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Der letzte Glücksfall für Deutschland Kanzler Adenauer lästerte öffentlich über Brandts uneheliche Geburt, Helmut Schmidt nannte ihn einen Scheißkerl, Herbert Wehner diktierte in Moskau den Journalisten in den Block, Brandt bade lau. Dieser üblen Treibjagd ist Willy Brandt erlegen. Viel zu früh. Was wir von diesem Hoffnungsträger für heute lernen könnten, zeigt einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen. Gegen Willy Brandt lief Zeit seines Lebens eine Kampagne seiner politischen Gegner - mit üblen Methoden. Er wurde trotzdem Bundeskanzler. Als sich einige seiner Parteifreunde dieser Hatz anschlossen, war er erledigt. Der Autor Albrecht Müller war 1972 verantwortlich für den Wahlkampf Willy Brandts und dann Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt bei Willy Brandt und Helmut Schmidt. Er hat die Treibjagd auf Brandt hautnah miterlebt. Für Albrecht Müller ist klar: Trotz seiner nur viereinhalbjährigen Amtszeit als Bundeskanzler, hat Willy Brandt uns viel Gutes hinterlassen. Er war der Hoffnungsträger, dessen politische Botschaften und Methoden uns heute noch fehlen.
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Seitenzahl: 146
WESTEND
Ebook Edition
Für Anke,
die dieses Buch von Herzen gernmitgeplant und bereichert hätte.
Sie kann es nicht.
Ihr Wunsch hat mich beflügelt.
Sie mochte Willy Brandt. Wie auch ich.
Das bleibt in diesem Text nicht verborgen.
© privat
Albrecht Müller, geboren 1938, ist Volkswirt, Publizist und Politiker. Müller war Wahlkampfmanager von Willy Brandt und Planungschef im Bundeskanzleramt unter den Bundeskanzlern Brandt und Schmidt. Von 1987 bis 1994 war er für die SPD Mitglied des Deutschen Bundestages und ist seither als Autor und Herausgeber von www.nachdenkseiten.de tätig.
Albrecht Müller
Treibjagd auf einen Hoffnungsträger
WESTEND
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-86489-064-2© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2013Umschlaggestaltung: Buchgut, BerlinUmschlagabbildung: Harry WalterSatz: Publikations Atelier, DreieichDruck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, LeckPrinted in Germany
Warum dieses Buch?
Ein Jahrhundertpolitiker
Von der Kurpfalz über München nach Bonn
Parteifreunde und andere Feinde
Schicksalsjahr 72 – Triumph und Niedergang
»Die wollen gar nicht gewinnen«
Ein harter Kampf – für Brandt und die SPD
Ein totgeschwiegener Putschversuch
Der eine sät, die anderen ernten
Der ungeliebte Konkurrent
Wehner, der illoyale Machtmensch
Schmidt, die Führungspersönlichkeit
Üble Nachrede
Totschlagargument Depression
Brandt, der Teilkanzler?
Erfolglos im Inneren?
Mythos Linksruck
Das wahre Erbe Willy Brandts
Politisierung
Mehr Demokratie wagen
Brandt, der gute Deutsche
»Nicht der Krieg, der Frieden ist der Vater aller Dinge«
Gegen den Herrschaftsanspruch der finanzstarken Oberschicht
Solidarität statt Egoismus
Der Integrator
Die prägende Kraft des guten Vorbildes
Anmerkungen
Literatur
Dokumentation
1. Die Planung des Wahlkampfes 1972
2. Der Putschversuch des Großen Geldes mit unzähligen anonymen Anzeigen
Danke vielmals
Zum Umschlagfoto und zum Fotografen
Es war Rut Brandt, die den letzten Anstoß dazu gegeben hat, dieses Buch zu schreiben. Nils Johannisson, früher einmal Artdirektor der Werbeagentur ARE, hatte sie und ihren Lebensgefährten Niels Norlund im Juni 1998 in Norwegen besucht. Als Gastgeschenk brachte er mein Buch Willy wählen 72 mit. Er selbst war 1972 mit mir zusammen am Wahlkampf der SPD beteiligt gewesen und hatte auch das Buch gestaltet. Am nächsten Morgen berichtete Rut Brandt, sie habe die halbe Nacht mit der Lektüre zugebracht. An den abgedruckten Dokumenten könne man sehen, wie sehr Willy einer regelrechten »Treibjagd« ausgesetzt gewesen sei.
