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Ein furioses Plädoyer für ein neues Denken, um die Komplexität unserer Welt zu meistern
Die Probleme unserer Epoche sind extrem komplex geworden, dabei hat die vorherrschende Art in Wirtschaft und Politik, Lösungen zu finden, die Probleme nur noch verschärft. Albrecht von Müller, Leiter des Parmenides Center for the Study of Thinking, zeigt, dass wir den Herausforderungen nicht nur mit technischen Mitteln begegnen können – sondern vor allem mit einer Veränderung unserer Denkweise.
Es wird schon viel darüber diskutiert, ob nur künstliche Intelligenz die zunehmende Komplexität noch bewältigen kann. Albrecht von Müller argumentiert, dass dies ein Irrweg ist, der zugleich die Idee der Menschenwürde verletzt.
Die Zunahme der Komplexität ist eine Begleiterscheinung der konstellativen Selbstentfaltung unserer Welt, die von der Entstehung der Materie über die des Lebens bis hin zum menschlichen Geist und unserer modernen Zivilisation reicht. Um Selbstentfaltung zu verstehen, brauchen wir ein grundlegend neues Verständnis von Zeit und Wirklichkeit. Von Müller verfolgt diesen Denkansatz bis hin zu konkreten Lösungsansätzen für Politik, Wirtschaft, Bildung und Medizin. Anstelle rein linear-sequentieller Sichtweisen müssen wir lernen, sich selbst entfaltende Konstellationen wahrzunehmen und zu gestalten.
Insgesamt entstehen so die Umrisse eines neuen Weltbildes, das unser Verständnis von Zeit und Wirklichkeit grundlegend verändern kann.
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Die Probleme unserer Epoche sind extrem komplex geworden, dabei hat die vorherrschende Art in Wirtschaft und Politik, Lösungen zu finden, die Probleme oft noch verschärft. Albrecht von Müller, Leiter des Parmenides Center for the Study of Thinking, zeigt, dass wir den Herausforderungen nicht nur mit technischen Mitteln begegnen können – sondern vor allem mit einer Veränderung unserer Denkweise. Dabei ist die Zunahme der Komplexität eine Begleiterscheinung der konstellativen Selbstentfaltung unserer Welt, die von der Entstehung der Materie über die des Lebens bis hin zum menschlichen Geist und unserer modernen Zivilisation reicht. Um Selbstentfaltung zu verstehen, brauchen wir ein grundlegend neues Verständnis von Zeit und Wirklichkeit.
Vita:
ALBRECHTVONMÜLLER, geboren 1954, promovierte über das Thema »Zeit und Logik«. Danach arbeitete er viele Jahre als Wissenschaftler in der Max-Planck-Gesellschaft und lehrt bis heute Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ergänzend zur Forschung hat er sich immer auch für die praktische Umsetzung der Erkenntnisse interessiert und engagiert. Im Bereich der Theorie der Zeit und in Fragen der Rüstungskontrolle arbeitete er mit Carl Friedrich von Weizsäcker zusammen und war u. a. Direktor des European Center for International Security (EUCIS). Er hat große Organisationen und verschiedene Regierungen und Persönlichkeiten beraten, darunter Nelson Mandela und Michail Gorbatschow. 2001 gründete er die Parmenides Stiftung (www.parmenides-foundation.org), deren Aufgabe die interdisziplinäre Erforschung komplexen Denkens ist.
ALBRECHTVONMÜLLER
Die Selbstentfaltung der Welt
Eine Einladung, Zeit und Wirklichkeit neu zu denken und mit Komplexität anders umzugehen
Siedler
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Inhalt
Eine Vorbemerkung in vier Schritten
Eine erste Skizze des Gedankenganges, eine kleine »Gebrauchsanweisung« zum Buch sowie einige ergänzende, persönliche Bemerkungen
Dank an Gesprächspartner und Mitwirkende
0. Eine skizzenhafte Rekonstruktion unserer heutigen Denkfalle
Die kategorialen Grundlagen des neuen Denkansatzes
1. Das Phänomen der Zeit noch einmal von Grund auf neu denken
2. Die Selbstentfaltung der Wirklichkeit im Zeit-Raum der Gegenwart
3. Mit Kant über Kant hinaus: Die Existenz kategorialer Apparate
4. Drei sich ergänzende chrono-ontologische Portraits unserer Welt
5. Das Ideal zwingender Beweise im faktischen Wirklichkeitsaspekt
6. Die Eckpfeiler der Theorie eines autogenetischen Universums
Ein neues Bild der Natur
7. Die iterative Selbstentfaltung von Materie, Leben und Geist
8. Quantenreduktion und schwarze Löcher als inverse Übergänge
9. Die phylo- und ontogenetische Selbstkonstitution des Lebendigen
10. Bewusstsein und Geist als weitere Stufen emergenter Selbstentfaltung
11. Eine vereinheitlichte Theorie der Strukturbildungsprozesse
12. Die borromäische Topologie einer neuartigen Modest ToE
Ein neues Bild des Menschen
13. Ort und Würde des Menschen in einem autogenetischen Universum
14. Ein neuer Blick auf unser Denken und das Phänomen der Vernunft
15. Die Logik des Konstellativen als Stärke der natürlichen Sprache
16. Die konstitutive Unentscheidbarkeit der Frage nach der Freiheit
17. Die Erfahrung des Guten und Schönen, des Glücks und von Sinn
18. Umrisse einer neuen Ethik der konstellativen Selbstentfaltung
Eine menschheitsgeschichtliche Ortsbestimmung
19. Der großartige, aber selbstimmunisierende Wurf des Aristoteles
20. Das Facticity Imprisonment unseres Denkens und seine Folgen
21. Zeit als Entzug und das Streben nach Macht, Besitz und Kontrolle
22. Eine Rekonstruktion der zivilisatorischen Selbstgefährdungsspirale
23. Zur Komplementarität von künstlicher und natürlicher Intelligenz
24. Die Konvergenz von Ethik und Eigennutzen als einmalige Chance
Die Komplexitätsfalle und ihre Überwindung
25. Die Komplexitätsfalle als zusätzliche Herausforderung
26. »Cognostics« als neue Form der Erforschung menschlichen Denkens
27. Vier wichtige Ergebnisse und ein neues Verständnis von Denken
28. Der nächste Schritt in der Evolution menschlicher Denkfähigkeit
29. Neue Horizonte für Medizin, Erziehung, Strategie und Demokratie
30. Neue Zielgrößen und Instrumente für Wirtschaft und Politik
Die Umrisse einer globalen Kurskorrektur
31. Die Notwendigkeit einer menschheitsgeschichtlichen Kurskorrektur
32. Die Idee der Menschenwürde als unverhandelbarer Ausgangspunkt
33. Joint Option Space Unfolding als fraktales Handlungsparadigma
34. Ein vierdimensionaler Verhaltenskodex als neuer Ordnungsrahmen
35. Globaler Dialog, ökonomische Anreize und militärisches Back-up
36. Die Neugestaltung des Nord-Süd-Verhältnisses als Lackmustest
Chance und Verantwortung Europas
37. Die Rolle und Verantwortung Europas in den kommenden Jahrzehnten
38. Der Niedergang und die Wiedergeburt des europäischen Projekts
39. Eine 3-Ebenen-Architektur mit Auf- und Abstiegsmöglichkeiten
40. Europa als Pionier einer partizipatorischen Weltinnenpolitik
41. Die Nutzung der Vielfalt: Europa als Lern- und Innovationslabor
41.1. Die Notwendigkeit integrierter Politikkonzepte
41.2. Die Theorie archimedischer Gestaltungspunkte
41.3. Die Neuausrichtung der Bildungspolitik
41.4. Die Neuausrichtung der Wirtschafts- und Innovationspolitik
41.5. Die Neuausrichtung der Demokratie und des öffentlichen Sektors
41.6. Die Neuausrichtung der Innen-, Justiz- und Migrationspolitik
41.7. Die Neuausrichtung der Haushalts-, Steuer- und Abgabenpolitik
41.8. Die Neuausrichtung der Gesundheits-, Sozial- und Umweltpolitik
42. »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«
Philosophische Zwischenbemerkung vor dem dritten Durchgang
Übersicht zum dritten und ausführlichsten Durchlaufen der neuen Sicht von Zeit und Wirklichkeit
I. Die kategoriale Grundlegung eines Denkansatzes, in dem Fakten »nur« die Spuren des Wirklichkeitsgeschehens sind
I.a. Die Existenz und Bedeutung kategorialer Apparate, die unser Denken sowohl ermöglichen wie auch limitieren
I.b. Die drei sich ergänzenden chrono-ontologischen Portraits eines autogenetischen Universums und die Logik des Konstellativen
I.c. Gegen-Wart als der Zeit-Raum und der Modus der konstellativen Selbst-Entfaltung eines autogenetischen Universums
II. Ein erweitertes und vertieftes Verständnis der Natur
II.a. Quantenphysik und Relativitätstheorie als Beschreibungen unterschiedlicher chrono-ontologischer Portraits
II.b. Von einer vereinheitlichten Theorie der Strukturbildung zur Rekonstruktion der Phylo- und Ontogenese des Lebendigen
II.c. A Modest ToE: Eine offene, aber kohärente Theorie der iterativen Selbst-Entfaltung von Materie, Leben und Geist
III. Ein neues Bild des Menschen
III.a. Die entscheidenden Charakteristika des menschlichen Geistes sowie die Gründe und Folgen ihres derzeitigen Übersehen-Werdens
III.b. Die modulare Grundstruktur menschlichen Denkens und dessen Verhältnis zur natürlichen Sprache
III.c. Von einer neuen Selbst-Verortung des Menschen und seiner Aufgabe zum Ethos des Joint Option Space Unfolding
IV. Von der Rekonstruktion der Krise unserer Zivilisation zur Perspektive einer menschheitsgeschichtlichen Kurskorrektur
IV.a. Von der post-sokratischen Symmetriebrechung zum zunehmenden Facticity Imprisonment unseres Denkens
IV.b. Die lange Geschichte und die Gründe des Scheiterns der Suche nach einem reicheren Zeit- und Wirklichkeitsbegriff
IV.c. Von der Explosion unserer instrumentellen Machtfülle und der Spirale zivilisatorischer Selbstgefährdungen zu den Umrissen einer menschheitsgeschichtlichen Kurskorrektur
V. Das neue Forschungsgebiet »Cognostics« und die Aufgabe, Komplexität zu bewältigen und Prozesse der konstellativen Selbstentfaltung mitzugestalten
V.a. Von den theoretisch-konzeptionellen Grundlagen zu neuen methodologischen Ansätzen für erfolgreiches Handeln
V.b. Das neue Forschungsgebiet »Cognostics« und eine visuelle Denksprache als »Dampfmaschine« für das Zeitalter explodierender Komplexität
V.c. Weitere Cognostics-Module und zwei Beispiele für konkrete Anwendungen
VI. Die Notwendigkeit einer zivilisationsgeschichtlichen Kurskorrektur und warum sie am ehesten von Europa initiiert werden kann
VI.a. Von der Selbstgefährdungsspirale unserer Zivilisation über die Rolle und Verantwortung Europas zu einer »Partitur« der Erneuerung
VI.b. Eine weiterentwickelte Begründung sowie neue Gestaltungsprinzipien und Prozeduren für das Projekt der Einigung Europas
VI.b.1. Die Menschenwürde als Grundwert und dessen spezifische Ausprägung in Europa
VI.b.2. »Europäisch-ordoliberale Subsidiarität« (EOS) als fraktales Gestaltungsprinzip des zukünftigen Europa
VI.b.3. Vom heutigen One Size Fits All zu einer flexiblen 3-Ebenen-Architektur
VI.b.4. Neue, faszinierende Formen der demokratischen Partizipation
VI.b.5. Vier neue methodologisch-politikhandwerkliche Ansätze für Zeiten hoher Komplexität und raschen Wandels
VI.c. Zwei integrierte Politikkonzepte, zum einen für die binnenpolitische Erneuerung Europas und zum anderen für den Aufbau eines neuen globalpolitischen Ordnungsrahmens
VI.c.1. Die binnenpolitische Erneuerung Europas
VI.c.2. Europa als Proponent und Katalysator einer partizipatorischen Weltinnenpolitik
Authentische Gegen-Wart als Weg zu Weisheit und Glück
On the Author
Über das Buch
Personenregister
Bildnachweis
Abbildung 1
Meinen vier KindernTiziana, Raphael, Maximilian und Constantin sowie ihrer ganzen Generation gewidmet, denn sie werden die anstehenden Kurskorrekturen im Wesentlichen umsetzen müssen
Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.
