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»Hätte es ohne Brecht die DDR überhaupt so lange gegeben?« Lederjacke, Zigarre, Kurzhaarschnitt – Brechts Selbstinszenierungen sind mindestens so kanonisch wie seine Texte. Wie aber konnte so ein Großer der Moderne sich mit der Schäbigkeit eines grauen und oft grauenhaften Staats wie der DDR arrangieren? Und wie ist zu erklären, dass das von Brecht vorgegebene Rollenmodell des kritischen Intellektuellen, von der Zigarre vielleicht abgesehen, bis heute fortwirkt? Mit seinem fulminanten Essay liefert Uwe Kolbe nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Rolle des Dichters in geschlossenen Gesellschaften. Er wirft darüber hinaus auch die hochaktuelle, beunruhigende Frage auf, inwiefern selbst weitgehende künstlerische Kritik die Macht der Unfreiheit legitimieren kann.
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Seitenzahl: 201
Uwe Kolbe
Brecht
Rollenmodell eines Dichters
FISCHER E-Books
Brecht, wenn man sich einließ, baute jeden um.
Max Frisch
Sinn und Zweck werden am Anfang einer Rede gern in einem Atemzug genannt. Dabei handelt es sich so sehr um zweierlei, dass die Zusammenziehung unzulässig sein müsste. Shakespeares Hamlet gibt ein Bild davon. Es ist ein Bühnenstück von unerschöpflichem Sinn und beschäftigt deshalb seit Shakespeares Zeiten die Gemüter vor, auf und hinter der Bühne. Was es mit dem Zweck auf sich hat, repräsentiert im Hamlet ein Stück im Stück. Die kleine Aufführung im Schloss Helsingör, vom Prinzen initiiert, erfüllt ihren Zweck voll und ganz. Hamlets Vermutung über den Tod seines Vaters wird bestätigt durch die Wirkung, die das Schauspiel auf den König und die Königin hat. Der König verlässt die Aufführung, ihm sei die Galle hochgekommen. Damit ist er für Hamlet identifiziert als Mörder seines Vaters. »Wie nennt Ihr das Stück?«, hatte der König gefragt und Hamlet ihm erwidert: »Die Mausefalle.« Die Inszenierung war eine kriminalistische Falle. Und sie hat funktioniert, sie erfüllte ihren Zweck. Für den weiteren Fortgang der Tragödie ist Wesentliches geklärt, der Stein kommt ins Rollen, Hamlet kann zum Handelnden werden. Alles endet in Rache und Tod. Was nicht endet, ist der Sinn dessen, was Zuschauer, Zuhörer und Leser dabei erleben und erfahren, miterleben und mitdenken, woran sie herumgrübeln seither in ihrem eigenen Einerseits und Andererseits. Es geht um Maximen, die Handeln, also Schuldigwerden, oder Nichthandeln, die Haltung vermeintlicher Unschuld, umfassen. Letztere fächert sich unendlich auf vom Geschehenlassen und Dulden, von Anpassung und Opportunismus bis hin zur Rolle des Mitläufers, Mitwissers, Mittäters. Der Mann monologisiert über Sein oder Nichtsein. Die Frau, Ophelia, stirbt vor dem Mann. Was weitergeht, ist das Leben der Zuschauer. Die Frage, die sich stellt, den denkenden, fühlenden Menschen begleitet und nicht loslässt, ist die nach dem Sinn. Warum? Das ist die erste Menschenfrage. Sie sucht Ursachen und findet Unterschiede.
Der Auftakt mit Hamlet ist, könnte man einwenden, merkwürdig, wo es um Brecht geht. Der fand an dem Menschen Hamlet genau so viel oder wenig, wie er im Gedicht über ihn schrieb: »der tiefsinnige Parasit im Hemd«. Der taugte ihm weder für den Klassenkampf noch fürs epische Theater. Zu dem Berserker Baal oder dem Fleisch-Besorger Fatzer war er das Gegenteil. Auch für das Dichten des reiferen Mannes: Menschenschicksal nicht als das der Klasse, weder Beispiel noch Vorbild? Das interessierte Brecht nicht mehr. Er lieferte die deutsche Sprache im 20. Jahrhundert schon vor seinem dreißigsten Lebensjahr den Zwecken der Partei neuen Typs von Lenin und Trotzki, der III. Kommunistischen Internationale (Komintern) und kaum später auch den Parteiführern Stalin und Ulbricht aus. Sprache meint hier das Deutsche in einer Richtung und Ausprägung, wie sie in dieser Qualität im 20. Jahrhundert außer bei Brecht nicht erreicht wurden. Von kleineren oder – wie man es nehmen will – kurzfristigen, alltäglichen, allzu menschlichen Zwecken wird im Folgenden mehr oder minder abgesehen, die da hießen: Ruhm, Geld, Herrschaft über Männer und Frauen, Zigarren.
