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In diesem Werk geht es um fiktionale Briefe eines Vaters an seine heranwachsende Tochter, welcher der Ansicht ist, dass sein Kind noch nicht bereit für die Welt sei. Die Briefe erzählen eine Geschichte über die Zeit des Erwachsenwerdens der Tochter und beruhen auf der tatsächlichen Situation Thilo Kochs, der gerade erst mit seiner Tochter aus den USA zurückgekehrt war. Zunächst wurden die Briefe damals in der ZEIT anonym veröffentlicht und behandelten das aktuelle Zeitgeschehen ihrer Veröffentlichung. Die Aufmerksamkeit, Anteilnahme, Beifall und Kritik, welche die Briefe in hohem Maße erhielten, führte dazu, dass sie in diesem schönen Werk veröffentlicht wurden.-
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Seitenzahl: 115
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Thilo Koch
Saga
Briefe aus KrähwinkelCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1980, 2019 Thilo Koch und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711836156
1. Ebook-Auflage, 2019 Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Für meine Tochter Bettina
take it easy. Dein erster Brief aus München hat mich bewegt. Wörtlich übrigens — ich bin gleich vor die Tür gegangen, habe über das Tal geblickt, das Du so liebst, und gesucht, wo denn die deutsche Enge ist, die Dich preßt und wo und wie er herumläuft, der deutsche Mensch, der Dir so auf die Nerven fällt. Mein unbewaffnetes Auge konnte ihn nicht ausmachen.
Hab ich’s gut in Krähwinkel. Du dagegen bist in einer jener großen Städte. ». . . und es wird bleiben der durch sie hindurchging, der Wind . . .« Weiß nicht, ob ich Brecht noch richtig zitiere — nach so viel New York Times und Life und Look. Du kennst den Namen Brecht gar nicht? Kommt vielleicht noch. Fand auch Deutschland eines Tages zu eng, der Mann, ging nach Amerika, wurde gegangen. Und kam zurück, als die wildgewordenen deutschen Kleinbürger unser Vaterland endlich kaputt hatten. Hab’ ich »Vaterland« gesagt?
Ja, Tochter, da steht es: Vaterland. Neun Buchstaben, und da liegt es, im Tal vor mir. Und da ist es, in Deinem schönen München. Es ist voller Deutscher, des Deutschen Vaterland; aber ist es noch Deutschland? Deines Vaters Land? Mein Land also? Meines, Deines — wirklich?
Doch. Trotz allem, was da war und wird. Mir ist es näher gekommen, unser Deutschland, während wir so weit von ihm entfernt waren. Und nun Krähwinkel. Und für Dich München, wo jeder die Vorfahrt hat, wie Du schreibst. Haste was kannste. So daß Dein amerikanischer Führerschein sich vor Schreck im Portemonnaie umdreht?
Ich finde Krähwinkel, gesteh’ ich’s nur, herrlich. »Das Grüne«, sagte mir letzte Woche in Hamburg der Autor E. S., »das Grüne ist noch keinem deutschen Intellektuellen bekommen.« Er ist einer von denen, die sie hier »linksintellektuell« nennen. Asphaltliterat? Nee, gar nicht. Eher ein Jack London aus der Lausitz, wenn Du verstehst, was ich meine. Seefahrer schon jung, mit Weitblick und Weltsehnsucht. Aber auch Antiken-Neigung, Would-be-Odysseus. Du wirst so Leute, jüngere, bald auch in Schwabing kennenlernen. Sei nicht traurig, aber schimpf auch nicht gleich, wenn Du kein Wort verstehst von dem, was sie sagen. In Deutschland ist man halt erst einmal dunkel, wenn man besonders hell erscheinen möchte. Es ist das Schlimmste nicht.
Schlimmer finde ich, wie Dein Kommilitone über »die Amis, die saublöden« geschimpft hat. Hier in Krähwinkel waren ja die Franzosen »Besatzer«. Haben das Holz »g’schlage« und sich oft »bnomme wie de Russe«. Also hier hab’ ich noch keine Amigo-home-Idioten gefunden. Was Du machen sollst?
Also saugrob tät ich da werden, tät ich. Da verlier’ man ruhig mal Deine schöne High-School-Langmut und blase diesen verblasenen bayrischen Blasius an. Aus vollen Backen »Die Amis«, »Die Deutschen«, »Die Kommunisten«, »Die Bayern« — welch ein Kollektivurteil-Quatsch. Das, bitte, take nicht easy, Tochter. Das hat uns schon einmal fast alles gekostet, sogar unser Vaterland.