Albert Einstein
Vernunft ist die Fähigkeit, ein Ganzes als Ganzes wahrzunehmen.
Carl Friedrich von Weizsäcker
It is quite likely that the 21st century will reveal even more wonderful insights than those we have been blessed with in the 20th. But for this to happen, we shall need powerful new ideas, which shall take us in directions significantly different from those currently being pursued. Perhaps what we mainly need is some subtle change in perspective – something that we all have missed …
Roger Penrose
Der Versuch, das Ganze als Ganzes noch mal neu zu denken, kann nichts anderes sein als work in progress. Aus diesem Grund versuchen wir, die Momentaufnahme des gedruckten Textes mit Möglichkeiten des interaktiven Nach- und Weiterdenkens zu verbinden. Über diesen QR-Code kommt man in einen »Denkraum«, in dem die einzelnen Themen kommentiert und vertiefend weiter diskutiert werden können. Die Hoffnung ist, dass auch dort die im Folgenden vorgestellte Kombination einer sprachbasierten Wiedergabe von Überlegungen mit einer die Orientierung erleichternden visuellen Repräsentation der wichtigsten Schritte des jeweiligen Gedankenganges aufgenommen und weiter genutzt werden kann.In dem »Denkraum« sind sämtliche Abbildungen aus dem Buch in höchster Qualität der Darstellung nochmal zugänglich gemacht.
Eine Vorbemerkung in vier Schritten
Das Verständnis von Zeit prägt unser gesamtes In-der-Welt-Sein, und es formt unseren Umgang mit der Wirklichkeit. Zugleich gibt es von der Physik bis zur Philosophie kein zweites Phänomen, das allem wissenschaftlichen Fortschritt zum Trotz so rätselhaft geblieben wäre, wie die Zeit.
Den Kern dieses Rätsels bildet das Phänomen der Gegenwart. In dem heute vorherrschenden Zeitverständnis wird die Gegenwart auf einen ausdehnungslosen Punkt reduziert, der eigentlich nur die Funktion hat, eine nicht mehr anwesende Vergangenheit von einer noch nicht anwesenden Zukunft abzugrenzen.
Die Kernthese dieses Buches ist, dass es sich hierbei um einen viel zu engen und sehr einseitigen Zeitbegriff handelt. Dieser führt zu einer Vielzahl von Folgeproblemen, die in ihrem Erscheinungsbild völlig verschieden, aber über die Einseitigkeit des ihnen zugrunde liegenden Zeitbegriffs direkt miteinander verbunden sind.
Es handelt sich dabei um wissenschaftsimmanente Probleme, wie z. B. das bisherige Scheitern aller Versuche, den fundamentalen Widerspruch in den Grundlagen der modernen Physik, d. h. die Unvereinbarkeit von allgemeiner Relativitätstheorie und Quantenphysik, zu überwinden. Dreh- und Angelpunkt sind hier zwei in ihrer fundamentalen Unterschiedlichkeit bislang noch nicht thematisierte Portraits der Zeit.
Es handelt sich aber auch um ganz pragmatische Probleme, wie den Versuch, kausal zu steuern, wo man eigentlich Prozesse der Selbstentfaltung behutsam mitgestalten müsste. Ein weiteres Beispiel ist die weit verbreitete Überbetonung von Macht, Besitz und Kontrolle. Alle drei sind Formen der Aneignung und des Festhaltens und Versuche, sich der fälschlicherweise rein als Entzug wahrgenommenen Zeit zu widersetzen. Die jüngste und gefährlichste Konsequenz dieses Irrwegs ist die Selbstgefährdungsspirale, in der sich die moderne Zivilisation derzeit verfangen hat.
Auch hinsichtlich unseres Selbstverständnisses als Menschen gibt es grundlegende Probleme, die z. B. auch in der Schwierigkeit sichtbar werden, den fundamentalen Unterschied von menschlicher Kognition und künstlicher Intelligenz zu erkennen. Der verengte Zeitbegriff verstellt uns die Erkenntnis des vielleicht wichtigsten Aspektes menschlicher Kognition: In unserem Gegenwärtig- bzw. Anwesend-Sein erlangt unser gesamtes Universum eine fundamental neue Qualität. Da wir Teil des Wirklichkeitsgeschehens unseres Universums sind, schlägt dieses in unserem Gegenwärtig- bzw. Anwesend-Sein gleichsam seine Augen auf und beginnt, seiner selbst gewahr zu werden. Diese radikal neue Qualität des Ganzen ergibt sich in jedem einzelnen Menschen – und begründet damit zugleich seine unendliche Würde.
In tragischer Weise verbaut uns der Verlust der Gegenwart auch die Wahrnehmung des concertus mundi, d. h. der sich ständig aufs Neue ergebenden Selbstentfaltung der Wirklichkeit – so wie sie sich im Zeit-Raum der Gegenwart und nur dort ergibt. Alle Erfahrung von Sinn und Schönheit wurzeln in der Wahrnehmung dieser Selbstentfaltung – die sich in und aus der Konstellation des Anwesenden heraus ereignet.
Das vorliegende Buch ist eine Einladung, das Phänomen der Zeit, unser Verständnis davon, wie sich Wirklichkeit zuträgt, sowie uns selbst und die Muster unseres Handelns noch einmal von Grund auf neu zu denken.
Die Aufgabe dieser kleinen Vorbemerkung ist es, schon einmal einen ersten Eindruck davon zu vermitteln, worum es geht und wie das Thema behandelt wird. Bei den vier Schritten geht es a) um einige der zentralen Thesen des Buches, b) um die teilweise neue Form ihrer Darstellung, c) um den Grund, warum sehr grundsätzliche philosophische Überlegungen mit praktischen Handlungsempfehlungen für die Politik verbunden werden, sowie d) um den Zusammenhang der Überlegungen mit ganz konkreten Herausforderungen der Corona-Zäsur.
I. Von tempus fugit zu tempus donat
Bislang reduzieren wir die Zeit im Wesentlichen auf ihre sequenzielle Struktur. So wird sie zum »Zahn der Zeit« bzw. zum alles zermalmenden Mahlstrom.
Zeit lässt sich jedoch auch genau umgekehrt denken und wahrnehmen. Dann wird das Phänomen der Gegenwart zum Dreh- und Angelpunkt von Zeit. Alles »ergibt sich« im Zeit-Raum der Gegenwart. Er ist gleichsam der Ballsaal, in dem das Konzert der Wirklichkeit überhaupt erst erklingen kann.
Den sequenziellen Aspekt der Zeit gibt es hier natürlich auch noch, aber eben als eine abgeleitete, als eine sekundäre Erscheinungsform von Zeit. Indem die Wirklichkeit sich – in und aus der Konstellation des im Zeit-Raum der Gegenwart Anwesenden heraus – ergibt, entstehen Fakten. Sie sind gleichsam die Spuren, die das concertus mundi auf der Leinwand der lokalen Raumzeit hinterlässt. Diese strukturierte Leinwand entsteht ihrerseits erst dadurch, dass sich Fakten auf ihr »verewigen«. Fakten aber sind gleichsam nur »die Auspuffgase«, die Hinterlassenschaften, die das eigentliche Wirklichkeitsgeschehen ständig aufs Neue hervorbringt, indem es sich vollzieht.
Der heute so sehr in den Vordergrund gerückte sequenzielle Zeitaspekt ist eigentlich nur die Schnur, auf der sich Fakten, d. h. schon vergangene Geschehnisse, wie Perlen auffädeln lassen. Indem wir die Zeit auf ihren sekundären, sequenziellen Aspekt und – Hand in Hand damit – die Wirklichkeit auf Fakten, d. h. auf ihre »Auspuffgase« reduzieren, verpassen wir das Beste: die Selbstentfaltung der Wirklichkeit im Zeit-Raum der Gegenwart.
Tempus donat. Sichtbar wird hier ein völlig anderes Bild der Zeit: Die Zeit schenkt uns das ständig neue Sich-Ereignen der Wirklichkeit, das sich im Zeit-Raum der Gegenwart als konstellative Selbstentfaltung des Anwesenden zuträgt.
Noch zwei kleine Anmerkungen zu dem erweiterten Verständnis von Zeit und Wirklichkeit, das hier nur ganz kurz und intuitiv skizziert werden soll:
(1) Es geht hierbei um etwas ganz anderes als die häufig zu hörende Empfehlung, doch bitte mehr »im Hier und Jetzt« zu leben. Bei dieser gut gemeinten Aufforderung wird die Zeit nämlich implizit immer noch – und sogar besonders intensiv – von ihrem rein sequenziellen Aspekt her gedacht.