Der Zweck ernüchtert die Mittel, so sei es um dieses Meisters willen gesagt. Die sprachliche Ernüchterung um des großen Ziels willen, dem sich jeweils kurzfristige politische und pädagogische Zwecke in seinem Schreiben fortlaufend unterordnen, sie nimmt seit Mitte der 1920er Jahre zu, in den Lehrstücken, in den Liedern und Balladen, in den Gedichten des Exils, in allem, was folgt.
Es gibt in deutscher Dichtung eine Traditionslinie der lustvollen Handhabung von Wortwahl und Satzbau nach antiker Manier. Auf ihr lebte und lebt, was ich Sinn nenne, bei Klopstock und Hölderlin, bei Schleiermacher und Novalis, bei Nietzsche, Rilke und Georg Trakl, in Paul Celans Arbeit, soweit sie sich davon nährt, und bei vielen anderen mehr. Die Linie erlebte eine auffallende Blüte bei den Autoren der sogenannten sächsischen Dichterschule in der DDR. Heute ist sie selbstverständlicher Teil vieler synthetischer Verfahren. Ansonsten ist Dichtung jeder Zeit Fortschreibung der Mythen, jede Dichtung der Welt mit wenigen Ausnahmen. Brecht verweigert sich dieser Fortschreibung. Oberflächlich gelingt es ihm, mit einer Ausnahme seinerseits. Das Material, welches ihm die christliche Tradition zur Verfügung stellt, braucht er für seine profanen Absichten, das heißt Bibel, Luther, Liederbuch. Parallel dazu spielt er die Instrumente der Vaganten, der Häretiker sowieso. Kreative Häresie, ob bei den Katharern und ihren Schülern, den Troubadouren, oder beispielsweise bei den Surrealisten, speist sich deutlich genug aus den Bildprägungen der christlichen Überlieferung. Sie tut es trotz aller Not des Abstands vom Glauben, trotz streng definierter Unterscheidung. So auch bei Brecht.
Was er noch aufnimmt, sind Bänkellieder und ihre schwankenden Rhythmen zu dem Zweck, leicht abzulenkendes Publikum zu überraschen und »dabei« zu halten. Er kopiert sie zudem sicher gern aus Abgrenzung von der glatten Oberfläche der ihm bekannten, auch zeitgenössischen bürgerlichen Hochdichtung. Die saftigen Akkorde François Villons in Übersetzung fahren ihm ins Mark des eignen Gesangs, auch wie sie bei Rimbaud nachklingen und bei Verlaine. Bei den drei Genannten die Erfahrung der Straße, von Flucht und Gefängnis – das liebte Brecht, davon nahmen die Figuren seiner Balladen und frühen Stücke, was zu haben war. Rimbauds Bilder gehen ihm anfangs überdeutlich nach, sein Landratten-Schiff ist trunken von dessen ewig fahrendem.
Brecht nimmt also, hin und her, greift von Anfang an zu, grabscht dem Lied an die Brust, setzt sich jede Maske auf, unter der der Kleinbürgersohn abtauchen und wild sein kann. Er tut es nicht anders als Schausteller, Schauspieler und populäre Sänger seit je. Er arbeitet so hart wie heute Rockstars es tun, einschließlich des Schweißes des Managements, das bei ihm die bekannten Frauennamen trug. Er war der Frontmann seiner eigenen Band, ein Dirigent, aber ein Dichter eben auch, ein Songwriter by all means. Nämlich nach Bedarf und, nachdem die zeitgemäße Unterhaltung mit Mahagonny und dem Dreigroschenmaterial reichlich einbrachte, vor allem zum Zwecke der Aufklärung, der Belehrung des Volks, seiner Meinung und gewisser Erfahrung nach vor allem der Arbeiter, des Bilds, das er von ihnen davontrug und zum modernen, bald nur noch ideologischen, modellhaften Klischee formte. Brecht war darin ein Meister, genau darin. Und alle, die seine Prägung sich holten, taten weitgehend dasselbe: Soweit sie Talent hatten (und von anderen werde ich nicht reden), nahmen sie seine Bilder auf und variierten sie. Brecht war mit seiner überragenden Sprach- und Deutungsmacht der Organisator einer gewaltigen Matrix, genauer gesagt einer Patrix.
