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New York City, 1882: Die junge Hutmacherin Hannah Peabody liefert Ware an die vermeintliche Verlobte des reichen Junggesellen Oliver Addleshaw aus. Doch die Lieferung geht so gründlich schief, dass Hannah sogar ihre Anstellung verliert. Überraschend eröffnet sich ihr eine neue Perspektive: Da Oliver für seine Geschäfte dringend eine weibliche Begleitung braucht, engagiert er kurzerhand Hannah. Schon bald müssen die beiden feststellen, dass sie mehr füreinander empfinden, als es ihre "geschäftliche Vereinbarung" zulässt ...
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Seitenzahl: 489
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Über die Autorin
Jen Turano wuchs in der Kleinstadt St. Clairsville, Ohio, auf und lebt heute mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Denver. Mit dem Schreiben begann sie, als ihr kleiner Sohn ihr erzählte, dass er die Geschichten, die sie sich selbst ausgedacht hatte, genauso sehr mochte wie die in den Büchern.
Jen liebt es, humorvolle Geschichten mit skurrilen Charakteren und spannenden Verwicklungen zu verfassen – und sie schreibt historische Romane, weil sie diese schon als Teenager selbst gern gelesen hat. Von ihr bislang auf Deutsch erschienen: „Die falsche Gouvernante“, „Zwei wie Katz und Hund“ und „Eine Dame außer Rand und Band“.
Für Tricia
1
New York City, 1882
Miss Peabody, ich störe Sie wirklich nur sehr ungern bei der Arbeit, aber mich hat gerade eine dringende Nachricht erreicht, die meine unverzügliche Aufmerksamkeit erfordert. Kommen Sie bitte in mein Büro. Ich muss mit Ihnen sprechen.“
Hannah Peabody legte die Feder zur Seite, die sie gerade an einem monströsen Hut hatte anbringen wollen, und folgte Mrs Feinman. Obwohl sie ahnte, dass das, was ihr ihre Vorgesetzte mitzuteilen hatte, höchstwahrscheinlich nichts Erfreuliches war, betrat Hannah das Büro und zog die Tür hinter sich zu. Sie bahnte sich einen Weg zwischen den zahlreichen Hüten hindurch, die auf dem Boden lagen, und blieb vor dem Schreibtisch stehen. Als Mrs Feinman sie einen Moment lang wortlos anschaute, musste sie sich sehr beherrschen, um nicht nervös zu zappeln.
„Möchten Sie eine Tasse Tee, meine Liebe?“, fragte Mrs Feinman schließlich.
Schlagartig bildeten sich Schweißperlen auf Hannahs Stirn.
Mrs Feinman hatte ihr noch nie einen Tee angeboten. Kein einziges Mal in der ganzen Zeit, die sie bereits für diese Frau arbeitete!
„Danke, aber ich habe keinen Durst“, brachte sie mühsam über die Lippen, obwohl ihr Mund plötzlich wie ausgetrocknet war.
„Ich bestehe darauf.“ Mrs Feinman deutete mit dem Kopf zu einem Teeservice.
„Eine Tasse Tee wäre köstlich.“ Hannah trat zu der Teekanne und schenkte sich eine Tasse ein. Einige Teetropfen landeten auf dem Tisch, da ihre Hände plötzlich zu zittern begonnen hatten. Sie wischte die Tropfen mit einem Zipfel ihres Ärmels verstohlen weg, drehte sich mit der Tasse in der Hand um und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass Mrs Feinman in einer Modezeitschrift blätterte. Hannah räusperte sich. „Sie sprachen von einer dringenden Nachricht, Mrs Feinman?“
„Ach ja! Natürlich.“ Mrs Feinman hielt inne und deutete mit dem Kopf zu einem Stuhl, auf dem sich mehrere Hüte stapelten. „Setzen Sie sich doch.“
Hannah glitt vorsichtig auf die vorderste Stuhlkante und hoffte inständig, ihre modische Tournüre würde keinen der Hüte zerdrücken. Es war wirklich schade, dass sie die einklappbare Tournüre, an deren Entwicklung sie arbeitete, noch nicht fertiggestellt hatte. Eine solche Tournüre wäre in diesem Moment sehr hilfreich gewesen.
„Es geht darum“, begann Mrs Feinman, „dass Sie eine Hutlieferung übernehmen müssen.“
Die Teetasse in Hannahs Hand erstarrte auf halbem Weg zu ihren Lippen. Sie runzelte verwirrt die Stirn. „Eine Hutlieferung?“
„So ist es. Ich muss ausdrücklich betonen, dass es sich um eine sehr wichtige Lieferung handelt, die ich nicht jedem anvertrauen würde.“
Hannah stellte die Tasse ab, erhob sich und brauchte eine Sekunde, um ihre Gedanken zu ordnen, bevor sie es wagte, etwas zu sagen. „Ich hoffe sehr, dass Sie es mir nicht übelnehmen, Mrs Feinman, aber ich würde mich nicht wohl dabei fühlen, etwas auszuliefern, das – wenn ich so sagen darf – fragwürdiger Natur ist.“
Mrs Feinmans fleischige Wangen begannen zu zittern, ihre Gesichtsfarbe nahm ein interessantes Dunkelrot an, und dann begann die Frau zu Hannahs Erstaunen, laut zu lachen. Schließlich schluckte sie ein letztes Mal belustigt und forderte Hannah mit einer Handbewegung auf, sich wieder zu setzen. „Es ist wirklich interessant, dass Sie mir zwielichtige Geschäfte zutrauen, Miss Peabody. Aber ich versichere Ihnen, dass Ihre Befürchtungen völlig unbegründet sind.“ Sie tippte mit dem Finger an eines ihrer vielen Kinne. „Obwohl ich mir schon oft gedacht habe, dass es für die Belebung meines Geschäftes hilfreich sein könnte, wenn ich tatsächlich zu fragwürdigen Machenschaften neigen würde – was, wie ich noch einmal betonen möchte, natürlich nicht der Fall ist.“
Da Hannah beim besten Willen keine passende Erwiderung auf diese sonderbare Bemerkung einfiel, kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück, setzte sich geistesabwesend und vernahm im selben Augenblick ein unheilverkündendes Knirschen. Ihr war sofort klar, dass sie nun ohne Zweifel auf einem ruinierten Hut saß. Wie viel würde Mrs Feinman als Wiedergutmachung für den angerichteten Schaden verlangen? Hannah besaß ein paar Dollar, aber sie hatte das Geld mühsam gespart, um es für ein nettes Geburtstagsessen auszugeben und nicht für einen zerstörten Hut.
Sie brauchte nicht unbedingt ein köstliches Steak, um den Tag ihrer Geburt zu feiern. Nein, die angenehme Gesellschaft ihrer Freundinnen wäre auch so sehr schön, aber ein Steak hätte dem Abend eine besondere Note verliehen, und sie hatte seit Monaten kein Rindfleisch mehr gegessen.
„… deshalb müssen Sie die Kutsche nehmen und dafür sorgen, dass Mr Addleshaws Verlobte mit den Hüten zufrieden ist, die wir für sie entworfen haben.“
Alle Gedanken an ein köstliches Rindersteak verflogen im Bruchteil einer Sekunde. „Verstehe ich Sie richtig? Bei der dringlichen Situation, von der Sie gesprochen haben, handelt es um die Auslieferung von Hüten?“
„Ganz richtig. Aber es handelt sich dabei nicht um irgendwelche Hüte, sondern um Hüte, die speziell für Miss Birmingham entworfen wurden. Sie ist erst vor Kurzem in New York eingetroffen und ist die Verlobte von Mr Oliver Addleshaw, einem der vermögendsten Männer in unserem Land.“
Mrs Feinman zwinkerte Hannah verschwörerisch zu. „Man erzählt sich, dass er durch Finanzgeschäfte ein gigantisches Vermögen gemacht hat. Und ich verfolge die Absicht, durch Geschäfte mit seiner Verlobten ein Stück von diesem Kuchen abzubekommen.“ Sie nahm einen Brief, der auf ihrem Schreibtisch lag, und begann, sich damit Luft zuzufächern. „Die Nachricht von Miss Birmingham klingt allerdings ein wenig hysterisch. Die junge Dame befindet sich nach eigener Aussage in einer Notlage. Sie fürchtet, dass die Hüte, die sie bestellt hat, möglicherweise nicht ganz zu der Garderobe passen, die sie sich heute Morgen liefern ließ.“
Hannahs Kinnlade fiel nach unten. In ihrer Welt bedeutete „Notlage“, dass jemand gestorben oder die Miete überfällig war oder dass aus Geldmangel kein Essen auf dem Tisch stand. „Notlage“ bedeutete jedoch nie, dass man eine Hutlieferung nicht abwarten konnte.