(2) Es geht auch nicht nur um eine neue philosophische Theorie der Zeit. Erst indem wir die Zeit von Grund auf neu denken, lässt sich das grundlegendste Problem der modernen Naturwissenschaften, die Unvereinbarkeit von Quantenphysik und allgemeiner Relativitätstheorie, überwinden.
Während die relativistische Physik auf dem sequenziellen Zeitaspekt beruht, beschreibt die Quantenphysik das ursprüngliche, prä-sequenzielle (bzw. »nicht-lokale«) und damit auch prä-kausale Sich-Ereignen der Wirklichkeit. Dies höchst interessante Ergänzungsverhältnis konnten wir bislang jedoch nicht verstehen – aufgrund unseres strukturell verengten Zeitbegriffs.
Bis heute ist die moderne Physik von dem Versuch geprägt, mittels immer neuer mathematischer Tricks eine Sichtweise der jeweils anderen zu unterjochen. Entweder sollen unterhalb der quantenphysikalischen Beschreibung hidden variables eingeführt werden – und hierzu gehören auch die philosophisch gesehen abgründigen »Many Worlds«-Ansätze. Oder aber man versucht, in genau umgekehrter Stoßrichtung, die Gravitation zu quantisieren. Beide sind von vorneherein zum Scheitern verurteilte Bemühungen.
Die beiden Theorien enthalten sogar schon in ihrer heutigen Form eine Beschreibung des Übergangs in die jeweils andere »chrono-ontologische« Verfasstheit: Der Kollaps der Wellenfunktion beschreibt den Übergang aus dem ursprünglichen Modus des Sich-erst-noch-Ereignens in den faktischen Wirklichkeitsmodus bzw. in die lokale Raumzeit. Die Singularitäten der allgemeinen Relativitätstheorie beschreiben die Rückkehr aus dieser vollständig geordneten Verfasstheit von Zeit und Wirklichkeit in ihren ursprünglichen, primordialen Zustand des Sich-Ereignens. Es handelt sich dabei also um nichts anderes als um die inversen Übergänge zwischen den beiden oben skizzierten, höchst unterschiedlichen Portraits von Zeit und Wirklichkeit.
Dieses Um- und Neudenken von Zeit und Wirklichkeit betrifft dann auch die beiden anderen großen offenen Fragen der Naturwissenschaften: Was ist Leben, und wie entstehen aus ihm Bewusstsein und Selbstbewusstsein?
Aus der neuen Perspektive werden Leben und Bewusstsein als jeweils iterativ höhere Formen des ursprünglichen Sich-Ereignens von Wirklichkeit beschreibbar. Aus der Selbstentfaltung der physikalischen Wirklichkeit geht ab einer bestimmten Komplexität und als genuin neue Qualität das Phänomen des Lebendigen hervor. Hier erst zeigt sich rückwirkend, was aus Materie alles hervorgehen kann. Das Gleiche gilt dann nochmals zunächst für das Hervorgehen des Phänomens des Bewusstseins aus dem des Lebendigen – und abschließend nochmals für das Hervorgehen von Selbstwahrnehmung und der Welt des Geistigen aus dem Phänomen des Bewusstseins.
Insgesamt ergibt sich hier also so etwas wie eine Modest ToE (Theory of Everything), eine kohärente Beschreibungsmöglichkeit des gesamten Wirklichkeitsgeschehens. Dies jedoch nicht im Sinne einer abgeschlossenen, deterministischen, sondern in Form einer explizit zukunftsoffenen und konstitutiv unvollständigen Theorie. In dieser neuen Sichtweise bilden auch die teilweise Erklär- und die irreduzible Wunderbarkeit keine Gegensätze mehr. Sie vertiefen und bereichern sich vielmehr wechselseitig.
Damit aber kommen wir zurück zur Philosophie. Unmittelbar aus der Wahrnehmung der Selbstentfaltung des Wirklichkeitsgeschehens unserer Welt bzw. der Tatsache, dass wir uns in einem autogenetischen Universum vorfinden, gehen drei weitere neue Perspektiven bzw. Grundhaltungen hervor:
Dabei handelt es sich zunächst um »dankbare Achtsamkeit«. In und gegenüber einem sich selbst ständig aufs Neue weiterentfaltenden Wirklichkeitsgeschehen ist dies die einzig sinnvolle Grundhaltung.Sie geht Hand in Hand mit einem neuen Selbstverständnis des Menschen. Der Mensch wird jetzt als der Ort erkennbar, an dem das Wirklichkeitsgeschehen unseres Universums gleichsam seine Augen aufzuschlagen und sich selbst wahrzunehmen beginnt. Damit aber erlangt das gesamte Wirklichkeitsgeschehen unseres Universums eine fundamental neue Qualität und Dignität. Und genau diese grundlegend neue Qualität, die sich in jedem einzelnen Menschen nochmals aufs Neue ergibt, ist die Begründung der Idee einer unendlichen und inkommensurablen Würde jedes einzelnen Menschen. Die Idee der Menschenwürde wird somit erstmals auch direkt aus den Naturwissenschaften ableitbar – und damit der Willkür von Despoten entzogen, die sich bislang ja so gerne auf »historisch-kulturelle Unterschiede« berufen.Zugleich ergibt sich ein grundlegend neues Verständnis der Art und Weise, wie wir sinnvoll und erfolgreich handeln können bzw. sollen: Vom menschlichen Miteinander oder der Bildung und Erziehung unserer Kinder bis hin zu Wirtschaft und Politik geht es um eines: die von Achtsamkeit und Dankbarkeit geprägte Förderung und Mitgestaltung der weiteren Selbstentfaltung unserer Welt.Was die Unterstützung und Förderung menschlichen Denkens anbetrifft, so geht es im Wesentlichen darum, uns die konstellative Selbstentfaltungsdynamik des jeweils betrachteten Zusammenhangs bewusst vor Augen zu führen, um sie dann kongenial mitgestalten zu können. Dies erfordert mehr als die heute schon sehr gut entwickelten Fähigkeiten zum »analytischen Drill-Down«, also dem, was man philosophisch als »Verstand« bezeichnet. Es erfordert auch die komplementäre Fähigkeit der »Vernunft«, die man mit dem Physiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker als die Fähigkeit interpretieren kann, ein Ganzes als Ganzes wahrzunehmen und zu gestalten.
Der derzeitige Entwicklungszustand der Menschheit muss, von der kognitiven Evolution her gesehen, wohl eher noch als eine Art »homo instrumentalis« gekennzeichnet werden.
Auf der Grundlage unseres bislang sehr einseitigen Verständnisses von Zeit und Wirklichkeit hat sich unsere Fähigkeit, den faktischen Wirklichkeitsaspekt mit den Mitteln der Technik zu beherrschen, schon sehr gut entwickelt. Wir gleichen jedoch dem Zauberlehrling aus Goethes gleichnamigem Gedicht: Wir werden der Geister, die wir riefen, nicht mehr Herr.
Der große Unterschied zu Goethes Gedicht besteht jedoch vermutlich darin, dass heute wohl kein Meister bereitsteht, der uns aus der Spirale wachsender zivilisatorischer Selbstgefährdungen befreien könnte.
Das müssen wir schon selbst schaffen – und vielleicht bzw. hoffentlich ist das hier skizzierte Um- und Weiterdenken ein Schritt in diese Richtung.
Insgesamt geht es heute um den faszinierenden Schritt vom »homo instrumentalis« zu einem wirklichen »homo sapiens«. Angesichts unserer heutigen wissenschaftlich-technischen Machtfülle könnte es sogar sein, dass dieser Schritt zur Voraussetzung unseres Überlebens als Spezies geworden ist.
II. Rapide zunehmende Komplexität und immer rascherer Wandel als zentrale Charakteristika und Herausforderungen unserer Epoche sowie zwei methodologische Ansätze, damit besser zurechtzukommen
Unsere Epoche ist durch zwei nicht ganz einfach erkennbare, aber extrem relevante Phänomene gekennzeichnet, die auch noch eng miteinander zusammenhängen. Dabei handelt es sich zum einen um eine sich selbst beschleunigende Zunahme der Komplexität der meisten politischen, wirtschaftlichen und technologischen Zusammenhänge, in denen wir agieren. Zum anderen geht es um die Geschwindigkeit des Wandels, die sich ebenfalls selbst immer mehr beschleunigt.
Beide Phänomene sind unmittelbare Folgen der konstellativen Selbstentfaltung der Wirklichkeit. Zumindest in einer Hinsicht handelt es sich bei der zivilisatorischen um eine Fortsetzung der biologischen Evolution: Auch in Politik, Wirtschaft und Technologie gilt, dass anpassungsfähigere Systeme mit einem reicheren Verhaltensspektrum sehr häufig einen relevanten Selektionsvorteil haben.
Das Prinzip des Survival of the Fastest kommt in Evolutionsprozessen so lange noch nicht besonders zur Geltung, wie das allgemeine Tempo des Wandels noch relativ gering ist. Je höher jedoch das schon erreichte Tempo des Wandels ist, desto größer wird die Bedeutung dieses Selektionskriteriums.
In weiten Teilen von Politik, Wirtschaft und Technologie haben wir in den letzten ca. 30 Jahren einen Grad der Komplexität der Sachverhalte und ein Tempo des Wandels erreicht, denen unsere herkömmlichen Denk- und Handlungsmodelle nicht mehr gewachsen sind.
Die ebenfalls nicht ganz einfach zu erkennende Folge davon ist eine Art »strukturelle Handlungsunfähigkeit«, die besonders hinsichtlich der langfristig-strategischen Herausforderungen unserer Epoche zu beobachten ist. In gewisser Weise gleichen die Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik zunehmend einem Busfahrer, der bei abnehmender Bremsleistung und hereinbrechender Dunkelheit sein Gefährt eine immer steiler werdende Passstraße hinuntersteuern muss.
Die Metapher der zunehmenden Dunkelheit steht dabei für eine abnehmende Fähigkeit, die Zukunft einschätzen zu können. Nicht nur werden die Herausforderungen immer größer, sie kommen auch in immer schnellerer Folge und mit abnehmender Antizipierbarkeit auf uns zu. Das Einzige, was uns in dieser prekären Situation noch retten kann, sind erstens eine ungeschönte Erkenntnis der fatalen Dynamik, in der wir uns befinden, und zweitens grundlegend weiterentwickelte Denk- und Handlungsmuster. In Politik, Wirtschaft und Technologie brauchen wir ganz neue Methoden für das Verstehen und Gestalten von immer komplexeren und sich immer rascher verändernden Zusammenhängen.
