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Bestsellerautor Albrecht Müller zeigt, dass und wie sich die Verhältnisse grundlegend verschlechtert haben. Die Revolution ist überfällig! Aber leider im Grundgesetz nicht vorgesehen … Der Idee nach haben wir eine schöne Demokratie, tatsächlich aber verhärtete Verhältnisse: Die Einkommen sind ungerecht verteilt. Große Vermögen in wenigen Händen und Finanzkonzerne beherrschen die Wirtschaft. Die Parteien sind programmatisch entkernt, die Medien konzentriert und meist angepasst. Frieden? Gemeinsame Sicherheit? Stattdessen wird auf Konfrontation und Kriegsvorbereitung gesetzt, fremdbestimmt von den USA. Europa zerbröselt. Die Revolution ist überfällig, resümiert Albrecht Müller, aber es wird sie nicht geben. Sein Rat an Gleichgesinnte: Tut euch zusammen, verhindert das Schlimmste und setzt auf bessere Zeiten!
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Seitenzahl: 220
Ebook Edition
Albrecht Müller
Die Revolution ist fällig
Aber sie ist verboten
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ISBN 978-3-86489-804-4
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2020
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich
Von außen betrachtet haben wir eine schöne Demokratie. Formal gesehen gibt es die Chance zum politischen Wechsel. Es finden Wahlen statt. Von außen betrachtet werden wir gut regiert und es geht uns gut.
Tatsächlich stimmt der schöne Satz unseres Grundgesetzes, alle Gewalt gehe vom Volk aus, seit Langem nicht mehr. Tatsächlich gibt es hierzulande statt Fortschritt Rückschritt. Restauration!
Die immer ungerechter werdende Verteilung der Einkommen und Vermögen hat dazu geführt, dass einige das Sagen haben. Die Reichen und die Starken setzen sich durch, bestimmen Wirtschaft und Gesellschaft. Weltweit, in den USA sowieso, bei uns, in Frankreich, in Großbritannien, in Brasilien, in Indien, in Chile, in Saudi-Arabien. Überall.
Die großen Finanzgruppen beherrschen das Wirtschaftsgeschehen und bestimmen die Regeln unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Weltweit.
Obwohl immer wieder behauptet wird, wir hätten eine Marktwirtschaft und der Wettbewerb müsse geschützt werden, haben wir es inzwischen in zentralen Bereichen mit Monopolen zu tun: mit Microsoft, mit Amazon, mit Facebook, mit marktbeherrschenden Wohnungsgesellschaften.
Unsere Parteien sind demokratische Institutionen? Sie sind laut Grundgesetz beauftragt, an der Willensbildung mitzuwirken. Doch wir müssen feststellen, dass heute kaum noch Menschen in die Parteien gehen, um dort etwas zu gestalten, um die Welt zu verbessern. Karrieristen bestimmen das Geschehen. Unsere Parteien sind durchsetzt von Lobbyisten. Unsere Parteien sind durchsetzt von Einflussagenten.
Und unsere Medien? Hochkonzentriert. Regionale Monopole und Oligopole. Kaputter umgedrehter öffentlich-rechtlicher Rundfunk – mit Ausnahmen. Miserabler kommerzieller Rundfunk. Auf Anpassung ans konservative Milieu getrimmte Redaktionen.
Das hat Folgen für die Programmatik, die in dieser unserer Demokratie noch eine Chance hat: Krieg mehr als Frieden. Verneigung vor den Interessen der USA, Vasall statt Unabhängigkeit. Die Wahrnehmung großer Interessen mehr als soziale Gerechtigkeit und Sozialstaatlichkeit. Privatisierung mehr als Gemeineigentum. Deregulierung mehr als gute Regeln, Laufenlassen mehr als vernünftige Social-Technique. Die neoliberale Ideologie und Praxis beherrschen auch unser Land. Mit gelegentlichen kleinen Variationen.