„Ich habe Timothy bereits losgeschickt, um die Kutsche zu holen“, sprach Mrs Feinman unbeirrt weiter. „Er müsste jeden Augenblick zurück sein. Sie brauchen nur Miss Birmingham dabei zu helfen, die Hüte anzuprobieren. Beruhigen Sie sie einfach, falls sie sich Gedanken darüber machen sollte, dass der eine oder andere Stil ihre Garderobe nicht perfekt ergänzen würde.“
„Bitte entschuldigen Sie, Mrs Feinman, aber wenn mir die Frage erlaubt ist: Warum nehmen Sie sich dieser Sache nicht persönlich an, da es sich offenbar um eine sehr delikate Angelegenheit handelt?“
Mrs Feinmans Miene wurde ein wenig verschlagen. „Ich dachte, es sei höchste Zeit, Sie aus dem Hinterzimmer zu holen und mit unseren Kunden in Kontakt zu bringen.“
„Und Sie glauben, dass der erste dieser Kontakte der mit der Verlobten eines der reichsten Männer Amerikas sein sollte?“
„Miss Peabody, Sie sind hart im Nehmen. Deshalb habe ich Sie für diese unangenehme, ähm, entzückende Aufgabe ausgewählt. Gladys oder Peggy kann ich dafür nicht gebrauchen, da Miss Birmingham ein etwas aufbrausendes Temperament hat. Die beiden wären binnen weniger Minuten in Tränen aufgelöst. Sie hingegen würden wahrscheinlich nicht einmal weinen, wenn Ihr Hund stirbt.“
„Ich habe keinen Hund.“
„Darum geht es nicht. Falls Sie einen Hund hätten und er auf tragische Weise ums Leben käme, würden Sie sicher keine einzige Träne vergießen, nicht wahr?“
Hannah zwang sich zu einem Lächeln. „Ich schätze Ihr Vertrauen in mich wirklich sehr, aber ich muss Sie daran erinnern, dass Sie mir, als Sie mich eingestellt haben, ausdrücklich erklärten, dass ich mich im Hinterzimmer aufzuhalten hätte und keinen Kontakt zu den Kunden haben sollte. Aus diesem Grund hat es nichts mit Bescheidenheit zu tun, wenn ich Sie darauf hinweise, dass ich für den Umgang mit einer so überaus wichtigen Kundin nicht unbedingt geeignet bin.“
„Ich habe Sie nicht deshalb in die Werkstatt verbannt, weil ich an Ihren Fähigkeiten im Umgang mit unseren Kunden zweifle, Miss Peabody. Der Grund dafür war vielmehr, dass Sie mit Ihrem viel zu hübschen Gesicht, Ihren ungewöhnlichen violetten Augen und Ihren faszinierenden schwarzen Haaren unsere Kundinnen in den Schatten stellen würden. Allerdings“, sie seufzte theatralisch, „ist Miss Birmingham anders als unsere üblichen Kundinnen. Sie nimmt offenbar an meiner relativ üppigen Figur Anstoß und hat ausdrücklich verlangt, dass ihre Hüte von einer Person mit angenehmem und schlankem Erscheinungsbild geliefert werden.“ Mrs Feinman gestikulierte in Hannahs Richtung. „Da Sie die einzige verfügbare Person mit diesen Merkmalen sind, müssen Sie ihr die Hüte bringen.“
Hannah war sofort hellhörig. Ihr war zwar sehr wohl bewusst, dass sie eine schlanke Figur besaß, da sie häufig nicht genug zu essen hatte, aber sie war ziemlich sicher, dass sie einen leichten Anflug von Schadenfreude in Mrs Feinmans Stimme vernahm. Sie hegte den starken Verdacht, dass diese Schadenfreude daher rührte, dass ihre Arbeitgeberin hoffte, sie würde diese Miss Birmingham in den Schatten stellen. Das wäre allerdings nicht gerade förderlich. Doch bevor sie protestieren konnte, beugte sich Mrs Feinman neugierig vor.
„Ich muss zugeben, dass es mich brennend interessiert, woher Sie dieses auffallend attraktive Aussehen haben. Haben Sie es von Ihrer Mutter oder von Ihrem Vater geerbt?“
„Ich habe meine Eltern nie kennengelernt, Mrs Feinman. Meine Mutter starb bei meiner Geburt, und mein Vater … Nun ja …“
Mrs Feinman betrachtete sie mitfühlend. „Bitte entschuldigen Sie, Miss Peabody. Ich sollte einer Frau, die wie Sie gezwungen ist, sich allein in der Welt durchzuschlagen, keine so persönlichen Fragen stellen. Aber ungeachtet Ihrer Familiengeschichte sind Sie eine hübsche junge Frau. Genau das, was Miss Birmingham verlangt hat. Deshalb werden Sie ihr die Hüte bringen.“ Sie rümpfte die Nase. „Ich möchte Ihnen aber einen guten Rat mit auf den Weg geben: Miss Birmingham scheint die Angewohnheit zu haben, mit Dingen zu werfen, wenn sie verärgert ist. Nehmen Sie sich also vor fliegenden Schuhen in Acht.“
Ein Schweißtropfen lief über Hannahs Rücken. „Diese Miss Birmingham scheint wirklich eine sehr charmante Frau zu sein, aber ich glaube ehrlich nicht, dass ich über die gesellschaftliche Etikette und das nötige Auftreten verfüge, das im Umgang mit einer solchen Dame dringend erforderlich ist.“
„Ihr natürliches Auftreten ist für dieses Gespräch vollkommen ausreichend. Sie dürfen natürlich nicht erwarten, dass Miss Birmingham Sie einlädt, sich zu setzen und mit ihr eine Tasse Tee zu trinken.“
„Und wenn sie nicht nur mit Schuhen wirft, sondern mich tätlich angreift? Darf ich mich dann verteidigen?“
„Auf keinen Fall!“ Mrs Feinman wedelte vehement mit einem ihrer dicken Finger. „Wenn Sie sich gegenüber einer Dame der Gesellschaft zur Wehr setzen, schaden Sie damit dem guten Namen meines Geschäfts. Falls das passieren würde, müsste ich Ihr Beschäftigungsverhältnis mit sofortiger Wirkung beenden.“
„Aber …“, setzte Hannah auf der Suche nach einem plausiblen Grund an, von dieser tückischen Aufgabe verschont zu bleiben. „Was ist mit Mrs Wilhelms Hut? Ich habe erst zehn der fünfzig Federn angebracht, die sie bestellt hat. Und sie erwartet, dass ihr dieser Hut morgen geliefert wird.“
„Wenn Sie von Miss Birmingham zurückkommen, haben Sie noch genügend Zeit, um Mrs Wilhelms Hut fertigzustellen.“
Hannah warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon nach zwei. Enttäuschung machte sich in ihr breit. Bis sie von Miss Birmingham zurückkäme und Mrs Wilhelms Hut fertig hätte, bliebe keine Zeit mehr, ihren Geburtstag zu feiern.
Sie atmete tief ein und beschloss, alle Vorsicht in den Wind zu schlagen und an die Freundlichkeit zu appellieren, die vielleicht irgendwo tief verborgen in Mrs Feinman steckte. „Ich wollte es eigentlich nicht erwähnen, da sich niemand gezwungen fühlen soll, viel Aufheben um mich zu machen, aber ich habe heute Geburtstag. Gewöhnlich habe ich wirklich nichts dagegen, Überstunden zu machen, aber ich hatte gehofft, dass ich heute nicht länger arbeiten müsste, da meine beiden besten Freundinnen mit mir essen gehen wollen.“
„Ah, Sie haben Geburtstag! Wie schön!“, rief Mrs Feinman aus. „Ich liebe Geburtstage. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich einen Kuchen bestellt.“ Sie kramte zwischen den Unterlagen, die auf ihrem Schreibtisch verstreut waren, und zog ein zerkrümeltes Teigstück heraus, das einmal eine Torte gewesen sein könnte. „Hier! Das ist von dem Kuchen, den ich heute Morgen hatte, übrig geblieben.“
Hannah blieb wie erstarrt sitzen, aber da ihr Mrs Feinman den Tortenrest entschlossen hinhielt, hatte sie keine andere Wahl, als aufzustehen und ihn zu nehmen. Sofort blieb der klebrige Zuckerguss an ihren Fingern hängen. „Danke. Die Torte schmeckt bestimmt köstlich.“
Mrs Feinman strahlte sie an. „Bitte sehr. Jetzt sollten Sie aber aufbrechen.“ Sie legte einen Finger an ihre Wange. „Wissen Sie was? Sie brauchen heute nicht zurückzukommen, um Mrs Wilhelms Hut fertigzustellen. Sie können morgen früher kommen und das erledigen. Was halten Sie davon?“
Ohne Hannah Gelegenheit zu geben, darauf etwas zu erwidern, deutete Mrs Feinman zur Tür. „Timothy müsste inzwischen vorgefahren sein. Denken Sie daran: Seien Sie freundlich, und gehen Sie in Deckung, wenn Schuhe geflogen kommen.“
„Aber –“
„Kein Aber, Miss Peabody! Unangenehme Dinge sollte man nicht unnötig vor sich herschieben. Genießen Sie die Torte.“
Hannah warf einen Blick auf Mrs Feinman, die sich wieder ihrer Modezeitschrift widmete, dann betrachtete sie den Tortenrest, der in ihrer Hand klebte, und schluckte nur mühsam ein Seufzen hinunter. Sie musste an das Gebet denken, das sie an diesem Morgen gesprochen hatte.
Ihr Geburtstagsgebet hatte Tradition.
Seit sechs Jahren bat sie Gott, ihr etwas Wunderbares zum Geburtstag zu schenken. Er hatte ihren Wunsch nicht immer erfüllt, aber in einem Jahr hatte er ihr unerwartet Geld zukommen lassen, mit dem sie ihre Miete hatte zahlen können, als sie schon befürchtet hatte, sie stünde bald auf der Straße. In einem anderen Jahr hatte er sie zu Mrs Feinman geführt, die Hannah eine feste Anstellung gegeben hatte. Als sie im vergangenen Jahr einundzwanzig geworden war, hatte sie Gott um einen Ehemann gebeten. Diese Bitte hatte er zwar nicht erhört, aber ihre Tante Jane hatte ihr – wenn auch sehr widerstrebend – ein Kleid gegeben, das früher ihrer Mutter gehört hatte. Da sie ihre Mutter nicht gekannt und nie auch nur ein Porträt von ihr gesehen hatte, hatte ihr dieses Kleid verraten, dass ihre Mutter sehr schlank gewesen war. Besonders hatte sie sich darüber gefreut, dass der Seidenstoff einen dezenten Violettton hatte, ihre Lieblingsfarbe.
