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In diesem Werk zieht der renommierte Journalist Thilo Koch eine Bilanz aus der Vergangenheit, recherchiert die Gegenwart und versucht Wege in die Zukunft Deutschlands zu weisen. Keine einfache Aufgabe bei der Situation, in der Deutschland 1965 steckte, wo es längst geteilt war. Der Autor diskutiert die Situation und stellt sich der damals ungewissen Frage, ob Deutschland auch wieder zusammenfinden kann.-
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Seitenzahl: 301
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Thilo Koch
EIN WIEDERSEHEN
Saga
Wohin des Wegs, Deutschland?Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1965, 2019 Thilo Koch und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711836194
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Laß alle Welt sich streiten – Du, glückliches Deutschland, produziere. Es ist frappant. Da kommt man heim aus Übersee, und das goldene Zeitalter ist angebrochen. Was heißt da Wirtschaftswunder! Ein ganz großes Märchen wurde Wirklichkeit. Deutschland ist reich. Deutschland ist befriedet. Deutschland genießt Ansehen. Wir sind wieder da? Aber gewiß, und schon lange. Und gänzlich gewandelt. Da schreiben sie sogar, in dem Amerika, unsere Mädchen hätten längere Beine bekommen. Walküre und Gretchen – haha, in den Fundus verbannt, allenfalls auf Opernbühnen noch konserviert. Petra und Monika machen Madison Avenue verrückt, und was wäre Hollywood ohne Elke Sommer, Senta Berger, Christine Kaufmann?
Nee, wir produzieren alles, auch Rasseweiber. Made in Germany, was soll das Unken, Ausschuß läuft schon mal mit unter, aber im allgemeinen: Klasse. Unser Sozialprodukt marschiert auf die 400 Milliarden für 1964. Das Einkommen pro Kopf der Bevölkerung liegt etwa bei über 6000,– Mark im Jahr. Wir haben den breitesten Mittelstand der Welt.
Gott meint es offenbar gut mit den Deutschen. Fünf Millionen »eigene« Tote hat Hitlers Krieg (ein deutscher Krieg?) gekostet und an die fünfzig Millionen Tote insgesamt, also rund neunzig Prozent »Fremdtote«. Und das Überleben war hart. Und das Vaterland ging in die Binsen. Aber dann wurden wir wieder gebraucht, und wir nützten die Chance. »Niemals sind gute harte US-Dollars besser angelegt worden als nach 1945 in Old Germany«, sagte mir drüben in Washington einer, der sie verwalten geholfen hat. Okay.
A.o.k. Alles, wirklich alles in Ordnung. Bis auf eines. Bis auf was? Die Teilung, die Teilung Deutschlands. Sie haben uns gespalten, die Sieger, sie müssen uns wiedervereinigen. Dazu haben sie sich selber verpflichtet – in Potsdam schon und später immer wieder. Es wird so lange keinen Frieden geben, wie Deutschland nicht wiedervereinigt ist. So lange kann kein Deutscher seines Lebens froh werden, wie Deutschland nicht wieder eine Nation ist. Unser unteilbares Deutschland.
Gewiß, ich habe den einen oder anderen gesprochen, der wirklich bereit zu sein schien, etwas zu tun, etwas zu opfern für die nationale Einheit – zum Beispiel einen Teil seines Einkommens und die Gebiete östlich von Oder und Neiße. Ich habe Tränen gesehen, in Berlin, wenn von Weihnachten die Rede war, von jener kleinen Wiedervereinigung auf Zeit durch das Passierscheinabkommen. Viele wünschen ehrlich Freiheit für alle Deutschen, Freizügigkeit zumindest zwischen den beiden Teilen, Familienzusammenführung, und fast allen ist es gleichgültig, ob dafür Ostberliner Unterschriften, Aufwertungen, Regierungsebenen hingenommen werden müßten.
Aber ich fand sie nicht, die deutsche Partei, die diese nationale Sache zu der ihren machte; diese Sache des Volkes, des ganzen, der 70 Millionen, und dafür den geforderten, den unumgänglichen Preis zu zahlen bereit wäre. Erhard nicht, auch Brandt nicht und sogar Mende nicht würden wagen, vor ihre Wähler zu treten und die Wahrheit auszusprechen, die da lautet: Wir müssen mit der Teilung leben.
Wie können wir das? Wie können wir trotzdem ein Volk bleiben, die nächsten zwanzig Jahre, bis 1984, vielleicht länger? Wie? Wir müssen mit dem Kommunismus leben, mit der DDR. Solange Ulbricht regiert, ist jede Annäherung blockiert. Aber laßt uns weiter denken, in Jahrzehnten, im Lebensrhythmus eines Volkes. Laßt uns daran arbeiten, daß wir nicht nur äußerlich eine Sprache behalten, wir im Westen und sie im Osten. Laßt uns Kompromisse vorbereiten, die erträglich sind, damit wir wieder zueinanderkommen. Laßt uns weniger an die Einheit für die 70 und mehr an die Freiheit für die 17 Millionen denken. Wir sind bereit zu reden – mit der Sowjetregierung, mit einem Nachfolger Ulbrichts.
Politischer Selbstmord, höre ich in Bonn. Wer so etwas sagt, ist morgen ein gewesener Mann. Nicht nur die Regierung, auch das Parlament lehnt »geschlossen« jeden Schritt in die Richtung einer Anerkennung des Unrechts der Teilung ab. Ja, das trifft zu. Aber ich hörte doch dann im Gespräch unter vier Augen so manches andere. Ist die Hallstein-Doktrin nicht längst ausgehöhlt? Werden nicht bald die blockfreien Staaten dutzendweise »Pankow« anerkennen? Und sollen wir uns dann selber isolieren, und – Modell Belgrad – mit solchen Afrikanern und Asiaten die diplomatischen Beziehungen abbrechen, die sie mit Ostberlin aufnehmen? Warum ist Bukarest nicht 1965 billig, was Moskau 1955 recht war? Sind die Rumänen nicht heute akzeptablere Kommunisten, als es vor zehn Jahren die Russen waren? Und gilt das nicht für Polen, Ungarn, Tschechen, Bulgaren?
