Aber wie konnte das denn passieren? Sie ist so ungeschickt gefallen.«

»Genau darum, meine Liebe. Der obere Teil des Nasen­rückens ist gebrochen, kommen Sie, Florzinha, dann zeige ich es Ihnen. Legen Sie Ihre zarte Hand hier drauf, dann fühlen Sie, wo der Knochen lose ist. Kommen Sie her …«

Er kannte nicht einmal ihren richtigen Namen! Er wollte ihn auch gar nicht wissen, er dachte, sie würde nicht einmal merken, dass er danebengegriffen hatte. Schließlich ging es nicht darum, sie beim richtigen Namen zu nennen. Er wandte sich meiner Tante Florinda ganz zu, wollte wieder seine Erfahrung in Liebesdingen spielen lassen, vergaß mich erneut. Allein die Erwähnung meines losen Knochens war für mich der reinste Horror, aber dass er sie auch noch aufforderte, ihn mit ihren Fingern hin und her zu schieben, als wäre ich ein Vergnügungspark, ging mir zu weit. Er bot mich an, als wäre ich ein kleines Kind und hätte gar kein Innenleben.

»Tante Florinda, ich will nach Hause. Jetzt gleich!«, verlangte ich mit der ganzen Autorität einer Kranken.

»Reg dich nicht auf, Kleines, eine gebrochene Nase ist kein Weltuntergang. Das passiert öfter, als man denkt!«

Der Mann hatte überhaupt kein Feingefühl. Ich hätte gerne mal ihn mit gebrochener, blutender Nase gesehen. Wutentbrannt marschierte ich zur Tür und legte die Hand auf die Klinke. Während der Alte noch vor sich hin maulte, spürte ich, wie sich etwas an meinen Beinen rieb. Erschrocken kniff ich die Augen zu, weil ich dachte, es wäre der Arzt. Kroch er etwa über den Boden? Er musste verrückt sein. Dann öffnete ich zitternd die Augen und sah den Hund, der das linke Bein nachzog und verstohlen lächelte. Beide, Hund wie Arzt, neigten sich dermaßen nach links, dass ich nicht verstand, wieso sie nicht das Gleichgewicht verloren. Offenbar war ich die Einzige, die es schaffte, mit zwei gesunden und gleich langen Beinen in ein Loch zu fallen und sich die Nase zu brechen.

»Alfredo! Du verdammter Hund, was hast du mich erschreckt!« In meiner Erleichterung begrüßte ich ihn so fröhlich, dass das lahme Tier sich freute.

»Er heißt nicht Alfredo, Kind! Er heißt Alfred. Ich weiß nicht, warum ihr Kinder diesen allgemein bekannten Taufnamen immer entstellen müsst.«