Die Treibjagd hatten seine politischen Gegner zu verantworten: die »Offenen« der Union, aber auch die mit ihnen sympathisierenden rechtsnationalen Kräfte aus Industrie und Wirtschaft, die viel Geld in die Hand nahmen, um den amtierenden Kanzler Brandt zu diskreditieren. Was bis heute vielen an Geschichte und Gegenwart Interessierten nicht bewusst ist: Auch innerhalb der SPD wurde gegen Brandt agitiert – wesentlich verdeckter zwar, aber deshalb nicht folgenlos.
Am 18. Dezember 2013 wäre Willy Brandt 100 Jahre alt geworden. Eine Reihe weiterer Bücher, Filme und Hörfunksendungen über Brandt erscheinen. Dabei wird immer wieder auch über das Verhältnis von Brandt, Schmidt und Wehner spekuliert, der damaligen »Troika«. Doch die Demontage Brandts in seiner eigenen Partei und in der veröffentlichten Meinung wird nirgends so gewertet, wie man sie meiner Meinung nach werten müsste: als eine von Interessen geleitete Attacke mit – vornehm ausgedrückt – sehr fragwürdigen Methoden.
Die meisten Sozialdemokraten haben das nicht bemerkt. Es liegt jenseits ihrer Vorstellungswelt, dass sich die Führungsriege der Partei, also der Vorsitzende und seine Stellvertreter, nicht gegenseitig stützen und Erfolg wünschen, sondern Misserfolge geradezu planen. Auch ich gehörte zu den »naiven« Sozialdemokraten, die dachten, die Konkurrenz des Spitzenpersonals sollte Grenzen kennen.
Wenn sich politische Gegner außerhalb der eigenen Partei mit Gegnern in der eigenen Partei verbünden und dieser Verbund auch noch von einflussreichen Medien und Wirtschaftsinteressen gestützt wird, dann hat der betroffene Politiker keine Chance. Das gilt immer noch. Die Analyse der Treibjagd auf Willy Brandt ist in Variation anwendbar auf den Umgang mit anderen Personen: auf den Umgang mit Andrea Ypsilanti, Norbert Blüm, Oskar Lafontaine, sogar Kurt Beck.
Bis heute erfahre ich, dass Autoren und Historiker diese von mir so erlebte und empfundene Treibjagd gegen den ersten SPD-Bundeskanzler nicht als solche erkennen wollen, vielleicht auch nur nicht erkennen können. Im Gegenteil: Selbst Willy Brandt wohlgesonnene Biographen tragen die Vor- und Fehlurteile, die damals gegen ihn lanciert wurden, weiter und verstellen damit den Blick auf sein politisches Vermächtnis. Man merkt an der Geschichtsschreibung zu Willy Brandt, dass er schon lange tot ist und man ihm deshalb leichter Unrecht tun kann. Auch manche Freunde des ehemaligen SPD-Vorsitzenden und Bundeskanzlers sind müde geworden, immer wieder gegen die gängig gewordenen Klischees und Vorurteile anzurennen: zum Beispiel den konstruierten Gegensatz zwischen dem »Träumer« Willy Brandt und dem »Macher« Helmut Schmidt.
Das ist schade, denn aus der Kanzlerschaft Brandts ließe sich für uns Heutige viel lernen. Sie fiel zusammen mit politischem Aufbruch und Protest, und zugleich mit einer großen Zufriedenheit mit dem politischen Leben, und im Übrigen auch mit den wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven für Menschen, die bis dahin nicht auf der Sonnenseite lebten. Sehr viele Menschen interessierten sich für das politische Geschehen und beteiligten sich. Es war eine Zeit der Veränderungen und der Reformen im guten Sinne des Wortes – zu Gunsten der Mehrheit der Menschen.
