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Nur zwei Jahre, nachdem der erste Teil "Briefe aus Krähwinkel" so positiv aufgenommen wurde, folgt der Autor Thilo Koch nun mit einer Fortsetzung. Wie schon im ersten Teil, kann der Leser kann erneut mitverfolgen wie das aktuelle Zeitgeschehen diskutiert wird, durch die Briefe eines Vaters an seine erwachsen werdende Tochter. Die Art und Weise, wie die Briefe verfasst sind, beschreibt Themen wie sie oft und realistisch in Familien hätte diskutiert werden können.-
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Seitenzahl: 102
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Thilo Koch
Saga
Neue Briefe aus KrähwinkelCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1967, 2019 Thilo Koch und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711836156
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Für meine Tochter Bettina
Du willst also nicht heiraten – niemals. Na gut, da bleibst Du Deinem alten Vater um so länger erhalten und sparst Dir auch sonst viel Ärger. Freilich hatte ich mich schon sehr auf das ganz neue Großvatergefühl gefreut. Damit muß ich nun wohl auf Deinen hoffentlich positiver gesinnten Bruder warten. Wenn ich andererseits bedenke, daß die jungen Leute heute, falls sie sich durch den Studiengang unserer schwerfälligen Hochschulen quälen müssen, Ende Zwanzig werden, bevor sie »eine Familie gründen« können, dann muß ich mich mächtig in Geduld fassen – hinsichtlich der Enkelschar.
An transatlantischen Enkeln, Tochter, war ich ohnehin nie so sehr interessiert, denn wenn Ihr auch eine Atlantische Generation seid, so kostet es doch immer noch runde 2000 Mark, von Krähwinkel nach New York und zurückzufliegen, und so »teuer« sollten einem die schönsten deutsch-amerikanischen Enkel wieder nicht sein oder werden. Nun, ich hab Dich zwar arglistig aus den Armen dieses Blond-Tropfes in München gerissen, um zu hintertreiben, was Deine Großmutter mütterlicherseits eine Mesalliance genannt hätte; aber es ist perfectly all right with me, daß nun nicht gleich irgendein guy next door Dich ködert und angelt und wer weiß was.
Indes, indes – die Begründung Deines Ehepessimismus’ bedarf denn doch des väterlichen Kommentars. Überall, wohin man sieht: Zank und Streit, Untreue, Egoismus, Scheidungsprozesse – so schreibst Du. Ja, es ist wahr. Nur sieh, man kann sagen: eine von fünf Ehen in Amerika wird geschieden; man kann aber auch sagen: vier von fünf Ehen halten. Beides ist statistisch gleichermaßen wahr. Mit Zahlen ist es wie mit dem Wald, aus dem herausschallet, was man hineinrufet.
Nun aber gar unser Germanien. Ein Statistiker (nicht zu verwechseln mit einem Statisten) namens Troost sagt tröstlich: auf 10 000 bestehende Ehen kommen bei uns jährlich nur 35 Scheidungen. Das ist tricky frisiert, denn tatsächlich stehen bei uns etwa 10 Eheschließungen einer Scheidung gegenüber. 80 % sind mit ihrer Ehe zufrieden. 76 % der verheirateten Männer würden ihre Gattin noch einmal zum Altar führen. 56 % vertrauen ihr das Haushaltsgeld an. 60 % der Frauen und 50 % der Männer ehelichen ihre große Liebe. Ist das nicht wunderbar – wenn man zufällig statistisch dazu gehört? Tochter, obwohl Du nun niemals heiraten wirst, verständlicherweise: sollte Sinnesänderung in Dein Herz einziehen, tu es overhere, hüben in Deutschland.
Tatsächlich – ist es nicht erstaunlich, wie viele Leute es miteinander aushalten, ein Leben lang? Gewiß, der Kalte Krieg um Tisch und Bett, das heimtückisch-bösartige Sichquälen oder gleichgültige Aneinandervorbeileben oder auch nur unachtsam Einanderdemütigen in den Ehen vermag kein Ibsen und kein Miller, kein Shaw und kein Molière zu beschreiben. Was bei Dir dort drüben in der Neuen Welt als Scheidungsgrund ohne weiteres anerkannt und auch weidlich mißbraucht wird, mental cruelty, seelische Grausamkeit: man praktiziert es wie eine Art sadistisches Gesellschaftsspiel mit Eifer und heißem Bemühen. Und es wäre mir ein bißchen zu billig, das alles einfach mit einem such is life zu quittieren – und ein bißchen zu pathetisch, die Ecce-Homo-Miene zum bösen Spiel zu machen: so ist er halt, der Mensch.
Ich muß Dir bekennen, daß ich nicht an die Heiligkeit des Grundsatzes von der Unauflöslichkeit der Ehe glaube. Es kann nicht human sein, einen Irrtum zu verewigen. Es ist allerdings auch weder human noch klug, einen Irrtum durch einen anderen zu ersetzen. Man wird vielleicht mehr darüber wissen können, wenn Lieschen Schneider alias Liz Taylor einmal die Geschichte ihrer fünf oder sechs oder wieviel Ehen ausplaudert. Darf einem da nicht die Loren besser gefallen, die ihrem Carlo Ponti so lange illegal treu war – auf italienisch? Die Kirche hat einen großen Magen, heißt’s im Doktor Faustus; offensichtlich hat sie nicht immer ein ebenso großes Herz.