In diesem Jahr hatte sie beschlossen, keine allzu hohen Erwartungen zu haben. Deshalb hatte sie Gott einfach nur gebeten, ihr etwas zu schenken, das ihr Freude bereiten würde.
Gottes Vorstellung von „Freude“ bestand doch sicher nicht aus einem halb aufgegessenen Stück Torte und einer launischen Dame der Gesellschaft?
„Miss Peabody!“, rief Mrs Feinman plötzlich und hob den Blick von ihrer Zeitschrift. Hannah zuckte erschrocken zusammen. „Ach, Sie sind ja noch da! Gut. Ich hatte gedacht, Sie wären schon gegangen … egal. Fast hätte ich etwas vergessen.“
Sie schob einige Papiere beiseite, zog ein Blatt heraus und hielt es hoch. „Sie müssen Miss Birmingham die Rechnung geben. Es sei denn natürlich, Mr Addleshaw ist zu Hause. Als ich mich vergangene Woche mit seiner Verlobten getroffen habe, war er verreist und mit dem beschäftigt, was wichtige Männer tun, um viel Geld zu verdienen. Machen Sie Miss Birmingham unmissverständlich klar, dass ich zeitnah die vollständige Bezahlung der Rechnung erwarte.“
„Ich soll diese Rechnung entweder Mr Addleshaw oder Miss Birmingham geben und sie davon in Kenntnis setzen, dass sie umgehend zahlen sollen?“
„Keiner der beiden wird an dieser Aufforderung Anstoß nehmen, falls das Ihre Sorge sein sollte.“ Ihre Vorgesetzte warf einen Blick auf die Rechnung, lächelte und hob dann den Kopf. „Gütiger Himmel! Mit diesem Hut können Sie nicht gehen.“
„Ich soll einen anderen Hut aufsetzen?“
„Unbedingt! Mit diesem Hut ist natürlich alles in Ordnung, aber er ist viel zu verlockend, um sich damit in Miss Birminghams Nähe zu wagen. Ich würde dieser Frau zutrauen, dass sie ihn Ihnen vom Kopf reißt. Das wollen wir doch nicht riskieren, nicht wahr? Besonders, da heute Ihr Geburtstag ist.“ Ihre Miene wurde berechnend. „Wissen Sie, was wir machen? Sie können mir Ihren Hut im Tausch gegen den geben, auf den Sie sich soeben so achtlos gesetzt haben. Auf diese Weise bin ich nicht gezwungen, Ihren schwer verdienten Lohn als Entschädigung einzubehalten. Sie können das als weiteres Geburtstagsgeschenk betrachten.“
Hannah verdrängte nur mühsam den unerfreulichen Gedanken, dass sich dieser Tag zu einer einzigen Enttäuschung entwickelte. Sie drehte sich um und betrachtete das, was von dem Hut übrig war, den sie zerdrückt hatte. „Sind das … Vögel?“
„Das waren Vögel“, korrigierte Mrs Feinman sie, „bevor Sie sich auf sie gesetzt haben. Jetzt ähneln sie eher Mäusen. Sehr traurig aussehenden Mäusen.“
„Und Sie glauben wirklich, ich sollte mit traurig aussehenden Mäusen auf dem Kopf zu Miss Birmingham fahren?“
„Miss Peabody, Sie trödeln schon wieder.“
„Sie haben recht“, murmelte sie und legte den Rest der Torte auf die Kante von Mrs Feinmans Schreibtisch. Sie zog die Haarnadeln aus ihrem Hut und reichte ihn Mrs Feinman. Dann drehte sie sich um und griff nach dem, was von dem Vogelhut übrig war. Sie setzte den Hut auf und steckte ihn rasch fest. Als ein zerzauster Vogel vor ihrem linken Auge baumelte und ihr die Sicht versperrte, erschauderte sie.
„So können Sie beruhigt gehen. Diesen Hut reißt Ihnen Miss Birmingham bestimmt nicht vom Kopf“, versicherte Mrs Feinman ihr und drehte den Hut, von dem sich Hannah hatte trennen müssen, in den Händen. „Das ist wirklich ein kreativer Entwurf, Miss Peabody. Er hat die perfekte Größe für eine Frau, die modisch aussehen will, aber von ihrem Hut nicht behindert werden möchte. Haben Sie zufällig noch mehr Hüte, die in diesem Stil gestaltet sind und die wir hier im Salon zum Verkauf anbieten könnten?“
„Ich habe zwar eine große Auswahl an Hüten zu Hause, aber leider keinen, der sich zum Verkauf in Ihrem Salon eignen würde. Ich verwende dafür Material, das von Hüten stammt, die Damen der Gesellschaft in die Kleidersammlung für die Armen geben.“
„Sie nehmen Hüte aus der Kleidersammlung für die Armen?“
„Ich stehle sie nicht“, erklärte Hannah schnell. „Ich habe vom Pfarrer die Erlaubnis, die eleganten Hüte oder Kleider zu nehmen, für die ich Verwendung habe, da die Spendentonnen mit viel zu vielen extravaganten Kleidungsstücken gefüllt sind.“ Sie zuckte die Achseln. „Seit die Männer immer vermögender werden, sind ihre Frauen und Töchter in Bezug auf ihre Mode sehr anspruchsvoll geworden und geben ihre alte Garderobe viel schneller wieder weg als früher. Aber die ärmere Bevölkerungsschicht hat für solche luxuriösen Gegenstände leider keine Verwendung. Deshalb habe ich die Erlaubnis, sie zu nehmen.“ Sie lächelte. „Ich gestalte die Kleider um, schneide etwaige Flecken heraus, die den Stoff verunstalten, und biete dann Frauen mit begrenzten finanziellen Mitteln zu einem erschwinglichen Preis schöne Kleider an, die sie zu besonderen Anlässen tragen können.“
„Faszinierend!“, rief Mrs Feinman aus. „Ich würde wirklich gern mehr darüber hören, aber Sie sollten jetzt endlich aufbrechen.“ Sie deutete zur Tür. „Viel Glück! Und vergessen Sie Ihren Kuchen nicht. Aber noch wichtiger: Vergessen Sie die Rechnung nicht!“
Hannah nahm zuerst die Rechnung und dann widerstrebend die Torte und verließ das Büro. Sie bemühte sich, den zerstörten Vogel zu ignorieren, der über ihrer Wange baumelte. An ihrem Arbeitstisch nahm sie ihre Schürze ab und schlüpfte in ihre Handschuhe. Sie steckte die Rechnung in ihr Handtäschchen, nahm den Kuchen und nickte den drei Frauen, die mit ihr zusammenarbeiteten, zum Abschied zu.
Sie verließ den Hutsalon und begab sich zu Mrs Feinmans Kutsche, die immer dann zum Einsatz kam, wenn Mrs Feinman einen guten Eindruck machen wollte. Als sie die Tür öffnete, wanderte ihr Blick über die bis zur Decke gestapelten Hutschachteln, die in die Kutsche gestopft worden waren. Ein kurzer Blick zum Himmel erklärte, warum die Hutschachteln nicht auf dem Kutschendach befestigt waren. Es sah nach Regen aus. Und da in der Kutsche kein Platz war, würde sie wahrscheinlich nass werden.
Sie hatte das unangenehme Gefühl, dass ihr heute wohl nichts Wunderbares widerfahren würde.
Gott hatte sie und ihre kleine Geburtstagsbitte offenbar vergessen.
„Ich habe hier oben einen Platz für Sie frei gehalten.“
Hannah lächelte. Timothy, der junge Mann, der als Fahrer für Mrs Feinman arbeitete, hielt ihr grinsend die Hand hin. Sie warf den Kuchenrest einem hungrig aussehenden Hund hin, der den Gehweg schnüffelnd nach etwas zu fressen absuchte, trat an die Kutsche und ergriff Timothys angebotene Hand. Ihre Stimmung besserte sich schnell, als Timothy während der Fahrt anfing, sie mit Geschichten von seiner Frau zu unterhalten, mit der er erst seit Kurzem verheiratet war.
„… ich merkte also ganz vorsichtig an, dass die Suppe, die mir meine Frau serviert hatte, kalt war. Daraufhin hat sie mir den Rest der eiskalten Suppe über den Kopf gegossen – und die Terrine war noch randvoll!“
Hannah lachte. Als Timothy die Pferde schließlich in eine schmale Gasse lenkte, wurde sie schnell wieder ernst. Er zog an den Zügeln, und die Kutsche blieb in einem großen Hof stehen, der mit Backsteinen gepflastert war. Die Rückseite des beeindruckenden Hauses bestand ebenfalls aus roten Backsteinen.
Hannah legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die vier Stockwerke aus kunstvoll bearbeiteten Steinen und zahlreichen Buntglasfenstern.
Ihr Magen begann sofort zu rumoren. Sie war für diese Situation wirklich schlecht gerüstet, auch wenn Mrs Feinman offenbar dachte, dass sie sie meistern könnte. Sie war nicht einmal sicher, ob sie vor Miss Birmingham einen Knicks machen sollte. Vielleicht wurde auch nur erwartet, dass sie höflich den Kopf neigte, aber wie sollte sie reagieren, wenn sie mit Schuhen beworfen wurde?
„Nicht schlecht, was? So viele Buntglasfenster auf der Rückseite eines Hauses, wo sie kaum jemand sieht?“ Timothys Bemerkung erinnerte sie daran, dass sie immer noch auf dem Kutschbock saß, während Timothy schon abgestiegen war und ihr seine Hand hinhielt. Sie griff danach und landete leichtfüßig auf dem Pflaster.