Andererseits: Armer Brecht! Seine frühe und erfolgreiche Maskierung mündete in einem Grau, nicht so edel wie das der Anzüge, die er sich hat schneidern lassen. Seine Dichtermaske und die seines Theaters betteten sich zum Ende ein in das Grau eines grauen und oft grauenhaften Staats. Das Grau kontaminierte sein Werk, sein Theater, seine Seidenhemden, seine auf dem Nachttisch drapierten Kriminalromane, sein Grab, ja, sogar sein berühmtes Grab. Mit dem ausdrücklich schlichten Stein darauf ist es trotzdem zu einer Art Ikonostas ohne Bilder geworden, Projektionsfläche akademischer Touristen sowieso. Die Abbildungen, die Fotos, die Zeichnungen, die Brecht darstellen, zeigen ihn allemal typisch: immer mit dem Kurzhaar, wechselnd mit Zigarre, Brille, Mütze, Lederjacke. Doch gerade diese Stilisierungen sind betroffen. Das früh mit bewundernswerter Konsequenz erarbeitete Image ist verdorben. Das absichtlich schlichte, zu Lebzeiten absolut modern daherkommende Schwarz-Weiß ist eingegangen in jenes Grau. Ob es ganz auf Männlichkeit konzentriert war oder nur auf die Kargheit und Vergeistigung nach dem Vorbild asiatischen Bildens und Denkens, nach dem Leben der Weisen, wie Brecht es sich vorstellte – dieses wie jenes, alles ist Amalgam geworden mit diesem billigen Grau.
Brechts Bedürfnis, in der sowjetischen Besatzungszone und in dem daraus werdenden neuen Staat anzukommen, damals, als Gründe dafür vorlagen, war stark. Große, historisch schwerwiegende Gründe hatten Hitler geliefert und so ziemlich das ganze deutsche Volk, allen voran die Wehrmacht und die SS und das KZ-System. Das Wissen um die Opfer des Kriegs, darunter ausdrücklich diejenigen in der Sowjetunion, der Sieg der Roten Armee gemeinsam mit den Westallierten und der eben nach Ende des Zweiten Weltkriegs aufkommende Kalte Krieg mit dem Menetekel eines Dritten Weltkriegs verstärkten die Gründe. Für den Aufbau eines anderen Deutschland wirken zu wollen lag für diejenigen, die wiederkehrten, nahe. Unter welcher Flagge das geschehen sollte, stand zur Wahl. Die Motive des Emigrierten und Expatriierten waren stark. Brechts Bedürfnis, nach Deutschland zurückzukehren, hieß auch, endlich wieder in Berlin zu arbeiten, dort, wo in fast zehn Jahren alles so gut gelaufen war zwischen dem Kleistpreis 1922, dem Riesenerfolg der Dreigroschenoper1928 und, ja, auch dem Verbot des Films Kuhle Wampe1932. Auch wenn etwas anderes dalag als das Berlin, das da vorher gestanden hatte. Trotzdem erschien hier endlich und zum ersten Mal ganz eigenständig Theater zu machen als etwas Großes. Die Summe derartiger Bedürfnisse und die Aussicht auf Befriedigung waren so groß, da war es egal, wie klein es ringsum aussah und wie grau das Material war, mit dem zu arbeiten wäre.