Aber, Tochter, nun lasse ich die Katze endlich aus dem Sack: ich finde trotz- und alledem die Ehe die zweitbeste Erfindung dieser erfindungsreichen Menschheit. Die beste ist zweifellos die Lokalanästhesie, denn stell Dir vor: Zähne ziehen ohne Betäubung, das ist noch schlimmer als ein eifersüchtiger Gatte. Miteinander durchs Leben gehen, einer des anderen bester Freund, Kinder haben und wachsen lassen, ein Haus bauen, Sonnenblumen vorm Fenster, der Abendfrieden und hoffentlich nicht das Schicksal von Philemon und Baucis, sondern: Enkelchen, viele kleine knuddlige und krähende – ach.
Da hast Du mein Bürgeridyll, und wenn Du es spießig findest und kitschig konterfeit, dann finde ruhig. »Das einfache Leben« – es mag Defaitismus sein oder Atavismus oder dekadente Zivilisationsmüdigkeit: US-Romantiker Henry David Thoreau (1817–1863) hat beschrieben, warum einer sich zurückzieht; Thoreaus Krähwinkel hieß »Walden; or life in the woods«. Daraus ein Satz: »Warum verbringen wir denn unsere Tage damit, Versäumtes nachzuholen und das unsere Pflicht zu nennen? Wir wandeln noch im Winter, wenn längst Frühling ist.«
Ich kann mir gut vorstellen, wie Du am Rande der Rockefeller Plaza wandelst, die Hände tief in den Manteltaschen, den Kragen hochgeschlagen. Die schlittschuhlaufenden Pärchen sind noch da – wie vor fünfzehn Jahren, Tochter, als ich das erstemal dort stand. Ich rieche noch den kalten Wind vom Hudson-River her, aus den Lautsprechern kam der damals beliebte Schlager »Because of you«, was Du berlinisch übersetzen kannst: Allet wejen dir . . . Damals lernte ich im RCA-Building, dem höchsten hinter der Eisfläche, elektronischen Journalismus – auf amerikanisch. Und kaufte Dir bei Macy’s Dein erstes elegantes Mäntelchen, es war moosgrün und hatte ein weißes Kaninchenkrägelchen.
Zwischen 6und 7 kam immer ein sehr junges Mädchen im sehr kurzen Röckchen mit sehr langen Beinen zur Plaza und glitt in herrlich harmonischen Schwüngen über den elektrisch illuminierten Spiegel. Ich sah sie nie mit einem Partner. Vielleicht war es Lolita, bevor sie Vladimir Nabokov kennenlernte. Vor zwei Jahren übrigens hatte ich wieder im RCA-Building zu tun. Ich starrte auf einen Monitor und kommentierte life die Fernsehbilder von einem Begräbnis; sie wurden über Telstar nach Europa gefunkt. Eine junge Frau in schwarzem Schleier ging mit zwei kleinen Kindern an der Hand hinter einem Sarg her, der von sechs Grauschimmeln gezogen wurde, in Washington. Der da mit militärischen Ehren bestattet wurde, war noch drei Tage vorher der mächtigste Mann dieser Erde gewesen. Vier Monate vorher hatte er in der Frankfurter Paulskirche Begriff und Idee der Atlantischen Generation geprägt. Die Schüsse von Dallas töteten mehr als einen jungen Präsidenten. Seit dieser Mann so sterben mußte, liegt für mich ein Schatten über Amerika. Aber jetzt bist Du dort, Tochter, wieder dort, und so wird sie auch für mich wieder dichter, die Faszination Amerika, der so viele Deutsche so widerspruchsvoll und rauschbereit sich ergaben und ergeben.
Nirgendwo kann man einsamer sein als in New York, dem brodelnden melting pot of everything. Aber der Einsame ist empfänglich, und so wirst Du nie wieder so schmerzhaft tief die vertrackte Poesie New Yorks empfinden, die sich gern hinter einer Schwelle von Brutalität verkriecht. Sie senkt sich nieder in die Steinschlucht des Broadway im Dunst der blauen Stunde. Sie scheppert in den abgerissenen Klängen des ursprünglich armenischen Come on in my house, die aus dem Schallplattengeschäft in Greenwich Village dringen. Sie schwingt und singt: in der riesigen stählernen Girlande der George-Washington-Bridge. Sie kreischt auch im Höllenlärm der Subway, in der nach Büroschluß puppenhaft-leblose, marionettenhafte Armeen uptown bewegt werden.