Aufregung über Seebohm, und ob die Münchner »Wiedervereinigung« mit den Sudetendeutschen noch gelte oder etwa nicht. Wo leben sie eigentlich, diese goldigen Deutschen in ihrem goldigen Zeitalter, daß sie Gesellschaftsspiele dieser Art für politisch relevant halten? Es muß die Gewöhnung an ein seltsames Opium sein, das Opium des nationalen Wunschdenkens, was sogar eine hohe Bundesregierung zum Mitspielen veranlaßt. Ich höre sie drüben fragen, in den politischen Zirkeln Washingtons, die so etwas überhaupt zur Kenntnis nehmen: Warum feuert der Kanzler nicht diesen Seebohm? Und einer sagt: Die Vertriebenen sind Wähler – you know. Dann nicken sie: Sure, Stimmenfang ist eine legitime demokratische Sache; dafür muß man auch mal Unsinn hinnehmen, bis zu einem gewissen Grad mitspielen.
Aber ich habe gefragt – Vertriebene in meiner neuen süddeutschen Wahlheimat. Die kleinen Flecken und Städtchen zwischen Schwarzwald, Alb und Bodensee sind voll davon. Wollen Sie zurück? Noch einmal anfangen? Den goldenen Westen lassen? Sie wollen nicht. Umfragen erhärten diese zufälligen Eindrücke. Würden Sie Erhard nicht wählen, wenn er sich von Seebohm trennte? Sie wählen ihn, denn er ist der Herr Wohlstand persönlich – oder sie wählen eh SPD oder FDP oder gar nicht. Also, es ist ein Mythos, daß die Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik labil wären, nationalistischen Parolen zuneigten. Wer hat ein Interesse, ihn zu nähren, den Mythos? Nun, da soll es so etwas geben wie »Berufsvertriebene«, und sie sollen eine mächtige Lobby sein, in Bonn sowieso, aber auch in den Landeshauptstädten, in den Landesverbänden der CDU/CSU.
Ich kann das noch nicht beurteilen. Ich weiß nur von drüben, daß normalerweise ein Interessenverband nicht stärker ist als die Interessenten, die ihn bilden, und das heißt vor allem: bezahlen. Woraus speist sich die Macht, die angebliche, der Vertriebenenverbände, wenn doch diese Vertriebenen friedliche, nach vorwärts blickende Bundesbürger sind? Wo hat er seine Wurzeln, der Vertriebenen-Mythos? Etwa in der sehr begreiflichen, sehr menschlichen Sentimentalität für die »verlorenen Ostgebiete«?
Man hat es schwer im Ausland, diese Gefühle zu erklären. Und doch sind sie ganz einfach da, elementar. Das strapazierte »Recht auf Heimat« – es ist ja ein hohes, tiefverwurzeltes Gut. Wer müßte nicht trübsinnig werden, wenn er an Schlesien denkt und Ostpreußen, an Pommern. Wieviel verdankt alles Deutsche diesen Provinzen. Wieviel Leben und Herzlichkeit, welch ein Geist und welch ein Gemüt kamen uns von daher zu. Und dies verloren zu geben – alles wehrt sich zunächst gegen diese Realität. Und doch ist es eine.
Nur als Europäer, als Bürger eines großen Europa werden Deutsche einmal wieder dorthin kommen – Kinder oder gar Enkel der tatsächlich Vertriebenen, und nur als Nachbar und Partner werden sie dann mit ihren polnischen Miteuropäern dort leben und arbeiten, dichten und trachten können. Utopie? Wenn das Utopie ist – was ist dann die Parole von der Heimat, in die man (ohne Gewalt!) wieder zurück will? Die Polen zum Beispiel und Tschechen müßten ja rufen: Lüge, Revanchismus! Kann irgendeinefriedliche Entwicklung denn diese Millionen ostwärts bewegen? Es ist keine Völkerwanderungsstimmung zu sehen. Nein, was Hitler zerstörte, es ist unwiederbringlich dahin.
Man kommt so frohgemut zurück und findet sich sofort bestätigt in all den optimistischen Erwartungen. Wir sind netter geworden, zivilisierter, eleganter sogar. Es ist wahr: Die deutsche Frau hat eine enorme Wandlung durchgemacht, äußerlich zumindest. Sie ist flott, schick, sexy. Mehr als die heutige Amerikanerin. Dazu blieb sie – na sagen wir doch ruhig: lieb. Und der deutsche Mann? Er trägt sich italienisch: spitze, spitze Schuh’, fesche Janker – und amerikanisch: Jeden Tag das frische weiße Hemd, der gesäßenge Hosenschnitt mit waagerechten Taschen.
Der frische Duft der weiten Welt allenthalben zwischen Kaiser-Wilhelm-Kanal und Bodensee. Deutsche Filme: enorm frei. Obwohl doch immerhin ein kleines Binnenmeer zwischen uns und Schweden liegt. Frei und, denk’ ich an die »Tote von Beverly Hills«, auch witzig-spritzig. Leben und leben lassen – wir haben es nie gekonnt. Nun scheint dieser »Nachholbedarf« mit enormem Programmgeschick nachgedeckt zu werden.
Man trinkt mehr Whisky als Cognac, scheint mir – trotz der Gaullisten. In dieser Beziehung zumindest liegt das Übergewicht bei den »Anglo-Saxons«, den Atlantikern. Auch was die kleine große Liebe zum gemischten Drink angeht.
»Brandy Alexander« – das wird ohne Rückfrage serviert. Wohlstandsalkoholismus? Hübsches Wort und angenehm wahr. Ich finde die intime Bar und einen Gin-Tonic oder Scotch weniger gefährlich als das Hofbräuhaus, eins-zwei-g’suffa.
Strauß hatte ich mir gefährlicher vorgestellt, obwohl mir klar ist, daß wir ihn (und den greisen Altbundeskanzler Adenauer) noch immer hätten, hätten wir nicht zu kritischer Stunde die Herren Augstein und Mende und Erler gehabt. Tatsächlich – es war doch wohl keineswegs ein Triumph der neuen deutschen Demokratie, was sich da in Bonn vollzog, sondern es war »die Presse«, und es war »die Koalition«, denen die Brachialgewalt erlag. Der Spiegel machte große Politik – zumindest Innenpolitik, und die Freien Demokraten bewährten sich durchaus als »Zünglein an der Waage«.