Willy Brandt war ein Glücksfall für unser Land und für seinen Politikbetrieb.
Sein Umgang mit den Menschen, seine Toleranz und Liberalität, sein Engagement für Versöhnung und Frieden im Innern und nach außen könnten wichtige Markierungen des Weges sein, den wir heute sinnvollerweise gehen könnten und sollten. Schon ein paar wenige seiner Slogans sagen viel aus: »Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein.« »Mehr Demokratie wagen.« »Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen.«
Aber auch von Brandts strategischen Fähigkeiten und seiner praktischen Politik könnten wir viel lernen, wenn wir wollten.
Zum Beispiel könnten wir lernen, dass auf Egoismus und Spaltung und rigoroser Wahrnehmung der Interessen der Oberschicht eine gute und friedliche Gesellschaft nicht aufgebaut werden kann. Solidarität ist ungemein wichtig. Willy Brandt wusste das und warb dafür, diesen Grundwert ernst zu nehmen. Er wusste auch, dass man Menschen diese Solidarität zumuten kann. Wirtschaft nahm er ernst. Aber er erkannte, dass wirtschaftliche Kompetenz und Wohlstand nicht das Einzige sind, auf das Menschen Wert legen.
Zum Beispiel könnten wir lernen, dass man in der Politik strategisch denken muss. Die Entspannungspolitik gründete auf einem langfristig angelegten Politikentwurf. Wo ist das heute? Strategisch denken und planen können heute offenbar nur noch die neoliberalen Ideologen.
Selbst eingefleischte Brandt-Gegner haben in den sechziger und siebziger Jahren gespürt, welch ein grandioser Vorteil und eine Ehre es für einen Deutschen war, von einem Politiker repräsentiert zu werden, der quasi überall respektiert und sogar gemocht wurde. Und wie sieht das heute aus? Bei Angela Merkel?
Mir war vergönnt, einige Zeit eng mit ihm zusammen und für ihn zu arbeiten. Ich war schon aus professionellen Gründen gezwungen zu beobachten, mit welchen Methoden und welchen Parolen gegen ihn gearbeitet wurde. Ich musste damals aus beruflichen Gründen – ich war zunächst verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit und den Wahlkampf Willy Brandts und dann Leiter der Planungsabteilung im Kanzleramt – die Vorwürfe analysieren und widerlegen, mit denen er immer wieder konfrontiert war.
Über Willy Brandt und seine Arbeit werden viele Märchen erzählt: Er sei ein Träumer gewesen und kein Macher. Intensive Schreibtischarbeit habe er vermieden. Die Träger und Macher der üblen Nachrede kannten keine Schamgrenze. Er sei psychisch labil gewesen, depressiv, ja vielleicht sogar Alkoholiker. Er sei allein ein »Außen«-Kanzler gewesen und habe von Wirtschaft und von Innenpolitik wenig verstanden. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Natürlich war Brandt auch Projektionsfläche für Hoffnungen, die er vielleicht nicht bedienen konnte. Aber auch diesen Status muss man sich erst einmal erwerben.
Willy Brandt wurde am 18. Dezember 1913 in Lübeck geboren. Er hieß damals Herbert Frahm und war ein uneheliches Kind seiner Mutter Martha. Den Namen Willy Brandt nutzte er in den dreißiger Jahren im norwegischen Asyl und nahm ihn dann nach dem Krieg in Berlin als offiziellen Namen an. Dies alles ist hier nur erwähnenswert, weil seine uneheliche Geburt in der politischen Auseinandersetzung von rechten konservativen Kreisen und der CDU/CSU immer wieder für persönliche Angriffe genutzt wurde.
Der junge Frahm erlebte in seiner Kindheit und Jugend die Deklassierung der Arbeiterschaft in der deutschen Gesellschaft. Er wurde früh politisch aktiv, in der SPD und in einer Linksabspaltung, der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). 1933 emigrierte er nach Norwegen und weiter nach Schweden. Auch dies ist erwähnenswert, weil die Emigration vor den Nazis in rechtskonservativen und nationalen Kreisen auch in den späteren Auseinandersetzungen nicht als Ehrenzeichen, sondern als Makel gewertet wurde. So waren die Zeiten nach 1945.