Er soll sagen, wen und was er meint, dieser Blasius unterm Lodenhut. Daß er Dir sonst (als Mensch) ganz gut gefällt, macht die Sache leichter. Übrigens, was heißt: als Mensch? Ist er noch was außerdem? Vielleicht ein Un-Mensch? Zähme ihn, den Lackel, kläre ihn auf. Sage doch, daß es Dir auch nicht gefallen hat, wie so viele amerikanische Frauen »sich vor sich hertragen«, wie sie ihr Image zelebrieren. Und schimpfe ruhig mal über God’s own Junkyard, diese häßlichen Wunden der Zivilisation überall.
Aber dann erklär’ ihm, wie sie Dir geholfen haben in der Schule, als Du noch nicht englisch sprachst. Wie sie versuchten, fair zu sein, zu den Deutschen — auch als durch den Eichmann-Prozeß alles noch mal hochkochte, im Unterricht, im Fernsehen, in den Gesprächen. Frag’ ihn, ob er zum Beispiel Dir trauen würde. Er wird sich hüten, seinen Dickkopf zu schütteln. Und dann: Du hättest gelernt, »den Amis« zu trauen. Ergo . . .
Und meinen Freund W. E. findest Du zu negativ, ewig sarkastisch? Er ist aber weich wie Eichendorff als Taugenichts. Sieh’ Dir seinen Mund an. Mit einem Rilkewort würde man den »weh« nennen. Du verstehst nicht, wogegen er eigentlich so höhnisch schreibt? Aber noch weniger wofür? Also wofür, das ist schwierig, denn neulich hat er den Sozialdemokraten auf alle nur denkbaren Hühneraugen getreten. Und »eigentlich« ist er wohl für die. Als sie noch »die« waren — »die«, die er meinte. Schumacher vielleicht. Nein, Schumacher auch nicht, der wär’ ihm zu national.
Also frag’ ihn doch: Wofür, bitte, Herr E., sind sie? Mein Vater weiß es auch nicht. Aber wogegen? Na, gegen Bonn und gegen Die Deutsche Lüge und gegen die Neureichen und noch mehr gegen die Alt- oder Wiederreichen und gegen die Springer-Presse und gegen die deutsche Hand am Atomdrücker und gegen die Passierscheingegner. Also wogegen — das ist einfach.
Ich sehe eine Falte auf Deiner runden Stirn, Kind. Einfach? Beginnen wir mit Bonn? Was das denn sei: Bonn? Also, ich will Dir was sagen. Mich interessiert es auch. Ich werd’ mal hinfahren und Dir berichten, nächste Woche vielleicht. Denn ich muß wieder meine Tannen rauschen gehört haben und mein Tal überblickt. Es geht nicht mehr so rasch — zack-zack und stehn — mit dem Urteilen. Verzeih. Mein Krähwinkel lob’ ich mir — es ist kein Klein-Paris und bildet Deinen Vater. Verstehst die Anspielung nicht? Goethe in Leipzig. Goethe — auch ein deutsches Wunder, ein deutsches Rätsel — bis zu Friedenthals Biographie. Frag’ diesen Loden-Blasius, ob er sie kennt. Und dann lest sie Beide.
Sei patient, Tochter. Take it easy, lerne es lieben, das Vaterland, Deines Vaters Land. Muß schließen. Der Hund kläfft. Sind schon wieder Leute am Tor, die glotzen. Und trink nicht zuviel Espresso. Ist München nicht herrlich italienisch geworden? Oder findest Du es rather southern?
weißt Du wo die Blumen sind,
wo sind sie geblieben?
Kam mir doch tatsächlich eine Träne ins Auge . . . Du kennst mich ja, hab’ manchmal »nah’ am Wasser gebaut«. Also, es war so: die B.’s — alle schrecklich aufgeregt und furchtbar lieb wie immer — hatten mich von Tempelhof abgeholt. Bis zur Duden-Straße (jawohl, Duden das ist der Mann mit der deutschen Rechtschreibung, mach’ Dich mal besser mit ihm bekannt gefälligst, gelegentlich, Du teenager) ging alles gut. Dann sagte Schwesterleben jubelnd, emphatisch: »Na, wie findest Du es, Dein Berlin, unser Berlin?«
»Ziemlich kleen un’n bißchen provinziell«, sagte ich. Sie sind baff. »Wenigstens hier, wo wir gerade sind, in Schöneberg,« füge ich eilig hinzu. Ich kann nun einmal diese Appelle nicht verknusen. How do you like America? Wir haben es alle höflich beantworten gelernt, drüben. Klar, im Ausland. Aber dies war ja wirklich: mein Berlin, unser Berlin. Die Stadt, wo Du, Töchterchen, geboren bist. Olympische Straße 12 war das, British Sector, 500 Gramm Weißbrot täglich extra bekamen wir für Dich Baby. Du hast uns ernährt. Ich wog hundertachtzehn Pfund nach der Gefangenschaft. Du übrigens sieben — nach der Geburt.