Ich werde nicht in die Archive vordringen. Diese Rede ist die eines Betroffenen, eines von Brecht Betroffenen. Die Rede ist also auch vom Lesen, von Leserinnen und Lesern, nein, im Wesentlichen doch wieder von Männern, von männlichen Lesern, von einem bestimmten Verständnis, von bestimmten Hirnen, vielleicht, wenn ich mich nicht täusche, auch von Konventionen und Prägungen, von Trieben und von Hormonen, vom Stammhirn, von Drüsen, die das Leseverhalten beeinflussen, wenn nicht bestimmen. Ich trete also ans Regal, zum Beispiel ich. Die Belletristik ist konventionell eingestellt, nach dem Alphabet. Die Richtung, in der ich zu schauen und zu wählen beginne, ist die verbreitete: von links oben nach rechts unten. Unser Kulturkreis, hier diese Sprache, deutsch, ich finde ihn rasch: Brecht. So hätte es sein können. Aber es war nicht so. Das Lesen begann anders, das richtige Lesen. Es war ein Fest der Anarchie, eine Reise auf einen fernen Kontinent an der Hand von Übersetzerinnen und Übersetzern, die gut waren, ich glaube, sehr gut. Aber das Hirn sprang an der Hand des ersten Schriftstellers zum zweiten, es sprang zugleich anhand des Lexikons von einem Land in das nächste. Ich war verführt und ausgeliefert. So war das. Ganz anders als im Augsburger königlichen Gymnasium, wo der Leseplan für Deutsch und die klassischen Sprachen zielstrebigen Aufbau verhieß. Anders als dort, wo Brecht von seinen Eltern und von Verwandten Bücher geschenkt bekam, die ihnen brauchbar erschienen, vor allem solche, die er sich selbst wünschte. Und dazu das Brettl, die Bühne, der Gesang zur Gitarre, die Show. Jung Berthold hatte reichlich Ausgang, und zu Hause stand das gute, bürgerliche Essen immer auf dem Tisch. Der Vater sang im Verein, der brachte hie und da Verständnis auf. Und die Mansarde, bald gab es diese Mansarde, in der das Leben so wunderbar unbeobachtet anging, versorgt von der Haushälterin Marie, versteht sich, bis ins dänische Exil hinaus umsorgt von einer oder der anderen Marie. Ansonsten wurde er als junger Kerl in Ruhe gelassen. Nichts stand dem Kult der Männlichkeit mit Freunden entgegen, nichts der ersten Liebe zu einer Frau. Mit fünfzehn die eigene Schülerzeitung, mit sechzehn darin die Veröffentlichung des ersten Dramas, wie es heißt, unter dem Titel Die Bibel. Zugleich erscheinen erste Gedichte in Tageszeitungen. So ähnlich war das bei ihm, das sei der Atmosphäre wegen bemerkt. Sonst geht es hier weder breit um Brechts Leben noch lang um sein Lesen. Es geht um das Lesen, Denken, Dichten Späterer, die unter seinen Einfluss gerieten. Es geht um den Fixstern großer Dichtung, um Prägung und Dominanz. Im Vergleich zu den Dramen, die Marxismus und Moderne seit ihrer parallelen Entstehung aufführten, sind der deutsche Realsozialismus und seine kritischen Dichter in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit eine Farce. Brecht und seine Nachgeborenen – in meiner Auswahl Volker Braun, Wolf Biermann, Heiner Müller und Thomas Brasch – sorgten nur dafür, dass sie vierzig Jahre auf dem Spielplan blieb.
Mit meinem eigenen Schreiben, mit meinen Gedichten hat das kaum oder wenig zu tun, nicht dass hier ein Missverständnis aufkommt. Das lese man nach. Und Brechts Biographie ist sowieso hinreichend dokumentiert, die Eckdaten können vorausgesetzt werden. Wer es genauer wissen wollte, hat sich beholfen, den alten Mittenzwei und den jüngeren Fuegi gelesen, bis ihm hie und da übel wurde. Vielleicht hätte diejenige und derjenige biographische Erkenntnis Suchende sogar Werner Hechts dicke Brecht-Chronik konsultiert und meinetwegen dessen Buch über Brecht und die DDR. Woandersher ergibt sich Interessanteres. Hans Sahl stellt eine Frage. Margret Boveri fasst etwas zusammen. Walter Benjamin spielte nicht nur Schach mit Brecht. Marcel Reich-Ranicki bringt manches prägnant auf den Punkt. Michael Rohrwassers Dissertation Der Stalinismus und die Renegaten bewegt unerhört viel Material und nennt für Brecht den »Preis, den man nach 1945 für [etwas wie das] Berliner Ensemble zu zahlen bereit war«. Da ist viel Beschämung möglich. Und soll wohl auch sein. Alles, was hier beigetragen werden kann, ist Fragment aus Begegnung und Wiederbegegnung, Staunen und Absturz, Freude am Nachdenken einerseits und unabweisbarem Überdruss andererseits. So setzt es sich zusammen. So kam es zu meiner begrenzten Zeit mit Brecht. Mehr war, mehr ist es nicht.