Dreizehn Jahre lebte er in der Emigration, zeitweise mit fremder Identität in Berlin und dann auch im Bürgerkriegsspanien. In dieser Zeit stand er lebensgefährliche Situationen durch. Bei Kriegsende musste der dann 32-jährige Willy Brandt feststellen, dass viele seiner Freunde die nationalsozialistische Schreckensherrschaft und den Krieg nicht überlebt hatten. Da wird man auch später keine rheinische Frohnatur, selbst wenn man wie Willy Brandt ein großes Stück Lebensfreude in sich trägt. Und es ist verständlich, dass ein Mensch mit diesen harten Erfahrungen auch einmal den Kabinettstisch verlässt, wenn dort – wie von mir erlebt – ausgewachsene Minister wie eitle Gockel aufeinander losgehen.
Brandt kam im Mai 1945 als Korrespondent der skandinavischen Arbeiterpresse nach Deutschland zurück, um über den Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg zu berichten. Er wurde dann 1948 Beauftragter des SPD-Parteivorstandes in Berlin bei den alliierten Kontrollbehörden. In Berlin begann dann auch seine Arbeit innerhalb der SPD. Willy Brandt war von 1957 bis 1966 Regierender Bürgermeister der Stadt. Er hat in dieser Zeit den Stimmenanteil der SPD in der »Frontstadt«, wie manche Berlin an der Nahtstelle zwischen Ost und West während des Kalten Krieges nannten, zunächst 1958 um 8 Prozent auf 52,6 Prozent der Stimmen gesteigert und dann 1963 auf 61,9 Prozent der Stimmen.
1961, 1965, 1969 und 1972 kandidierte Brandt als Kanzlerkandidat der SPD bei den Bundestagswahlen. In dieser Zeit wuchs der Anteil der SPD bei den Zweitstimmen von 31,8 Prozent im Jahr 1957 auf 45,8 Prozent im Jahre 1972.
Die Bundesrepublik wurde seit ihrem Beginn von christdemokratischen Bundeskanzlern regiert, erst von Adenauer, dann von Ludwig Erhard und ab 1966 in einer Großen Koalition von Kurt Georg Kiesinger.
Die politische Großwetterlage und die innenpolitischen Auseinandersetzungen wurden in den fünfziger und sechziger Jahren stark von der Konfrontation zwischen West und Ost geprägt. In Berlin war dies besonders zu spüren: durch die ständige Bedrohung der Zugangswege und der Versorgung der Stadt. Berlin war abhängig vom Wohlwollen der westlichen Alliierten, die die Hoheit über den westlichen Teil der Stadt hatten. Willy Brandt war als Regierender Bürgermeister Teil der Auseinandersetzung. Das ergab sich aus seiner Funktion als Regierender Bürgermeister. Er warb damals um die Garantien der Amerikaner für die Stadt. Typisch und symbolisch dafür war der Besuch Kennedys in Berlin und sein Bekenntnis »Ich bin ein Berliner«. Diese Zeit hat das rationale und emotionale Verhältnis Willy Brandts zu den USA stark geprägt. Er fand beispielsweise die Proteste gegen den Vietnamkrieg nicht gut. Freunden fällt man nicht in den Rücken, auch wenn sie etwas falsch machen. So könnte man seine Haltung beschreiben.