Das war in der Bundesrepublik Deutschland einmal anders. Ganz am Anfang, kurz nach 1945, und nach einer restaurativen Phase im Kalten Krieg der 1950er-Jahre gab es in den 60ern und 70ern einen wirklichen Schwung aufwärts. Dann folgte der Siegeszug der neoliberalen Bewegung. Und abwärts ging’s rund um das Jahr 1980. Diesen Niedergang, diesen Bruch, hat der französische Ökonom Thomas Piketty am Beispiel der Vermögens- und Einkommensverteilung beschrieben. Ich habe diesen Umschwung als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt zwischen 1973 und 1982 praktisch miterlebt. Die Beobachtungen und Analysen anderer wie auch meine eigenen Erfahrungen werden in den folgenden Text eingehen. Ich blicke inzwischen auf 70 Jahre politischen Engagements und auf lange Jahre praktischer politischer Arbeit zurück. Mein politisches Engagement begann 1950 mit dem Widerstand gegen die Wiederbewaffnung und 1952 in der Auseinandersetzung mit meinem damaligen Mathematiklehrer, der von Nazi-Deutschland und von Panzerschlachten schwärmte. Später folgte die praktische Erfahrung als Redenschreiber des Bundeswirtschaftsministers Professor Dr. Karl Schiller, als Wahlkampfmanager Willy Brandts, als Planungschef im Bundeskanzleramt bei Brandt und Helmut Schmidt, als Bundestagsabgeordneter und Herausgeber der NachDenkSeiten.
In vielen Feldern der Politik und des Zusammenlebens konnten wir ein Auf und später leider auch ein Ab beobachten. Die Abwärtsbewegung kann man ziemlich genau bestimmen: Im Umfeld des Jahres 1980 wurden progressive Ansätze, humane, soziale Ansätze des menschlichen Zusammenlebens gestoppt. Das geschah nahezu überall. Zeitversetzter Rückschritt, Restauration. In der Außen- und Sicherheitspolitik gab’s damals noch Fortschritte. Das kippte kurz nach dem Höhepunkt im Jahr 1990. Mit diesem neuen Buch komme ich auf den früher formulierten Gedanken zurück: Wir waren schon einmal weiter.
Jetzt ist in allen Feldern Restauration angesagt. Was das heißt, werde ich an einigen Beispielen beschreiben. Und weil ich persönlich als Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt die Zäsur erlebte, ohne sie damals zwischen 1973 und 1982 gleich richtig einordnen zu können, kann ich die Beobachtung der grundlegenden Veränderungen auch mit persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen bereichern.
Restauration ist angesagt, Rückschritte gibt es zuhauf. Wie auf demokratische Weise dieser Trend gestoppt und umgekehrt werden soll, erschließt sich nicht einfach so.
Die Revolution ist überfällig. Aber wie soll das gehen? Sie ist verboten. Das Grundgesetz sieht so etwas nicht vor. In der Praxis werden gegebenenfalls eher die Köpfe der Revolutionäre als die der Reaktionäre rollen. Das deutet sich in der Härte der Auseinandersetzung der etablierten Politik und Medien mit den kritischen Medien im Internet an. Wer den Kopf hebt, wird niedergemacht, diffamiert und schnell als Verschwörungstheoretiker oder Antisemit stigmatisiert. Die Konterrevolution hat Fantasie.
Gibt es einen Ausweg? Ja, die Vermögen neu verteilen. Aber genau dies wird mit gewalttätigem Widerstand beantwortet werden. Was bleibt dann noch? Die notwendigen großen Veränderungen vorbereiten. Durchdenken. Durchkneten. Formulieren. Vorarbeiten für eine Neue Gesellschaft. Ansonsten: Überleben. Unter Freundinnen und Freunden. Sich mehr als bisher zusammentun.
Das ist keine großartige Perspektive. Dennoch besser als nichts.
Die Rezensentinnen und Rezensenten meines Buches werden vermutlich zumindest zwei Einwände erheben:
Erstens werden sie mir vorwerfen, das Buch sei nostalgisch. Früher sei alles besser gewesen, sei der Grundton. Mit diesem Vorwurf muss ich leben. Wenn die neoliberale Ideologie die praktische Politik bestimmt, dann kann ich nichts dafür. Wenn ich darauf hinweisen muss, dass Sozialstaatlichkeit und Solidarität für die Menschen besser sind als Egoismus und Ellenbogen, kann ich nichts dafür. Wenn militärische Interventionen zum Alltag werden, dann kann ich nichts dafür. Wenn man darauf hinweisen muss, dass die Entspannungspolitik, der Abbau der Konfrontation in Europa und die Idee der gemeinsamen Sicherheit auch mit Russland angenehmer, zukunftsweisender und schöner waren, dann kann ich nichts dafür. Dass Nostalgie heute angesagt ist, liegt nicht am Autor.