Komisch, wie man doch immerfort auf Probleme stößt, wenn man nur den Blick erhebt – vom Bild der fleißigen, wohlanständigen, trink- und reiselustigen Deutschen: zu ihren öffentlich-gemeinschaftlichen Verhältnissen. Probleme? Oft kommen nur ein paar Schaumkronen daher, und man hält sie für Seegang. Die See ist ruhig in bundesdeutschen Gewässern. Die Lage ist stabil, auch wenn es die Telefongebühren nicht sind. Ironie des Schicksals, daß ein Volk mit so tödlicher Belastung, mit so äußerster Instabilität im ganzen wie das geteilte deutsche Volk, so fest und wohlbeleibt dasteht in all seinen Teilen, im einzelnen, wie kaum ein anderes.
Ja, wie gut es uns geht-es wird gar nicht ausreichend »realisiert«, wie man drüben sagt. Nicht recht begriffen, und auch nicht recht »verwirklicht«. Die Unrast in dieser Weltgegend zwischen Nordsee und Alpen ist enorm. Das drückt sich in der Autodichte, im Straßenverkehr aus, natürlich. Aber auch darin, daß Deutsche besonders gern und viel gleichzeitig reden. Jemanden, zumal wenn er zögernd oder gehemmt formuliert, erst einmal zu sich kommen zu lassen oder zu dem, was er sagen will – unbekannt. Drängeln! Haste, was kannste. Und kannste nicht, mach den Weg frei. Wo ist es hin, das Behagen? Die deutsche Welt von »Hermann und Dorothea«, soweit es sie jemals gab – perdu.
Poesie – so etwas Deutsches, dachte ich immer. Wo ist es geblieben? In der Landschaft finde ich es leicht. Nicht nur südlich der Main-Linie. Wenn die Bahn durch Schleswig-Holstein rattert, fliegt vorm Abteilfenster ein Gedicht nach dem anderen vorbei. Die grünen Wellen der Wiesen unter kühlblauem Himmel, schwarzbuntes Vieh, Telegrafenstangen, Wacholder. Die Landschaften drüben, großartiger, lauter, atemberaubend weitläufig. Hier: das eingegrenzt Rührende, altfränkisch In-sich-Beschlossene. Es spricht zum Herzen, darum findet man’s poetisch.
Ob und welche Gedichte sie lesen, die Deutschen, weiß ich nicht. Ingeborg Bachmann auf der Bestsellerliste, das ist schon erstaunlich. Aber auch schwierig. Ist man gar nicht mehr romantisch? Liest man wohl noch Eichendorff miteinander oder Hölderlin, wenn man mit Zwanzig verliebt ist? Das »Sachbuch«, höre ich, hat einen Siegeszug angetreten. Wer oder was wurde dabei besiegt? Aber dann wieder hat Günter Graß soviel Erfolg. Und wie kommt das? Überläßt man wieder einmal das Provozieren der Literatur, und faltet die Opposition andernorts die Zehlein, wie in Morgensterns Gedicht die Rehlein?
Denn wenn wir auch so ziemlich alles haben, uns alles leisten können: eine Opposition haben wir kaum, die können wir uns anscheinend nicht leisten. Warum wohl? Keine Experimente, gut. Uns paßt die ganze Richtung, denn sie macht, daß es uns gut geht, klar. Aber ist denn alles auch genauso gut fundiert, wie es läuft, und denken wir an die Zukunft? Was wird zum Beispiel aus dem wichtigsten und schwierigsten Geschöpf dieser Bundesrepublik, der deutschen Bundeswehr?
Hat sich eine hochmögende Oppositionspartei darum gekümmert? Hat sie auch nur die richtigen Fragen gestellt, rechtzeitig? Es war ein ehemaliges CDU-MdB, ein ehemaliger Admiral, der die Wunde bloßlegte, die da eitert. Und so entwöhnt ist dieses Land des Spiels und Widerspiels gegenteiliger Meinungen, daß die sofortige Reaktion der Regierungspartei war: abschießen. Aber wenn Herr Heye nun nicht mit dem Grafen Nayhaus von Quick zu Abend gegessen hätte? Aber wenn Heye nun nicht der olle Seebär mit dem Mut oder dem Altersstarrsinn eines Panzerkreuzers wäre – müßten wir uns dann so durchrobben, von einem Nagold zum anderen? Doch einen Nagold-Prozeß hätten wir ja nicht gehabt, lernte ich, wenn da nicht ein Pfarrer des Weges gekommen wäre, die Schikanen beobachtet und Anzeige erstattet hätte.
Schön, schön – es ist schon viel wert, daß es Richter in Calw und Illustrierte in München und last not least: Männer in Bonn gibt. Aber überlassen wir da nicht allzuviel dem Zufall? Wer hat denn den Abhörstein ins Rollen gebracht? Wieder die Journalisten. Und wo blieb, ja wo bleibt bei alle dem das Parlament, die parlamentarische Opposition? Fritz Erler und Herbert Wehner, Kurt-Georg Kiesinger und Thomas Dehler, Reinhold Maier und Gustav Heinemann, Adolf Arndt und Carlo Schmid – was gab es doch immerhin einmal für Zunder in jener Ära Adenauer.
Die Ära Erhard ist rund und satt und nobel und angenehm – ganz wie »Ludwig der Maßhalter« selber. Er wird auch schon mal getadelt, o doch. Bloß trifft der Tadel wiederum meistens Mythen, nationale Mythen. Über Außenpolitik läßt sich herrlich streiten in einem Staat, der praktisch kaum außenpolitische Bewegungsfreiheit hat. Aber die Bundeswehr, das Ding, dem wir alle unsere Sicherheit anvertrauen und unsere Söhne – die überlassen wir Herrn Strauß oder sich selber.