„Nur gut, dass meine Molly das nicht sieht“, sagte Timothy grinsend. „Sonst käme sie wahrscheinlich auf dumme Ideen, aber ich werde mir nie mehr als eine Hütte leisten können.“
Hannah erwiderte sein Grinsen und zog dann die Kutschentür auf. „Ich fand schon immer, dass Hütten einen gewissen Charme haben, wohingegen solche großen Herrenhäuser … Was macht man mit so viel Platz?“ Sie zog einige Schachteln aus der Kutsche und reichte sie Timothy. Dann nahm sie zwei weitere und steuerte damit auf den Dienstboteneingang zu. Plötzlich zerschnitt ein lautes Kreischen die Luft. Sie blieb abrupt stehen, drehte sich in die Richtung um, aus der der Lärm drang, und kniff verwirrt die Augen zusammen.
Eine junge Frau kam um die Seite des Hauses gestürmt und schrie aus voller Kehle. Noch beunruhigender als die Schreie war jedoch die Bekleidung der Frau.
Ein dünner grüner Seidenstoff umwehte ihre Figur, aber es handelte sich dabei nicht um ein Kleid, sondern einen Morgenmantel. Glitzernde grüne Hausschuhe mit unpraktischen hohen Absätzen schauten bei jedem ihrer wütenden Schritte unter dem Saum hervor, und ein langer, mit Federn durchzogener Schal, den die junge Frau um den Hals geschlungen hatte, wehte im Wind hinter ihr her. Ihre brünetten Haare waren zu einem Knoten hochgesteckt, aber einzelne Strähnen hatten sich aus den Nadeln gelöst – zweifellos durch das heftige Stapfen der Frau. Sie umklammerte einen zusammengeklappten Regenschirm und wedelte damit wie wild durch die Luft.
„Er ist ein Ungeheuer! Ein Wahnsinniger! Ich will nie wieder etwas mit ihm zu tun haben!“, verkündete sie kreischend einer älteren Frau, die hinter ihr hereilte.
„Deine Gefühle trüben dein Urteilsvermögen, Lily“, entgegnete die ältere Dame mit einer Stimme, die eher schrill als beruhigend klang. „Mr Addleshaw war von unserem unerwarteten Erscheinen in seinem Haus nur überrascht. Wenn wir ihm die Sache zu seiner Zufriedenheit erklärt haben, beruhigt er sich bestimmt schnell, und dann seid ihr beide wieder ein Herz und eine Seele.“
Die junge Frau namens Lily blieb abrupt stehen. „Ich hege nicht den Wunsch, mit diesem Mann ein Herz und eine Seele zu sein.“
„Das ist doch lächerlich“, widersprach die ältere Frau. „Du weißt, dass dein Vater und ich fest entschlossen sind, eine Verbindung zwischen unseren beiden Familien herbeizuführen.“
„Dann heirate du ihn doch, Mutter! Ich werde ihn ganz bestimmt nicht heiraten“, schimpfte Lily und wedelte mit dem Schirm in Richtung ihrer Mutter, bevor sie weiterstapfte.
„Glaube mir, wenn ich ein paar Jahre jünger und nicht mit deinem Vater verheiratet wäre, würde ich mir das sicher überlegen.“ Lilys Mutter eilte hinter ihrer Tochter her und ergriff sie am Arm. „Du musst vernünftig sein, Liebes. Für uns steht viel auf dem Spiel.“
„Mir steht aber nicht der Sinn danach, vernünftig zu sein, Mutter.“ Lily entzog sich ihrem Griff, schlug die arme Frau mit dem Schirm und stürmte weiter. Als ihr Blick auf Hannah fiel, blieb sie abrupt stehen. Ihre Lippen zogen sich zu einem dünnen Strich zusammen, ihre Nasenflügel blähten sich auf und ihre braunen Augen blickten richtiggehend bedrohlich. „Wer sind Sie denn?“
Hannah zwang sich zu einem Lächeln. „Ich bin Miss Peabody.“
Lily kniff die Augen zusammen. „Wollen Sie zu Mr Addleshaw?“
Hannah trat einen Schritt zurück. „Nein. Ich komme in Mrs Feinmans Auftrag und soll Miss Birmingham ihre Hüte bringen.“
Lily betrachtete Hannah von Kopf bis Fuß. „Sie sind ein Hutmädchen?“ Als ihr Blick an Hannahs Hut hängen blieb, fauchte sie abfällig. „Aber offenbar kein gutes!“
Hannah rief sich in Erinnerung, dass sie auf keinen Fall ihre Stelle verlieren durfte, und lächelte höflich. „Ich bin tatsächlich ein … äh … Hutmädchen, auch wenn ich den Hut, den ich aufhabe, nicht selbst entworfen habe. Aber das interessiert Sie bestimmt nicht. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, die bestellten Hüte anzuprobieren, falls Sie Miss Birmingham sind.“
„Natürlich bin ich Miss Birmingham!“
„Wunderbar. Darf ich sagen, wie sehr es mich freut, Sie kennenzulernen, und –“
„Ich tausche mit Dienstboten keine Höflichkeiten aus“, fiel Miss Birmingham ihr grob ins Wort, während sie näher trat und mit dem Finger auf eine der Hutschachteln deutete. „Zeigen Sie mir, was Sie da drinnen haben.“
Hannah warf einen Blick zum Himmel hinauf, der mit jeder Sekunde bedrohlicher aussah, und wollte vorschlagen, einen trockeneren Ort aufzusuchen, um die Hüte anzuprobieren, aber sie wurde von einer Männerstimme abgelenkt.
„Miss Birmingham! Gehen Sie sofort ins Haus zurück und ziehen Sie sich an. Sie sind definitiv nicht angemessen gekleidet, um im Freien herumzulaufen.“
Hannahs Blick glitt an Miss Birmingham vorbei, wo sie einen Mann entdeckte, der mit einem großen Hund, den sie keiner bestimmten Rasse zuordnen konnte, in ihre Richtung schritt. Ihre Augen weiteten sich, als sie die Größe des Mannes, seine breiten Schultern und … den schlechten Sitz seines Jacketts bemerkte, das sich über seiner Brust spannte und eindeutig nicht auf seinen muskulösen Körperbau zugeschnitten war.
So unangebracht das in diesem Moment auch sein mochte, sie fragte sich unwillkürlich, wer wohl sein Schneider war und wie viel er besagtem Schneider für ein Jackett gezahlt hatte, das ihm sichtlich nicht passte.
Ihre Aufmerksamkeit wanderte zum Gesicht des Mannes. Sie betrachtete die braunen Augen und die leicht gebogene Nase, die ihm das Aussehen eines Falken verlieh. Dieser Eindruck wurde durch seine Haare noch verstärkt, die fast genauso schwarz waren wie ihre eigenen. Er hatte die Lippen zusammengekniffen und sein kräftiges Kinn war leicht vorgeschoben – ein deutliches Zeichen dafür, dass er wütend war.
Ihr Blick wanderte wieder zu Miss Birmingham, und sie erwartete, dass diese erzittern würde, aber stattdessen kochte diese Frau vor Wut. Sie warf ihren gefiederten Schal über ihre Schulter und betrachtete den Mann mit tiefster Verachtung.
„Sie maßen sich an, mich herumzukommandieren?!“, kreischte Miss Birmingham aufgebracht. „Sie vergessen sich, Mr Addleshaw! Ich bin Lily Birmingham, die Tochter des ehrenwerten John Birmingham! Und als solche begebe ich mich in der Kleidung ins Freie, die mir beliebt.“
„Sie haben nur einen Bademantel an“, argumentierte Addleshaw. „Ihr Vater wäre damit bestimmt nicht einverstanden. Und es ist wirklich unerhört, dass ausgerechnet Sie von Anmaßung sprechen, nachdem Sie sich angemaßt haben, ohne mein Wissen in mein Haus einzuziehen. Ich hatte Ihnen und Ihren Eltern angeboten, Ihnen eine angemessene Unterkunft in einem ehrbaren Hotel zu reservieren.“
Miss Birmingham hob ihr spitzes Kinn. „Genau aus diesem Grund will ich Sie nicht mehr heiraten! Sie sind ein ungehobelter Flegel.“
„Entschuldigen Sie, Miss Birmingham, wenn ich Sie darauf aufmerksam mache: Wir sind weder verlobt noch habe ich je vorgeschlagen, dass sich an diesem Zustand in absehbarer Zeit etwas ändern könnte. Ich habe Sie zu dem ausdrücklichen Zweck nach New York eingeladen, in den nächsten Wochen einige gesellschaftliche Veranstaltungen mit mir zu besuchen. Und ich war Ihnen gegenüber vollkommen offen, als ich Ihnen erklärte, warum ich Sie hier brauche. Wie Sie sich bestimmt erinnern, kommt der Herzog von Westmoore bald nach New York, und ich habe Sie um Ihre Gesellschaft gebeten, damit Sie mir helfen, den Herzog zu unterhalten, während ich mit ihm Geschäftsverhandlungen führe. Dass Sie ohne Absprache mit mir früher als vereinbart in der Stadt eintreffen und sich in meinem Haus einnisten, übersteigt wirklich mein Vorstellungsvermögen.“
Panik erfasste Hannah.
Mr Addleshaw und Miss Birmingham waren nicht verlobt! Und laut Mr Addleshaw waren sie das nie gewesen. Das bedeutete, dass dieser Tag auf eine Katastrophe zusteuerte. Zweifellos wäre keiner der beiden, die hier vor ihren Augen stritten, begeistert, wenn sie ihnen in diesem ungünstigen Moment auch noch Mrs Feinmans Rechnung präsentierte.