Die beiden vielleicht wichtigsten Innovationen in dieser Hinsicht hängen ebenfalls wiederum eng miteinander zusammen. Es handelt sich dabei erstens um den Übergang von rein linear-kausalen Betrachtungen zur zusätzlichen, bewussten Wahrnehmung und Gestaltung von konstellativen Entfaltungsprozessen. Lineare Kausalbeziehungen sind wie einzelne Fäden. Oft aber kommt es vielmehr auf eine Betrachtung und Beurteilung des Gewebes an, dessen Teil die einzelnen Fäden sind. Ursache für die Notwendigkeit einer derartigen kognitiven Pauschalbetrachtung ist unsere sehr limitierte »Werkbank des Denkens«, das sogenannte Arbeitsgedächtnis. Es ist bei Weitem nicht in der Lage, sich bei komplexen Sachverhalten alle einzelnen Fäden und die Art und Weise ihrer Verwobenheit gleichzeitig gedanklich vor Augen zu führen. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit nicht auf die Aggregatebene des Gewebes richten, bleiben wir zwar maximal präzise im Detail, aber wir verstehen den Gesamtzusammenhang nicht mehr. Die erste zur Bewältigung hochkomplexer Sachverhalte notwendige Veränderung ist also das Erlernen der Fähigkeit, Konstellationen und Prozesse der konstellativen Selbstentfaltung als solche wahrzunehmen und sie »dialogisch mitzugestalten«. Bei Letzterem handelt es sich um ein grundlegend anderes Handlungsmodell als das mechanistisch-deterministische Eingreifen in lineare Kausalketten.
Die zweite grundlegende Erweiterung unseres Verhaltensrepertoires betriff unsere Denktätigkeit. Das Verstehen und Gestalten komplexer Sachverhalte erfordert fast immer auch Gedankengänge von einer gewissen Komplexität. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass mehrere einzelne, qualitativ unterschiedliche Denkschritte sich zu einer sinnvollen Gesamtarchitektur eines Gedankenganges ergänzen und ineinandergreifen müssen.
Wir sind schon sehr gut darin, die Bedeutung einzelner Wörter und auch ganzer Sätze zu beachten und sie sehr gekonnt einzusetzen. Hinsichtlich der bei komplexen Sachverhalten neu hinzukommenden und zumindest ebenso wichtigen »architektonischen Meta-Ebene« des Denkens sind wir bislang jedoch nahezu blind. Wer ist schon spontan dazu in der Lage, z. B. nach einem als sehr interessant und wichtig empfundenen Vortrag kurz und präzise wiederzugeben, welche Argumente in welcher Verknüpfung vorgetragen wurden und zu den jeweiligen Schlussfolgerungen geführt haben. Genau auf diese »architektonische Meta-Ebene« des Denkens kommt es jedoch bei der Bewältigung komplexer Sachverhalte zumindest ebenso an wie auf ein korrektes Verständnis der einzelnen Wörter und Sätze.
Der entscheidende Schritt ist hier das visuelle Sichtbarmachen der jeweiligen »Architektur des Gedankenganges«, der sogenannten Reasoning Architecture. Unser Sehsinn ist wesentlich besser in der Lage, komplexe Informationen – wie eine derartige Gedanken-Architektur sie darstellt – parallel zu verarbeiten, als unsere rein linear-sequenziell strukturierte Sprache.
Meine Vermutung ist, dass die Einführung und die selbstverständliche Nutzung von Visual Reasoning Architectures (VRAs) den nächsten großen – zur Bewältigung hoher Komplexität dringend erforderlichen – Schritt in der evolutionären Weiterentwicklung unserer menschlichen Denkfähigkeit darstellen werden.
Mit ein bisschen Übung erlauben gute VRAs es oftmals sogar, den Inhalt von Aufsätzen und sogar ganzer Bücher in nur eine einzige Grafik zu komprimieren. Sie können uns also unglaublich viel Zeit sparen, sowohl beim Aufzeichnen von komplexeren Überlegungen wie auch bei deren Rezeption. Zugleich erhöhen VRAs die Memorisierbarkeit anspruchsvoller Gedankengänge. Wenn man ein wichtiges und interessantes Buch gelesen hat, so kann man trotzdem nach zwei bis drei Monaten im Regelfall zwar noch einige wichtige Schlussfolgerungen, aber fast nie die entscheidenden Gedankengänge wiedergeben.
Hat man sich hingegen ca. zehn Minuten mit einer VRA auseinandergesetzt, in der die entscheidenden Denkschritte und die Architektur des Gedankenganges visuell repräsentiert sind, so kann man diese oft noch nach Jahren wiedergeben. Ursache dafür ist unser sehr gut ausgeprägtes visuelles Gedächtnis – und dass wir nunmehr auch unseren Gesichtssinn ganz gezielt für komplexe Denkprozesse einsetzen.
In dem gesamten vorliegenden Buch greife ich deshalb, komplementär zum Text, immer auch auf VRAs zurück – und möchte die soeben durchlaufene Argumentation über die Wichtigkeit der architektonischen Meta-Ebene bei der Bewältigung komplexer Sachverhalte auch gleich noch einmal in einer derartigen VRA zusammenfassen. (Weil die englische Sprache oftmals Sachverhalte etwas knapper auszudrücken erlaubt, wird sie in vielen VRAs verwendet.)
Short Introduction to the Rationale and Effects of Visual Reasoning Architectures
A very simple and straight forward methodology for supporting and further unfolding our innate thinking skills in mastering complex issues
Neben dieser ersten und sehr einfachen Form von VRAs, bei der nur die Inhalte der einzelnen Argumentationsschritte wiedergegeben werden, gibt es noch eine zweite, wesentlich anspruchsvollere Version. Dort wird dann auch die »Binnenstruktur« der einzelnen, wie erwähnt, oftmals qualitativ sehr unterschiedlichen und verschiedenen kognitiven Zwecken dienenden Denkschritte wiedergegeben, und somit werden auch sie in aktiv nach- und weiterdenkbarer Form repräsentiert. Während wir normalerweise in rein schriftbasierten Dokumenten den ursprünglichen, gleichsam »dreidimensionalen Wissensraum« auf eine gleichsam »zweidimensionale Information« reduzieren (bzw. »platt machen«), wird hier erstmals »Wissen als Wissen«, also Erdachtes in seinen »gedanklichen Bewegungsmöglichkeiten«, d. h. in aktiv nach- und weiterdenkbarer Form erhalten und aufbewahrt.
Erforderlich hierfür ist eine Visual Reasoning Language, welche eben auch die Binnenarchitektur und -dynamik der einzelnen Denkschritte zu veranschaulichen erlaubt. Hier sehen wir dann z. B., dass, warum und in welcher Hinsicht ein Vergleich von Handlungsoptionen einen ganz anderen Denkschritt darstellt, d. h. ganz anders »funktioniert«, als beispielsweise die Erstellung von Handlungsoptionen aus der Betrachtung des jeweiligen Handlungsspielraumes heraus. Im Verlauf der weiteren Argumentation werden wir uns dieser zweiten, noch wesentlich aufwendigeren, aber dementsprechend auch leistungsfähigeren Form von VRAs noch detailliert zuwenden. Sie sollten hier nur abschließend schon einmal erwähnt und in ihrem Aufbau grob skizziert werden.
EIDOS as a Visual Reasoning Language enabling more precise and more innovative forms of thinking and decision making
Based on decades of studying how the brain copes with complexity, it became possible to decipher the “DNA” of complex problem solving and to develop a visual reasoning language. Complex thinking processes can now be de-aggregated into their individual steps and re-aggregated into highly transparent, interactively re-thinkable reasoning architectures.
Abbildung 2
All complex thinking processes consist of several, functionally interrelated reasoning steps. With the novel approach, all the important steps of a complex reasoning process can be identified and visualized. By recombining them again into overarching reasoning architectures, an unprecedented level of clarity, speed and innovativeness can be reached in human thinking. In addition, it becomes possible to capture not only the results, but the actual thinking process, i.e. to teach and pass on not only information but real knowledge.
III. Die Verbindung einer grundlegenden philosophischen Argumentation mit ganz konkreten politischen Überlegungen und Vorschlägen
Ich wurde häufig gefragt, ob es denn wirklich Sinn mache, die doch sehr aktualitätsbezogenen europapolitischen Überlegungen und Empfehlungen an die doch eher grundlagentheoretische und somit »überzeitliche« Argumentation dieses Buches anzuhängen.
Ich bin für diesen Einwand dankbar, halte ihn für sehr berechtigt – und habe mich dennoch dazu entschieden, ihm nicht zu folgen.
Im Wesentlichen gibt es dafür zwei Gründe:
Erstens scheint mir die aktuelle Selbstgefährdung der Menschheit existenzielle Ausmaße erreicht zu haben und zugleich eine unmittelbare Folge der Einseitigkeit der kategorialen Grundlagen unseres Denkens zu sein.Zweitens ergibt sich direkt aus den grundlagentheoretischen Überlegungen ein neuer »kategorischer Imperativ« für unser praktisches Handeln. Diesen kann man u. a. wie folgt formulieren: »Unterstütze die weitere Selbstentfaltung des Wirklichkeitsgeschehens, wo immer und so gut Du nur kannst!«Genau diesem Imperativ würde aber ein Ausklammern der politischen Implikationen der grundlegenden philosophischen Fragestellung diametral zuwiderlaufen.
Aufgrund der im Folgenden ebenfalls nur ganz kurz skizzierten Sachverhalte scheint mir die Erneuerung des Projekts der europäischen Einigung ein, wenn nicht sogar der Dreh- und Angelpunkt für die anstehende zivilisationsgeschichtliche Kurskorrektur zu sein. Diese aber ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass unsere Spezies die bislang sehr einseitige, fast explosionsartige Ausweitung unserer instrumentellen Machtfülle überlebt.
Damit zu der konkreten Problemstellung. Eigentlich stehen im 21. Jahrhundert ein grundlegendes Umdenken und eine zivilisationsgeschichtliche Kurskorrektur an. Dabei geht es erstens um einen zügigen Abbau der Umweltzerstörung und zweitens um eine viel konsequentere Umsetzung der bislang größten kulturellen Errungenschaft der Menschheit, der Idee der Menschenwürde. De facto aber ist die Weltpolitik derzeit noch durch hochgradig dysfunktionale Verhaltensmuster der vier wichtigsten Akteure geprägt.