In Wahrheit braucht sie selbstverständlich die Hilfe aller. Sie braucht mehr Unteroffiziere und bessere Offiziere, sie braucht mehr Zeit und Geld – vor allem aber braucht sie die Teilnahme des Volkes, Aufsicht, Förderung, Kritik. Und da versagt offenbar diese ganze Bundesrepublik. Was vermögen ein guter Kanzler, ein guter Verteidigungsminister ohne die lebendige Mitarbeit des Parlaments, der Presse, der gesamten Öffentlichkeit? Ein guter Wehrbeauftragter ist, wie wir sahen, zumindest eine Notbremse. Sie hat funktioniert. Das ist viel. Aber der Zug soll ja fahren, richtig und sicher und weit genug und pünktlich. Das, genau das, wollte auch der Notbremser Admiral Heye.
Es ist ja sehr schmeichelhaft, wenn man als Journalist die Bedeutung des Journalismus im alten Vaterland so aufgewertet sieht. Aber es war doch beruhigend, in den USA vier Säulen des Staates tragfähig und lebendig zu sehen: Parlament, Regierung, Oberstes Gericht und Presse. Die Presse plus »elektronischem Journalismus« (Radio und Fernsehen) ist erstaunlich mobil, bewegt sich der Volljährigkeit zu in deutschen Landen. Der Bundesgerichtshof? Er ist bei weitem nicht so präsent, nicht so souverän wie der zu Washington. Die Regierung? Sie versucht es unter Erhard mit einem neuen Stil, und tatsächlich macht sich der Abbau des autokratischen Adenauer-Regimes bereits bemerkbar, durch frische Luft, die durch die Bonner Amtsstuben weht. Der Bundestag? Treffliche Männer wie Gerstenmaier – aber kein Leben. Wehners Umarmungstaktik scheint ihn zu lähmen. Nicht einmal der Haushalt führt zu Aufregungen. Sagt mir, wo die Redner sind, wo sind sie geblieben? Urlaub von der Geschichte? Das konnte 1945 so aussehen. Dann kam 1949 das Doppelengagement: BRD und DDR. Dann kam die Etablierung mit ihren Kontroversen und Debatten. Dann kam die Serie der Berlin-Krisen, die Mauer. Dann kam die Wachablösung in Bonn. Und nun? Nun scheint es mir so, als ob wir uns zur Ruhe gesetzt hätten, pensioniert von der Geschichte. Wenn das ginge – wär’ ja wunderbar. Aber ich kenne kein historisches Beispiel. Es war meistens der Anfang vom Ende.
»Die Schweiz ist eine Interessengemeinschaft zur Ausbeutung der Fremden«, sagte einmal mein amerikanischer Nachbar Kenneth, als er gerade mit der ganzen Familie aus St. Moritz nach Washington zurückgekehrt war. »Und was ist nach Ihrer Meinung die Bundesrepublik Deutschland?« fragte ich ihn. »Well« – er lachte verschmitzt –, »wir waren nur in München und Frankfurt und Bonn; aber ich wage zu sagen: die Federal Republik ist eine Interessengemeinschaft zur Erzeugung von zwei Gütern: Wohlstand und Antikommunismus.«
Ich fand Nachbar Kenneths Sarkasmus nach meiner Rückkehr so ganz und gar abwegig nicht. Hinsichtlich der Schweiz vergaß er vielerlei Liebenswürdiges, was jene »Ausbeutung der Fremden« so angenehm machtauch für die Fremden. Und unsere »Federal Republic«? Dein guter Stern auf allen Straßen, gewiß, es daimler-benzt, porscht, opel-admiralt sich chromblitzend und vielhundertpferdig durch all die schlecht geflickten Sackgassen, die man hierzulande als Autobahn bezeichnet. »Schöne Sklavinnen des Nerz« – früher gab’s das auf der Fifth Avenue und den Champs-Élysées; 1964/5 gleißen die Zehntausend-Mark-Mäntel aus Blue Silver Mink hinter den Scheiben unter den runden roten Markisen des renommierten Pelzgeschäfts am Maximiliansplatz.
Die deutsche Frau und Mutter als Sklavin des Nerz? »Ist das nicht viel hübscher, als hochgeschlossene Frauenschaftsbluse und Runenbrosche?« Ruth, schon lange beim Film und schon lange im Parnaß der Publikumsgunst, fragt es mich lächelnd und sieht ganz ungemein schmuck aus in ihrem Salzburger Dirndl, blutrote Rosen auf schwarzem Wollmusselin. Ja gewiß, erstaunlich nur diese Methamorphose: vom BDM-Aschenbrödel zur Miss-Germany-Prinzessin.
Es muß ja nicht Nerz sein oder Persianer oder Gold, was glänzt, und richtige Brillanten. Auch die avancierte Sekretärin trägt ihr neues Herbstkostüm mit dem eingefärben Ozelotkragen und die Kunststoffkrokodilledertasche mit selbstverständlicher Lässigkeit; der Duft von Lanvin oder Carven ist echt; auch sie gibt zwanzig Mark für die Dauerwelle aus, und leidlich Französisch, recht gut Englisch werden einfach verlangt.
Die Schweiz eine Interessengemeinschaft . . . Aber sind nicht wir Bundesrepublikaner auf dem besten Wege zu verschweizern? Wenn es schweizerisch ist, kosmopolitisch zu sein und geschäftstüchtig, urban und fleißig, raffiniert und sauber – ja, dann ist Schweiz den ganzen Rhein abwärts und hinüber zur Ostsee, hinab zum Bayerischen Wald. Wir haben keinen Rigi, kein Lausanne, bei uns schlagen die Pendulen noch nicht so lange und ungestört und pünktlich und silbern die Stunden. Aber wir können uns das alles leisten.
In Essen ist die Luft nicht so gut wie in Winterthur. Die Elbe bei Hamburg fließt träge und schmutzig, verglichen mit der Rhône bei Genf. Selbst unsere Zugspitze wirkt recht subaltern neben Jungfrau und Mönch. Aber wir können ja hin; wir können uns die Schönheiten der Welt kaufen-»was kosten sie schon«, können sie auf Kodak-Farbfilm getrost nach Hause tragen. »70 Franken pro Tag hab’ ich in Davos bezahlt, allein für den Skilift«, sagt der sympathische Architekt mit der schottisch-karierten Fliege unterm Kinn.