Zweitens wird darauf hingewiesen werden, dass es uns doch gut gehe und dass wir gut regiert würden. Offensichtlich ist unser Volk aber zweigeteilt. Da ist zum einen wohl eine Mehrheit, die die Lage und die Politik gut findet. Dieser Eindruck wird aktuell zusätzlich gespeist von der Bewunderung und dem Vertrauen in die Bewältigung der Corona-Pandemie. Zum anderen gibt es den Kreis jener vielen Menschen, denen es wirklich schlecht geht wie den Alten, die ihre Rente mit Putzen und mit dem Sammeln von Flaschen aufbessern müssen. Außerdem gibt es jene kritischen Beobachter, die wissen, dass es stinkt, egal wo man hinschaut. Die die katastrophal schlechte Verteilung von Einkommen, Vermögen und Chancen sehen, die die Restauration, die Rückschritte bemerken, die die Kriege und das Kriegsleid noch wahrnehmen und bemerkt haben, dass der 1990 erreichte Frieden in Europa mutwillig zerstört wird und neuerdings wieder Militär die Politik ersetzt. Dass die Einsicht in diese wahren Verhältnisse einer Minderheit vorbehalten ist, ist nicht die Schuld dieser Minderheit.
Es gibt viele, die sich auf der Sonnenseite wähnen, obwohl ihr Einkommen und ihr Vermögen, verglichen mit dem der Reichen und immer reicher werdenden Personen, sehr klein ist und obwohl manche von ihnen später vor Altersarmut stehen werden, ihre Kinder und Enkel in unsicheren Arbeitsverhältnissen stecken und mehr soziale Sicherheit bräuchten. Diese Fehleinschätzung hat viel mit Propaganda zu tun. Diese wird immer geschickter gemacht und führt dazu, dass sich Mehrheiten auch dann um die Regierenden und Bestimmenden scharen, wenn es sachlich dafür keine Gründe gibt.
Auch diese Menschen möchte ich mit diesem Buch erreichen. Es soll helfen, die Augen zu öffnen. Ihnen will ich zeigen, dass der Einzug der neoliberalen Ideologie und Praxis keine Erfolgsgeschichte, sondern schon jetzt und auf Dauer gefährlich ist.
Das Buch und der Autor werden, wie es heute üblich ist, vermutlich der Stigmatisierung mit dem Etikett Verschwörungstheorie ausgesetzt werden. Für diesen billigen Versuch der Abwertung gibt es eine Reihe von Ansatzpunkten in meinem Text. Darauf will ich ausdrücklich hinweisen. Es gibt zum Beispiel eine Verschwörung der Superwohlhabenden gegen den Rest. Das wird beschrieben. Es gibt Unterwanderung bei Parteien und Medien. Es gibt zum Beispiel eine mörderische Abhängigkeit vieler Völker vom Imperium USA. Darüber nicht zu schreiben und die Befreiung aus den Fängen dieser imperialen Nation nicht zu fordern, wäre sträflich nachlässig. Es gibt den Anspruch und die Aktionen zum Regime Change – merkt denn niemand, dass dies mit Demokratie nichts zu tun hat? Es gibt die Fortsetzung der Politik mit militärischen Interventionen und mit kriminellen Akten. Dies nicht zu sehen, ist schlicht dumm. Aber alles zu sehen, lädt dazu ein, etikettiert zu werden, eben als Verschwörungstheoretiker abgetan und niedergemacht zu werden. Wer solche Gegenkampagnen glauben und akzeptieren will, tut gut daran, gar nicht erst mit dem Lesen dieses Buches zu beginnen.