Dies hier ist kein Beitrag zur Geschichte der DDR. Vermutlich trägt es auch zur sogenannten Literaturgeschichte wenig bei. Es ist eine Rede mit Brecht, anhand von Brecht, über, gegen und für Brecht. Der Mann gründete, während der ostdeutsche sozialistische Staat gegründet wurde, seinen eigenen. Seiner war beileibe keine Republik, wenn auch dem Namen nach ein wenig. »Ensemble« war gut genug, hätte auch Kollektiv heißen können, obwohl das, was aus Brechts Einflussnahmen folgte, viel mehr, tausendmal mehr und folgenreicher war als das, was wir bis heute als das »Berliner Ensemble« kennen, ein Theater unter anderen. Brecht war da für Klarheit. Er regierte seinen Staat, wie er vorher, auf den Stationen des Exils, seine Nomadensippe zusammengehalten hatte. Brecht kümmerte sich als selbsternannter und akzeptierter Weisungsberechtigter um jedes Detail, das ihm zur Kenntnis gebracht wurde von Helferinnen und Helfern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Mitdenkern. Er war einer, der sich nützte und sich selbst verstanden hatte wie die Teppichweber von Kujan-Bulak den großen Lenin. Aber Brecht war zugleich auch wie Lenin selbst: »Die Stärksten kämpfen ihr Leben lang.« Er war zeitlebens wissbegierig, ging stets bei sich selbst in die Schule und nahm sich wörtlich. Brecht »legte den Finger auf jeden Posten«. Widerspruch in sich als ein selbsternannter Priester der Dialektik, hegte er Zweifel an dem einmal eingeschlagenen Weg des realen Kommunismus äußerst selten, an den Parteien und Organisationen, die denselben auf ihren Fahnen trugen, soweit sie ihn angingen: KPDSU, Komintern und KPD, später SED. Nie war seine Kritik tiefgreifend, öffentlich schon gar nicht. Wesentlicher, grundlegender oder besser: Grund aufreißender Widerspruch im geistigen Habit Brechts ist das Aussetzen des kritischen Verstands vor den Trägern der kommunistischen und stalinistischen Doktrin. Was bei anderen Glaube an Ideale sein könnte, bei diesem Mann handelt es sich um erworbene Einsicht und kreatives Kalkül. Folgerichtig führten Fragen des Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953 bei Brecht neben Ergebenheitsbekundungen an die Regierung der DDR hauptsächlich zu veröffentlichter Lyrik in Anlehnung an klassische chinesische Dichtung und sowjetische Bauvorhaben einerseits und zu unveröffentlichten Gedichten andererseits.
Wenn Zeitgenossen die Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion als eine der Partei oder einfach als eine von Verbrechern betrachteten und bezeichneten, waren sie Feinde für ihn, selbst wenn er alles wusste und ebenso sehen konnte, was zu solchen Einsichten führte. In Brechts Welt stand Schwarz gegen Weiß, Arm gegen Reich, Klugheit gegen Dummheit. Freundlichkeit der Welt war ungleich verteilt. Der Kapitalismus als Summum der Ausbeutergesellschaft stand für ihn gegen die sowjetische Wirtschaftsform, die er einzig für zukunftweisend hielt und idealisierte.
Verzeihen Sie, selbstverständlich geht Brecht in diesem politisch Allgemeinen, auch in seinen eigenen, überdeutlichen politischen Absichten nicht auf. Sonst wäre sich mit Brechts Leben und Werk als Patrix des Dichters im 20. Jahrhundert zu befassen nicht sinnvoll.