Im National Press Club, zwei Blocks downtown und dreizehn Stockwerke überm Weißen Haus, kam es eines Sommernachmittags zu einem gutgelaunten Streit beim zweiten Gin-Tonic: ob ein satter Kommunist ein weniger gefährlicher Kommunist sei oder nicht . . . Man einigte sich, nach dem vierten Gin-Tonic, darin übereinzustimmen, daß man nicht übereinstimme. Ich fuhr mit einem französischen Kollegen im alten klapprigen Fahrstuhl des Press-Building abwärts, da sagte er: »Und wie steht’s mit einem satten Deutschen?«
Zum erstenmal in unserer Geschichte, das würde wohl auch Golo Mann konzidieren, sind wir satt. Und zwar – wenn ich den Reiseeindrücken von Dönhoff/Leonhardt/Sommer folgen darf – sind heute alle satt, auch die 17 Millionen drüben.
Das ist nicht nur ein Wunder auf dem Hintergrund »1945«. Wie war es um die Jahrhundertwende? Wann machte die naturalistische Armut von »Weber« und »Biberpelz« Furore – es geschah in Deutschland, und der Hunger erklärt schon immer mehr, als gutgefütterte Politiker wahrhaben möchten.
Arbeitslosigkeit und Versailles, das waren gewiß nicht die einzigen Ursachen für Hitler. Aber wäre Hitler möglich gewesen bei Vollbeschäftigung und freundnachbarlichem Zusammenleben in Europa? Nein. Ergo: satte Deutsche sind weniger gefährliche Deutsche? Ja. Mein französischer Kollege in Washington – für ihn war die Verpersönlichung des Übels nicht nur »der Kommunist«, sondern immer noch auch »der Deutsche«.
Ich habe die Ohren gespitzt in den ersten Monaten nach der Heimkehr. Aber ich vernahm sie nicht mehr, diese summarisch-totalitäre Dämonisierung: »der Russe«, »der Amerikaner«, »der Franzose« – »der Jude«. Alle Deutschen unter 30 sind heute bereits nach Hitlers Machtergreifung geboren, zählt man diejenigen dazu, die 1933 nicht älter als 15 Jahre waren, dann sind 60% all meiner gegenwärtig lebenden Landsleute allein durch ihr Geburtsdatum nicht mehr verantwortlich für – Auschwitz.
Ich mußte mir einen Ruck geben. Aber nachdem ich den Frankfurter Generalstaatsanwalt Bauer gesprochen hatte, eine eindrucksvolle dynamische Natur – wollte ich in den Prozeß. Der Saal ist oft beschrieben worden, die drei Reihen der Angeklagten links, die Duelle zwischen Staatsanwälten rechts und Verteidigung gegenüber, die Richter in der Mitte. Da saß also Boger, da saß Kaduk. Offensichtlich doch leibhaftige Menschen. Der Gestank aus den Schinderhütten der finstersten Jahre deutscher Geschichte hing in der Luft, beschworen von der tonlosen, manchmal erstickten Stimme eines Zeugen. Abgründe tun sich täglich neu auf, in diesem nüchternen Saal, Hölleneinsichten, unvorstellbar, unvorstellbar.
Der Teufel steckt im Detail? Ja – wie sie folterten, mordeten, selektierten, abspritzten, zusammenschlugen, vergasten – wie, im einzelnen, das hatte ich trotz der Bibliotheken von KZ-Literatur noch nicht so gewußt. Unvorstellbar, Stoff für Träume, schrecklich nahe, drückende, würgende Albträume. Das Entsetzliche, von dem man besser den Blick abwendet, um sich nicht zu verbrennen, gezeichnet zu werden von Wahrheiten, unerträglich peinigend – übermenschlich furchtbar.
Aber Kaduk und Boger: Bürger der Bundesrepublik, dieses manierlichen kleinen Staates in Mitteleuropa, wo die fleißigen, hurtigen, nett gewordenen Deutschen leben, alleweil ein wenig lustig, alleweil ein wenig durstig. Gewiß, 60% nicht betroffen – aber doch der Stamm, aus dem das sproß: Auschwitz, der industrialisierte Mord, die Folter als Routine, Menschenbehandlung nach dem Prinzip der Schädlingsbekämpfung in der Land- und Forstwirtschaft. Und da saßen sie, grinsten, lauschten, dösten, sprachen unser Deutsch, hatten das Unvorstellbare getan, mit den Händen, die da so ruhig auf ihren Knien lagen, Menschenhände, waren Teufel gewesen und dann wieder Nachbarn, Ehemänner, Väter, nichts Besonderes: die Banalität des Bösen.
Alles scheint verflogen wie ein Spuk, ein Nachtmahr. Nur noch die schnellen weichen Wagen, Termine, zweimal Urlaub im Jahr, »Lady Chatterley« und »Das Prinzip Hoffnung« in den Buchhandelsfenstern, schnelle Liebe, wieder Termine, die Schweizeruhr, 18karätig, automatisch mit Datumfenster zum Geburtstag, schnelle Drinks, abermals Termine, gepflegte Küche, die Fernsehtagesschau, ein Gläschen Sekt mit Freunden zur Nacht, acht Stunden Schlaf (traumlos?), Kniebeugen, Fitsein, wieder kamen zwei über die Mauer, warum eigentlich kein Privatflugzeug, das Wort zum Sonntag, Amen.
Satte Menschen sind weniger gefährliche Menschen. Aber der Mensch, bekanntlich, lebt nicht vom Brot allein, und das Leben ist der Güter höchstes nicht. Also was tun satte Deutsche? Füllt die Interessengemeinschaft zur Erzeugung von Wohlstand sie aus? Nachbar Kenneth nannte noch ein zweites »Gut«: Antikommunismus. Ist der wirklich, wie Norman Birnbaum schreibt, »im Augenblick der einzige politische Glaubensartikel« der Deutschen? Ich kann das nicht bestätigen. Wohl provoziert und weckt Ulbricht mit jeder Äußerung immer wieder, was sich da aufgestaut hat an Haß und Furcht und auch Schuldgefühlen gegenüber den Russen. Aber wo wäre, als Resultat, eine Kreuzzugsstimmung, wo wäre Revanchismus?