Der Konfrontation zwischen Ost und West ging einiges voraus: die bewusste Integration der Bundesrepublik in den Westen, die Westbindung, wie man das nannte, die Bundeskanzler Adenauer mit aller Macht betrieb. Typisch dafür waren die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland und der Beitritt zur NATO. Zur gleichen Zeit gab es in Deutschland Kräfte, die versuchten, vor der Wiederbewaffnung und Westbindung noch zu klären, ob es nicht doch ein Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands geben könne. Wichtiger Repräsentant dieser Bewegung war Gustav Heinemann. Er war Mitglied der CDU gewesen und Innenminister des ersten Kabinetts Adenauer und trat von diesem Posten zurück, als Adenauer die Wiederbewaffnung vorantrieb. Gustav Heinemann gründete zusammen mit einigen anderen später bekannten Persönlichkeiten die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP). Diese Partei blieb bei Wahlen erfolglos, Heinemann und einige andere Aktive der GVP traten später der SPD bei – darunter Johannes Rau und Erhard Eppler.
Die Versuche, das Auseinanderdriften der beiden deutschen Teile aufzuhalten, konnten die Eskalation nicht verhindern. Der Zugang nach Berlin war immer wieder unsicher. Am 13. August 1961 wurde die Mauer gebaut. Westberlin fühlte sich bedroht. Willy Brandt bat um eine sichtbare Unterstützung durch die US-Regierung. Währenddessen reiste Bundeskanzler Konrad Adenauer durch Bayern und polemisierte gegen den unehelichen Herbert Frahm. Das war eine der typischen Verletzungen, denen Willy Brandt beständig ausgesetzt war.
Schon vor dem Mauerbau hatte sich ein Kreis um Willy Brandt in Berlin Gedanken darüber gemacht, wie man zu einer Verständigung zwischen Ost und West kommen könne. Egon Bahr trug die Konzeption 1963 bei einer Tagung der Evangelischen Akademie in Tutzing vor. Das Kernelement dieser Strategie lautete: »Wandel durch Annäherung«. Diese Überlegungen zur Überwindung der Konfrontation zwischen Ost und West führten ebenso wie wachsender Unmut in weiten Kreisen über die verkrusteten Verhältnisse der von Adenauer geprägten westdeutschen Republik zu einer Umbruch- und Aufbruchstimmung. Schon vor Beginn der eigentlichen 68er-Bewegung gab es in Deutschland eine Reformdebatte. Wir waren unzufrieden damit, dass die weiterführenden Schulen und Hochschulen für Kinder aus Arbeiterfamilien de facto blockiert waren. Wir protestierten gegen die schlechte Einkommensverteilung und die Konsequenzen der Bodenspekulation für die Planung unserer Städte. Wir beschäftigten uns mit der verlogenen Sexualmoral der herrschenden Gesellschaft wie auch mit der Unfähigkeit und Unwilligkeit unserer Eltern und Großeltern, mit uns über die Nazivergangenheit zu sprechen.
Willy Brandt wurde für viele eine Art Projektionsfläche für die Hoffnungen auf ein erneuertes, für ein liberaleres und sozialeres Deutschland und auf ein friedliches Europa.
Bei der Bundestagswahl 1965 schafften es Willy Brandt und die SPD noch nicht zum Regierungswechsel. Doch das Bündnis aus CDU, CSU und FDP scheiterte nach gut einem Jahr. Ab Dezember 1966 wurde das Land von einer Großen Koalition regiert. Zum Bundeskanzler war am 1. Dezember 1966 Kurt Georg Kiesinger (CDU) gewählt worden. In seiner Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 musste der CDU-Bundeskanzler bekennen:
»Der Bildung dieser Bundesregierung, in deren Namen ich die Ehre habe, zu Ihnen zu sprechen, ist eine lange schwelende Krise vorausgegangen, deren Ursachen sich auf Jahre zurückverfolgen lassen.«
Willy Brandt wurde Außenminister und Vizekanzler. Er war nicht begeistert von der Großen Koalition – und hatte als Parteivorsitzender auch viel Protest und Kritik auszuhalten. Das Fußvolk der SPD wollte nach siebzehn Jahren Kanzlerherrschaft der CDU endlich einen eigenen Bundeskanzler an der Spitze der Regierung sehen. Helmut Schmidt und Herbert Wehner waren die eigentlichen Initiatoren der Großen Koalition. Herbert Wehner wurde Gesamtdeutscher Minister im Kabinett Kiesinger, Helmut Schmidt war Vorsitzender der SPD-Fraktion.