Tochter, es ist schon spät. Krähwinkels Lichter sind aus – bis auf die Funzel in Klaibers Stall, ein Kälbchen wird erwartet. Die Luft riecht nach Schnee, aber noch ist ein Rauhreif am Morgen alles, wozu es der beginnende Winter bringt. Die Buchenscheite unterm Garagendach werden gut ausreichen. Wenn sie alle verbrannt sind, wirst Du hoffentlich wieder zurück sein bei
eine grausliche Kriminalität muß in Deinem New York obwalten. Es stand in der »Frankfurter«, also ist es wahr. Überall müßt Ihr damit rechnen, unversehens drei Zoll kalten Eisens zwischen die Rippen zu kriegen – in der subway, im Fahrstuhl, im Central Park. New York, die Rauschgift-Metropole der Welt, und der Süchtige killt hemmungslos, um sich die paar Dollars für seinen täglichen »Schuß« Heroin zu rauben. Die Bibel hat wieder einmal doch recht: Sodom und Gomorrha. Ob denn da Euer smarter neuer Bürgermeister Lindsay was gegen tun kann? Der Mann sieht tatsächlich handsome aus – Kennedy-Typ. Wir in Germanien entwickeln da nicht so viel Charme. Unsere Politiker gleichen Gartenzwergen, Mumien aus der Ming-Dynastie, Hofbräuhausbierkutschern, pfeiferauchenden Nußknackern, oder sie sind gleich so schön wie eine Haarwasserreklame oder haben sich durch unzeitgemäßes Tragen der falschen Uniform ein für alle Mal das Image verbogen. Schade. Pech.
Immer hübscher dagegen werden auch diesseits des großen Teiches, der uns trennt, Tochter (ach ja), die jungen Damen – und nicht nur die jungen. Dein abgeklärter Vater betrachtet das alles natürlich nur heiter-kontemplativ, aus gemessener Distanz. Infolgedessen schüttelt er manchmal leise sein ergrauendes Haupt, wenn die Mädchen sich mit viel Kunst so zurichten, als kämen sie alle immerfort gerade aus dem Bett, o la la.
Kommen sie aber zweifellos gar nicht alle immerfort gerade. Und dieser Trauerrand um die Augen, dieses cleopatraeske Wimpernklimpern. Der ewige Fasching scheint ausgebrochen, hoppla. Je mehr die echte Prostitution, mit Verlaub, verschwindet, desto heftiger geben sich all die ehrsamen Liesels und Bettys wie Irma La Douce. Und so frischauf und nur Courrège, pardon Courage: die Röcke hoch, die Knie fest geschlossen. Ach, Ihr armen, willigen Sklavinnen des Sex-Rummels einer werbewütigen Epoche.
Der Schnee in Krähwinkel ist zur Zeit herrlich pulvrig, fast zu »schnell« für Deinen alten Vater. Du erinnerst Dich an den Waldweg auf dem Zundelberg, den wir zuletzt im Herbst miteinander gingen? Das braune Laub ist vermodert, und der lange Stapel frischgeschlagenen Holzes ging längst als Zeitungspapier den Weg alles Irdischen. Just dort lag heute morgen ein Eichelhäher kopfüber im Schnee. Ich schnallte die Bretter ab und nahm den Vogel auf. Er hat ja diese kleinen, eleganten, leuchtend blauen Federn an den Flanken. War noch ein bißchen warm, keine Wunde, irgendwie tot vom Himmel gefallen. Ich legte ihn zurück in den Schnee.
So habe ich einmal, kopfüber, ein englisches Kampfflugzeug im Sand stecken sehen, das wir abgeschossen hatten, über der Mittelmeerinsel Kreta. Im »Gränzboten« stand zum Jahreswechsel, daß über Vietnam bisher fast tausend amerikanische Flugzeuge verloren gingen. Du wirst drüben täglich mit Vietnam-Nachrichten zugedeckt werden, denn natürlich blicken die USA heute mehr nach Asien als irgendwo sonst hin. Ich finde es richtig, daß Du Dich mit Meinungsbekundungen zurückhältst, wenn Deine Mitstudenten sich pro oder kontra Vietnam-Krieg ereifern. Nur eines kannst Du, meine ich, auch als Ausländerin durchaus tun, gerade Du als Berlinerin darfst es: die falsche Parallele Vietnam/Berlin kritisieren.
Es ist ja erschütternd zu sehen, wie die gescheitesten Leute in Washington mehr und mehr zu Gefangenen ihrer eigenen Propaganda werden. Dean Rusk hatte für mich in Washington immer so etwas von einem Buddha – mit seinem unerschütterlichen Lächeln und dem runden Kopf. Aber was er in Paris seinen NATO-Kollegen versetzte, klang mir nicht gerade weise. Die Vereinigten Staaten hätten gegenüber Südvietnam die gleichen Verpflichtungen wie gegenüber ihren europäischen Verbündeten . . .
Das stimmt nicht. Selbst hierher nach Krähwinkel schickte ein schwäbischer Außenposten des weltumspannenden amerikanischen Informationsdienstes eine Broschüre, in der die amerikanische Verpflichtung für Südvietnam dokumentiert ist. Es handelt sich um drei Briefe der Präsidenten Eisenhower und Kennedy an den inzwischen gestürzten und ermordeten Diktator Diem. Kann man das im Ernst gleichsetzen wollen mit dem Vertragswerk der North Atlantic Treaty Organisation?
Du erinnerst Dich an meinen amerikanischen Kollegen P. M., der auch in Berlin am liebsten in Texas-Boots