„… und Sie können vergessen, dass ich Ihnen in Bezug auf den Herzog helfe“, schimpfte Miss Birmingham weiter. „Sie sind gemein und grob, und Sie schreien mich an, seit ich Ihr Haus betreten habe.“
„Natürlich schreie ich“, erklärte Addleshaw steif, ohne die Lippen zu bewegen. „Sie haben mein Büro in ein Ankleidezimmer verwandelt!“
„Das Licht in diesem Raum bringt meinen Teint besser zur Geltung als dieses erbärmliche Zimmer, das mir Ihre grauenhafte Haushälterin zugewiesen hat.“
Hannah beobachtete, wie Addleshaw den Mund öffnete, schloss, wieder öffnete und dann ein weiteres Mal schloss, als könne er nicht entscheiden, was er darauf erwidern sollte.
Daraus konnte sie ihm keinen Vorwurf machen.
Ihr war schnell klar geworden, dass Miss Birmingham keine Frau war, mit der man vernünftig sprechen konnte.
„Sie! Hutmädchen!“, fauchte Miss Birmingham plötzlich. „Machen Sie sich nützlich, und zeigen Sie mir, was Sie in diesen Schachteln haben!“
„Sie wollen jetzt die Hüte anprobieren?“, war alles, was Hannah dazu einfiel.
„Deshalb sind Sie doch hier, nicht wahr?“
„Nun … ja … natürlich, aber –“
„Hören Sie bitte auf, sich so unmöglich zu benehmen, Miss Birmingham“, fiel Addleshaw ihr ins Wort, bevor er Hannah höflich zunickte. „Sie, meine Liebe, können mit Ihren Hüten in Ihren Laden zurückfahren. Miss Birmingham wird sich bei Ihnen melden, sobald sie in einem Hotel Quartier bezogen hat.“
Bevor Hannah darauf etwas erwidern konnte, begann Miss Birmingham, Addleshaw anzuschreien. Hässliche, schreckliche Anschuldigungen, die wirklich nicht aus dem Mund einer Dame kommen sollten. Hannah erkannte, dass es ihr nicht gut bekommen würde, noch länger in der Nähe dieser Frau zu bleiben, und beschloss, Addleshaws Rat zu befolgen und in den Hutsalon zurückzukehren. Sie wusste, dass sie sich Mrs Feinmans Zorn zuziehen würde, wenn sie ohne die beglichene Rechnung zurückkäme und die vielen teuren Hüte wieder zurückbrächte. Aber sie sah keinen Sinn darin, noch länger hierzubleiben, da Miss Birminghams Schreie zunehmend lauter wurden. Hannah drehte sich auf dem Absatz um, war aber noch keine fünf Schritte weit gekommen, als plötzlich Sterne vor ihren Augen tanzten. Ihr Kopf begann zu pochen und im nächsten Moment bohrte sich Miss Birminghams Schirm in ihren Rücken.
„Sie fahren mit diesen Hüten nirgendwohin!“, zischte Miss Birmingham. „Die Hüte gehören mir, und ich verlange, dass Sie sie mir sofort geben!“
Im nächsten Augenblick wurde Hannah sogar die schlichte Höflichkeit verweigert, Miss Birmingham – die offenbar geistig verwirrt war – die Schachteln auszuhändigen. Die Frau eignete sich die Hüte selbst an. Sie rammte Hannah den Schirm in den Bauch und riss ihr die Hüte aus den Händen. Hannah fuchtelte wild mit den Händen, um das Gleichgewicht zurückzuerlangen, aber noch bevor ihr das gelungen war, flog ein großes pelziges Etwas durch die Luft, landete auf ihrem Brustkorb und warf sie auf den Rücken. Sie kam unsanft auf den harten Pflastersteinen auf und ein lautes Knurren drang an ihre Ohren.
2
Oliver Addleshaw zog es vor, sein Leben genauso zu handhaben wie seine zahlreichen geschäftlichen Unternehmungen: ruhig, organisiert und mit klar definierten Zielen. Leider befand er sich aufgrund der Launen einer anstrengenden Frau in einer der chaotischsten Situationen, deren Zeuge er je gewesen war, geschweige denn selbst erlebt hatte.
„Wenn es Ihnen keine allzu großen Umstände macht, Sir“, rief die Frau aus dem Hutsalon, „wäre ich Ihnen für Ihre Hilfe wirklich dankbar.“
Oliver richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die arme Frau, deren Gesicht von seinem ungestümen Hund Buford mit ein wenig zu viel Begeisterung abgeschleckt wurde, und verkniff sich ein Seufzen. „Entschuldigen Sie bitte, Miss.“ Er begab sich wieder in das Chaos hinein. „Buford, es zeugt nicht von guten Manieren, eine Dame umzuwerfen und dann auch noch ihr Gesicht abzuschlecken. Geh von ihr weg!“
Aber Buford wäre nicht Buford, wenn er sich von seinen Worten irgendwie beeindrucken ließe. Er schleckte ungeniert weiter, doch bevor ihn Oliver packen konnte, erregte das laute Klappern von Schuhabsätzen auf dem Pflaster das Interesse seines Hundes. Buford hob den Kopf und stürmte im nächsten Moment los. Sein aufgeregtes Kläffen hallte durch den gesamten Hof.
Oliver drehte sich um und verzog entsetzt das Gesicht, als er das neue Ziel von Bufords Aufmerksamkeit sah. Mit ihrer Mutter im Schlepptau stolzierte Miss Birmingham auf ihren lächerlich hohen Absätzen davon und wedelte triumphierend mit den Hutschachteln. Offenbar hatte sie vergessen, dass sie geschworen hatte, sein Haus nie wieder zu betreten, da sie geradewegs darauf zusteuerte. Der alberne Schal, den sie sich um den Hals gewickelt hatte und der hinter ihr im Wind flatterte, übte eine gewisse Faszination auf Buford aus.
„Buford, nein!“, schrie er, aber das Tier segelte bereits durch die Luft. Als der Hund wieder auf dem Boden aufkam, hatte er Miss Birminghams Schal zwischen seinen großen Zähnen.
„Gib mir sofort meinen Schal zurück!“ Miss Birmingham holte kräftig aus und schlug zu Olivers Entsetzen Buford mit einer Hutschachtel auf den Kopf. Buford winselte und ließ den Schal los. Da der Hund ständig auf der Suche nach Zuneigung war, hob er eine Pfote und bedachte Miss Birmingham mit einem treuen Hundeblick, bei dem jedem normalen Menschen das Herz aufgegangen wäre.
Doch Miss Birmingham ignorierte sowohl seinen Hundeblick als auch die dargebotene Pfote. Sie schnappte ihren Schal, schlang ihn sich zweimal um den Hals und hob die Hutschachtel auf, die sie fallen gelassen hatte. Mit einem verächtlichen Schnauben in Bufords Richtung drehte sie sich auf ihren hohen Absätzen um und stolzierte davon.
Oliver pfiff den Hund zu sich. Eine Sekunde lang sah es tatsächlich so aus, als würde Buford zu ihm kommen, doch dann …
„Dämlicher Köter!“, schimpfte Miss Birmingham.
Die Haare in Bufords Nacken stellten sich auf und er machte erneut einen Satz auf Miss Birmingham zu.
„Oh nein“, murmelte die Hutmacherin, als plötzlich das Geräusch von zerreißender Seide die Luft erfüllte.
Von einer Sekunde auf die andere stand Miss Birmingham nur in ihrer Unterwäsche und mit dem Schal um den Hals mitten im Hof, während Buford mit dem grünen Umhang im Maul davonrannte.
„Jetzt ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt, um lange zu zaudern, Mr Addleshaw“, ermahnte ihn die Hutmacherin, die sich überraschend wendig vom Boden erhob und an ihm vorbeistürmte.
„Ich zaudere doch gar nicht“, verteidigte er sich knurrend. Er begann im selben Moment, hinter seinem Hund herzulaufen, in dem die Hutmacherin mit weit ausgebreiteten Armen auf Buford zusprang.
Buford wich nach rechts aus und die Arme der Frau griffen ins Leere. Sie fiel zu Boden, während Buford davongaloppierte und geradewegs auf Miss Birmingham zusteuerte.
Oliver änderte seine Richtung, als Miss Birmingham zu kreischen begann. Ihr Kreischen fand jedoch ein abruptes Ende, als Buford den Umhang fallen ließ, ein weiteres Mal ihren Schal packte und so kräftig daran zerrte, dass der Schal Miss Birmingham die Luft abschnürte.
Oliver hastete auf sie zu und war nur noch wenige Schritte von der Katastrophe entfernt, als er Miss Birminghams wuterfüllten Blick sah und abrupt stehen blieb.
„Kommen Sie mir nicht zu nah!“, keuchte sie.
„Also wirklich, Miss Birmingham! Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für einen solchen Unsinn. Sie sind nicht angemessen gekleidet und offenbar –“
„Sie sind aber auch keine große Hilfe!“, fiel ihm die Hutmacherin ins Wort, die an ihm vorbeistürmte und Buford am Halsband packte. „Lass los!“
Zu Olivers Überraschung ließ Buford das Ende des Schals los. Dann legte sich sein Hund auf den Boden, drehte sich auf den Rücken und begann zu winseln.
„Mitleiderregend“, murmelte die Hutmacherin, die Buford kurz streichelte, bevor sie den Umhang aufhob.
Oliver wollte schon erleichtert aufatmen, da er glaubte, dass Miss Birmingham bald wieder ein wenig verhüllt wäre, auch wenn der Umhang zerrissen und schmutzig war. Doch in diesem Moment tat die fast nackte Frau zu seinem Entsetzen das Unvorstellbare und stürzte sich auf die Hutmacherin.
Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Oliver keine Ahnung, was er tun sollte.
Wie sollte er eingreifen, wenn Miss Birmingham derart entblößt war? Es schickte sich zweifellos nicht, die unbekleideten Gliedmaßen einer Dame zu packen.
„Miss Birmingham, lassen Sie mich los!“, schrie die Hutmacherin. „Ich versuche doch nur, Ihnen zu helfen.“
Miss Birmingham ignorierte ihre Worte und riss ihr stattdessen den Hut vom Kopf, um dann scherzhaft an ihren pechschwarzen Haaren zu ziehen.
Wut- und Schmerzensschreie erfüllten die Luft. Oliver konnte nicht genau sagen, von wem sie stammten. Nach einem kurzen Blick auf Mrs Birmingham, die wie angewurzelt im Hof stand, bewegte er sich widerstrebend auf die Frauen zu, blieb aber abrupt stehen, als sich die Hutmacherin aus Miss Birminghams Griff befreite. Sie beugte sich vor und schaffte es irgendwie, sich die junge Frau über die Schulter zu werfen, während er weiterhin wie angewurzelt dastand. Sie steuerte zielstrebig auf die Kutsche zu, die mit Schachteln vollgestopft war, und taumelte leicht, als Miss Birmingham anfing, wie ein Fisch auf dem Trockenen zu zappeln.
„Aufhören!“, befahl die Hutmacherin, die mühsam ihr Gleichgewicht hielt und unbeirrt weiterstapfte.
„Timothy, machen Sie in der Kutsche etwas Platz!“, rief sie. Ein Mann, den Oliver bis jetzt überhaupt nicht bemerkt hatte, nickte und begann dann, Schachteln aus der Kutsche zu werfen.
„Gehen Sie vorsichtig mit den Schachteln um, Sie Idiot!“, kreischte Miss Birmingham. Schließlich erreichte die Hutmacherin die Kutsche und warf Miss Birmingham unbeeindruckt hinein. Dann schlug sie schnell die Tür hinter ihr zu und blendete damit den Rest von Miss Birminghams Schimpftirade erfolgreich aus.
„So“, seufzte die Hutmacherin und wischte sich die Hände ab, „damit sollten wir ein paar Sekunden Ruhe haben.“ Sie nickte Oliver zu. „Sie gehört jetzt Ihnen.“
Oliver warf einen Blick auf die Kutsche. Zu seiner Verwunderung versuchte Miss Birmingham gar nicht, sich aus der Kutsche zu befreien. Stattdessen wühlte sie in den Hutschachteln. „Was soll ich denn mit ihr machen, Miss … äh …?“
„Miss Peabody. Was Sie mit ihr machen sollen, kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Vielleicht sollten Sie sich in der ‚Long Island Residenz für Nervenkranke‘ erkundigen, ob dort ein Platz frei ist. Ich habe gehört, dass es in dieser Einrichtung kompetente Mediziner gibt, und das ist vielleicht genau das, was Miss Birmingham braucht …“ Miss Peabody klappte den Mund zu, da ihr offenbar erst in diesem Moment bewusst wurde, wie unangebracht ihre Worte waren.
Oliver grinste. „Das ist wirklich ein interessanter Vorschlag, Miss Peabody. Aber ich bezweifle sehr, dass Mr oder Mrs Birmingham ihre Tochter in einem Sanatorium unterbringen wollen. Damit ist die Frage, was ich mit ihr anfangen soll, leider immer noch nicht geklärt.“
Miss Peabody hob das Kinn und marschierte zu Miss Birminghams Umhang, der immer noch auf dem Boden lag. Sie hob ihn auf, kehrte zu Oliver zurück und reichte ihm diesen. „Ich könnte mir vorstellen, dass es die dringlichste Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass Miss Birmingham das hier wieder anzieht. Danach sollten Sie sie ins Haus bringen.“
Oliver wollte jedoch Miss Birmingham auf keinen Fall wieder in seinem Haus sehen, da er nicht sicher war, ob sie es je wieder verlassen würde – wenigstens nicht freiwillig. Selbst wenn sie erklärt hatte, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.
Schließlich war er Oliver Addleshaw. Sobald Miss Birmingham das wieder einfiele, würde sie sich ganz bestimmt auf wundersame Weise in die nette und freundliche junge Dame zurückverwandeln, die er nach New York eingeladen hatte.
Seit Jahren bemühten sich Frauen, seine Aufmerksamkeit zu erregen, und ließen nichts unversucht, um seine Gunst zu gewinnen. Deshalb war er vor einigen Jahren dazu übergegangen, eine Liste zu erstellen. Er hatte gehofft, wenn er die Eigenschaften niederschrieb, die er bei einer Frau erwartete, würde er unangenehme Situationen vermeiden. Es standen zwar Aspekte wie ein angenehmes Wesen und ein gepflegtes Erscheinungsbild, zu allen Zeiten ein damenhaftes Verhalten und eine gesellschaftlich akzeptable Herkunft auf seiner Liste. Aber ihm wurde bewusst, dass ihm diese Liste nicht im Geringsten half, eine geeignete Frau zu finden. Nicht einmal eine Frau, die ihn nur für kurze Zeit zum Essen mit wichtigen Geschäftspartnern begleitete.
Offensichtlich musste er sich einen anderen Plan einfallen lassen. Da Miss Birmingham nicht länger zur Verfügung stand, um ihn bei den Gesprächen mit dem Herzog von Westmoore zu unterstützen, bräuchte er sehr schnell einen neuen Plan.
Miss Peabody fuchtelte mit der Hand vor seinem Gesicht. „Ich hasse es wirklich sehr, das aufregende Zwiegespräch zu stören, das Sie in Gedanken führen“, rief sie, „aber für den Fall, dass es Ihnen entgangen sein sollte: Miss Birmingham versucht, die Kutsche zu verlassen. Und falls Sie es vergessen haben sollten: Sie ist nicht gerade passend gekleidet.“ Sie senkte die Stimme. „Ihre Dienstboten drücken sich die Nasen an den Fensterscheiben platt, Sir. Und ich bezweifle, dass es dem Ruf der jungen Dame zuträglich ist, wenn es Augenzeugen für ihren Fauxpas gibt.“
Oliver, der unwillkürlich darüber staunte, dass eine Hutmacherin einen Begriff wie „Fauxpas“ in ihrem Wortschatz hatte, öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen. Aber noch bevor er ihr antworten konnte, erregte ein empörtes Hämmern seine Aufmerksamkeit, und er trat auf die Kutsche zu. Miss Birmingham schaute ihn finster an, obwohl ihre Gesichtszüge durch die beschlagene Scheibe ein wenig verschwommen waren. Als sie anfing, ihn durch die Scheibe anzuschreien, lief die Scheibe noch weiter an.
„Miss Birmingham“, rief er durch die Tür. „Hören Sie bitte sofort mit diesem unmöglichen Theater auf!“
„Und wenn ich das nicht tue?“, keifte sie zurück.
Ihm schossen mehrere Ideen durch den Kopf, von denen jedoch keine auch nur annähernd realisierbar war. Doch bevor ihm eine passende Antwort einfiel, stieß Miss Peabody einen leisen Schrei aus und verschwand schlagartig aus seinem Blickfeld. Ihr Platz wurde von niemand anderem als Mrs Birmingham eingenommen.
Als er sich zu ihr umwandte, stellte er fest, dass ihr die Zornesröte ins Gesicht gestiegen war. Dieser Zorn richtete sich, was ihm völlig unverständlich war, jedoch nicht gegen ihre Tochter, sondern gegen Miss Peabody, die sich langsam von ihnen entfernte.
„Erklären Sie sich!“, verlangte Mrs Birmingham. „Wie kommen Sie dazu, mit Ihren schmutzigen Fingern meine Tochter zu berühren?“
Miss Peabody hob eine Hand, betrachtete einen Moment ihren Handschuh und schaute dann Mrs Birmingham unerschrocken an. „Da Ihre Tochter nur in Unterwäsche bekleidet hier im Freien stand, hielt ich es für ratsam, sie vor ungebetenen Blicken zu schützen, bevor ihr Ruf einen irreparablen Schaden erleidet.“
Mrs Birmingham hob hochnäsig das Kinn. „Jemandem wie Ihnen steht es nicht zu, sich über den Ruf meiner Tochter Gedanken zu machen. Mrs Feinman wird noch heute von Ihrem inakzeptablen Verhalten Kenntnis bekommen. Ich garantiere Ihnen, dass Sie morgen ohne Anstellung sind!“
Miss Peabodys Schultern sackten leicht nach unten, doch dann hob sie das Kinn. „Es ist selbstverständlich Ihr gutes Recht, mit Mrs Feinman zu sprechen. Sie glauben offenbar, ich hätte Ihre Tochter misshandelt, aber aufgrund der immer größer werdenden Beule, die sich an meinem Hinterkopf bildet, frage ich mich, wer hier wen misshandelt hat.“
Miss Peabody begann, sich am Verschluss eines Handtäschchens zu schaffen zu machen, das an ihrem Handgelenk baumelte. Sie zog ein Blatt Papier heraus und reichte es Mrs Birmingham. „Da Sie beabsichtigen, Mrs Feinman heute aufzusuchen, darf ich mir erlauben, Ihnen die Rechnung für die Hüte auszuhändigen, die Ihre Tochter bestellt hat. Mrs Feinman wäre für eine unverzügliche Bezahlung dankbar. Besser gesagt, sie erwartet nichts anderes.“
Unverhohlene Bewunderung regte sich in Oliver. Er kannte nicht viele Frauen, die den erneuten Wutausbruch einer aufgebrachten Mutter riskierten, um die Bezahlung einer Rechnung einzufordern. Aber Miss Peabody schien damit kein Problem zu haben.
Seine Bewunderung wich sofort Verärgerung, als Mrs Birmingham ausholte und Miss Peabody auf die Hand schlug. Die Rechnung flatterte auf den Boden und landete in einer Pfütze.
Oliver trat vor, um die Rechnung zu retten, aber Miss Peabody kam ihm zuvor. Sie schnappte das Papier, schüttelte es kräftig aus und hielt es Mrs Birmingham in aller Seelenruhe erneut hin.
Mrs Birmingham drohte zu platzen. „Stecken Sie das sofort weg! Ich habe nicht die Absicht, diese Rechnung zu zahlen. Und nach Ihrem unverschämten Verhalten gegenüber meiner Lily schon gleich gar nicht!“
Miss Peabody hielt ihr die Rechnung weiterhin unbeeindruckt hin. „Mein unverschämtes Verhalten hat mit dieser Rechnung nicht das Geringste zu tun.“
„Ihre Impertinenz ist unglaublich. Ihre Vorgesetzte wird keinen Cent von mir sehen. Im Gegenteil, ich werde von Mrs Feinman verlangen, dass Sie in vollem Umfang für diese Rechnung aufkommen.“
Miss Peabody warf einen Blick auf die Rechnung und begann leise, Zahlen vor sich hinzumurmeln, während ihr Gesicht immer blasser wurde. Oliver hörte sie flüstern: „Das kostet mich den Lohn von drei Jahren“, bevor sie die Schultern zurückwarf und nickte. „Meinetwegen. Tun Sie, was Sie nicht lassen können.“
Schon allein der Gedanke, dass die junge Frau auch nur in Erwägung zog, Mrs Birminghams unverschämte Drohung zu akzeptieren, weckte in Oliver ungeahnte Beschützerinstinkte. Er trat auf Miss Peabody zu und hielt ihr die Hand hin. „Sie können mir die Rechnung geben, Miss Peabody. Ich übernehme die Bezahlung.“
Etwas Warmes und Unerwartetes erfasste ihn, als Miss Peabody ihn mit einem hübschen Lächeln bedachte, das ihm den Atem verschlug. Ihre Berührung, als sie ihm die Rechnung in die Hand drückte, raubte ihm auf beängstigende Weise den Atem. Doch dann schob sich Mrs Birmingham unsanft zwischen sie.
Seine Lunge nahm schlagartig ihre Arbeit wieder auf und Verärgerung verdrängte erneut alle anderen Gefühle.
„Jetzt reicht es mir aber endgültig!“, schimpfte Mrs Birmingham und drohte Miss Peabody mit dem Zeigefinger. „Das Verhalten, das ihr Verkäuferinnen an den Tag legt, ist abstoßend. Deshalb verlange ich, dass Sie sich auf der Stelle aus meiner Gegenwart entfernen.“
Statt dieser groben Aufforderung nachzukommen, hob Miss Peabody das Kinn. „Ich kann mir im Moment nichts Schöneres vorstellen, als mich aus Ihrer Gegenwart zu entfernen, aber Ihre Tochter hat immer noch die Kutsche meiner Vorgesetzten mit Beschlag belegt. Solange Sie keinen Weg finden, wie Sie sie dazu bringen können, diese wieder zu verlassen, sind meine Möglichkeiten, mich zu entfernen, leider sehr begrenzt.“
Mrs Birmingham hörte auf, mit dem Finger zu fuchteln, und wandte sich an Oliver. Zu seiner Überraschung lächelte sie ihn an. „Mr Addleshaw, wären Sie bitte so freundlich und beauftragen einen Dienstboten, Lily etwas zum Anziehen zu holen? Ihre Kleider befinden sich, wie Sie wissen, im Moment in Ihrem früheren Büro. Wenn sie richtig bekleidet ist und wir eine Tasse Tee getrunken haben, werden wir die Dinge sicher wieder mit anderen Augen sehen.“
Die einzige Antwort, zu der sich Oliver imstande fühlte, bestand darin, den Mund weit aufzureißen. Diese Frau glaubte doch nicht im Ernst, dass er auch nur eine weitere Minute mit ihrer Tochter verbringen würde! Vielleicht sollte er wirklich in der Long Island Residenz für Nervenkranke anfragen, ob es noch freie Betten gab – vorzugsweise zwei, eines für Miss Birmingham und eines für ihre Mutter, denn …
„Ich werde nicht aus dieser Kutsche steigen, Mutter“, verkündete Miss Birmingham, die die Fensterscheibe nach unten geschoben hatte und nun versuchte, den Kopf herauszustecken. Sie wurde jedoch von dem neuen Hut behindert, den sie aufgesetzt hatte. Sie zog den Kopf zurück, nahm den Hut ab und streckte dann den Kopf aus dem Fenster. „Ich will mich nicht von meinen Hüten trennen. Mr Addleshaw ist zuzutrauen, dass er sie mir aus reiner Bosheit vorenthält. Wir fahren einfach mit dieser Kutsche ins ‚Grand Central Hotel‘.“ Sie bedachte Oliver mit einem bösen Blick. „In diesem Hotel hatten wir absteigen wollen, bevor ich den Fehler beging und dachte, wir würden uns in Ihrem Haus wohler fühlen.“
„Du bist im Moment nicht passend gekleidet, meine Liebe, um zum Hotel zu fahren“, stellte Mrs Birmingham klar.
„Dass ich im Moment nicht angemessen bekleidet bin, ist ein weiterer Grund, nicht aus der Kutsche zu steigen“, erklärte Miss Birmingham schnaubend. „Dieser tollwütige Köter läuft sicher immer noch frei herum und geht zweifellos auf meine Unterwäsche los, sobald er mich erblickt.“
Es hatte den Anschein, als wollte Mrs Birmingham ihrer Tochter widersprechen, doch dann fuhr sie herum und deutete mit ihrem knöchrigen Finger auf Miss Peabody. „Sie werden sich sofort vom Butler einen Mantel für meine Tochter geben lassen! Und denken Sie daran, den Dienstboteneingang zu benutzen!“
Oliver blickte Miss Peabody nach, bevor er sich an Mrs Birmingham wandte. „Finden Sie nicht, dass Sie ein bisschen zu streng zu ihr sind?“
„Absolut nicht! Aber ich möchte im Moment nicht über diese ungeheuerliche Frau sprechen.“ Sie tätschelte Olivers Arm. „Um wie viel Uhr darf ich heute Ihren Besuch bei uns im Hotel erwarten, damit wir alles in Ruhe besprechen können?“
„Mir war nicht bewusst, dass es noch etwas zu besprechen gäbe.“
„Aber natürlich gibt es das! Auch wenn zwischen Ihnen und Lily im Moment leichte Unstimmigkeiten herrschen, bin ich sicher, dass Sie zu dem Schluss kommen werden, dass Lily die perfekte Frau für Sie ist, wenn wir uns erst einmal zusammensetzen und in Ruhe über alles sprechen.“ Sie tätschelte erneut seinen Arm. „Ich war schon immer der Meinung, dass der Sommer eine gute Zeit zum Heiraten ist. Es ist schon Juni. Deshalb müssen wir umgehend mit den Vorbereitungen beginnen.“ Sie deutete mit dem Kopf zur Kutsche. „Lily wird eine sehr schöne Sommerbraut sein.“
Miss Birmingham streckte wieder den Kopf aus dem Fenster. „Ich werde ihn nicht heiraten, Mutter. Er ist unmöglich.“
„Alle Männer sind manchmal unmöglich, Liebes“, erwiderte Mrs Birmingham. „Aber wenn du dich erinnerst, wie großzügig Mr Addleshaw ist, änderst du bestimmt deine Meinung.“
Oliver runzelte die Stirn. „Ich bin großzügig?“
Zu seiner Überraschung kicherte Mrs Birmingham. „Aber natürlich, mein Lieber. Es war wirklich sehr großzügig von Ihnen, Lily zu ermutigen, sich eine neue Garderobe zuzulegen – und das in keiner geringeren Boutique als der von Madame Simone – und die gesamten Kosten für diese Garderobe zu übernehmen.“ Sie bedachte ihn mit einem Augenaufschlag. „Bevor ich es vergesse: Ich habe Madame Simones Rechnung auf Ihren Schreibtisch gelegt.“
Oliver drehte sich um und schaute Miss Birmingham mit hochgezogener Braue an. Zu seinem Erstaunen wirkte sie nicht im Mindesten zerknirscht, sondern besaß auch noch die Frechheit, ihn anzulächeln.
„Sie hatten doch gesagt, dass ich mich modisch kleiden solle, wenn wir mit Ihrem Herzog ausgehen. Sie haben gewiss nicht erwartet, dass ich die Rechnung dafür selbst begleiche, nicht wahr?“
Oliver knirschte mit den Zähnen. „Ich wäre gern bereit gewesen, Ihnen einige neue Kleider zu kaufen, Miss Birmingham. Allerdings hätten Sie mit mir sprechen sollen, bevor Sie sich eine neue Garderobe bestellen.“
„Das ist ein weiterer Grund, warum ich Sie nicht heiraten werde. Ich habe nicht die Absicht, den Rest meines Lebens mit einem Mann zu verbringen, der gemein ist und schäbig und … Habe ich schon ‚gemein‘ gesagt?“ Sie schaute ihre Mutter an. „Komm, Mutter, wir fahren!“
„Hier ist ein Mantel!“, rief Miss Peabody, die über den Hof gelaufen kam und dann ein paar Schritte von Mrs Birmingham entfernt stehen blieb, da die Frau sie schon wieder finster anschaute. Sie hielt ihr den Mantel hin und zuckte nicht einmal mit der Wimper, als Mrs Birmingham auf sie zustolzierte und ihr diesen unsanft aus der Hand riss.