Eigentlich sind komplexe soziale Systeme darauf an- und ausgelegt, dysfunktionale Verhaltensmuster selbstorganisativ zu korrigieren. Diese Selbststeuerung funktioniert häufig meist dann nicht mehr, wenn sich zwei oder mehrere unterschiedliche problematische Tendenzen so überlagern, dass sie sich wechselseitig gegen die systemimmanenten, selbstorganisativen Korrekturmechanismen zu immunisieren beginnen.
Schauen wir uns diesen Effekt der selbstimmunisierenden und selbststabilisierenden Dysfunktionalität bei den vier globalpolitischen Akteuren an:
China legt einen immer bedrohlicheren Techno-Totalitarismus an den Tag. Dieser ist ein angstgetriebener Kampf der kommunistischen Staatspartei gegen die Freiheit des Menschen. Vor dem Hintergrund der Globalisierung und unter dem cäsaro-papistischen Xi Jinping beschränkt sich die Unterdrückung Andersdenkender dabei nicht mehr nur auf das eigene Land. Mit den Mitteln ökonomischer Abhängigmachung und gezielter Medienmanipulation wird nun versucht, geistige Freiheit auch im globalen Maßstab zu unterminieren.Ganz anders der Absturz der USAunter Trump. Hierbei handelt es sich um eine komplexitätsbedingte Implosion der Demokratie, die durch das jahrzehntelange Ignorieren der zentrifugalen Kräfte von Wissensökonomie und Globalisierung massiv gefördert wurde.Die aktuelle Lage von Russland erklärt sich aus der Überlagerung von machtpolitisch-agonalem KGB-Denken einerseits und den Selbstbereicherungsinteressen Putins und seiner Entourage andererseits. Ihr Zusammenwirken resultiert in einer ebenso rücksichtslosen wie geschickt implementierten, aber immerhin einigermaßen berechenbaren Machtpolitik.Bei Europa geht es um eine habituelle Schwäche. Sie resultiert aus der Überlagerung von großen Defiziten in der Architektur und Begründung Europas mit einem immer deutlicher werdenden Mangel an politischer Phantasie, Kreativität und Courage – leider vor allem auch aufseiten Deutschlands.(Für eine etwas detailliertere Beschreibung der misslichen Lage aller vier Akteure siehe nebenstehende Grafik.)
The Fatal Four
Zur derzeitigen Unfähigkeit aller vier globalpolitischen Akteure, die notwendige zivilisationsgeschichtliche Kurskorrektur auf den Weg zu bringen
Von diesen vier Akteuren hat m. E. am ehesten Europa – trotz seiner großen aktuellen Probleme – wenigstens eine gewisse Chance, sich aus eigener Kraft aus seiner misslichen Lage zu befreien und ein fundamentales Umdenken sowie die überlebensnotwendige zivilisatorische Kurskorrektur noch rechtzeitig auf den Weg zu bringen.
Gelingt dies nicht, könnten schlimmstenfalls einer oder mehrere der drei anderen Akteure – aus ihrem jeweiligen Weltbild heraus und machtpolitisch völlig konsequent – versucht sein, eine der zwei folgenden, gewaltbasierten Lösungen ins Auge zu fassen:
entweder durch eine militärisch flankierte Cyber-Decapitation eine Vormachtstellung zu erlangen und die anderen Akteure zu ökosparsamen Heloten zu machenoder aber gleich die Weltbevölkerung auf eine globalökologisch tolerable Größenordnung zu reduzieren (z. B. durch geeignete Pathogene, für die man selbst eine Impfung und/oder wirksame Medikamente vorbereitet hat).Beides wären beispiellose menschheitsgeschichtliche Katastrophen – und ich will niemandem derartige Überlegungen oder gar Pläne unterstellen. Es geht mir vielmehr darum, die verhängnisvolle Perspektive sichtbar zu machen, die ein Festhalten an einem rein machtpolitischen Denken mit sich bringen würde. Es ginge hier um nichts anderes als eine nächste, in sich völlig konsequente, aber noch fatalere Drehung der Selbstgefährdungsspirale der modernen Zivilisation.
Auch aus diesem Grund ist es so wichtig, dass wir uns aus den derzeitigen »Denkfallen« befreien, die aus unserem verengten Verständnis von Zeit- und Wirklichkeit resultieren. Was wir brauchen, ist ein fundamentales, d. h. ein bei den Grundlagen unseres Denkens ansetzendes Nach-, Um- und Weiterdenken, aus dem heraus sich dann auch ein neuer globalpolitischer Ordnungsrahmen entwickeln lässt.
Bei der Erneuerung des europäischen Projekts geht es also nicht nur um eine mehr oder weniger ephemere politische Problemstellung, sondern letztlich um die Frage, welche Chancen wir haben, den anstehenden menschheitsgeschichtlichen Schritt vom derzeitigen »homo instrumentalis« zu einem wirklichen »homo sapiens« zu schaffen oder nicht.
IV. Abschließend noch eine kurze Anmerkung zu dem Zusammenhang der vorliegenden Argumentation mit der Corona-Zäsur
Die meisten der in diesem Buch vorgetragenen Überlegungen und Vorschläge sind über die letzten Jahrzehnte hinweg, also schon lange vor der Corona-Krise entstanden. Wenn sie jedoch die Kernprobleme unserer heutigen zivilisations- und menschheitsgeschichtlichen Situation halbwegs richtig erfassen und mögliche Antworten darauf skizzieren sollten, dann stellt die Corona-Krise gleichsam eine einzigartige »Gegenprobe« dar.
Die Corona-Krise hat uns viele Probleme unserer Epoche nochmals in verdichteter Form vor Augen geführt. Schauen wir also ganz einfach, wie sich die zivilisationsgeschichtliche Zäsur, als die sich die Corona-Krise erweisen könnte, im Lichte der Theorie eines autogenetischen Universums verstehen lässt – und vor allem, welche Reaktionen und Antworten sich von dem soeben skizzierten Denkansatz her jetzt anbieten.
Der Virus ist entweder in einem nicht völlig unerwartbaren, aber in dieser spezifischen Form dennoch kontingenten Vorgang von einem Wildtier – möglicherweise mit einigen Zwischenschritten – auf den Menschen übergesprungen. Oder aber er kommt doch aus dem Labor in Wuhan, bei dem es sich mit seinen ca. 1500 Erregerstämmen um die größte Virusbank in Asien handelt. In diesem Falle gibt es wiederum drei Varianten. Erstens eine beabsichtigte Freisetzung, die ich aber für extrem unwahrscheinlich halte. Zweitens eine unbeabsichtigte Freisetzung eines dort nur aufbewahrten Virus, an dem aber noch keine Arbeiten durchgeführt worden waren. Drittens eine ebenfalls unbeabsichtigte Freisetzung des Virus, an dem aber schon gearbeitet wurde. Hier könnte man z. B. an einen unvorsichtigen Tierpfleger denken, der – um sich ein bisschen Geld dazuzuverdienen – ein Tier, an dem Virus-Experimente durchgeführt wurden, anstatt es weisungsgemäß zu töten, doch noch auf dem nahe gelegenen Tiermarkt in Wuhan verkauft hat.
Wenn sich die Frage, ob der Virus rein natürlichen Ursprungs ist, auch mit virologischen Methoden und/oder evolutionstheoretischen Argumenten nicht klären lässt – und auch kein Whistleblower auftaucht – , dann wird sie vermutlich auf Dauer unbeantwortet bleiben müssen.
Für unsere Betrachtung ist dieser Unterschied zwar interessant, aber nicht von zentraler Bedeutung. Selbst wenn der Virus rein natürlichen Ursprungs ist, legt er den unglaublich mächtigen, zugleich aber auch zutiefst ambivalenten Charakter der vom »homo instrumentalis« geschaffenen Artefakte – und unserer heutigen, darauf aufbauenden Zivilisation – schonungslos offen:
Nur aufgrund der weltumspannenden techno-ökonomischen Netzwerke konnte sich der Virus so rasch, so global und somit so fatal verbreiten.Nur aufgrund der neuesten mikrobiologischen Erkenntnisse und Technologien gibt es aus heutiger Sicht die berechtigte Hoffnung, dass sich relativ rasch wirksame Medikamente und Impfungen entwickeln lassen.Dennoch wurde die Weltwirtschaft noch nie zuvor so schockartig heruntergebremst, noch nie zuvor ist es zu einem derart flächendeckenden Einbruch der globalen Produktion von Gütern und Dienstleistungen gekommen. Wiederum aus heutiger Sicht zeichnen sich zunächst verschiedene mögliche Entwicklungen ab. So z. B. ein V-, U-, W- oder L-Szenario, je nach Form und Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Erholung.
Das L-Szenario etwa beschreibt einen lange nachwirkenden Niedergang, in dem verschiedene Destabilisierungen und Abwärtstrends so ineinandergreifen, dass sie sich wechselseitig verschärfen und verstetigen. Selbst die Auflösung vieler heute als selbstverständlich erscheinender gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen scheint dabei nicht völlig ausgeschlossen. Den katastrophalen Endpunkt dieser Entwicklungen würde die temporäre Vorherrschaft marodierender Banden bilden – wie nach der Pest.
Ich möchte diesen schwerpunktmäßig sozio-ökonomisch gedachten Szenarien noch ein weiteres, eher zivilisationsgeschichtlich gedachtes Szenario an die Seite stellen. Ich gehe dabei, jenseits von V, U, W oder L, von einem doch recht tiefen Einschnitt bzw. einem nachhaltigen Bruch mit den heutigen Lebensumständen, d. h. von einer zivilisationsgeschichtlichen Zäsur aus.
Genau in dieser Zäsur aber scheint mir auch eine einzigartige Chance zu liegen: Die Corona-Krise könnte sich dann als »ultimativer Weckruf« oder, weniger höflich formuliert, als ein gewaltiger »Tritt in den Hintern« erweisen.
Wenn man unser Universum von der Idee der Selbstentfaltung her denkt und dabei die Idee der Menschenwürde als die bislang größte menschheitsgeschichtliche Errungenschaft betrachtet, dann zeigt sich, dass die moderne, wissenschaftlich-technische Zivilisation sich stark in sich selbst verstrickt und deshalb auch weit von ihrem übergeordneten Ziel entfernt hat. Das eigentliche Ziel allen zivilisatorischen Fortschritts besteht darin, ein möglichst gutes und sinnerfülltes Leben für möglichst viele der heute und in Zukunft lebenden Menschen zu ermöglichen.