An verschiedenen Beispielen, an großen und an kleineren, wird gezeigt, wie desolat die Lage ist und was anders gemacht werden müsste. Zu den großen Rückschritten zählen beispielsweise
die dramatisch wachsende Ungleichheit,
Kriege als Fortsetzung der Politik,
die neue Feindschaft mit Russland und China und die damit verbundenen Kriegsgefahren,
die gefährliche Abhängigkeit von den USA und der Rüstungswirtschaft,
der Einfluss der wirtschaftlich Starken und Vermögenden auf die Politik
und der auch deshalb eingetretene Ruin der Demokratie,
die freimütige Nutzung von Steueroasen,
die Herrschaft der neoliberalen Ideologie und die Abwertung von Solidarität, Sozialstaatlichkeit und staatlicher Tätigkeit insgesamt,
die Zerstörung unserer Parteien,
der selbstverständlich gewordene Einsatz von Einflussagenten,
Korruption,
die mangelnde Qualität der politischen Entscheidungen,
die traurige Rolle der Medien,
der labile unattraktive Zustand der EU und der neue Nationalismus …
Vermutlich wird manchen Leserinnen und Lesern diese Beschreibung viel zu düster erscheinen. Tut mir leid, dass ich daran nichts ändern kann. Vermutlich kann man die kritische Betrachtung des jetzigen Zustandes nur dann gut verstehen, wenn man auch die besseren Zeiten kennt, aus eigener Erfahrung oder aufgrund von Recherchen. Ein paar Belege dafür:
Wenn man den Kalten Krieg und die beginnende Entspannungspolitik erlebt hat, wenn man noch im Ohr hat, wie der erste deutsche Bundeskanzler hämisch und abwertend von den »Soffjets« sprach und ein anderer ein paar Jahre später sagte: »Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein«1; und wenn man dann erlebt hat, dass dieses Versprechen 1989 und 1990 Früchte getragen hat, dass sich alle Völker in Europa auf friedlichen Umgang miteinander verständigt haben, sich gegenseitig versprochen haben, sich auf Zusammenarbeit und gemeinsame Sicherheit zu verständigen, dann kann man einschätzen, was es bedeutet, dass heute wieder Konfrontation herrscht, einschließlich Bedrohungen, Aufrüstung und Abschreckung. Statt »Soffjets« sagen die Propagandisten des Feindbildaufbaus heute »aber der Putin«.
Wenn man erlebt hat, wie sich Politiker darum bemüht haben, eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) zustande zu bringen und diese noch zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) weiterzuentwickeln, dann begreift man leichter, was die heute platzgegriffene De-facto-Aushöhlung dieser Einrichtungen bedeutet.
Ein weiteres Beispiel aus einem ganz anderen Feld der Politik und des gesellschaftlichen Zusammenlebens: Wenn man erlebt hat, dass ein deutscher Bundeskanzler sich darüber Gedanken gemacht hat, wie die Vermehrung der elektronischen Kommunikation auf Kinder und Familien wirkt, nämlich bedrohlich, und empfahl und politisch entschied, damit vorsichtig umzugehen und auf jeden Fall kein öffentliches Geld dafür auszugeben, dann erschrickt man, wenn man den heute üblich gewordenen gedankenlosen Umgang mit Digitalisierung erlebt, wenn man erlebt, wie differenziertes Denken abhandengekommen ist.2
Wenn man erlebt hat, wie segensreich sich eine aktive Beschäftigungspolitik auf den Arbeitsmarkt für junge Leute auswirkt und wie gesicherte, unbefristete Arbeitsverhältnisse die Freiheit, ja oder nein zu sagen, vermehren und dass genau diese Konstellation es möglich machte, dass junge Menschen sich die Freiheit nahmen, zu rebellieren, aufzustehen wie die 68er, dann versteht man viel besser, welch ein Desaster die soziale Unsicherheit in der jungen Generation auslöst: Vorsicht, nicht zu viel Kritik, Anpassung, auf das eigene Interesse achten.
Die aktive Beschäftigungspolitik hat – kombiniert mit starken Gewerkschaften und selbstbewussten Arbeitern und Angestellten – bewirkt, dass in diesen Phasen der Anteil der Löhne am Volkseinkommen stieg. Wenn man das erlebt hat, kann man besser begreifen, welch einen Rückschritt die Verbreitung von Leiharbeit und der Stolz auf einen Niedriglohnsektor darstellen.
Wenn man erlebt hat, dass amtierende Politiker die Erweiterung des öffentlichen Korridors forderten, wie man das zum Beispiel 1972 nannte, und wenn man selbst die Parole »Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten« formuliert und mithilfe einer lebendigen Partei verbreitet hat, dann kann man besser verstehen, welch ein Desaster die maßlose Privatisierung und Entstaatlichung bis hin zur Forderung, der Staat solle zwar die Lufthansa mit neun Milliarden Euro retten und sich an ihr mit 20 Prozent beteiligen, aber er solle sich aus der Geschäftspolitik heraushalten, darstellen. Solche unsinnigen Forderungen jucken offensichtlich Menschen nicht, die nicht erfahren haben, dass es auch anders geht, und die vollgepumpt sind von den gängigen Vorurteilen gegen Staat und öffentliche Verantwortung.