Das alles hat vielleicht zuallererst darin seinen Grund, dass Brecht der andauernde, der unvermeidliche, der ewige Gottseibeiuns ist. Das waren vor ihm, mit etwas anderer Ausrichtung, nur Luther und die Weimarer Klassiker. Man frage sich nur einmal und gestatte sich den unbefangenen Blick: Jedes Gespräch über Bäume kommentiert umgehend wer? Wenn das Einfache schwer zu machen ist, sind wir die seinen, auch und erst recht mit diesem Wir. Wenn ich mich frage, was einer früher war, vor dem Ende gewisser Verhältnisse, habe ich denjenigen durch Brechts Brille angeschaut. Jedes kleine Haus unter Bäumen am See ist seins, jedes einzelne kleine Haus trostlos ohne den Rauch, der von menschlicher Anwesenheit zeugt. Jeder Haifisch, sogar jeder einzelne Haifischzahn gehört ihm, und das Messer, das man nicht sieht, obwohl es einer trägt, sowieso. Begegne ich einem alten Freund, der sich scheinbar nicht verändert hat, tue ich es mit Brecht, und wenn der darauf Angesprochene erbleicht, tut er das erst recht mit Brecht. Schwankend geht es durch die Nacht zu Brechts nächster Whiskybar. Der Boden für Freundlichkeit ist von ihm bereitet, die Freundlichkeit ist allemal etwas wie Brechtigkeit. Es ist Brechts Zorn über das Unrecht, der meine Stimme heiser macht. Mancher Mann setzt sich eine Frau in seinen Schaukelstuhl und sagt ihr: In mir hast du einen, auf den kannst du nicht bauen. Mancher Mann weiß nicht, wem er das nachspricht und nachtut. Über die Rechnung, die bezahlt werden muss, gleitet Brechts prüfender Stift. Die Geschichtsbücher für Kinder und Kindeskinder hat Brecht geschrieben. Das Schulkind, zum Lesen angehalten, stellt umgehend die Fragen eines lesenden Arbeiters. Die unbesiegliche Inschrift hat das Zeug, jede Göre zum Leninisten zu machen. Sie taugt sicher auch zur Metapher für die Absicht manches Writers mit der Spraydose bei seinem illegalen Tun in dem von Brecht rauf und runter deklinierten Dschungel der Großstadt. Wenn ich, Uwe Kolbe, mich wieder einmal in hoffnungsloser Lage weiß, sage ich mir, auch die Troer waren in einer solchen. Und schon rücke ich Stückchen gerade, die reicht mir derselbe Handlanger her. Ohne Brecht hätte ich den Gedanken vielleicht nie gedacht, dass nur, wer im Wohlstand lebt, ein angenehmes Leben hat. Ich kann ihn auch wieder mit ihm verwerfen. Kürzer, genauer als von Brecht sind die Dauerbrenner namens Überbau und Basis der marxistischen Trivialphilosophie nie auf den Punkt gebracht worden: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. So ist es, so war es alle Jahrtausende vor Brecht, aber seither wird es in seinen Worten gedacht und gesagt, weit über den deutschen Sprachraum hinaus. Brecht ist so sehr bei jedem, der ihm einmal begegnet ist, dass er ihn mehr oder minder bewusst ein Leben lang im kleinen Handgepäck mit sich führen wird. O Himmel, strahlender Azur, jauchzt es in den Frühlingshimmel, verdammt, von welchem ironischen Romantiker war das noch? Von Brecht natürlich, von wem sollte das sonst sein? Falls nicht, hat seine Setzung die ältere verdrängt. Sela.
Brecht also, er liegt nahe. Zugleich jedoch ist der Weg zu ihm, ihn zu fassen, der längste zu einem Dichter des 20. Jahrhunderts, vielleicht zu einem deutschen Dichter überhaupt. Dafür begann er zeitig selbst zu sorgen. Schon mit Anfang zwanzig erfand er sein großes Spiel und verbarg sich. So früh schon probierte er und passte sich schließlich die geeigneten Masken an, die vor ihm eine illustre Reihe von Dichtern jeweils auch kurz getragen hatten. Man könnte DNA daran nachweisen von dem dichtenden, gelehrten Vagabunden François Villon, jedenfalls die übersetzte, die DNS, von Paul Gerhardt und anderen Dichtern des Gesangbuchs sowieso, vom lustvoll-schmerzlichen Heine, von Arthur Rimbaud, auch eine Spur Karl Valentin wäre daran zu finden. Brechts Maskenwand hat viele Nägel, und so ist das Beste immer zur Hand: Grimmelshausen, das sind Sprache und Witz, Shakespeare, das sind Bauplan und große Figuren. Dass ohne die gut durchgelüftete Poesie Walt Whitmans und die Bilderwelt der Kolonialballaden von Rudyard Kipling weder die Psalmen des Zwanzigjährigen noch insbesondere der berühmteste Gedichtband, die Hauspostille, zu denken sind, das gehört in die Fußnoten. Das Wesen aber, die Einschnitte der Maske, die Augen, die Nase und insbesondere die Form des Munds der Lieblingsmaske des Bertolt Brecht stammen von einem berühmten Mönch her. Der hieß Martin Luther.