Selbst unter dem konservativen Feigenblatt der CSU, das Ludwig Erhard jetzt so überraschend lüftete, kann ich nichts dergleichen entdecken. Auch der Ritter Franz Josef ist doch viel zu dick und wohlstandslustig, als daß er sich ernsthaft aufs schlecht gefütterte, lahmende, längst nicht mehr beschlagene nationale Roß schwänge, um gen Ostland zu reiten. Nicht einmal er streckt den Finger nach dem atomaren Drücker aus, um seinen zweifellos militanten Antikommunismus »vorwärts zu verteidigen«.
Sich schützen, ja, das wollen alle – die einen lieber mit Hilfe der Amerikaner, die anderen lieber mit Hilfe europäischer oder sogar – aber nur als letzten Ausweg – eigener Atomwaffen. Stalin, Stalinismus – in Deutschland ist der Schrecken davor natürlich lebendiger als in Frankreich oder England und fast so lebendig wie in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei. Man traut dem System nicht, hält einen Rückschlag für denkbar, möchte sich wappnen.
Es ist nicht mehr »der Russe«, gegen den man die Faust in der Tasche ballt, während man feierliche Nichtangriffserklärungen abgibt. Es ist die sture Deutschlandpolitik Moskaus, mit der ein Mann wie Schröder ganz nüchtern rechnet. Freilich hängt sich auch die flexiblere Ostpolitik des Brentano-Nachfolgers erstaunlich gern künstliche Gewichte an die Füße. Wandlung durch Annäherung – die Formel wird von Brandt und Schröder und Mende (und infolgedessen auch von Erhard) akzeptiert. Aber schikken sie den besten Mann an unsere Botschaft in Moskau? Schaffen sie Verhandlungsrunden, in denen ohne Aufgabe irgendeines Rechtsstandpunktes auch Bonn und Ostberlin miteinander reden könnten?
Die Amerikaner verabscheuen Mao Tse-tung mindestens so wie wir Ulbricht. Aber ein veritabler US-Botschafter ist jahrelang mit einem hohen Funktionär Maos regelmäßig zusammengekommen – in Warschau. Niemand in Washington hat jemals darin eine Anerkennung Pekings gesehen oder eine Aufwertung Rotchinas. Mit jedem Bundespersonalausweis, der einem Volkspolizisten vorgewiesen wird, wird täglich die De-facto-Anerkennung der DDR durch Bonn vollzogen. Und da sollen Verhandlungen, Unterschriften über Brückenbauten, Grenzkontrollformalitäten in Berlin, Häftlingsaustausch »unerträgliche Aufwertungen« sein, die »über die Grenze des Zumutbaren« hinausgehen?
Mehr Angst als Vaterlandsliebe – weiß Gott, das könnte über all der erbarmungswürdigen Zaghaftigkeit stehen, mit der unsere Regierung und die beiden großen Parteien den frommen Wunsch »Wandel durch Annäherung« praktizieren. Einzig in der FDP züngelt noch manchmal ein Flämmlein gesamtdeutschen, recht verstandenen Patriotismus auf; aber sogleich muß der arme Erich Mende wieder die Asche der längst ausgebrannten Vorbehalte drüber streuen. Das allgemeine Tauwetter im Ostblock kommt auch deshalb so schwer über die Oder nach Westen, weil wir über die Elbe nach Osten nichts als Kaltluft blasen. Ulbricht wird von zwei Seiten im Sattel gehalten.
Keine Vorleistungen, heißt es kategorisch imperativ. Aber es kommt einem, nach einigen Jahren Abstand, unwahrscheinlich kleinkariert vor, wenn etwa in einigen konservativen Zeitungen die Vereinbarungen über den Aufbau der Saalebrücke so oft nach Aufwertungsadjektiven durchröntgt werden, bis eine schmähliche Kapitulation der Bundesrepublik sich daraus aufblasen läßt. Mir scheint, in dem tiefen Brustton des ökonomischen Stolzes auf den ersten Platz im Weltexport piepst ganz kläglich ein politischer Minderwertigkeitskomplex nach.
Man weiß überhaupt noch nicht, wie stark man ist. Vorleistungen – sei’s drum. Der mißglückte Artikelaustausch Die Zeit/ Neues Deutschland müsse auch den hartnäckigsten »Wandel-durch-Annäherungsidealisten« belehrt haben? Aber wer wollte wohl fordern, das Experimentieren zur Erforschung der Krebskrankheiten aufzugeben, weil kürzlich wieder ein Versuch fehlschlug? Täglich neue Versuche, auch Vorleistungen – nur so wird es gelingen, den Virus der Teilung zu lokalisieren, zu treffen, zu besiegen. Nur so. Nichts tun, nein sagen, ist zwar bequem, aber auch feige.
Ist dieses Nur-keine-Experimente ebenfalls ein Symptom unserer Verschweizerung? Der Habestolz ist natürlicherweise aufs Halten und Bewahren aus; Besitz macht konservativ. Und neidisch. Zu den mancherlei Untugenden der Amerikaner gehört eine nicht: der Neid. Ich hatte schon ganz vergessen, daß doch wohl mit einigem Recht manche Psychologen Liebe und Neid als Haupttriebkräfte der menschlichen Seele bezeichnen. Meine Amerikaner müssen eine besonders kluge Methode herausgefunden haben, den Neid zu sublimieren. In unserer Federal Republic dagegen gibt man sich nicht einmal Mühe, jenes berühmte Erblassen vor Neid zu verbergen oder zu entschuldigen.
Der Radfahrer beneidet den Mopedbesitzer, dieser den Rollerfahrer, dieser den Kleinwageneigner, dieser den Mann mit »richtigem« Wagen, und dann fängt das große knallgelbe Neiderspiel überhaupt erst richtig an – Kubikzentimeter für Kubikzentimeter, Stundenkilometer-Spitze für Stundenkilometer-Spitze; große Klasse erreicht es, wenn jemand mit seinem Jaguar die Gäste abholen läßt, selbst aber einen alten MG bevorzugt – ich kenne so einen Fall; der Mann fährt auch nicht nach Rhodos oder Marokko, sondern in den Harz, nach Kampen oder aber gleich nach den Bahamas.