Dann schritt Mrs Birmingham zur Kutsche zurück, riss die Tür auf, schob ihrer Tochter den Mantel zu und warf ein paar Hutschachteln heraus. Sie streckte Oliver auffordernd die Hand hin, bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick und lächelte ihn süßlich an, als er ihr in die Kutsche half. Sobald sie saß, verschwand ihr Lächeln, und sie schnippte mit den Fingern in Miss Peabodys Richtung. „Machen Sie sich nützlich und befestigen Sie die Schachteln auf der Kutsche.“
„Das ist nicht nötig“, sagte Oliver und winkte den jungen Mann herbei, der neben der Kutsche stand. „Darf ich annehmen, dass Sie der Kutscher sind?“
„Ich bin Timothy, Sir, Mrs Feinmans Kutscher.“
Oliver zog seine Brieftasche heraus und reichte Timothy einige Geldscheine. „Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie diese beiden Damen unversehrt zum ‚Grand Central Hotel‘ fahren könnten.“
„Aber was ist mit Miss Peabody? Wenn ich diese Schachteln auflade, hat sie keinen Platz mehr.“
„Ich schicke sie in einer meiner Kutschen zurück.“
Mrs Birmingham schnaubte laut. „Das ist völlig inakzeptabel, Mr Addleshaw. Sie ist nur eine Hutverkäuferin. Außerdem schadet ihr nach dem abscheulichen tätlichen Angriff auf meine Tochter ein langer Fußmarsch überhaupt nicht! Das gibt ihr Zeit, um –“
Sie klappte den Mund zu, als Oliver vielsagend mit dem Kopf auf Miss Birmingham deutete, die sich weitaus abscheulicher benommen hatte. Eine Sekunde später ging die Kutschentür zu. Bald darauf hatte Timothy die anderen Hutschachteln auf dem Dach befestigt und fuhr mit den beiden Damen los.
„Das war wirklich ausgesprochen erquicklich“, seufzte Miss Peabody.
„‚Erquicklich‘ ist wohl kaum das Wort, mit dem ich das beschreiben würde, was soeben passiert ist.“
„Das stimmt, aber ich dachte, es wäre unhöflich, wenn ich sage, was ich über diese Situation wirklich denke, und –“ Miss Peabody verstummte, als Buford plötzlich mit hängenden Ohren auftauchte.
Zu Olivers Entsetzen hatte sein Hund einen Damenhut zwischen den Zähnen, der dem Hut, den Miss Peabody aufgehabt hatte, bevor Miss Birmingham ihn unsanft von ihrem Kopf gerissen hatte, verdächtig ähnelte. Buford trottete zu Miss Peabody, schmiegte sich an ihren Rock und ließ den Hut vor ihre Füße fallen.
Mit einem Lächeln kraulte sie den Hund hinter den Ohren und hob dann den Hut auf. „Ich glaube, diesen Hut werde ich nicht mehr tragen.“ Sie klemmte sich den verunstalteten Hut unter den Arm und schaute dann Oliver an. „Es war zwar sehr großzügig von Ihnen, mir anzubieten, mich nach Hause bringen zu lassen, Mr Addleshaw, aber ich gehe gern spazieren und werde Ihre Großzügigkeit deshalb nicht in Anspruch nehmen.“
„Es wird sicher bald zu regnen beginnen.“
„Dann breche ich wohl am besten sofort auf.“ Sie trat einen Schritt zurück. „Es war interessant, Sie kennenzulernen. Ich wünsche Ihnen bei Ihren künftigen Begegnungen mit der Familie Birmingham viel Glück.“
„Wie es das Schicksal will, sind Mr Birmingham und ich noch heute in meinem Haus verabredet. Eigentlich wollten wir über Geschäftliches sprechen, aber ich fürchte, dass wir jetzt ein paar persönliche Dinge klären müssen. Ich hoffe, er ist nicht allzu sehr enttäuscht, wenn er erfährt, dass ich nicht die Absicht habe, seine Tochter näher kennenzulernen. Aber ich erwarte nicht, dass ihr Verhalten Auswirkungen auf unsere geschäftlichen Pläne hat.“
„Wenn ich Sie wäre, würde ich mir ernsthaft überlegen, ob ich etwas mit den Birminghams zu tun haben möchte. Selbst etwas rein Geschäftliches wäre mir wahrscheinlich nicht geheuer.“ Sie nickte zum Abschied und schritt dann davon, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
Aus einem unerklärlichen Grund reizte es ihn, dass sie offenbar nicht länger als nötig in seiner Nähe bleiben wollte. Er folgte ihr. „Miss Peabody, warten Sie!“
Miss Peabody verlangsamte ihre Schritte, blieb aber nicht stehen. „Ist noch etwas, Mr Addleshaw?“
„Ich wollte Sie fragen, ob Sie mit ins Haus kommen und vielleicht eine Tasse Tee trinken möchten.“
„Das halte ich nicht für nötig.“
„Es könnte Ihnen helfen, Ihre Nerven zu beruhigen“, schlug Oliver vor.
„Meine Nerven sind ganz ruhig.“
„Faszinierend“, murmelte er. Diese Bemerkung bescherte ihm einen verwirrten Blick, bevor die junge Frau sich abrupt umdrehte und ihre Schritte beschleunigte.
Während er ihr hinterherstarrte, schossen ihm die ungewöhnlichsten Gedanken durch den Kopf. Sie war von Mrs und Miss Birmingham – und auch von Buford – brutal misshandelt worden und schien von dieser unerfreulichen Begegnung erstaunlich unbeeindruckt zu sein. Zugegeben, ihre Haare hingen zerzaust über ihren Rücken, und ihr Kleid war schmutzverschmiert, aber sie schritt hoch erhobenen Hauptes davon. Das verriet deutlich, dass sie eine starke Frau war, wahrscheinlich selbstständig und vollkommen anders als alle Frauen, die er bis dahin kennengelernt hatte.
„Miss Peabody, bitte! Hätten Sie noch einen Moment?“, hörte er sich sagen, obwohl er keine Ahnung hatte, warum er das tat. Er wollte sie einfach noch nicht gehen lassen.
Miss Peabody drehte sich um und wartete, bis er sie eingeholt hatte. „Mr Addleshaw, entschuldigen Sie bitte, aber Sie haben selbst gesagt, dass es bald zu regnen anfangen wird. Da ich nicht völlig durchnässt werden möchte, muss ich jetzt wirklich gehen.“
„Sind Sie verheiratet?“
„Ich habe keine Ahnung, warum mein Familienstand Sie interessiert, aber nein, ich bin nicht verheiratet.“
Er wusste nicht genau, warum ihn das interessierte. Ehrlich gesagt, wusste er nicht einmal, warum er ihr diese Frage gestellt hatte.
„War das alles, was Sie wissen wollten?“
„Äh, nein … ich … äh …“ Er lächelte. „Ich wollte Ihnen Schadenersatz für den Hut anbieten, den Buford zerstört hat.“
„Mein Hut war sowieso wertlos. Ein Schadenersatz ist also nicht nötig.“
„Dann erlauben Sie mir bitte wenigstens, dass ich Sie nach Hause bringen lasse.“
Miss Peabody seufzte ungeduldig. „Mr Addleshaw, danke, aber das ist nicht nötig. Ich gehe lieber zu Fuß, und ich bin sehr wohl in der Lage, selbst auf mich aufzupassen.“
Es war offensichtlich, dass diese Worte der Wahrheit entsprachen. Miss Peabody hatte eine sehr vernünftige Art, die man bei Frauen selten sah. Und ganz gewiss nicht bei Frauen, die so hübsch waren. Sein Atem stockte leicht, als er erkannte, wie schön sie war. Ihr Gesicht war zart und lenkte seinen Blick auf ihre ungewöhnlichen Augen. Ihre Lippen waren voll und ihre Wangen leicht gerötet, obwohl diese Farbe wahrscheinlich zum Teil von ihrer Auseinandersetzung mit Miss Birmingham herrührte. Sein Blick wanderte über ihre Figur. Sie war schlank, hatte aber an den richtigen Stellen reizvolle Rundungen.
Aus heiterem Himmel kam ihm ein verführerischer Gedanke.
Er hatte die Sache mit den Frauen völlig falsch angepackt.
Er hatte Miss Birmingham nur eingeladen, aus Chicago nach New York zu kommen, weil einige Treffen mit dem Herzog von Westmoore bevorstanden. Wenn er dieses Unterfangen wie ein Geschäftsmann angegangen wäre, hätte er sofort erkannt, dass er keine Dame an seiner Seite brauchte, sondern eine Geschäftspartnerin, die gleichzeitig eine Dame war. Genauer gesagt: Er brauchte eine Frau, die ihm auf Abruf zu Verfügung stand. Eine Frau, die von ihm nicht erwartete, mit neuer Garderobe und Hüten oder – was noch schlimmer war – netten, freundlichen Worten verhätschelt zu werden, damit ihre Gefühle nicht verletzt wurden.
Er hatte das untrügliche Gefühl, dass die perfekte Dame für diese Aufgabe vor ihm stand.
Oliver trat einen Schritt auf sie zu und lächelte sie an. „Sie sind sehr eloquent.“
„Wie bitte?“
„Ihre Ausdrucksweise ist sehr gut. Sind Sie zur Schule gegangen?“
Miss Peabodys Augen begannen zu funkeln. „Das geht Sie überhaupt nichts an!“
„Sie sind außerdem sehr attraktiv.“
„Äh? Was?“
„Sie sind sehr hübsch.“