Wenn man erlebt hat, dass es einmal einen einigermaßen kritischen Spiegel sowie einen aufmüpfigen Stern und obendrein eine einigermaßen aufklärende Tagesschau gegeben hat, dann empfindet man das jetzige Einheitsbrei-Versagen der etablierten Medien als besonders gravierend.
Wenn man einen Bundeskanzler erlebt hat, der in einer entscheidenden Phase eines Wahlkampfes die Menschen bittet, sich solidarisch mit anderen Menschen zu zeigen und zu verhalten, dann begreift man sehr viel besser, welch einen Niedergang der herrschende Egoismus darstellt.
Wenn man erlebt hat, wie eine Partei wie die SPD in den 1960er- und 70er-Jahren programmatisch arbeitete und wie Menschen bis hinein in die Ortsvereine für programmatische Arbeit gewonnen werden konnten, dann kann man besser verstehen, warum sich die heutigen Karrierevereine nicht als zukunftsträchtig erweisen.
Diese Beispiele mit Erfahrungen aus besseren Zeiten sind nicht dazu angetan und gedacht, Menschen zu bedrängen, die das nicht erlebt haben und im Heute leben. Sie sollen dazu dienen, zu verstehen, warum der jetzige Zustand so kritisch betrachtet werden muss. Sie sollen dazu dienen, zu verstehen, dass es auch anders geht. Dass die Verantwortlichen, die Politikerinnen und Politiker und wir als Gesellschaft insgesamt die Dinge auch anders gestalten könnten, etwas hochtrabend gesagt: die Welt verbessern könnten. Ich will mit meiner Analyse und meinem Text die junge Generation dazu ermuntern, an andere und bessere Möglichkeiten zu glauben und nicht zu resignieren.
Ungleichheit gab es immer. Das neue Phänomen ist die Radikalität der Ungleichheit und die Veränderung seit den 1970er- und 80er-Jahren.
Immer wieder wurde versucht, Ungleichheit zu rechtfertigen. Lange Zeit wurde die Pferdeäpfel-Theorie verbreitet. Diese meint: Wenn man die Großen und Starken ordentlich füttert, dann fällt auch für die Kleinen, für die Spatzen am Wegesrand, etwas ab. In moderner Formulierung heißt das dann: Wir dürfen die Anleger nicht abschrecken, unser Land muss für die großen Vermögen attraktiv bleiben. Man nennt diese Theorie auch »Trickle-down-Effekt«. Dieser Effekt wurde oft herangezogen, um Steuersenkungen für Spitzenverdiener zu begründen: Das komme dann auch der Allgemeinheit und der Mehrheit zugute.
Es gibt keine Rechtfertigung für die Verschärfung der Ungleichheit. Es gäbe gute Gründe, die mangelnde Verteilungsgerechtigkeit endlich zu einem großen öffentlichen Thema zu machen.
In seinem Jahresgutachten von 2017/2018 stellte der Sachverständigenrat Wirtschaft fest: »In den vergangenen Jahren waren in Deutschland nur wenige Themen Gegenstand einer derart intensiven wirtschafts- und sozialpolitischen Diskussion wie die Verteilung der Einkommen und ihre Entwicklung.«3 – Das ist eine erstaunliche Feststellung. Die Autoren dieses Gutachtens leben offensichtlich in einem anderen Land. Die Verteilung der Einkommen und Vermögen war und ist gelegentlich mal Gegenstand einer Berichterstattung in den Medien. Aber von einer intensiven wirtschafts- und sozialpolitischen Diskussion der Verteilungsfrage kann man nun seit Jahrzehnten nicht mehr sprechen. Wann haben Sie das letzte Mal von deutschen Politikerinnen oder Politikern Vorschläge für eine gerechtere Verteilung von Einkommen und Vermögen wahrgenommen?