Genau von diesem Ziel aber sind wir inzwischen doch recht weit abgekommen, und so kann der zivilisationsgeschichtliche Einbruch der Corona-Krise zu einer Chance für die anstehende menschheitsgeschichtliche Besinnung und Neuorientierung werden. Entscheidend kommt es dabei aber darauf an, nicht nur Oberflächenphänomene zu betrachten. Was es braucht, ist ein gedankliches Durchdringen der Selbstgefährdungsspirale der modernen Zivilisation. Deren Ursache ist die bislang noch recht einseitige kognitive Disposition des »homo instrumentalis«: viel instrumentelle Macht, aber wenig Vernunft im Sinne von Einsichts-, Gestaltungs- und Verantwortungsfähigkeit im Umgang mit hochkomplexen Systemen.
Dieses grundlegende, nicht-akkusative Nach-, Um- und Weiterdenken wird nur dann in relevantem Umfang zustande kommen, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass und wie diese enorme kognitive Herausforderung erfolgreich bewältigt werden kann. Genau hierin bestünde die Aufgabe wirklich zeitgenössischer Philosophie – nur so käme die Philosophie dem hegelschen Diktum nach, »ihre Zeit in Gedanken erfasst« zu sein. Wie fehlbar und unzulänglich in der Durchführung auch immer, so stellt sich das vorliegende Buch jedoch zumindest genau diesem Anspruch.
Wie aber könnte die Corona-Zäsur zum Ausgangspunkt für so etwas wie eine Art »zweite Renaissance« werden? Die Renaissance des 14. und 15. Jahrhunderts ging ja schließlich auch aus den Wirren des Mittelalters hervor.
Natürlich wird viel von der spezifischen Dynamik der Probleme abhängen, die sich heute so gut wie gar nicht vorhersagen lässt. Und doch lassen sich vielleicht auch heute schon einige mögliche Weichenstellungen erkennen, die man rechtzeitig im Blick haben muss, um im Schlimmen das Schlimmste zu verhindern und einen gelingenden Neuaufbau zu ermöglichen.
Ich glaube, das A und O ist eine neue Kultur des Nachdenkens und der Besinnung. Diese aber wird, wie schon erwähnt, dann und nur dann zustande kommen, wenn sich eine Perspektive abzeichnet, das Geschehende verstehen und menschheitsgeschichtlich verorten zu können.
Gegen-Wart im Sinne authentischen Anwesend-Seins in der Welt und die dankbar-achtsame Erfahrung des concertus mundi, und damit auch von Schönheit und Freude, Sinn und Liebe – das ist der Kern des Menschseins.
Zugleich sind all dies Eigenschaften und Fähigkeiten, von denen die heutige künstliche Intelligenz (KI) noch sehr weit entfernt ist. Sollte KI jemals dorthin gelangen, so hätten wir es auch nicht mehr mit bloßen Maschinen zu tun. Es würde sich dann um Entitäten handeln, die sich ihrer selbst und ihres In-der-Welt-Seins gewahr wären – und denen genau deshalb eine ganz eigene Würde und Schutzwürdigkeit sui generis zukämen.
Die jetzt anstehende Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft durch die heutige KI hat damit nichts zu tun – aber sie ist eine hervorragende Gelegenheit, a) den wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt wieder auf das auszurichten, worum es eigentlich geht, sowie b) uns aus einem dramatisch verengten Selbstbild zu befreien – zu dem auch ein auf Ausbildung verkürzter Bildungsbegriff entscheidend beiträgt.
Ohne neue gedankliche Einordnungs- und Interpretationsmöglichkeiten werden im Falle länger anhaltender und möglicherweise sich sogar mit der Zeit noch verschlimmernder Probleme vor allem Panik, neue Formen der Hexenjagd und – Hand in Hand damit – beispiellose Formen der Verrohung vorherrschen.
Gelingt es jedoch, die Wucht des Entsetzens in eine neue Kraft des Nach- und Umdenkens zu überführen, dann werden eine zivilisationsgeschichtliche Kurskorrektur und, allgemeiner noch, der anstehende Schritt in Richtung eines wirklichen »homo sapiens« möglich.
Als den Dreh- und Angelpunkt dieses Um- und Nachdenkens sehe ich – wie kaum anders zu erwarten – die Doppelentdeckung einerseits des Zeit-Raumes der Gegenwart als der ursprünglichen Form von Zeit und andererseits der Selbstentfaltung der Welt, die sich in ihm ergibt.
Erst wenn wir die konstellative Selbstentfaltung der Wirklichkeit im Zeit-Raum der Gegen-Wart zu denken und wahrzunehmen lernen, erst dann, so meine These, erwachsen uns genau dadurch die erforderliche Kraft und die notwendigen Einsichten, die für die anstehende zivilisationsgeschichtliche Kurskorrektur erforderlich sind.
Die Corona-Zäsur könnte sich hier als eine Art Katalysator für den ohnehin erforderlichen Wandel erweisen. Oder wie es Friedrich Hölderlin so trostreich formuliert hat:
»Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«
Albrecht von MüllerIrschenhausenJuni 2020
Eine erste Skizze des Gedankenganges, eine kleine »Gebrauchsanweisung« zum Buch sowie einige ergänzende, persönliche Bemerkungen
Bei dem Versuch, von der Philosophie her das Ganze als Ganzes noch einmal neu in den Blick zu nehmen, hat sich – über fast vier Jahrzehnte und unzählige Anläufe hinweg – am Ende die folgende, fast baumartige Architektur ergeben (ABBILDUNG).
Grau: Gleichsam die »Wurzeln« und den »Stamm« bilden die philosophische Rekonstruktion der strukturellen Einseitigkeit unseres heutigen Denkens und ein Vorschlag, wie man sie überwinden kann. Eine zentrale Rolle spielt hierbei eine post-sokratische Symmetriebrechung, bei der von Aristoteles der faktische Wirklichkeitsaspekt mit einem Schlag fast vollständig umrissen wurde. Mit seinem genialen Wurf wurde der gesamte dafür erforderliche »kategoriale Apparat« bereitgestellt. Er besteht aus a) der (zweiwertigen) Boole’schen Logik, b) der sequenziellen Struktur der Zeit, c) dem Kausalitätsprinzip sowie d) der vollständigen Separierung von Subjekt und Objekt.Sie gemeinsam definieren den faktischen Wirklichkeitsaspekt. Der ihm zugrunde liegende kategoriale Apparat ist in sich so schlüssig und konsistent, dass er alle darüber hinausgehenden Aspekte der Zeit und des Wirklichkeitsgeschehens – d. h. insbesondere eben das authentische Sich-Ereignen der Wirklichkeit im Zeit-Raum der Gegenwart – zunehmend verdrängt hat.
Man muss also zunächst den Apparat-Charakter, d. h. das wechselseitige Voraussetzungsverhältnis dieser vier Setzungen erkennen, um dann einen erweiterten kategorialen Apparat zu entwickeln und so die über das faktisch-kausale Wirklichkeitsportrait hinausgehenden Aspekte des Wirklichkeitsgeschehens wieder konsistent denken zu können.
Erst durch das Freilegen der kategorialen Grundlagen unseres Denkens bzw. der Ursachen für die Einseitigkeit seiner bisherigen Entwicklung wird ein erweiterter kategorialer Apparat formulierbar, im Rahmen dessen dann der autogenetische Charakter unseres Universums erkenn- und konsistent denkbar wird.
Der Begriff »autogenetisch« bedeutet dabei, dass es sich um ein Universum handelt, das als ein sich »aus sich selbst heraus«, »in sich selbst« und »zu sich selbst hin« entfaltendes gedacht werden kann. »Aus sich selbst heraus« heißt, dass es keiner äußeren Ursache bedarf. »In sich selbst« heißt, dass das gesamte Geschehen nicht in einer vorgegebenen Raumzeit (wie in einer Schachtel) stattfindet, sondern dass Raum und Zeit sich als Teil des Geschehens selbst ergeben. »Zu sich selbst hin« schließlich heißt, dass unmittelbar in und aus dem Geschehen heraus die Möglichkeit entsteht, dass dieses sich selbst wahrzunehmen beginnt.
Den Dreh- und Angelpunkt für diese neue Sichtweise unserer Welt und unserer selbst bildet ein grundlegend erweiterter Zeit- und Wirklichkeitsbegriff, bei dem – wie schon erwähnt – die (physikalische) Zeit vom Phänomen der Gegenwart und das Wirklichkeitsgeschehen vom Phänomen der konstellativen Selbstentfaltung her gedacht werden.
Insgesamt ergeben sich hier drei komplementäre chrono-ontologische Portraits, in denen ein autogenetisches Universum zu betrachten ist: a) der »faktische Aspekt«, der das schon Eingetretene und in der lokalen Raumzeit Verortbare abzubilden erlaubt, b) der »Statu nascendi-Aspekt«, unter dem das authentische Sich-Ereignen der Wirklichkeit im Zeit-Raum der Gegenwart betrachtet werden kann, sowie c) der für die Wissenschaft weniger, aber für Sinnfragen umso wichtigere, inhärent Toleranz für Widersprüche und Anders-Denkende fordernde »Apeiron-Aspekt«, der nötig ist, wenn das Weltgeschehen als Ganzes bzw. wenn eschatologische Fragen adressiert werden sollen.
Blau: Im zweiten Schritt geht es dann um die Implikationen dieses weiterentwickelten Zeit- und Wirklichkeitsbegriffs für bislang unlösbare Fragen in den Grundlagen der modernen Naturwissenschaften. (Hierbei handelt es sich zugleich um eine Art Test, ob die zunächst aus rein philosophischen Überlegungen entwickelten neuen Denkansätze auch für die Praxis der empirischen Naturwissenschaften etwas zu leisten vermögen.) Die These ist hier, dass Quantenphysik und allgemeine Relativitätstheorie erst dann verbunden werden können, wenn man das gedanklich-begriffliche Rüstzeug dafür hat, zu erkennen, dass sie ganz unterschiedliche Aspekte des Wirklichkeitsgeschehens erfassen. In der Quantenphysik geht es dabei, wie gesagt, um das ursprüngliche, prä-kausale Sich-Ereignen der Wirklichkeit, das in der ursprünglichen Form der Zeit, dem Zeit-Raum der Gegenwart, angesiedelt ist. Die klassische und die relativistische Physik hingegen beschreiben die Wirklichkeit, wie sie sich darbietet, wenn sie schon zu Fakten geronnen ist – und somit auf den Hintergrund einer lokalen Raumzeit abgebildet werden kann.In analoger Weise wird ein grundlegend neuer Blick auf die Selbstkonstitution und Selbstentfaltung des Lebendigen und – nochmals durch Iterationen daraus hervorgehend – auf die Phänomene des Bewusstseins bzw. des Geistigen geworfen.