Das Ergebnis der gemeinsamen Regierung mit der Union war nicht schlecht. Immerhin gelang es, unter Federführung des sozialdemokratischen Bundeswirtschaftsministers Professor Dr. Karl Schiller und gemeinsam mit CSU-Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß die erste wirtschaftliche Krise nach 1945 zu überwinden.
Auch drei weitere Leistungen der Großen Koalition zeigen beispielhaft sowohl die soziale Verpflichtung als auch die Modernität, die damals möglich wurden: Arbeiter waren im Unterschied zu Angestellten bis dahin nicht in den Genuss der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gekommen. Die Große Koalition verschaffte ihnen dieses Recht. Sie ersetzte auch die sogenannte Allphasenumsatzsteuer durch die Mehrwertsteuer und leistete damit einen dringend notwendigen Beitrag gegen Konzentrationstendenzen in der deutschen Wirtschaft.
In der neuen Ostpolitik kam Außenminister Willy Brandt zunächst ein gutes Stückchen weiter. Brandt sicherte die neue Konzeption zum Abbau der Ost-West-Konfrontation bei den westlichen Verbündeten ab und streckte Fühler nach Osten aus. Aber Bundeskanzler Kiesinger und die Union sperrten sich gegen wirkliche Fortschritte, gegen den Durchbruch durch eine Anerkennung der Grenzen nach Osten. Willy Brandt, wie auch eingeweihten Freunden, war klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Brandt wollte den Wechsel und hatte sich deshalb entschlossen, 1969 ein drittes Mal als Kanzlerkandidat anzutreten.
Am 13. März nominierte das Präsidium der SPD Willy Brandt zum Kanzlerkandidaten. Das entsprach dem Wunsch der überwiegenden Mehrheit in der SPD und der Sympathisanten außerhalb der eigenen Reihen. Aber unter der Decke rumorte es zu dieser Zeit schon. Es gab SPD-Spitzenleute, die sich für den besseren Kanzler hielten.
Ich war damals Redenschreiber von Karl Schiller. Mein Freund und Kollege Ulrich Pfeiffer und ich waren fast die einzigen Sozialdemokraten im Leitungsbereich von Karl Schiller. Deshalb ließ er uns zu sich kommen, wenn er über sozialdemokratische Interna sprechen wollte. So auch unmittelbar nach der Nominierung Willy Brandts zum Spitzenkandidaten durch das SPD-Präsidium. Er ließ nach seinen »Hippies« rufen, wie er uns in Erinnerung an seine Universitätsvergangenheit nannte. Als ich in Schillers Ministerbüro kam, stand er sichtlich aufgewühlt hinter seinem Schreibtisch, mit einem grünen Heft in der Hand. Er fragte, ob ich mir erklären könne, wie das SPD-Präsidium auf die Idee kommen könne, nicht ihn, sondern Willy Brandt zum Kanzlerkandidaten zu ernennen. Die Umfragen von Infratest, deren letzte Erhebung er in der Hand hielt, zeigten doch deutlich, dass nur Gustav Heinemann, der gerade gewählte Bundespräsident, populärer sei als er, der Bundeswirtschaftsminister. Ich war im doppelten Sinne sprachlos, weil ich bei allem Respekt und der großen Bewunderung für Karl Schiller nie auf die Idee gekommen wäre, er wäre ein guter Bundeskanzler. Er wäre wirklich ein »Teilkanzler« geworden – ein Vorwurf, der später gegen Willy Brandt immer wieder erhoben wurde.
Trotzdem war Karl Schiller ein wichtiges Pfund in der Auseinandersetzung im folgenden Wahlkampf. Denn ein eigentlich kaum zu vermittelndes Thema wurde eines der Schwerpunkte: die von Bundeswirtschaftsminister Schiller geforderte Aufwertung der D-Mark. Hier konnte sich die SPD mit Wirtschaftskompetenz profilieren und drang mit ihrem Wahlkampf in konservative Kreise ein, jedenfalls in die der sogenannten Aufsteiger und Wirtschaftsexperten.