Nur gelegentlich hört man etwas davon, dass die Ungleichheit wächst. Dann zum Beispiel, wenn das Manager Magazin die Superreichen Deutschlands ins Schlosshotel nach Kronberg im Taunus einlädt, um dort gesittet eine herausragende Persönlichkeit in die Hall of Fame, in die Ruhmeshalle, aufzunehmen. Auch ARTE widmet sich immer wieder diesem Thema.4 Zu den positiven Beispielen für eine Thematisierung der Vermögensverteilung gehört auch Jens Bergers Werk Wem gehört Deutschland.5
Aber diese positiven Beispiele ändern nichts an der allgegenwärtigen Erfahrung, dass die Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschlands Medien, in der öffentlichen Diskussion wie auch in der politischen Auseinandersetzung der Parteien, anders als der Sachverständigenrat meint, kein großes Thema ist. Wie dramatisch die Entwicklung der Vermögens- und der Einkommensverteilung ist, erfährt die Mehrheit der Menschen in Deutschland selten.
Wir verdanken eine neue Debatte zu diesem Thema, und damit zu einem gravierend kritischen Zustand unserer Gesellschaften im Westen und weltweit, dem französischen Ökonomen Thomas Piketty. Von ihm erschien 2019 das Buch Kapital und Ideologie. Darin stellt er die Entwicklung der Vermögensverteilung und der eng damit verbundenen Verteilung der Einkommen im Zeitablauf, vom 19. Jahrhundert bis heute, dar. Seine neue Publikation wie auch der vorangegangene Bestseller Das Kapital im 21. Jahrhundert gründen auf eigener empirischer Forschung wie auf der Zusammenarbeit mit anderen Forscherinnen und Forschern. Piketty und seine Kollegen haben Daten zur Entwicklung der Vermögensverteilung und der Einkommensverteilung gesammelt.
Die Überschrift dieses Kapitels, der Höhenflug der Ungleichheit, ist eine Anleihe aus Pikettys neuer Publikation. Bei der zusammengefassten Darstellung der Ergebnisse, die im Kontext unseres Themas relevant sind, berufe ich mich auf Pikettys Schrift Kapital und Ideologie wie auch auf Interviews mit ihm, vor allem auf ein Interview des Schweizerischen Fernsehens (SRFKultur) vom 30. März 2020.6 Folgendes ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert:
Die Verteilung der Vermögen (und der Einkommen) war bis zum Ersten Weltkrieg unvorstellbar ungerecht. Selbst in Frankreich, dem Land der Französischen Revolution, die sich ja Gleichheit auf die Fahnen geschrieben hatte, war die Verteilung der Einkommen und Vermögen bis zum Jahre 1914 kein die Politik interessierendes Thema.
Vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis ungefähr 1980 wurde die Verteilung der Vermögen und der Einkommen gerechter, insbesondere zwischen 1950 und 1980 ist eine deutliche Verbesserung messbar. Andere Autoren, unter ihnen der US-amerikanische Ökonom Paul Krugman, haben schon ein paar Jahre früher dieses historisch interessante Phänomen beschrieben und ihm den Namen the Great Compression, die Große Kompression, gegeben. Krugman hat die damit gekennzeichnete Verringerung der Unterschiede bei Einkommen und Vermögen in der Mitte des 20. Jahrhunderts für die USA auf den New Deal des US-Präsidenten Franklin Roosevelt zurückgeführt.
Piketty spricht von »sozialdemokratischen« Gesellschaften. Diese Benennung mag dem einen oder anderen Leser und der einen oder anderen Leserin sauer aufstoßen. Lassen wir das einfach so stehen. Auch deshalb, weil es in der entscheidenden Phase in Europa und in anderen Ländern, von Schweden bis nach Griechenland, von Finnland bis nach Portugal, und selbst unter den US-Demokraten Personen gab, die sich mit Recht Sozialdemokraten nannten. Die Sozialdemokratie und die Sozialistische Internationale haben weltweit diesen fruchtbaren Beitrag für mehr Gleichheit und damit für mehr Gerechtigkeit hinter sich. Kaum einer der heute in der Verantwortung stehenden Sozialdemokraten oder Sozialisten in der westlichen Welt wird noch verstehen, welch ein Ruhmesblatt die Tatsache ist, dass das Wirken ihrer politischen Vorfahren solche Spuren hinterlassen hat.