Insgesamt ergibt sich hier die Möglichkeit einer Modest ToE, einer ihrer eigenen, konstitutiven Unvollständigkeit bewussten Theory of Everything. In ihr werden Materie, Leben, Bewusstsein und Geist als aufeinander aufbauende und iterativ auseinander hervorgehende Formen konstellativer Selbstentfaltung beschrieben.
Grün: Im nächsten Schritt des Gedankenganges geht es dann um das sich aus den Kapiteln I und II ergebende neue Verständnis des Menschen und seines Denkens. Wie bereits erwähnt, wird der Mensch dabei als der Ort gedeutet, an dem unser autogenetisches Universum – ganz im Sinne einer weiteren Stufe konstellativer Selbstentfaltung – seiner selbst gewahr zu werden beginnt. Die sich dadurch ergebende, fundamental neue Qualität des Ganzen liefert zugleich eine neuartige naturwissenschaftliche Begründung der inkommensurablen Würde jedes einzelnen Menschen.Parallel dazu eröffnet die Theorie eines autogenetischen Universums völlig neue Perspektiven auf Struktur und Dynamik komplexen Denkens. Unser Denken und die natürliche Sprache sind eine (noch in Entwicklung befindliche) Antwort auf die drei chrono-ontologischen Perspektiven eines autogenetischen Universums. Sie erlauben uns, den schon wohldefinierten faktischen Wirklichkeitsaspekt, ebenso aber auch das noch offene, authentische Sich-Ereignen, den Statu nascendi-Aspekt, sowie – zumindest als Grenzfall – auch den Apeiron-Aspekt jeweils halbwegs angemessen zu behandeln.
Zu guter Letzt werden im Rahmen dieses neuen Selbstverständnisses des Menschen auch die Umrisse einer neuen Ethik sichtbar. Ins Zentrum treten dabei die Unterstützung der weiteren Selbstentfaltung unserer Welt bzw. die Herausforderungen des Joint Option Space Unfolding: »Handle so, dass Du die weitere, konstellative Selbstentfaltung unserer Welt, wo immer Du kannst und nach besten Kräften, unterstützt!«
Dieser neue, aus dem neuen Denkansatz eines autogenetischen Universums ableitbare »kategorische Imperativ« kann möglicherweise auch die bisherige Kluft zwischen deontologischen und utilitaristischen Ethiken transzendieren. Für die Praxis noch wichtiger ist jedoch, dass hier eine Konvergenz des ethisch Gesollten und des für den Handelnden selbst mittel- und langfristig Nützlichsten bzw. Sinnvollsten sichtbar wird. Diese Konvergenz ist eine Begleiterscheinung eines sich selbst entfaltenden Universums und bietet – im Gegensatz zu allen Versuchen, nur Verzicht zu predigen oder ein »Den-Gürtel-enger-Schnallen« einzufordern – zumindest eine gewisse Chance, dass sich das notwendige Umdenken noch hinreichend schnell und nachhaltig ausbreiten kann.
Gelb: Im vierten Schritt geht es sodann um die Rekonstruktion der aktuellen, prekären Situation der Menschheit, die sich aus den bis dahin entwickelten Überlegungen ableiten lässt. Wie schon angedeutet, war die post-sokratische Symmetriebrechung zugunsten des faktischen Wirklichkeitsaspekts – über eine Inkubationsphase von gut 2000 Jahren hinweg – entscheidend für die Herausbildung der modernen Zivilisation. In gewisser Weise müssen wir deshalb gedanklich bis dorthin zurück und von dorther unser Denken gleichsam »nochmals neu einfädeln«.Besonders wichtig ist dabei auch eine grundlegende Relativierung der gegenwärtigen Fixierung auf die Sekundärgüter Macht, Besitz und Kontrolle. Es handelt sich dabei um die Grundhaltung des »angstgetriebenen Grapschens und Festklammerns«, die sich in dem Moment ganz von selbst relativiert, in dem man erkennt, dass die Zeit uns eben nicht nur alles entreißt, sondern – mit dem Zeit-Raum der Gegenwart – zunächst einmal die Plattform bietet, auf der sich alles zutragen kann. In diesem ständigen Strom des Sich-Ereignenden, dem concertus mundi, ist Festkrallen so unsinnig und kontraproduktiv, wie wenn man sich in einem großartigen Konzert die ganze Zeit nur auf einen kleinen Passus einer Melodie zu konzentrieren und diesen vor sich hin zu pfeifen versuchen würde.
Die besinnungs- und rücksichtslose Jagd nach Macht, Besitz und Kontrolle ist nicht nur ein Null-, sondern zumeist sogar ein Negativsummenspiel, bei dem alle immer höhere defensive Kosten hinsichtlich ihres eigentlichen Ziels, eines gelungenen Lebens, zu tragen haben. Zudem trägt diese Jagd massiv zu dem sinnfreien Teil der Zunahme von Komplexität, also zu der strukturellen Handlungsunfähigkeit bei, die sich derzeit in der Politik und Wirtschaft herausbildet. Eine gewisse Zunahme von Komplexität ist eine Begleiterscheinung der Selbstentfaltung unserer Welt, mit der umzugehen wir lernen müssen. Eine Nierentransplantation ist ein sehr sinnvoller, inhärent hochkomplexer Vorgang – vor allem wenn man auch ihre technischen und ökonomischen Voraussetzungen mitberücksichtigt. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei dem Millisekunden-Trading in undurchsichtigen Finanzprodukten um eine »aufgebauschte Nonsens-Komplexität«, aus der sinnvollere politische bzw. steuerliche Rahmensetzungen sehr schnell die Luft herauslassen könnten.
Rot: Genau darum, also um das Herausfinden der sinnhaften »Netto-Komplexität« und ganz neue Möglichkeiten, erfolgreich mit ihr umzugehen, geht es im nächsten, dem fünften Schritt unseres Gedankenganges. Leitmotiv ist dabei Albert Einsteins Feststellung: »Man soll die Dinge so einfach wie möglich machen, aber auch nicht einfacher.«»Cognostics« ist ein neues Feld der Grundlagen- und angewandten Forschung, dessen Aufgabe es ist, besser zu verstehen, wie das menschliche Gehirn Komplexität verarbeitet, und dann Methoden und Werkzeuge zu entwickeln, die es dabei unterstützen können. Anders als in der traditionellen künstlichen Intelligenz geht es dabei nicht darum, die menschliche Denkfähigkeit möglichst rasch zu überholen und zu ersetzen. Dies würde eine freiwillige »Selbstverhausschweinung« des Menschen unter seine eigenen Artefakte darstellen, die der Idee der Menschenwürde widerspräche. Zum Glück zeigt sich bei einer genaueren Betrachtung dessen, was menschliches Denken ausmacht, dass es sich hierbei um eine weitgehend illusorische Zielsetzung handelt. Ziel von Cognostics ist es deshalb, sowohl die Ergebnisse der Erforschung menschlichen Denkens wie auch die in deren Licht weiterentwickelten KI-Verfahren dafür zu nutzen, unsere angeborenen Denkfähigkeiten zu unterstützen und weiter zu entfalten.
Eine zentrale Rolle spielt dabei auch die Visualisierung komplexer Denkprozesse, die es erlaubt, anspruchsvolle Gedankengänge in ihren einzelnen Denkschritten sichtbar und interaktiv nach- und weiterdenkbar zu machen. Zur Veranschaulichung dieser neuen Möglichkeiten werden einige konkrete Anwendungen aus den Bereichen Medizin, Bildung, Unternehmensstrategie und Demokratie vorgestellt.
Violett: Im sechsten und letzten Schritt des gesamten Gedankenganges geht es schließlich um die Frage, was es eigentlich für die Politik bedeutet, wenn wir konstellative Selbstentfaltung als die grundlegendste Eigenschaft unseres Universums erkennen. Auch die Politik ist ja ein Teil des Wirklichkeitsgeschehens, und somit ergeben sich auch für sie fundamental neue Perspektiven und Handlungsmodelle. Diese sollen uns in die Lage versetzen, die sich momentan abzeichnende strukturelle Handlungsunfähigkeit und die eingangs beschriebene Selbstgefährdungsspirale der modernen Zivilisation zu überwinden.Der schon erwähnte Joint Option Space Unfolding Approach (JOSUA) ist eine direkte Übersetzung des Denkmusters der konstellativen Selbstentfaltung in ein neues politisches Handlungsparadigma. Interessant ist dabei, dass dieses neue Handlungsmodell gleichsam »fraktal« eingesetzt werden kann, d. h. von der Regelung kleinräumiger binnenpolitischer Themen bis hin zum Aufbau eines neuen globalpolitischen Ordnungsrahmens.
Bei dem neuen Leitmotiv einer »partizipatorischen Weltinnenpolitik« handelt es sich um eine derartige Anwendung des neuen Denkmusters.
Zunächst überraschend mag sein, dass in diesem Zusammenhang einem sich neu konfigurierenden Europa eine ganz entscheidende Rolle für das Zustandekommen eines weltpolitischen Paradigmenwechsels zugeschrieben wird.
Wenn Europa endlich die Idee der Menschenwürde als seinen zentralen Wert und seine historisch-kulturelle Vielfalt endlich als seine größte Stärke erkennt, dann kann es sich als eine »dezentrale Innovations- und Lernplattform« neu erfinden und gleichzeitig globalpolitisch zum Pionier einer partizipatorischen Weltinnenpolitik werden.
Drei Dinge, so meine These, werden Europa nur zusammen gelingen: die Überwindung der aktuellen Krise, eine grundlegende binnenpolitische Neuausrichtung und das Hineinwachsen in seine weltpolitische Verantwortung, die zugleich ja auch eine einzigartige Chance darstellt.
Auch diese abschließenden europapolitischen Überlegungen lassen sich, wie alle vorangehenden, direkt aus der Denkfigur der konstellativen Selbstentfaltung ableiten: Gerade das vielgestaltige, zutiefst »konstellative« Europa mit seinem Grundwert der Menschenwürde scheint mir wie keine andere Weltregion geeignet, den notwendigen weltpolitischen Paradigmenwechsel vorzudenken, vorzuleben und voranzutreiben.