Also, ich hab’ sie verstimmt, die B.’s, die Schwester. Es tut mir leid. Aber es würgte mich schon im Halse, seit ich durchs Flugzeugfenster das Roseneck ausgemacht hatte, wo wir unser erstes Haus gebaut haben, Richard-Strauß-Straße, auf dem Goldmark-Trümmer-Grundstück von Ilja Markewitsch Trotzky, nachmals New York.
Aber das ist eine Geschichte für sich. Siehst Du — das war’s, überall Geschichten, um jede Ecke eine — in diesem Berlin. Es bubberte infolgedessen immerfort da irgendwo in Deinem Vater. Und dann soll er sagen: Oh, I just love Berlin, it’s a marvellous city, isn’t it. Kann man doch bloß saaren: hamses nich’n bisken kleener.
Hätte Dich gern bei mir gehabt, in diesen Tagen, Tochter. Du bist ja ’ne echte Berlinerin, ich bloß ’n gelernter Berliner. Und die lieben det olle Dorf ja viel sentimentaler als Ihr Richtigen.
Anhalter Bahnhof sind wir auch vorbeigefahren. Alles tot, immer noch. Wie oft kam ich da an, in Deinem Alter und jünger, aus Elsterwerda, mit dem Dresdner Eilzug. Wie oft fuhr ich da ab. 16.44 Uhr, ich weiß es noch genau. Und wenn der Koffer im Netz war, das Fenster wieder hoch, das Taschentuch nach dem Winke-Winke zusammengefaltet, und wir ratterten durch Lichtenrade, Richtung Zossen, fing ein langes Selbstgespräch an: Mensch Junge, is det ne Stadt, wa? Mann, und da mußte mal durch . . .
Und da bin ich auch durch, wenn auch erst mit erheblicher Zugverspätung — so’n kleiner Weltkrieg kam dazwischen. Und da war ich nun wieder, paar Amerika-Jahre dazwischen, und da hatten sie mich am Hilton (ein Amerikaner in Berlin, hahaha) vorgefahren, in ihrem guten alten grünen VW, und der Zweimeterzehn-Portier hatte kaum heruntergereicht, und dann hatte mich ein Boy zehn Stock nach oben gefahren: »Sie war’n wo’ lange nich da, der Herr« — und dann mache ich das Kippfenster auf, es liegt zum Zoologischen Garten hin, und da ist Nachmittags-Tanztee, und da spielen sie ausgerechnet:
Weißt Du, wo die Blumen sind,
wo sind sie geblieben?
Immer hab ich dabei zwei Stimmen im Ohr. Marlenes natürlich, guttural-sinnlich, Gänsehautfördernd, schauerlichschön, und Deine, wie Du es summst an Deinem Bungalow-Fenster, Washington-Suburbia, abends, vor dem violetten Sonnenuntergang über den Wäldern von Virginia. Sah’ es nicht immer alles aus, wie von Grandma Moses gemalt?
Where have all the flowers gone,
picked by young girls everyone.
Where have all the young girls gone,
gone to young man everyone.
Where have all the young man gone,
gone to soldiers everyone.
Where have all the soldiers gone,
gone to graveyards everyone.
Where have all the graveyards gone,
gone to flowers everyone . . .
Kitsch, ich weiß. Aber dies — long time passing, long time ago, dies mir in Berlin. Es nahm mich hin, trug mich fort. Später stand ich auf dem Waldfriedhof, zuerst am Grabe meiner Mutter, später am Grabe Gottfried Benns. Sie waren ein Jahrgang: 1886. Sie starben fast im selben Jahr. Da gibt es diese Zeile von ihm:
Nicht im Sommer sterben,
wenn alles hell ist,
und die Erde für Spaten leicht.
Aber es war ein brennend heißer Sonntag mit tiefblauem Himmel, einem märkischen Himmel trotzdem, als wir ihn 1956 begruben. Mein liebster Benn-Vers:
Leben ist Brücken schlagen,
über Ströme die vergehn.