Die Verbesserung der Einkommens- und Vermögensverteilung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und bis ungefähr 1980 hat der Produktivität der Volkswirtschaften nicht geschadet. Das bisschen mehr Gleichheit war meist mit einer Verbesserung der Bildungschancen von jungen Menschen aus Arbeiterfamilien verbunden. Das tat der wirtschaftlichen Produktivität durchaus gut. Diese Erfahrung widerspricht dem häufig verbreiteten Vorurteil, Ungleichheit sei gut für die wirtschaftliche Entwicklung und mehr Gleichheit schade der Produktivität.
Im Umfeld des Jahres 1980 gibt es eine in der Statistik erkennbare Wandlung zu mehr Ungleichheit, also einen bemerkenswerten Knick in der gesellschaftlichen Entwicklung: Abbau der Ungleichheit ungefähr bis 1980, seitdem ein »Höhenflug der Ungleichheit«.
Dieser Trend hält bis heute an. Die Ungleichheit wächst. Das gilt für Vermögen und Einkommen in ähnlicher Weise. Der Anteil der oberen zehn Prozent am Nationaleinkommen betrug in Westeuropa 1980 unter 30 Prozent, heute sind es wieder 35 Prozent. In den USA beziehen die oberen zehn Prozent schon wieder nahezu 50 Prozent und damit mehr als zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Ungleichheit mit steigender Tendenz.
Eine im Juli 2020 veröffentlichte Studie des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW) ergab, dass sich die Verteilung der Vermögen in Deutschland weiter verschlechtert hat. Die oberen zehn Prozent in Deutschland besitzen messbar mehr als bisher berechnet. Sie besitzen gut zwei Drittel des Vermögens. Das reichste Prozent der Bevölkerung allein hält 25 Prozent des Vermögens.7
Die Reichen werden immer reicher. Die Kapitalrendite der großen Vermögen übertrifft die durchschnittliche Rendite auf mittlere und kleine Vermögen um vieles. Die großen Vermögen beziehen Kapitalrenditen von bis zu sieben, acht oder gar neun Prozent, und dies nach Abzug von Inflation und Verwaltungskosten. Jeder Sparer weiß, dass solche Renditen bei 5 000 oder 10 000 Euro oder auch ein bisschen höheren Sparbeträgen nicht zu erreichen sind. Piketty erklärt die Unterschiede: Sie seien eine Folge von Regelungen zum Zugang zu den besten Finanzprodukten. Außerdem entzögen sich die großen Vermögen der Besteuerung, der die kleinen Renditen selbstverständlich unterliegen. Jede Frau und jeder Mann kann dies heute praktisch erleben: Wer einen geringen Betrag auf dem Sparkonto hat oder sonst wie anlegen will, zahlt Gebühren, statt eine reale Verzinsung zu erhalten. Jedenfalls wird der Zins in der Regel nicht positiv sein, nach Abzug der Preissteigerungen sowieso nicht.
Mit Recht stellt Piketty fest, dass der die großen Vermögen fördernde Rechtsrahmen nicht vom Himmel gefallen ist. Die Ungleichheit ist kein Naturgesetz, sondern politisch gefördert und offenbar gewollt. Die Feststellung George Orwells in Animal Farm, alle Menschen seien gleich, aber manche seien gleicher, trifft den Nagel auf den Kopf.
Ich verweise in diesem Zusammenhang auf eine Tabelle, die Jens Berger in seinem Buch Wem gehört Deutschland? wiedergegeben hat und deutlich zeigt, wie mit der Steuerpolitik den Reichen und Gutverdienenden nachgeholfen wurde:
1998
2005
2014
Spitzensteuersatz Einkommenssteuer
53 %
42 %
45 %
Kapitalertragssteuer
53 %
42 %
25 %
Körperschaftssteuer
45 %
25 %
15 %
Körperschaftssteuer auf Veräußerungsgewinne
45 %
0 %
0 %
Erbschaftssteuer
30 %
30 %
(30 %)
Vermögenssteuer
0 %
0 %
0 %
Die Verbesserung der Einkommensverhältnisse und der Vermögensverhältnisse, die zwischen 1920 und 1980 messbar war, hatte offensichtlich etwas mit der Steuerpolitik zu tun. Der Spitzensatz der Einkommensteuer war sowohl nach dem Ersten Weltkrieg als auch nach 1940 in Europa und in den USA deutlich höher als heute – in den USA und Großbritannien bei 90 Prozent und darüber, in Frankreichbei bei 60 Prozent und höher, auch in Deutschland mit 56 Prozent höher als heute.