Selbst zum Snobismus entwickeln sie Talent, diese erstaunlich satten Deutschen. Und zeigen sogar nicht wenig Geschmack dabei. Mehr als ihre US-Pendants. Ich bin in deutsche Heime gekommen, wo Palisandertäfelung, Rosenthalporzellan, venezianische Kristall-Lampen, Vorhänge aus Schweden und ein alter Orientteppich ganz wundersam schön aufeinander abgestimmt waren. Junge Damen der besseren Gesellschaft zwischen Düsseldorf und Regensburg sah ich ungezwungen das Cocktailglas halten, zierlichgeziemend twisten, zum Verwechseln ähnlich entsprechenden Altersgenossinnen zwischen San Francisco und Columbus, Ohio. Aber dabei blieben die aufgeklärten Nachfahrinnen Gretchens Gott sei Dank zumeist dennoch liebenswürdig weiblich.
Jener erschreckende Neid – ist er Ausdruck einer Status-Eifersucht unter Neureichen? Ganz offensichtlich bewahren weder Geist noch Geld, weder Rang noch Geltung davor. Unter den deutschen Intellektuellen scheint mir der gemeine Neid keineswegs weniger schamlos zu grassieren als unter den geheimen Führern der Nation, den Unternehmern. Solidarität? Da waren wir immer schwach auf der Brust. Aber Solidarität der Intellektuellen, Zusammenstehen um eines gemeinsamen Zieles willen, ganz gleich wie einer und wo einer sozial dasteht – das ist in den USA viel eher anzutreffen als hier. Die amerikanische Universität schafft durchaus Gemeinschaft, sogar Brüderlichkeit im Geiste bei allem Individualismus. Der deutsche Geist, wenn es so etwas gibt, schwebt ziellos durch die Lande, hat keinen Ort, kristallisiert sich nicht um katalysatorisch begabte Mitten; Ausnahmen wie Hans Werner Richters »Gruppe 47« machen infolgedessen Epoche, obwohl sie in Wahrheit nur zufällig gedeihende Ersatzlösungen darstellen.
Opposition aus Eitelkeit und Geltungssucht, Produktivität aus Neid und Statusstreben – das steckt allzu oft hinter vortrefflichen Leistungen. Zu selten mildert Humor oder Selbstironie den üblen Beigeschmack, der so entsteht. In alledem offenbart sich ein Mangel an Freiheit. Innere und äußere Unfreiheit – trotz nie dagewesener politischer Freiheit – verzerren, verkrampfen bei uns auch das Große und Schöne, das durchaus hervorgebracht wird.
Diese Unfreiheit in der Haltung des einzelnen ist die Ursache dafür, daß wenig Achtung anzutreffen ist und viel Zynismus. Eilig werden niedere Beweggründe unterstellt, wo das Motiv zur Handlung das eigene, unsichere Niveau womöglich übersteigen könnte. Der Materialismus der westlichen Zivilisation, dem sich der deutsche Bundesrepublikaner mit all seinen beängstigenden Energien verschrieben hat, er wird mit schlechtem Gewissen genossen. Da er der deutschen Seele natürlich nicht genügt, dieser Materialismus, wird ihm immer mehr abverlangt. »Das Teuerste und Beste« kommt auf den Tisch und, wo es ohne Skandal möglich ist, – ins Bett. Aber immer neue Modelle werden auf den Markt geworfen: circulus vitiosus.
Der satte Deutsche ist nett geworden, ein goldiger Epikuräer. »Wir und keen dolce vita organisieren können – wär’ ja gelacht.« Aber der tausendjährige, mißgeleitete Idealismus hat sich nur verkrochen; noch ist er betäubt von den nationalistischen Orgien des Jahrhunderts. Dumpf träumend sinnt er bereits über neue Felder schweifender Betätigung nach. Philosophie und Dichtung und leider auch das »deutsche Sendungsbewußtsein« sind längst abgeblüht, erschöpft. Am Horizont erhebt sich verheißungsvoll Europa. Gott gebe es, daß Faust inskünftig dort Unmögliches begehrt.
Also, wir haben die Demokratie. Und Demokratie ist Diskussion. Also haben wir die Diskussion. Wir haben auch Standpunkte. Darauf stehen die Interessenvertreter, linke und rechte, rote und schwarze, liberale und klerikale, arbeitnehmende und arbeitgebende. Aber Demokratie lebt von ihrer Öffentlichkeit. Darum gehört zu ihr auch die höchst zwielichtige Erscheinung des Journalisten. Was sind das für Wesen? Dürfen sie einen eigenen Standpunkt haben? Oder sind sie nur eine andere Art »Lobbyisten«? »Wo steht eigentlich der X.?« – »Ach, das ist so freischwebende Intelligenz, wissen Sie – na, Sie wissen schon . . .« – »Nein, ist der nicht eindeutig halblinks? Und bißchen evangelisch – so die moderne Richtung von Bischof Y., was?« – »Unmöglich, der hat neulich ein Interview mit dem Minister Z. gemacht, das war absolut konformistisch.« – »Die Antworten des Ministers waren es. Auch die Fragen?« – »Ach, das ist doch alles eins.«
»Das alte Lied, man weiß bestenfalls, wogegen diese Leute sind: gegen die Nazis und gegen die Kommunisten. Damit riskiert man ja auch heute nichts.« – »Natürlich steckt jemand hinter diesem X. Der Industrieverband oder die Gewerkschaften oder beide. Oder die Kirche.« – »Bloß welche? Er kritisiert doch zum Beispiel die deutschnationale Thron- und Altar-Tradition der Evangelischen Kirche, die zu den ›Deutschen Christen‹ führte. Und den Katholizismus erklärt er für ›potentiell totalitär‹. Ist der Mann nicht eher ein Freigeist, und auf jeden Fall einer von diesen Nonkonformisten?« – »Ich würde ihn sogar für einen Neutralisten halten – im Sinne dieses weltfremden amerikanischen Professors. Aber dann ist er auch wieder für die Einheit des Westens, für Europa.« – »Freischwebende Intelligenz, ich sage es doch. Ein Nahesteher, mal hier, mal da. ›Unabhängig‹ nennt sich ja so etwas heutzutage.« – »›Heimatlose Mitte‹ – haben Sie die Variante schon gehört? ›Persönliche Meinung jenseits aller Dogmen‹ – ich bitte Sie, das sind doch intellektuelle Tricks. Diese Journalisten leisten doch auch alle nur bestellte Arbeit!«
Also, wir haben die Demokratie und die Diskussion und die Standpunkte und die Öffentlichkeit. Alles bestens. Wir haben Journalisten mit Parteibuch und Konfession oder doch zumindest »Rückendeckung«. Meinungsbildung ist durch Austausch von Werbesprüchen der Interessenvertreter »zur Durchführung zu bringen«. Der Journalist wird »in diesem Raum« bewertet nach seiner Fähigkeit, objektiv aussehende Propaganda zu machen, indem er die Interessen einer Gruppe mit scheinbar individuellem Tremolo »vertritt«.