Where have all the graveyards gone? Meines Vaters Grab ist unerreichbar weit schon lange, hundert Kilometer von dem seiner Frau entfernt. Das wäre weit, heutzutage im Jet-Zeitalter? Oh, hundert Kilometer, das kann sehr weit sein, unerreichbar weit, wenn es hundert Kilometer sind, südlich von Berlin.
Aber Schluß. War froh, als ich wieder zu Hause war, in Krähwinkel, hier im südlich idyllischen Deutschland, ja: zu Hause. Berlin, das ist vielleicht noch einmal etwas für Euch, für Dich und Deinen Bruder. Warum nicht. Ich war bei dieser Reise immerfort à la recherche des temps perdus.
Für Dich, Tochter, ist das noch kein weiter Weg. Was heißt »verlorene Zeit« — mit Achtzehn. Oder ist es doch schon da, dieses Verloren, oh Verloren des Thomas Wolfe? Wenn ich mich recht entsinne, las ich Proust doch schon in Deinem Alter zum ersten Mal — Im Schatten junger Mädchenblüte. Welch ein poetischer Titel, fällt mir heute auf. Habt Ihr Nachkriegskinder einen Sinn für Poesie, für diese Poesie?
Du hast nie Chopin gespielt. Man hört auch im Radio kaum noch mal ein Notturno. Aber Elise von Beethoven, ich werde es nie vergessen, wie Du eines Sonntagmorgens an Deinem kleinen grauen Klavier saßest, das mit den Messing-Füßen, in dem rosa-weiß-karierten Kleidchen mit der Spitzenbordüre an Ärmeln und Ausschnitt (hast Du es noch?) und Elise spieltest, selber ganz und gar Elise. Deine Stirn war noch sehr rund und ernst.
Bin heute komisch weich gestimmt, ganz auf h-moll. Kommt, weil ich von Berlin erzähle. Dabei wird Krähwinkel jeden Tag schöner. Die Wiese vorm Haus brachte als neueste Attraktion Klatschmohn heraus. Lauter kleine Halt-Signale. Ach ja, möchte auch gar nicht mehr abfahren. Nach Berlin. Oder nach Bonn. Ich bin Dir aber — wie im letzten Brief versprochen — eine Beschreibung unserer Bundeshauptstadt schuldig. Und Du, Du bist mir endlich wieder einen schönen Schreibebrief aus München schuldig.
Mein Vater, Dein Großvater, erzählte gern eine Geschichte aus seiner Jugend. Die ging so: Seine Mutter, Deine Urgroßmutter, war eine westfälische Bauerntochter, eine geborene Hagensieker. Sehr genau und sparsam. Wenn sie ihren Ältesten, meinen Vater, Deinen Großvater, in den Keller schickte, etwas raufzuholen, mußte er immer pfeifen. Pfiff er mal nicht, rief es sofort: »Willi! Willi, warum pfeifst Du nicht?« Willi hätte ja einen Apfel oder ein Stück Wurst schnell im Vorbeigehen unten verspeisen können . . .
Tochter! Tochter, warum schreibst Du nicht? Was treibst Du? Verspeisest Du etwas, schnell im Vorübergehen, unten in München? Wart man lieber, bis es auf den Tisch kommt.
Das sagt Dir, mit einem Kuß, bei Euch in Bayern auch Busserl genannt,
selber Schuld! Wer sich ins Münchner Nachtleben stürzt, kommt darin um. Ist ja rührend, daß Du endlich schreibst. Anstatt anzurufen: Vater, I have got some Problems. Krähwinkel liegt schließlich nicht aus aller Welt. Schwupps, wär’ ich bei Dir gewesen. Hab mir doch immer gedacht, daß Dir diese Schwabinger Pullover-Jünglinge eines Tages dutzendweise zum Halse raushängen. Aber gleich ein Mann in meinem Alter? Heiliger Freud! Ich meine, den Psy-cho-ana-ly-ti-ker . . .
Hätt’ ich Dir bloß nicht die Tote von Beverly Hills empfohlen. Wer denkt denn auch, daß diese Tochter gleich Kunst und Leben vermischt, verwechselt, vertauscht. Zugegeben, solch einer Lou, dem Fräulein Weiß (in Pfleghaars Film), würd ich auch kein Autogramm — oder so — verweigern (in meinem Krähwinkel oder in Beverly Hills). Aber wenn die eigene Tochter . . ., dann sieht alles plötzlich ganz anders aus. Ganz anders aus!