Im Interview mit dem SRF macht Piketty im Blick auf drei besonders reiche Personen ein paar treffende Bemerkungen. Stellvertretend für die Gruppe der Superreichen nennt er: Bill Gates von Microsoft, Jeff Bezos von Amazon und Bernard Arnault, den Besitzer französischer Luxuskonzerne. Sie besäßen heute jeweils circa 100 Milliarden Dollar, vor zehn Jahren seien es jeweils etwa 30 Milliarden gewesen und fünf Jahre davor fünf Milliarden. Das ist ein bedenkenswerter, sprunghafter Anstieg supergroßer Vermögen. Auch das fällt nicht vom Himmel. Es ist ein Höhenflug der Ungleichheit, der politisch gefördert wurde und zugleich Folgen für die Politik sowie den Charakter und das Funktionieren der Demokratie hat. Ungleichheit zerstört die Demokratie.
Im Blick auf die heutige Entwicklung und zugleich im Rückblick auf die Jahre zwischen 1950 und 1980 wie auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bemerkt Piketty, dass die Lehren aus der Zeit der Kriege vergessen zu sein scheinen, im Gegensatz zur Zeit zwischen 1950 und 1980. Damals versuchte man, das kapitalistische System in ein Regelwerk einzubetten. Dann kam angeführt von Ronald Reagan, dem US-amerikanischen Präsidenten, und Margaret Thatcher, der britischen Premierministerin, die neoliberale Ideologie ins Spiel. Sie haben den Siegeszug der neoliberalen Ideologie befördert. Thatcher mit dem bekannten Spruch »There Is No Alternative«. TINA. Reihenweise beugte man sich den neuen Regeln: Deregulierung, Flexibilisierung, Lohnkürzung, Privatisierung öffentlicher Unternehmen und sozialer Sicherungssysteme, Entstaatlichung sowie Zusammenstreichen des öffentlichen Sektors.
Soll sich daran ohne Revolution etwas ändern?
Piketty ist ein ausgesprochen optimistischer Mensch, auch wenn er selbst so viele Daten liefert, die man eigentlich nur pessimistisch betrachten kann. Das gilt zum Beispiel für den Hinweis auf die unterschiedlichen Renditen und die Explosion der Vermögen der Superreichen. Wenn die Vermögen von Milliardären innerhalb von 15 Jahren von ungefähr fünf Milliarden auf ungefähr 100 Milliarden ansteigen können, dann stimmt etwas nicht, dann stinkt es und dann kann man auch mit Blick auf den politischen Einfluss und die politische Macht der Supermilliardäre nicht beruhigt schlafen gehen.
Pikettys Optimismus gründet an einer Stelle darauf, dass die deutschen Sozialdemokraten wieder die Einführung der Vermögensteuer fordern. Das ist wirklich liebenswürdig, aber es ist eine ziemlich große Fehleinschätzung: Zum einen ist die deutsche Vermögensteuer mit ihrem – in der Vergangenheit jedenfalls – geringen Satz von einem Prozentpunkt quantitativ ziemlich wirkungslos, jedenfalls wird damit nicht einmal andeutungsweise die Differenz zwischen den Renditen großer Anleger und den kleinen Sparern und ihrer Sparbeträge ausgeglichen. Zum anderen ist noch nicht ausgemacht, dass die SPD die Wiedereinführung der Vermögensteuer wirklich zum Programm erklärt. Noch scheint man am Prüfen zu sein.8
Der Neoliberalismus hat sich in den Amtsstuben der deutschen Politik und in den Universitäten und Forschungseinrichtungen der Wirtschaftswissenschaften wirkungsvoll eingenistet. Um an diesen festen Strukturen zu rütteln, muss man wirklich eine grundsätzliche und offensive Debatte führen. Die Revolution ist fällig ist als Beitrag dazu gedacht.
Seit 1980 sind 40 Jahre und damit ein halbes Menschenleben vergangen. Damals gab es eine wirkliche Zäsur in der Entwicklung unserer Gesellschaft. Die Verteilung von Einkommen und Vermögen wurde seitdem nicht wenigstens ein bisschen gerechter, sie wurde wieder ungerechter, ungleicher.