Der soeben ein erstes Mal in seiner Gesamtarchitektur umrissene Gedankengang wird im Hauptteil des Buches noch zweimal durchlaufen. Zunächst in einer sehr verdichteten Form, gleichsam als eine Art detailliertere »Exposition«, bei der es noch sehr darauf ankommt, dass der Überblick über den Gesamtzusammenhang gewährleistet bleibt. Der darauffolgende dritte Durchgang bildet dann, bei der musikalischen Metapher bleibend, gleichsam eine Art »Durchführung«. Hier sollen nun die einzelnen Argumentationsstränge Schritt für Schritt durchgegangen und, so gut wie das angesichts der Breite der Thematik möglich ist, im Detail nachvollziehbar gemacht werden.
Damit sind wir nun auch schon bei der »Gebrauchsanweisung« angekommen. Für den ungewöhnlichen Aufbau des Buches gibt es vier eng miteinander zusammenhängende Gründe.
Dabei geht es erstens um die »selbsttragende Struktur« des Gedankenganges. Sie ist eine logische Folge des Versuchs, das Ganze als Ganzes in den Blick zu nehmen. Es kann dann nämlich keinen »externen Punkt« mehr geben, an dem die ganze Argumentation aufgehängt werden könnte. Anstatt dessen müssen sich die einzelnen Argumente wechselseitig so stützen und ergänzen, dass insgesamt – grob vergleichbar einem »Fulleren« in der Chemie – ein stabiles Ganzes entsteht. Bei diesen, nach dem Architekten Richard Buckminster Fuller auch als »Buckyballs« bezeichneten Molekülen ergibt sich ihre besondere Stabilität erst aus ihrer Gesamtarchitektur (ABBILDUNG 3).
Abbildung 3: »Buckyballs«
Ganz analog ergeben sich bei einer selbsttragenden Gedankenarchitektur die volle Schlüssigkeit und die Überzeugungskraft erst in und aus dem Zusammenspiel aller einzelnen Argumente.
Deutlich zu unterscheiden ist dies von einer unbeabsichtigten oder intendierten »Selbstimmunisierung« einer Argumentation bzw. Ideologie. Bei dieser, seit Schopenhauer und vor allem von Karl Popper und Hans Albert zurecht stark kritisierten Unsitte des Denkens wird jedes Gegenargument mittels eines »kognitiven Taschenspielertricks« in eine Bestätigung der eigenen Theorie umgemünzt. Genau das Gegenteil ist hier der Fall: Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine selbsttragende Argumentation letztlich immer unbeweisbar ist, also nur ein Angebot bzw. eine Einladung sein kann, so zu denken.
Der zweite Grund für den ungewöhnlichen Aufbau des Buches steht in unmittelbarem Zusammenhang damit. Gerade vor dem Hintergrund einer selbsttragenden Struktur kommt es entscheidend darauf an, immer auch den Gesamtzusammenhang der Argumentation gedanklich zur Verfügung zu haben und somit einordnen zu können, in welchem Kontext das jeweils gerade vorgetragene Teilargument steht. Durch die Visualisierung auf Seite 35 und das dreimalige Durchlaufen der Argumentation in konzentrischen Kreisen soll genau dies ermöglicht werden.
Diese idealerweise jederzeit gegebene Orientierungsmöglichkeit führt uns dann auch zu dem dritten Grund, dem Versuch, den Lesern einen »Denk-Raum« zu eröffnen, in dem sie sich gemäß ihrer spezifischen Interessen frei bewegen können. Man muss nicht unbedingt von den Überlegungen zu den philosophischen Grundlagen der modernen Physik zum neuen Selbstverständnis des Menschen in einem autogenetischen Universum vorschreiten. In einem fullerenartigen Text kann der Weg auch genau andersherum führen.
Der vierte und letzte Grund besteht darin, dass die Struktur des Buches selbst schon dem behaupteten Grundprinzip des gesamten Wirklichkeitsgeschehens, also dem Phänomen der konstellativen Selbstentfaltung. entsprechen bzw. es widerspiegeln soll. Auch hier mag nochmals eine kurze Abgrenzung sinnvoll sein. Unter einem »Grundprinzip« könnte man auch einen hierarchisch gedachten Ausgangspunkt für eine sich daraus dann im Sinne eines sequitur ableitende Kette von Argumenten verstehen. Genau das ist hier jedoch mit dem Begriff »Grundprinzip« nicht intendiert. Es geht vielmehr um ein gleichsam »alles durchwaltendes Prinzip«, vergleichbar etwa dem heraklitischen logos.
Fragt man noch etwas allgemeiner nach Anknüpfungspunkten des hier entwickelten Denkansatzes eines autogenetischen, sich aus sich selbst heraus entfaltenden Universums in der Tradition, so möchte ich vor allem vier Autoren nennen: Heraklit, Hegel, Heidegger und Heisenberg.
Bei Heraklit geht es um den großartigen und – zumindest mir – immer wieder neue Bedeutungshorizonte erschließenden Versuch, einen auch die Unterscheidung von Subjekt und Objekt transzendierenden, das gesamte Weltgeschehen prägenden und charakterisierenden logos ausfindig zu machen und gleichsam »zum Sprechen« zu bringen.
Bei Hegel steht der Versuch einer dynamischen Rekonstruktion der Selbstentfaltung von Denkmustern in seiner »Wissenschaft der Logik« sowie einer kohärenten Darstellung der Einzelwissenschaften in der »Enzyklopädie« im Vordergrund. Im direkten Gegensatz zu Hegel geht es hier jedoch gerade nicht um eine in sich abgeschlossene (und sich deshalb auch als das Ende der Geschichte missverstehende) Systemphilosophie. Es geht vielmehr um einen zwar begrifflich kohärenten, zugleich aber auch explizit zukunftsoffenen Denkansatz. In diesem kann das Ganze als Ganzes sich immer auch noch einmal ganz aufs Neue ergeben und dementsprechend neu gedacht werden.
Bei Martin Heidegger bildet den Anknüpfungspunkt ein Aufsatz von 1962, »Zeit und Sein«. Heidegger invertiert dort gleichsam viele Überlegungen aus »Sein und Zeit« von 1927. Leider wird der Text in seinem Verlauf zunehmend hermetisch – man könnte auch sagen, dass Heidegger sich, wie leider nicht selten, zunehmend an seinen eigenen Sprachspielen berauscht. Dennoch scheint mit hier ein erster Versuch vorzuliegen, die Zeit noch einmal ganz neu, nämlich vom Phänomen der Gegenwart und dem Geschehen des Sich-Ereignens her zu denken.
Bei Heisenberg schließlich hat mich, neben seinen großen physikalischen Entdeckungen, vor allem auch der leider kaum bekannte, primär wohl der Selbstverständigung in extrem bedrängten Zeiten dienende Aufsatz »Die Ordnung der Wirklichkeit« von 1941 / 42 beeindruckt. Heisenberg macht dort – in meinen Worten – den Versuch, die Selbstentfaltung der Welt als Ganzes zu denken.
Klar ist auch, dass der Versuch, das Ganze in den Blick zu nehmen, der heute üblichen Zergliederung der Wirklichkeitsbeschreibung in Fachdisziplinen diametral widerspricht. Vor allem aus drei Gründen könnte diese Abweichung von der zurecht vorherrschenden Praxis jedoch legitim und sogar entscheidend sein:
Wenn sinnvoll von einem Ganzen gesprochen werden kann – was vermutlich eine unbeweisbare Annahme bleibt – , dann erlaubt nur der Blick auf dieses Ganze, dass seine Teile wechselseitig ihre volle Bedeutung entfalten.In praktischer Hinsicht scheint mir der Blick auf das Ganze die Bedingung der Möglichkeit dafür zu sein, a) zu verstehen, wo wir uns heute menschheitsgeschichtlich befinden, und b) einen vernünftigen und gangbaren Ausweg aus der aktuellen Selbstgefährdungsspirale der modernen Zivilisation zu finden.Auch die Erfahrung von Sinn kann sich – wenn sein theologischer »Import« von außen zunehmend unglaubwürdig wird – nur dann noch ergeben, wenn man den Gesamtzusammenhang im Blick hat und Sinn sich in und aus dessen Selbstentfaltung heraus für die Denkenden erschließt.Die Einladung, das Ganze als Ganzes noch einmal neu als ein Geschehen der Selbstentfaltung zu denken, richtet sich bewusst nicht nur an Fachphilosophen. Wenn Philosophen sich nur noch an Philosophen wenden, so scheint mir dies so sinnvoll, wie wenn Ärzte nur noch Ärzte behandeln wollten.
Ich erlaube mir, diese kleine »Gebrauchsanweisung« abschließend noch durch eine sehr persönliche Bemerkung zu ergänzen. Ebenso nahe wie die genannten Texte sind dem Anliegen dieses Buches auch einige Kompositionen, insbesondere von Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadeus Mozart.
Musik lebt ja ohnehin, wie kaum etwas anderes, von der wechselseitigen semantischen Entfaltung der einzelnen Töne und Klänge. Jeweils für sich allein genommen, oder z. B. schlicht nach Höhe oder Lautstärke geordnet, hätten Töne nahezu keine Bedeutung. Diese erwächst ihnen erst – und in der Musik vielleicht deutlicher als irgendwo anders – in und aus ihrer spezifischen Konstellation heraus zu. Wie schon angesprochen, schließen sich in einem autogenetischen Universum Erklär- und Wunderbarkeit nicht aus, sondern vertiefen sich im Gegenteil sogar wechselseitig. Genau das wird, zumindest nach meinem subjektiven Empfinden, in der Musik Bachs und Mozarts ganz unmittelbar hör- bzw. erfahrbar, wenngleich auf sehr unterschiedliche Weise.
Ganz speziell erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang die »Krönungsmesse« (KV 317). Im Januar 1779 hatte Mozart nach anstrengenden Reisen erneut eine Stelle in Salzburg angenommen. Kurz danach, noch vor allem weiteren Ärger mit dem Fürsterzbischof Colloredo, komponierte er für den anstehenden Ostersonntag diese Messe in C-Dur. Für mich nimmt sie in dem ohnehin völlig unvergleichlichen Gesamtwerk Mozarts nochmals eine ganz besondere Stellung ein: Ich kenne kein Kunstwerk, in dem die Wunderbarkeit eines sich selbst entfaltenden Universums – das concertus mundi – authentischer und ergreifender zum Ausdruck gebracht würde als hier.
Das Tragische am »homo instrumentalis« ist, dass er sich so sehr in seine Machenschaften verstrickt, dass ihm das Wichtigste, die Erfahrung genau dieses concertus mundi,