Dichter Brecht und Luther, der Mönch, lasen gemeinsam das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels. Dessen Sprache erschien ihnen aber noch nicht einfach genug. Führende Mitglieder von Lenins Partei neuen Typs hatten 1919 auf das berühmte Maul des Volkes geschaut und bedienten mit dem propagandistischen Echo das Ohr desselben. Zu lesen stand das Ergebnis im ABC des Kommunismus von Nikolai Bucharin und Jewgeni Preobraschenski. Die Schrift war selbstverständlich sofort auch auf Deutsch erschienen. Die Revolutionäre des Roten Oktobers hatten die marxistische Lehre von der Revolution im höchstentwickelten Kapitalismus, also in Deutschland, dem Mutterland derselben Lehre, so sehr verinnerlicht, dass sie so lange daran glaubten, bis Stalin ihnen diesen Zahn zog, indem er ihnen das Leben nahm.
Brecht und Luther lasen dort zum Beispiel, dass das Programm der Kommunistischen Partei »nicht aus dem Kopf erdichtet werden dürfte, sondern aus dem Leben genommen werden müsse. Vor Marx entwarfen die Leute, welche die Interessen der Arbeiterklasse vertreten, oft Zauberbilder von dem künftigen Paradies, fragten sich aber nicht, ob es zu erreichen und welches der richtige Weg für die Arbeiterklasse und die Dorfarmut sei. Marx lehrte ganz anders handeln. Er nahm die schlechte, ungerechte, barbarische Ordnung, wie sie noch bis jetzt [1919] in der ganzen Welt herrscht, und untersuchte, wie diese Ordnung beschaffen sei. Genauso, wie wenn wir irgendeine Maschine, oder, sagen wir, eine Uhr untersuchen würden, so betrachtete Marx die kapitalistische Gesellschaftsordnung, in der die Fabrikanten und Gutsbesitzer herrschen, die Arbeiter und Bauern aber unterdrückt sind«. Musste da noch jemand die Erfindung einer gestischen Sprache in Anspruch nehmen? Brecht tat es. Und er stellte sein Licht nicht unter den Scheffel: »Der Dichter Kin-jeh darf für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, die Sprache der Literatur erneuert zu haben. […] [Er] erkannte die Sprache als ein Werkzeug des Handelns«, protzt er in den 30er Jahren in seinem Buch der Wendungen. Großartig! Nur war sie schon da, die Sprache, zur Funktionalität geklärt, im Dienste der Sache. Die Propagandasprache, die sich an »das Volk« wendete, war auf den Zweck, auf die nachvollziehbare Geste aus und ergab so etwas wie Literatur als Uhrwerk. Wladimir Majakowski schrieb und deklamierte früher als Brecht eine vollkommen gestische Sprache. Ihm bereitgestellt hatte sie Welimir Chlebnikow, ein Futurist. Brecht war ein »Futurist« der besonderen, der deutschen Art, der in jeden Baukasten langte, um für seine persönliche Modernität zu schöpfen. Durch wen oder was vermittelt, war ihm egal. Brecht griff zu, wo es ihm zweckmäßig schien.
Reformator und Dichter sagten von nun an schlicht und genau, immer schlichter, immer genauer, was sie zum Zweck der Verbreitung der Lehre zu sagen hatten. Brecht, wie sie zusammen der Einfachheit halber hießen, dichtete weiter in der Form des Kirchenlieds, nach der Abfolge des Gottesdienstes, im Duktus der Menschengeschichten des Alten Testaments, wie es ihm von Kindesbeinen an geläufig war, aber er änderte die Richtung. Wo es früher hinauf ins Himmelreich ging, lehnte nun die Leiter in die klassenlose Gesellschaft an jeder Wolke oder Pforte. Trat früher ein Jünger, ein Apostel auf, der um Gottes Lohn bis zum Martyrium litt, war es nun der illegale Parteiarbeiter, der sich nicht schonte und alles auf sich nahm für die gute Sache. Der Mittzwanziger Brecht schreibt diese Texte 400 Jahre nach Luther in Berlin. Doch sprachlich, metaphorisch ist er den Konstellationen zwischen dem Sohn Gottes und seinen Jüngern in der Version des Junkers Jörg von der Wartburg so nah wie möglich. Sagten sich einst die Jünger Jesu von ihrem früheren Leben mit Mutter und Vater los, hieß es bei Junker Brecht, gerichtet an die Städtebewohner: »Wenn du deinen Eltern begegnest in der Stadt Hamburg oder sonstwo/Gehe an ihnen fremd vor