Kein Platz für eckige Köpfe? Für den unvoreingenommenen Blick? Für sachliche Skepsis? Für die nicht bestellte Beurteilung der Situation nach dem Satz: im Zweifelsfalle entscheidet die Wahrheit? »Für wen spricht denn der?« – »Wer steckt denn dahinter?« – Offensichtlich kommt bei uns niemand auf die Idee, daß einer aus sich selbst heraus und für sich allein spricht, seinem Gewissen verantwortlich und besessen von einer vielleicht hoffnungslosen Liebe zur Wahrheit. Notwendigerweise wird er einmal den Linken und einmal den Rechten nicht gefallen, einmal den Liberalen nicht und einmal den Klerikalen, den Arbeitnehmern und Arbeitgebern.
Vor allem mißfällt dieser törichte journalistische David allerdings seinen großmächtigen Berufsgenossen in den Apparaten, den Sprachrohren, den Propaganda-Goliaths bei Presse, Film und Funk, denen er den zynischen Flirt mit der Demokratie verdirbt – durch den störrischen Ernst, mit dem er seine individualistische, nicht von außen engagierte Betrachtungsweise für hörenswert hält.
Man trägt Demokratie in dieser Saison der deutschen Geschichte. Die öffentliche Diskussion hierzulande ist zu oft nur ein dialektisches Schattenboxen der Auguren. Wer wissen will, wie es um unsere täglich beschworene Freiheit tatsächlich steht, der beachte, wie man versucht, die Heimatlosen, die Undogmatischen, die Freischwebenden für glatt unmöglich zu erklären. Er ist aber genauso möglich oder unmöglich, dieser eckige Kopf, wie bei uns die Demokratie, die Diskussion, die Öffentlichkeit als verbindlicher Stil, als selbstverständliche, dauerhafte Form unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens möglich ist oder unmöglich. »Aha, diese ästhetischen Waldläufer und politisierenden Solisten wollen die Demokratie für sich pachten!«
Nein. Aber sie möchten sich im Meinungsstreit behaupten, den durchaus auch Interessenverbände aller Art nach demokratischen Spielregeln führen können – behaupten als eine autonome Instanz, als die Stimme, die ›J’accuse‹ sagt, wo sonst kein Kläger wäre.
Wir leben in einem goldenen Zeitalter. In der Bundesrepublik Deutschland liegt das Einkommen »pro Kopf der Bevölkerung« bei über 6000 Mark im Jahr. Leider bedeutet so eine statistische Zahl nicht, daß jeder »Kopf« wirklich 500 Mark im Monat zur Verfügung hätte.
Da ist zum Beispiel der hübsche Kopf der jungen Dame mit dem Bienenkorb aus blondem Haar, die meiner Frau die Dauerwelle legt; Brigitte kommt einschließlich Trinkgeld etwa auf den Bundesdurchschnitt. Aber da ist in meiner Nachbarschaft der Kopf der Kriegerwitwe Krause; sie bezieht 127 Mark monatlich. Und da ist der Kopf des Industriellen Friedrich Flick, dessen Eisenhüttenwerke und Daimler-Aktien Millionen abwerfen.
Die fünfziger Jahre brachten das Comeback. Die Vierziger waren Krieg und Nachkrieg. In den Dreißigern kamen die Nazis mit einer wirtschaftlichen Scheinblüte – um den Preis der Freiheit und des Untergangs der deutschen Nation. Die berühmten zwanziger Jahre – waren sie tatsächlich so lustig? Nein. Sie begannen mit der Inflation und bereiteten den Ruin des ersten deutschen Versuchs mit der Demokratie vor. Das zweite Jahrzehnt des Jahrhunderts begrub die alte europäische Ordnung unter den Trümmern des Ersten Weltkrieges der Geschichte. Allenfalls die Jahre nach der Jahrhundertwende durften eine »gute alte Zeit« genannt werden; »gut« freilich auch nur nach Wilhelminischen Maßstäben. Keiner wagt heute zu rufen: »Ich führe euch herrlichen Zeiten entgegen!« Erhard nicht, Brandt nicht. Auch Lyndon Johnson nicht, obwohl er weniger skeptisch als John Kennedy ist. Im Westen unternimmt es allenfalls Charles de Gaulle, seiner Nation grandeur und Erfolg vorauszusagen.
Nein, gottlob, sie sind zumeist realistisch gesonnen, die Männer und Gruppen, die heute die Völker führen, auf deren Worte und Taten es ankommt. Es war ja auch reichlich Gelegenheit, durch all die Illusionen des Jahrhunderts hindurchzugehen, sie hinter sich zu lassen.
Erhard ist 1897 geboren, Brandt wurde Fünfzig. Kennedy war Jahrgang 1917, Johnson ist 55 Jahre alt. In Frankreich und Spanien regieren noch Männer, die ganz im 19. Jahrhundert wurzeln. Aber an den großen Realitäten des Zeitalters kommen auch sie nicht vorbei.
Und Chruschtschow? Er versprach zwar, die kommunistischen Länder »herrlichen Zeiten« entgegenzuführen. Und doch wird gerade er in den Geschichtsbüchern der entscheidende Realist der Jahre um 1960 genannt werden.
Einige unserer neuen Wirklichkeiten sind: