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Dove Foster steht vor dem Aus ihrer Profikarriere als Eiskunstläuferin. Um ihre Probleme hinter sich zu lassen und wieder zu sich selbst zu finden, sucht sie Zuflucht im Familienanwesen Ashton Manor an der rauen Küste Kanadas. Doch statt der erhofften Ruhe und Abgeschiedenheit, stößt Dove gleich am ersten Tag auf eine Kiste mit Fotos und Briefen ihrer Großmutter Helen. Als sie auf einem Bild einen Mann entdeckt, den sie noch nie zuvor gesehen hat, ist ihr Interesse geweckt.
Dove möchte herausfinden, was es mit den Briefen auf sich hat. Sie erzählen Helens herzzerreißende Geschichte: von einer jungen Frau, die sich gegen ihre Familie behauptet, und einer tief empfundenen Liebe, die auf eine harte Probe gestellt wird. Während der gutaussehende und sympathische Polizist Chase ihr hilft, Licht ins Dunkel zu bringen, erkennt Dove, dass ihre eigene Familie ein gutgehütetes Geheimnis verbirgt. Und sie erfährt mehr über sich selbst, als sie hier zu finden gehofft hatte ...
Alle Romane der Familiengeheimnis-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Dove Foster steht vor dem Aus ihrer Profikarriere als Eiskunstläuferin. Um ihre Probleme hinter sich zu lassen und wieder zu sich selbst zu finden, sucht sie Zuflucht im Familienanwesen Ashton Manor an der rauen Küste Kanadas. Doch statt der erhofften Ruhe und Abgeschiedenheit, stößt Dove gleich am ersten Tag auf eine Kiste mit Fotos und Briefen ihrer Großmutter Helen. Als sie auf einem Bild einen Mann entdeckt, den sie noch nie zuvor gesehen hat, ist ihr Interesse geweckt. Dove möchte herausfinden, was es mit den Briefen auf sich hat. Sie erzählen Helens herzzerreißende Geschichte: von einer jungen Frau, die sich gegen ihre Familie behauptet, und einer tief empfundenen Liebe, die auf eine harte Probe gestellt wird. Während der gutaussehende und sympathische Polizist Chase ihr hilft, Licht ins Dunkel zu bringen, erkennt Dove, dass ihre eigene Familie ein gutgehütetes Geheimnis verbirgt. Und sie erfährt mehr über sich selbst, als sie hier zu finden gehofft hatte …
M A R I E B E R N S T E I N
Briefe
überdauern
Stürme
Für alle, die das Lesen genauso sehr lieben wie ich.
Donner grollte und erzeugte ein Echo in Helens Herzen. Blitze durchzogen den grauen Himmel über ihr. Schwarze und schwere Wolken hingen drohend über dem Crystal Crescent Beach, doch sie rannte ungeachtet des Windes weiter, der an ihrem blauen Rüschenkleid zerrte. Die Regentropfen auf ihrer erhitzten Haut zu spüren rief in ihr das Gefühl von Freiheit wach.
Helens nackte Füße hinterließen Spuren im feuchten Sand, in den sich ihre Zehen gruben, während ihr das blonde Haar ins Gesicht peitschte.
Den spitzenbesetzten Saum zog sie hinter sich her, mit größter Wahrscheinlichkeit war er voller Sand. Wenn Mutter das sehen würde, dachte Helen, würde sie der Schlag treffen.
Doch Mutter war nicht hier, sie hingegen schon. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, das immer breiter wurde, je schneller sie rannte. Ihre Lungen füllten sich mit Luft. Schwüler, salziger Luft.
Die junge Frau hielt nicht an, rannte weiter den Strand entlang. Das Rauschen der Wellen war ohrenbetäubend laut, während sie immer höher und höher wurden und sich schließlich am Strand brachen. Kühles Wasser umspielte die schlanken Beine und entlockte ihr ein Lachen. So klar und echt, dass sie gar nicht mehr aufhören konnte. Helen war glücklich wie schon lange nicht mehr.
Ihr Herz pochte wild in ihrer Brust, versicherte ihr, dass sie noch lebte und nicht in der Stube ihres Elternhauses langsam dahinsiechte, während sie mit einer Stickarbeit beschäftigt war.
Auch ihr Vater wäre wütend auf sie, wüsste er, wo sich Helen aufhielt. Sie war die jüngste Tochter und die einzige, die noch zu Hause lebte.
Ihre zwei älteren Schwestern Ernestine und Clementine waren bereits verheiratet und Teil des kanadischen Adels geworden. Nur sie, Helen Ashton, war noch zu haben und das in einer Zeit, in der vereinzelte Frauen studierten und werden konnten, was sie wollten, aber ihr Vater, Arthur Ashton, war kein Freund dieses Fortschrittes. Er liebte die Beständigkeit der Aristokratie, der Oberschicht, die verstaubt war und überschätzt wurde.
Mit ihren sechzehn Jahren war sie noch zu jung, um an eine Heirat zu denken oder eine Familie zu gründen. Sie wollte unabhängig sein, und vor allem wollte sich Helen nicht wegen dieser Liebessache in etwas drängen lassen, das sie nicht glücklich machte.
Das hier, dachte sie und drehte sich um ihre eigene Achse, sah dabei zum Himmel und zuckte nicht mit der Wimper, als ein Blitz für einen Augenblick alles illuminierte, machte sie glücklich. Allein am Strand zu sein, während der Sturm tobte und sich keine Menschenseele aus dem Haus wagte.
Es zog sie weiter, und je mehr Helen an Tempo gewann, desto mehr fing ihre Lunge an zu rebellieren. Sie ignorierte es, bis es nicht mehr ging. Das Stechen in der Seite machte ihr zu schaffen, genauso wie das Brennen in den Waden. Sie wurde langsamer und blieb auf einer kleinen Anhöhe stehen, überblickte die aufgebrachte See, während der Regen sie bis auf die Haut durchnässte.
Mit ihren Fingern strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und kam zu Atem. Die Zunge klebte an ihrem Gaumen.
Wie lange sie gerannt war, konnte Helen nicht sagen, aber dem Durstgefühl nach zu urteilen, das sie nun beschlich, war es lange genug gewesen.
Aus einem kindlichen Impuls heraus legte sie den Kopf in den Nacken und streckte die Zunge heraus. Tropfen um Tropfen landete darauf und linderte das Trockenheitsgefühl zumindest etwas. Immer wieder sammelte sie den Regen und schluckte ihn herunter. Salzig und doch süß zugleich.
Helen runzelte die Stirn und sah sich um.
Hatte sie jemanden gehört? Vom Haus kommt niemand her, dachte sie, als sie niemanden sehen konnte.
Der dünne Stoff des Kleides klebte an ihren Armen und hatte sich zwischen den Beinen verheddert. Mit zwei Handgriffen war dies behoben. Ein plötzliches Geräusch ließ sie aufhören
»Hallo?«, rief Helen laut, um das Grollen des Donners zu übertönen. Den Atem anhaltend, um es besser hören zu können, stand sie da, während das Rauschen des Meeres und das Tosen des Windes ihr unmöglich machten, etwas anderes wahrzunehmen.
»Ist hier irgendwer?«, versuchte sie es erneut.
Langsam setzte sich Helen in Bewegung in die Richtung, aus der sie glaubte, etwas vernommen zu haben. Der Sand hatte sich mit Regen vollgesogen, sodass sie aufpassen musste, wohin sie trat. Trotz ihrer Vorsicht rutschte sie aus und schlitterte einen kurzen Augenblick, ehe Helen das Ende des Hügels erreicht hatte.
»Hallo? Ist hier jemand?«
Mit den Händen formte sie einen Trichter und wiederholte die Worte. Dies tat sie so oft, bis sie sich sicher war, dass sie sich nicht getäuscht hatte.
»Ich … bin hier!«, hörte sie in dem Moment, als ein greller Blitz die Umgebung erhellte.
Ihr Herz blieb stehen, denn keine zwanzig Meter vor ihr sah sie jemanden. Einige Felsbrocken, die sich von der Klippe gelöst hatten, lagen in einer kleinen Kurve des Strandes. Zwischen den Steinen hatten sich Hohlräume gebildet.
Helen wusste, wie gefährlich es dort war, und fragte sich, was dieser Mann an diesem Ort wollte. Ein erneuter Hilferuf riss sie aus ihren Gedanken. Sie raffte ihren Rock und rannte los.
»Ich komme, halten Sie durch!«, rief sie.
In ihrem Kopf purzelten die Gedanken herum, überschlugen sich, und als sie nahe genug war, erkannte Helen, dass ein junger Mann zwischen zwei Felsen feststeckte. Genau, wie sie geahnt hatte. Ohne Hilfe würde er es nicht herausschaffen.
»Keine Sorge, ich bin bei Ihnen, Mr«, sagte sie selbstbewusst, obwohl sie so etwas noch nie getan hatte.
»Menschen helfen kann ich, einen Fuß aus einer Felsspalte befreien ist etwas, wovon ich nur gehört habe«, sagte sie zweifelnd. Einer von Vaters Geschäftspartnern war einmal in der Karibik in einer ähnlichen Lage gewesen. Er hatte ihnen davon erzählt. Wie viel ausgeschmückt war, um sie zu beeindrucken, wusste sie nicht, aber Helen war auf dem besten Weg, es herauszufinden.
Das kraftlose Stöhnen des bis auf die Knochen durchnässten Mannes riss sie aus ihren Gedanken.
»W-woher k-kommen Sie?«, fragte er stotternd.
Helen sah ihm in seine blauen Augen, die sich mit dem Ozean an friedlichen Tagen messen konnten, und lächelte.
»Mich hat der Himmel geschickt«, antwortete sie und zwinkerte ihm zu, was er mit einem schiefen Lächeln erwiderte.
»Nein, i-im Ernst. Was … was machen Sie hier?«, brachte er mühevoll hervor, während sie sich von seinem verwegenen Antlitz losriss, um sich seinem Fuß zu widmen.
Wenigstens passten ihre schmalen Finger zwischen die Steine, um die Ferse zu ertasten. Sie versuchte, ihn nach oben zu drücken, doch das änderte nichts an der beinahe ausweglosen Situation.
Außer, dass es den Mann zum Schreien brachte, weshalb Helen ihn entschuldigend ansah. Sie biss sich auf die Lippe und bemerkte, wie er sie betrachtete. Die Röte schoss ihr ins Gesicht, sodass sie sich abwandte und die Hand aus dem Felsspalt zog. Nachdem Helen aufgestanden war, wischte sie die eiskalten Finger an ihrem Rock ab.
»W-wollen S-sie g-gehen?«, fragte er panisch. Seine Stimme klang brüchig, was ihr Herz zusammenziehen ließ.
»Nein, ich lasse Sie bei diesem Sturm nicht zurück.«
Der Mann nickte zaghaft, als würde er ihren Worten nicht allzu sehr trauen.
»Ich werde es schaffen, Sie müssen aber mithelfen, ja?«, fragte sie und kniete sich wieder in den Sand.
Das Kleid war ruiniert, und Mutter wäre deswegen bestimmt erzürnt, doch das war ihr gleich. Allein die Rettung des Unbekannten erschien ihr wichtig, und so probierte sie es erneut.
Helen steckte ihre Hand in die Felsspalte und ertastete seine Ferse. Der robuste Schuh war zu groß für ihre Hand, sodass sie sich etwas mehr anstrengen musste, um ihn zu umfassen.
»Wenn ich jetzt sage, werden Sie versuchen, den Fuß herauszuziehen, ja?«
Seine blauen Augen fixierten Helen, als wäre sie tatsächlich ein Wesen des Himmels. Sie war nur ein junges Mädchen, das ausgebüxt war, um dem öden Alltag zu entkommen. Dass sie jemals einem Mann helfen würde, hätte sie nie für möglich gehalten.
Er nickte.
»Jetzt!«, rief Helen mit bebender Stimme. Sein Gesicht verzog sich zu einer seltsamen Grimasse, während er mit aller Kraft versuchte, den Fuß herauszuziehen. Der Schuh war zu groß und das Material zu glatt, sodass sie durch den Regen abrutschte und erneut scheiterte.
»Oh Gott! Das tut mir leid.«
Er stieß ein Fluchen aus, das sie erneut erröten ließ. Derartige Ausdrücke war sie nicht gewohnt, und doch nahm sie diese nicht als störend wahr.
»Nicht nachgeben«, presste sie hervor und gab ihm erneut das Zeichen. Wieder zog er sich ein Stück heraus, und dieses Mal funktionierte es. Helen bekam die Ferse zu fassen, drehte sie ein Stück, sodass der Fuß aus der Spalte herauskonnte, und sah, wie der Mann das Gleichgewicht verlor und hinfiel.
»Gott, verflucht!«, stöhnte er und hielt sich die verletzte Stelle.
Es blutete, bemerkte Helen erschrocken und richtete sich auf. Auch an ihrer Hand befand sich Blut, was ihre Lunge verkrampfen ließ.
Helen spürte, dass sie sich wie eine hysterische Frau verhielt, und atmete tief ein und aus. Nachdem sie sich beruhigt hatte, wischte sie das Blut an ihrem Kleid ab und ging auf ihn zu.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte sie besorgt. Der Regen hörte nicht auf, wurde stärker und wieder etwas schwächer. Mittlerweile war sie, obwohl es Sommer war, unterkühlt und bebte vor Kälte. Helen biss die Zähne aufeinander, und für einen Moment war nur das Toben des Sturmes zu hören.
Keiner von ihnen sagte ein Wort, und die Welt blieb kurz stehen, ehe sie sich ganz normal weiterdrehte. Es reichte, um ihr Herz einen Satz machen zu lassen, während es heftig gegen ihre Rippen pochte. Ihr Atem ging stoßweise und fühlte sich schwer an.
»Sie zittern«, bemerkte er. Sein Gesicht war ebenmäßig und wurde von den blauen Augen dominiert, die sie eingehend betrachteten. Nase und Mund wirkten feminin, und doch passten sie zu den hohen Wangenknochen, die ihm etwas Königliches verliehen. Wer er wohl war?
Seiner Kleidung nach zu urteilen gehörte er nicht der Oberschicht an, dazu waren die braune Hose und das weiße Hemd, das ihm nun beinahe durchsichtig am Oberkörper klebte, mit den Hosenträgern und den Stiefeln aus Leder zu abgenutzt. Kam er von hier? Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen.
»Alles in Ordnung?«
Seine Stimme riss die junge Frau aus ihren Gedanken. Sie nickte.
»Können Sie aufstehen?«, erwiderte sie und kam langsam auf ihn zu.
Dabei spürte sie seinen Blick auf ihr ruhen, und als Helen ihm die Hand hinhielt, lag kein Misstrauen in seinen Augen, sondern Dankbarkeit.
Sie lächelte und half ihm auf. Erst jetzt zeigte sich seine wahre Größe, die beachtlich war. Mindestens einen Kopf überragte er sie, seine Mundwinkel hoben sich, und als er ihr eine Strähne hinter das Ohr strich, erschauerte sie. Helens Atem stockte, und sie sah zu Boden.
»Danke.«
»Nicht dafür. Können Sie gehen?«
»Ich denke schon.«
Entschlossen, ihm auch weiterhin zu helfen, nickte sie.
»In der Nähe gibt es ein Fischerhaus, da kann ich mir Ihre Wunde ansehen«, erklärte Helen und deutete mit der freien Hand in die Richtung, in der die kleine Hütte stand.
Als er bereit war, liefen sie los, kehrten dem Sturm und dem wütenden Ozean den Rücken zu. Es kostete sie alle Kraft, ihm eine Stütze zu sein.
Die Kälte setzte ihr zu, außerdem hing das vollgesogene Kleid an ihr herunter und erzeugte zusätzliches Gewicht. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, und mit seiner Unterstützung schafften sie es nach einer gefühlten Ewigkeit, die Fischerhütte zu erreichen, die ihrem Vater gehörte.
Wenn er hiervon erfährt, dachte Helen ängstlich, würde er mich züchtigen und das zu Recht.
Aber so weit würde es nicht kommen. Sie würde nur die Wunde des Unbekannten versorgen, sich vergewissern, dass er sich nicht den Tod holte, und danach würde sie sich zurück ins Haus schleichen. Ja, Vater würde nichts merken, redete sie sich ein.
Mit zittrigen Fingern schob sie den Riegel zur Seite und drückte die Tür mit der Hüfte auf. Zusammen stolperten sie in die Dunkelheit. Zum Glück kannte sie sich gut genug aus, um zu wissen, wo der Tisch mit den Stühlen stand, ohne dass sie das Gleichgewicht verloren.
»So, setzen Sie sich«, sagte Helen deshalb. Stöhnend ließ er sich nieder, sodass sie sich auf die Suche nach der Petroleumlampe machen konnte, die hier irgendwo sein musste. Mit den Fingern tastete sie sich voran und stieß eine Flasche um, die klirrend zu Boden fiel und in tausend Stücke zerbrach.
»Alles in Ordnung?«, fragte er sie besorgt. Helen nickte, obwohl er es nicht sehen konnte, und atmete erleichtert auf, als sie die Lampe und die Schachtel mit den Zündhölzern endlich gefunden hatte.
Sie trug alles zum Tisch, damit sie mehr Platz hatte, und drehte den Riegel auf. Mit zittrigen Fingern holte Helen ein Zündholz, was gar nicht so einfach war. Seine Blicke wogen schwer auf ihr und verstärkten ihre Nervosität.
»Bitte, lieber Gott«, betete sie leise und hörte ihn lachen, was sie wütend werden ließ.
»Was ist daran so witzig?«, sagte sie schnippischer als gewollt. Helens Finger zitterten zu stark, sodass sie es nicht schaffte, das Streichholz anzuzünden.
»Warten Sie.«
Er griff nach der Schachtel, die nach wie vor in ihrer Hand lag. Als sich ihre Finger berührten, stockte ihr der Atem. Sie war gefangen in diesem Augenblick, der jäh zerstört wurde, als es zischte und das Streichholz brannte. Kurz darauf erhellte das Licht der Lampe die Hütte.
»Sie sollten die Tür schließen, sonst erlischt die Flamme«, meinte der Mann mit belegter Stimme. Sie nickte. »Aber passen Sie auf«, fügte er hinzu und ließ sie die Stirn runzeln. »Die Scherben.«
Helen schaute auf ihre Füße und biss sich dabei auf die Lippe. Sie war barfuß, dachte sie und schalt sich eine Närrin.
»Ich halte die Lampe, sodass Sie erkennen, wo Sie hintreten können«, sagte er, und sie ging vorsichtig zur Tür. Regen tropfte vom Dach, und ein letztes Mal erhaschte sie einen Blick auf das aufgebrachte Meer, ehe Helen die Tür schloss und den Riegel vorschob. Erschöpft ließ sie sich dagegensinken und lauschte in die Stille hinein, die nur durch das Prasseln des Regens und das Heulen des Windes durchbrochen wurde.
»Was wollten Sie überhaupt bei diesem Wetter hier draußen?«, fragte er sie irgendwann.
Ihre Augen brannten, weil sie die ganze Zeit ins Nichts gestarrt hatte. Helen schloss sie für einen Augenblick und riss sie wieder auf, da sie seine Augen vor sich sah. Blau und unergründlich wie die See.
»Ich … war spazieren«, antwortete sie und stieß sich von der Tür ab. Ihre Glieder waren steif von der Nässe ihres Kleides. Sie sollte es ausziehen, über ein Feuer hängen, damit es trocknen konnte. Es gab nur das Feuer bei der Kochstelle, die schon länger nicht mehr benutzt worden war. Außerdem war da noch jemand in der Hütte, und es schickte sich ganz und gar nicht, sich vor einem Fremden zu entkleiden.
»Spazieren? Bei diesem Sturm?«, wiederholte er und belächelte sie. Der Schalk in seinen Augen milderte den Spott etwas ab, dennoch versetzte es ihr einen schmerzhaften Stich.
Sah er sie als das kleine Ding, das nicht wusste, was es sagte? Das war sie schon lange nicht mehr, und das würde sie ihm beweisen.
»Und Sie? Sie waren ebenso unterwegs, obwohl ein Unwetter aufgezogen war«, erwiderte Helen.
Bevor sich Helen setzen konnte, räumte sie die Scherben so gut es ging beiseite und ließ sich auf dem zweiten Stuhl ihm gegenüber nieder.
Sie biss sich auf die Unterlippe, um das ekelerregende Gefühl zu ignorieren, das sich in ihr ausbreitete, und spürte wieder diesen spöttischen Blick auf ihr.
»Nun, ich warte auf Ihre Antwort, Mr …«, sie verstummte, da sie seinen Namen nicht kannte. Er lächelte, und dieses Mal erhellte das Lächeln sein Gesicht, sodass es mit der Sonne wetteifern konnte, die unweigerlich wieder scheinen würde, wenn sich der Sturm gelegt hatte.
»Mr Green. Jackson Green«, antwortete er. Sie nickte.
»Nun, Mr Green. Sie schulden mir noch eine Antwort«, sagte Helen etwas milder.
»Und Sie wollten meine Verletzung noch behandeln«, entgegnete er und erwischte sie kalt. Das hatte sie völlig vergessen. Schuldbewusst senkte sie den Blick und atmete tief durch.
»Da haben Sie recht, Mr Green.«
Schnell machte sie sich auf die Suche nach dem Verbandskasten. Schranktür um Schranktür öffnete Helen und spürte die ganze Zeit Jacksons Blicke auf ihr, was sie irritierte. Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren, doch sie konnte sich noch rechtzeitig fangen. Endlich fand sie die Kiste und richtete sich wieder auf.
»Das letzte Mal, als ich hier gewesen bin, ist schon eine Weile her«, erklärte sie, als sie sich ihm zugewandt hatte.
Jackson zischte vor Schmerz, als Helen an seinem Schuh zog.
»Verzeihen Sie«, flüsterte sie und betrachtete den Fuß. Die Haut hat sich bläulich verfärbt, was auf eine Quetschung deutete.
»So schlimm?« Sie biss sich auf die Lippe und sah ihn an.
»Sie sollten damit zu einem Arzt gehen«, erwiderte Helen und begann, die Wunde zu säubern. Sie tupfte behutsam mit einer in Jod getränkten Mullbinde darüber. Es war kein allzu tiefer Schnitt, was sie beruhigte. Ihre Nähkünste waren bescheiden, und, bei aller Hilfsbereitschaft, ihm eine verunstaltende Narbe zu verschaffen war nicht ihre Absicht.
Nachdem sie den weißen Verband darumgewickelt hatte, lagerte sie das Bein auf einem kleinen Schemel etwas höher. Helens Waden fühlten sich steinhart an, und ihr Kleid war völlig verdreckt. Das Blut war bereits getrocknet und würde nie wieder rausgehen.
Keiner von ihnen hatte etwas gesagt, und als Helen sich wieder auf ihren Stuhl setzte, merkte sie, wie erschöpft sie war.
»Ich danke Ihnen«, sagte Jackson, was Helen mit einem Lächeln erwiderte.
»Ich stehe zu meinem Wort, Jackson«, antwortete sie und war überrascht, wie leicht ihr sein Name über die Lippen ging. Er strich sich das angetrocknete Haar aus dem Gesicht.
»Was hatten Sie hier draußen zu suchen?«, fragte sie erneut und lehnte sich so weit nach hinten, bis sie die hölzerne Lehne im Rücken spürte. Jeder Knochen schmerzte, und eine bleierne Müdigkeit erfasste sie.
»Ich war … unterwegs.«
»Wohin?«
Helen sah ihn neugierig an, doch er wirkte abweisend. Es war nicht angebracht, ihn wie bei einem Verhör auszufragen, weshalb sie nicht weiter nachbohrte. Immer wieder fielen ihr die Augen zu, wogegen sie anzukämpfen versuchte, was ihr zunehmend schwerer fiel.
»Verraten Sie mir Ihren Namen?«, hörte sie ihn auf einmal fragen. Nur der Sturm hatte die Stille, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte, durchbrochen. Der Wind rüttelte an der Hütte, aber sie hielt ihm stand, so wie sie schon seit Jahrzehnten allen Widrigkeiten trotzte.
»Helen«, flüsterte sie. »Helen Ashton«, sagte sie nach einem Räuspern fester.
»Nun, Helen, dann gehören Sie wohl nicht zum Arbeitervolk wie ich«, erwiderte er spöttisch. Sein Blick war auf sie gerichtet und verursachte einen Knoten in ihrem Magen und dass dieser sich mit jeder Sekunde, die verstrich, weiter zuzog.
»Ich verstehe Sie nicht ganz.« Mit vor der Brust verschränkten Armen rutschte sie unruhig auf dem hölzernen und viel zu unbequemen Stuhl herum.
»Ihr Vater ist ein bekannter Mann, Helen. Er wäre nicht begeistert, Sie hier zu wissen.«
Wieder eine Aussage, bei der ein gewisser Unterton mitschwang. Vorwurfsvoll. Ja, genau das beschrieb es.
»Und Ihr Vater, Mr Green?«, erkundigte sie sich. Seine Augen blitzten kurz, doch er legte ein schiefes Grinsen auf, das sie verwirrte.
»Ein Arbeiter, Ma’am, genau wie ich. Er weilt nicht mehr unter uns, weil es Menschen wie Ihren Vater gibt, für den Männer wie mein Dad nur Dreck sind, der unter den teuren Schuhen klebt.«
Die zynische Antwort, die ihr bereits auf der Zunge lag, schluckte Helen angesichts seiner Antwort herunter und wandte den Blick ab.
Wie konnte er nur so etwas behaupten?
Ihr Vater mochte vielleicht ein harter Hund sein, wenn es ums Geschäftliche ging, doch er war kein Ausbeuter.
Schweigen hüllte sie ein, und je länger dieser Zustand andauerte, desto mehr griff die Müdigkeit nach ihr.
Sie ließ sie nicht los, sorgte dafür, dass sie schlief und schlief, bis sie die Augen aufriss und hochschreckte. Es war still. Mucksmäuschenstill.
Der Sturm hatte sich gelegt. Die Sonne strahlte durch die Ritzen der Holzbretter, aus denen die Fischerhütte gezimmert war.
Sie war eingenickt, hatte geschlafen, und nun begriff Helen, warum es so still war. Sie war allein. Jackson Green war weg.
Nur langsam begriff sie, was das bedeutete, und als Helen verstanden hatte, wie viel Zeit vergangen sein musste, hetzte sie zur Tür und stieß sie auf.
Das Rauschen der Wellen drang in ihre Ohren, während ihr die salzige Brise ins Gesicht wehte. Plötzlich wurde es dunkel, und sie starrte in das wütende Gesicht ihres Vaters. Sie wusste, dass sie nun Ärger bekommen würde. Das war es wert gewesen, dachte Helen. Das und die Begegnung mit Jackson Green.
Ja, ich weiß, dass ich mich vor der Realität verstecke«, sagte ich zu meiner besten Freundin und lenkte den Nissan Micra in die sehr lange Auffahrt, in der mein Elternhaus lag. Dicke Schneeflocken fielen vom blassblauen Himmel. Die Scheibenwischer fegten sie hin und her. Das dumpfe Geräusch, das sie erzeugten, erfüllte als einziges den kleinen Innenraum.
»Du hast im letzten Jahr viel durchgemacht, Dove, trotzdem solltest du nicht allein in diesem riesengroßen Haus hocken«, versuchte Patsy mich erneut zu überzeugen.
In ihren Augen war es eine Schnapsidee, nach Hause zu fahren. Noch dazu im kalten Januar, während meine Eltern im sonnigen Kalifornien wohnten. Aber ich brauchte das jetzt. Die Abgeschiedenheit von Ashton Manor, die Kälte und die Einsamkeit, um mich von dem Erlebten zu erholen.
»Ja, das habe ich, aber ich denke, es ist das Beste, wenn ich eine Weile für mich bin«, antwortete ich und spürte das Ruckeln, welches der grobe Kies und der Schnee unter den Rädern erzeugten.
Ich hörte Patsy seufzen und wusste, dass sie sich ihren dichten Fransenpony aus dem Gesicht pustete und die Augen verdrehte, was mich zum Lächeln brachte.
»Immerhin kannst du trotzdem auf dem Eis stehen und dein Training noch durchziehen, was du brauchst, wenn du den Trainerschein machen willst.«
Der Stich in meiner Brust, als sie das Eiskunstlaufen erwähnte, war so schmerzhaft, dass ich nach Luft schnappte und abrupt auf die Bremse trat, sodass ich von der Wucht nach vorn gerissen wurde.
»Alles okay? Was ist passiert?«, fragte Patsy panisch. Mein Herz hämmerte wie verrückt in meiner Brust, während ich die Finger um das Lenkrad schloss. So stark, dass die Knöchel weiß hervortraten. Nur so konnte ich verhindern, dass mich das Zittern überkam, das mich seit dem Unfall heimsuchte, der mein Leben für immer verändert hatte.
Bilder tauchten vor meinem geistigen Auge auf, spielten sich wieder und wieder ab, wie ein Film in Dauerschleife. Das Knacken meines Knies dröhnte in meinen Ohren. Pulsierender Schmerz, der mich quälte, als ich trotzdem versuchte, den doppelten Lutz durchzuführen, den ich in wochenlanger Übung perfektioniert hatte. Statt sauber zu landen, schlitterte ich über die Eisfläche.
Ich atmete tief durch, und während Patsy immer wieder durch das Telefon fragte, was los sei, legte sich die Panik, und der Druck in meiner Brust wurde weniger. Ich wartete noch ein paar Sekunden, ehe ich ihr mit belegter Stimme antwortete.
»Es geht mir gut.«
Patsy holte Luft, um mir den Marsch zu blasen, was ich mir schon tausend Mal anhören musste, aber ich kam ihr zuvor.
»Ich melde mich später wieder, hab dich lieb«, sagte ich und legte auf.
Das Gespräch zu beenden war die einzig richtige Entscheidung gewesen. Patsy hätte nicht aufgehört zu fragen, so war sie nun mal.
Wir waren im gleichen Kader des Bostoner Eiskunstlaufteams der Frauen, und während sie in der regnerischen Großstadt saß und sich auf Olympia vorbereitete, hatte ich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion meine Sachen gepackt und war ins Auto gestiegen.
Ich musste raus und bereute es keinen Moment lang.
Nachdem ich den Motor erneut gestartet hatte, brachte ich auch die letzten Meter hinter mich, die mich vom Haupthaus trennten.
Die Allee bestand aus hohen Akazien, die im Sommer bizarre Muster warfen, wenn das Blätterdach dicht war und es einem grünen Himmel glich. Jetzt waren die Äste kahl und zeichneten sich dunkel von der restlichen Umgebung ab.
Seit ich in Boston wohnte, war ich nicht mehr oft hier gewesen, was ich bereute. Vielleicht lag es auch daran, dass meine Eltern in Kalifornien lebten, zumindest in den kalten Monaten, und ich sowieso niemanden hätte besuchen können.
Das Klima dort tat der Gicht meiner Mutter gut, und es war schon immer ein Traum von ihr gewesen, an einem sonnigen Ort zu wohnen.
Für mich war die Kälte ihre sommerliche Wärme. Egal, ob in der Eishalle oder in meiner Heimat, was vor allem bei der Planung der Ferien problematisch wurde.
Das verträumt wirkende Haus kam endlich in Sicht. Als ich den Wagen davor anhielt und der Motor verstummt war, sah ich den Schneeflocken zu, wie sie auf die Windschutzscheibe fielen und mir in wenigen Minuten die Sicht auf das Gebäude nahmen, in dem ich aufgewachsen war.
Sie hüllten mich ein, und ich fühlte mich warm und sicher. Trotzdem schien mir mit jeder weiteren Flocke der Sauerstoff entzogen zu werden, sodass ich kaum noch atmen konnte. Wieder spürte ich die herannahende Panikattacke und fühlte, wie mich ein eiserner Griff umfasste. Ich nahm vieles nur noch gedämpft oder gar nicht wahr. Bevor ich erneut darin gefangen war, löste ich mit einem Klicken den Sicherheitsgurt und öffnete die Tür.
Ich stieg so schnell ich konnte aus und atmete ein und ein und ein, bis ich das Gefühl hatte, dass meine Lunge nichts mehr aufnehmen konnte, ehe ich alles durch den Mund herausströmen ließ. Mein Atem bildete weiße Wölkchen, kondensierte Luft, die sich in der Kälte abzeichnete. Automatisch glitten meine Hände in die Jackentaschen, während ich mich umsah.
Das Haus lag in voller Pracht vor mir, die Backsteine waren vor einigen Jahren weiß angestrichen worden und bildeten mit all dem Schnee, der in den letzten Tagen gefallen war, ein einheitliches Bild.
Mein Blick glitt über die Fassade zum Giebel, der immer noch imposant in den Himmel ragte. Die grünen Fensterläden waren geöffnet, sodass es auch dann bewohnt aussah, wenn eigentlich niemand darin wohnte.
Die Kälte kroch langsam in meinen Körper und verdrängte die Wärme, die mich während der Autofahrt umgeben hatte.
Ich holte das Gepäck, welches aus zwei Reisetaschen bestand, vollgestopft mit Klamotten, meinem Kulturbeutel und ein paar technischen Dingen wie meinem Laptop und einem Haartrockner aus dem Kofferraum.
Mühsam bugsierte ich alles heraus, schloss die Klappe, ehe ich loslief. Der Schnee knirschte herrlich unter den Füßen und brachte mich zum Lächeln. Wie ich das vermisst hatte, dachte ich und blieb vor dem Eingang stehen.
Die grüne Tür ließ sich problemlos öffnen, und als ich hineinging, stellte ich meine Taschen auf dem Boden ab.
Stille. Sie war allgegenwärtig und kein Vergleich zu den letzten Wochen und Monaten. Niemand war hier. Das fühlte sich nach all dem Trubel, der mich umgeben hatte, einfach nur traumhaft an.
Ich drückte auf den Lichtschalter, und schon wurde der Eingangsbereich mit der alten Kommode meiner Großmutter erhellt.
Sie stand schon da, seit ich mich erinnern konnte, und passte perfekt. Das Kiefernholz war mittlerweile nachgedunkelt, die bunten Verzierungen darauf leuchteten noch immer lebhaft. Blumen und Ranken verzierten die Schranktüren und erinnerten mich an Grandmas Erzählungen von fernen Ländern, die sie schon immer bereisen wollte.
Während ich daran vorbeilief, strichen meine Finger über das Holz. Eine leichte Staubschicht befand sich darauf, was kein Problem darstellte. Ich würde das ganze Haus auf Vordermann bringen, und am Ende würde ich mich vor dem Kamin in eine Decke kuscheln und ein Buch lesen, während das Feuer loderte und mich wärmte.
An der großen Treppe, die ins obere Stockwerk führte, lief ich vorbei, direkt ins Wohnzimmer. Es war mein liebster Raum. Schon als Kind hatte ich vor dem wunderschönen Kamin mit dem verschnörkelten Eisengitter gesessen und vor mich hin geträumt, während draußen der Regen gegen die Fensterscheiben trommelte.
Überall auf den Möbelstücken lagen Stoffe, um sie vor dem Staub zu schützen. Ab und zu sah eine Bekannte meiner Eltern nach dem Rechten und kümmerte sich um die Post, goss die Blumen und lüftete, weshalb es auch nur leicht abgestanden roch.
Die vertraute Umgebung beruhigte mich zunehmend und sorgte dafür, dass ich mich entspannte. Beinahe waren die Panikattacke und die schrecklichen Erinnerungen an meinen Unfall vergessen, was ich begrüßte. Ich hasste es, ständig daran zu denken, von jedem bemitleidet zu werden, nur, weil mich dieser Sturz meine Karriere als Profieiskunstläuferin gekostet hatte. Auch deshalb musste ich weg und war nun hier gelandet. In meiner Heimat.
»Home sweet home«, flüsterte ich.
Nicht einmal meine Eltern wussten, dass ich hier war, und das sollte auch so bleiben. Ich konnte nur hoffen, dass Patsy ihnen nichts sagte.
Kopfschüttelnd stand ich vor den großen Fenstern, die zum Garten hinausführten. Von hier aus war der Crystal Crescent Beach nicht weit entfernt. Ich sehnte mich nach der Weite des Ozeans, der zu dieser Jahreszeit noch faszinierender war als im Sommer, wenn das Wasser klar und fast azurblau schimmerte.
Ich öffnete die Terrassentür, ging hinaus und durchquerte den in eine weiße Decke gehüllten Garten. Ich öffnete das kleine Tor, das zum Strand führte, und ließ das Haus hinter mir.
Der Weg war vor Kurzem benutzt worden, was mich wunderte. Wer auch immer das gewesen war, musste vor wenigen Minuten erst hier entlanggekommen sein, ansonsten wären die Spuren bereits vom fallenden Schnee zugedeckt worden.
Aber wie konnte das sein?
Die Haustür war verschlossen gewesen, und sonst müsste sich die Person im Garten befunden haben. Immerhin war das ein Privatgrundstück. Zwar führte der Pfad zum öffentlichen Strand, aber nur meine Familie kannte diesen Weg, weil er zu unserer Fischerhütte führte.
Dieses alte Teil hatte beeindruckenderweise schon viel zu vielen Stürmen getrotzt. Ich war bereits seit Jahren der Meinung, dass eine Generalüberholung fällig gewesen wäre, aber Mom war strikt dagegen und ließ auch nicht mit sich reden.
Ich konnte von weitem die Möwen kreischen hören und roch die salzige Brise.
Wer die Spuren wohl hinterlassen hatte?
Vielleicht jemand, der sich hier nicht auskannte, dachte ich und erreichte den Strand. Ich blieb stehen und sog die Meeresluft tief in meine Lunge.
Ich sah einer Möwe zu, die ihre Kreise zog, während die Wolken grau und schwer über mir hingen. Der Schneefall wurde weniger und erstarb gänzlich, als ich weiterlief.
Bis zur Fischerhütte war es weiter, als ich angenommen hatte, was vielleicht auch daran lag, dass ich schon eine ganze Weile nicht mehr hier gewesen war. Noch die letzte Anhöhe, und ich würde das alte Ding endlich zu Gesicht bekommen.
Die Statik des maroden Gebäudes musste vor einer längst vergessenen Zeit das letzte Mal überprüft worden sein, was aber nicht hieß, dass das klapprige Teil beim nächsten Sturm zusammenstürzen würde.
Als ich es schließlich geschafft hatte, fiel mein Blick auf das Meer.
Es sah dunkel aus, Grau vermischte sich mit tiefen Grüntönen, und nur die weiße Gischt, die sich kräuselte, als die Wellen sich am Strand brachen, hellte das Bild etwas auf.
Ich riss mich von diesem wilden Schauspiel los und hielt augenblicklich inne. Mir wurde schlagartig kalt.
Die Tür stand offen, und ich hörte eindeutige Geräusche, die mir zeigten, dass sich jemand darin befand.
Mein Herz klopfte schneller, und meine Kehle zog sich zu. Ich war keine ängstliche Person, und wer auch immer dort drin war, ich würde es mit ihm aufnehmen können. Also atmete ich tief durch und ging mit entschlossenen Schritten hinein.
»Hallo? Das hier ist Privateigentum der Familie Ashton, ich bitte Sie nun, sich mir zu zeigen«, sagte ich mit fester Stimme. Ich hatte nichts bei mir, was ich als Waffe benutzen konnte, hätte fast darüber gelacht.
»Hallo?!«, rief ich erneut und machte einen weiteren Schritt ins Innere, das im Halbdunkeln lag.
Trotz des Schnees, der das Licht reflektierte, konnte ich so gut wie nichts erkennen. Ich stolperte über etwas, oder besser gesagt über jemanden, und wurde von zwei starken Armen gehalten.
»Wow«, hörte ich eine tiefe Stimme, nah an meinem Ohr.
Ich erschauderte, wusste jedoch nicht, warum. Seine Finger ruhten auf meinem Rücken und strahlten eine Hitze aus, die auf mich überging.
»Was machen Sie hier?«, fragte er mich. Gefangen in der Wärme, die er ausstrahlte, und dem Gefühl, dass ich in Sicherheit war, hielt ich in den folgenden Sekunden den Atem an. Doch der Moment wurde jäh zerstört, als er mich auf die Beine stellte.
»Das Gleiche könnte ich Sie auch fragen, immerhin ist das Privatbesitz«, zischte ich und spürte, dass ich überreagierte. Aber ich wollte mich nicht dafür entschuldigen, vor allem, weil er hier der Eindringling war und nicht ich.
»Das wusste ich nicht«, sagte der Mann lediglich. Plötzlich erhellte etwas den Raum, und ich wurde vom Licht der Taschenlampe geblendet, die er in der Hand hielt und die mir vorhin gar nicht aufgefallen war. Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis ich mich daran gewöhnt hatte.
Danach sah ich mir den Einbrecher genauer an. Er war breitschultrig, und sein markantes Gesicht bestach vor allem durch die leuchtenden Augen und die vollen Lippen, die sich zu einem charmanten Lächeln verzogen.
»Und was suchen Sie dann hier?«, fragte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Na ja, ich dachte, dass mich niemand dabei erwischen würde.«
Ich runzelte die Stirn und schnaubte verächtlich. »Das ist Ihre Ausrede?«
Seine Dreistigkeit hatte etwas Attraktives an sich. Ich war seit einem Jahr Single, seit meinem Unfall. Und schon wieder wanderte mein Verstand zu jenem Erlebnis zurück. Egal, wie sehr ich versuchte, es zu vergessen, es kam immer wieder. Es war zum Verzweifeln.
»Alles in Ordnung?«
Besorgnis war aus seiner Stimme herauszuhören, die etwas in mir wachrief, das ich schon eine ganze Weile nicht mehr gespürt hatte. Sehnsucht.
Ich wollte nicken, konnte es jedoch nicht. Ehe ich etwas sagen konnte, war er vor mir und streckte seine Hand nach mir aus. Er hatte dunkles Haar und einen Dreitagebart wie aus den gängigen Frauenromanen, die ich in den letzten Wochen und Monaten verschlungen hatte.
Seine Augen hatten den Ton von Kaffee, dunkel und stark, aber sie strahlten voller Wärme. Trotzdem schlummerte etwas darin, das ich nicht benennen konnte.
Ich fühlte mich angezogen, wie die bekannte Motte, die das Licht umschwirrte. Sie würde sich verbrennen, wenn sie sich zu nah heranwagte. Würde das Gleiche auch auf mich zutreffen?
»Entschuldigung, Sie haben da etwas«, meinte er schmunzelnd. Ich fixierte ihn, und als ich die Spinne in seiner Handfläche sah, hätte ich am liebsten geschrien. Kein Laut drang über meine Lippen, aber innerlich geriet ich in Panik. Ich sah, wie er zur Tür ging, die nach wie vor offen stand.
Als er zurückkam, atmete ich erleichtert aus und bemerkte, dass sein Lächeln breiter wurde.
»Was? Ich stehe zu meiner Phobie«, sagte ich, konnte mir aber das Schmunzeln nicht verkneifen. Er schüttelte den Kopf, als hätte er etwas sagen wollen, sich jedoch dagegen entschieden.
»Ich bin Chase Davis«, meinte er stattdessen. »Und Sie sind?«
»Dove Foster«, antwortete ich knapper als gewollt.
Bevor die ganze Situation noch peinlicher wurde, räusperte ich mich. »Darf ich dann trotzdem noch erfahren, was Sie hier machen, Chase?«
Seinen Namen laut auszusprechen fühlte sich seltsam an. Aber auf eine gute Art und Weise.
»Es gab in der Gegend einige Einbrüche, und ich wollte sichergehen, dass hier alles in Ordnung ist«, antwortete er etwas zu schnell.
»Sie sind Polizist?«, fragte ich überrascht, denn er trug eine dunkle Hose und einen schwarzen Mantel, keine Uniform oder so etwas, das ihn als Beamten zu erkennen gab. Er kratzte sich am Nacken und lächelte verlegen, was mich noch mehr irritierte.
»Ich bin von der Northwest Mountain Police, also ja.«
Ich nickte mechanisch.
Was wollte ein Mountie hier?
»Soll ich Ihnen meine Dienstmarke zeigen?«, fragte er lachend, doch in seinen Augen konnte ich erkennen, dass er es sehr wohl ernst meinte.
Ich schüttelte den Kopf. Vorerst glaubte ich ihm. Vielleicht keine gute Idee, aber irgendetwas an ihm sagte mir, dass er die Wahrheit sagte.
»Und wieso sind Sie dann hier drin?«
Irgendetwas stank zum Himmel. Warum sollte er hier einbrechen? Das ergab alles keinen Sinn.
»Die Tür war nicht verschlossen. Als ich nach dem Rechten sehen wollte, sind Sie schon aufgetaucht«, erwiderte er ruhig.
Kein Anzeichen, dass er log oder mir etwas verheimlichte, aber so genau konnte ich das nicht sagen.
»Wie Sie sehen, ist alles noch da«, sagte ich und deutete auf das alte Zeug, das hier schon seit Jahrzehnten stand und vor sich hin rostete.
»Nun, dann werde ich gehen.«
»Ms Foster«, er nickte mir zu und ging zur Tür, dieses Mal stolperte er über etwas.
»Verfluchter Mist!«, knurrte Chase, während eine kleine Metallkiste über den staubigen Boden schlitterte.
»Vielleicht war das ein Zeichen, dass Sie lieber hierbleiben sollten«, sagte ich, bevor ich darüber nachdachte.
Er erwiderte nichts darauf und hob die Kiste auf.
»Sind Sie immer so tollpatschig?«, witzelte ich und fing mir einen ziemlich vernichtenden Blick ein.
Er wischte mit dem Daumen über die metallene Oberfläche und legte den Namen Ashton frei.
»Gehört die Ihnen?«
Ich schüttelte den Kopf.
Chase übergab sie mir, und auch bei näherer Betrachtung kam sie mir nicht bekannt vor.
»Nicht, dass ich wüsste«, sagte ich und öffnete den Deckel.
»Das sind Fotos und Briefe.«
Irritiert sah ich den Mountie an. Sein Gesicht war meinem ziemlich nah gekommen, und mir wurde augenblicklich warm.
Es waren Schwarz-Weiß-Fotografien von Familienmitgliedern. Eines zeigte meine Mutter mit Cousine Silvia, als sie noch Kinder waren. Sie saßen alle im Sand, und Mom schnitt eine Grimasse. Ich schmunzelte und drehte das Foto herum.
»Sommer 1944«, sagte ich leise. Sie sah durch ihr rundliches Gesicht und die Pausbacken wirklich süß aus. Ganz anders als heute, dachte ich und sah mir die anderen Bilder an. Eines zeigte eine wunderschöne Frau mit langen Haaren und schmalen Gesichtszügen.
»Kennen Sie diese Frau?«, fragte Chase leise.
»Sie kommt mir bekannt vor«, erwiderte ich und drehte das Bild um. »1937.« Ich hielt dieses Abbild zum ersten Mal in den Händen und hatte das Gefühl, dass ich mit dieser Frau verbunden war.
»Sie ähnelt Ihnen«, bemerkte Chase. Ich schüttelte den Kopf, sodass mein Haar hin und her wehte. Abrupt hielt ich inne. Lag er etwa richtig? Und wenn ja, wer war sie?
Ich sah mir das Bild noch einmal genauer an und erkannte die Umgebung. Sie saß auf einer Fensterbank eines Erkers, der mir vertraut war. Ich schluckte, als ich begriff, dass dieses Foto im Haus meiner Eltern aufgenommen wurde.
»Was ist?«, fragte er.
Ich sah Chase an und danach das Bild. Meine Hände hielten weiterhin das Foto dieser jungen Frau fest, die mit mir verwandt war.
»Das ist meine Großmutter. Helen Ashton.«
Der August zog dahin, die Tage verstrichen und reihten sich aneinander, ohne dass sie den jungen Mann noch einmal gesehen hatte. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu diesem stürmischen Tag vor vier Wochen. Helen fragte sich, wieso sie eingeschlafen war. Hätte sie sich zusammengerissen, hätten sie miteinander reden können. Stattdessen waren ihr die Augen zugefallen und eingeschlafen, so lange, bis ihr Vater sie gefunden hatte.
Oh, wie wütend er gewesen war. Helen sah Vaters Gesicht noch vor sich. Seine Augen waren auf sie gerichtet gewesen, anklagend und voller Zorn. Er hatte nichts gesagt, was sie noch mehr getroffen hatte als der Stubenarrest.
Sie war hinter ihm hergelaufen, barfuß und äußerlich in schlimmster Verfassung, während sie immer wieder über ihre Schulter geblickt hatte, in der Hoffnung, dass sie Jackson noch einmal sehen würde. Es war, als wäre er vom Erdboden verschluckt worden, und sie hatte keine Möglichkeit gesehen, sich davonzustehlen und in der Hütte nachzusehen.
Ihre Eltern ließen sie keine Minute aus den Augen. Nur im Haus und auf dem Weg zur Kirche konnte sie sich frei bewegen.
Dass sie heute nun endlich wieder einmal an der frischen Luft war, fühlte sich wunderbar an. Ihr Geist konnte zur Ruhe kommen, während der salzige Geruch des Ozeans in ihre Nase stieg. Leider auch der beißende Gestank der Fischabfälle. Sie wurden am Hafen gleich neben dem Stand gelagert, hinter dem Mr Cardwell stand und mit rauer Stimme die Preise des Fischs in die Menge rief.
Helens Mutter lief neben ihr und beäugte seine Gebärden mit hochgezogener Braue. Dass sie durch den Hafen schlenderten, machte Helen neugierig, zumal Mutter es nicht mochte, wenn sie sich unter die Arbeiterschaft mischten.
Immerhin waren sie die Ashtons, von englischem Adel, ausgewandert vor hundert Jahren, um hier ein neues Leben zu beginnen. In der neuen Welt, wobei der amerikanische Kontinent im neunzehnten Jahrhundert schon lange nicht mehr so genannt wurde. Aber Mutter fand, dass es schöner klang. Für Helen war das nicht von Bedeutung. Sie sah den Menschen, der vor ihr stand, und nicht seine Abstammung.
Aber das zählte nicht, zumindest in den Augen ihrer Eltern, die sie nach ihrem Ausflug am liebsten schon mit dem nächstbesten Mann verheiratet hätten. Doch dann würden sie gegen ihre schwer auferlegten Prinzipien handeln, und das kam ebenso wenig infrage. Also wurde sie ins Haus gesperrt, von allen außerhäuslichen Aktivitäten ausgeschlossen und nach ihrem Arrest zum Hafen mitgeschleppt.
Helen beschwerte sich nicht, im Gegenteil. Auch wenn es hier nach Fisch und anderen Abfällen roch und die Flüche der Hafenarbeiter ihrer Mutter immer größer werdende Augen bescherten, fand sie es eine willkommene Abwechslung.
Es war kühler geworden, die Sonne hatte beinahe ihren höchsten Punkt erreicht. Ihre Strahlen wurden von den dichten Wolken verschluckt, die über ihnen hingen. Die Temperaturen sanken täglich, und obwohl es gerade einmal Herbst war, konnte man den Winter schon kommen spüren.
»Wieso sind wir hier?«, fragte Helen und wartete auf eine Antwort. Eloise Ashton, geborene White, sah sie an, wobei ihr schmales Gesicht zur Hälfte unter dem Federhut verborgen blieb.
Das Grün stand ihr hervorragend und betonte ihre wachen Augen, auch wenn sie nicht mehr so strahlend waren wie in ihrer Jugend. Dies betonte sie stets, wenn sie an einem Spiegel vorbeilief, und da es auf Ashton Manor sehr viele Exemplare davon gab, hörte Helen es wirklich häufig.
»Mir kam zu Ohren, dass es im Ort eine neue Schneiderin geben soll. Sie ist Französin und soll schon für die englische Königsfamilie gearbeitet haben«, antwortete Eloise.
Helen runzelte die Stirn und konnte ihr nicht folgen. Was sollte das mit ihnen zu tun haben?
»Ich will, dass sie ein Kleid für dich schneidert, damit du präsentabel aussiehst.«
Mr Cardwells Rufe wurden leiser, je weiter sie sich von dem hektischen Trubel des Hafens entfernten. Normalerweise kannte Helen die Namen der Männer nicht, die hier arbeiteten, aber Mr Cardwell belieferte ihre Familie jeden Freitag mit frischem Fisch.
»Und wieso wohnt diese Schneiderin in der Nähe des Hafens?«, fragte sie neugierig. Immerhin hatten die Frauen, die hier lebten, einen gewissen Ruf, der auch ihr nicht verborgen geblieben war.
»Das weiß ich nicht, Helen. Aber ich will, dass sie dir ein Kleid schneidert, das deine Vorzüge betont.«
Wieder eine Aussage, die sie nicht deuten konnte. Sie besaß dutzende Kleider, die sie noch nie getragen hatte. Wieso sollte es also gerade heute ein neues sein?
Sie kamen an verwitterten Häusern vorbei, die alle einen schäbigen Eindruck machten. Sie erzählten eine Geschichte, die Helen hören wollte. All die kleinen, vielleicht unnützen Details wollte sie in sich aufsaugen, wie ein Tafelschwamm das Wasser.
Vielleicht kam das daher, weil ihr eigenes Leben ziemlich öde verlief, während diese Menschen hier ein erfülltes Leben haben mussten. Es war hart, das wusste sie. Dennoch dachte Helen, dass es ihnen sicherlich besser erging.
Seit ihre Schwestern verheiratet waren und bereits eigene Kinder hatten, fühlte sie sich einsam und von ihren Eltern eingeengt. Sie kontrollierten Helen, zwangen sie zu Teepartys und anderen Veranstaltungen zu gehen, zu denen sie nicht wollte.
»Ich glaube, hier sollte es irgendwo sein«, murmelte Mutter und durchbrach Helens Gedankengänge. Sie konnte ihr von der Stirn ablesen, dass sich Eloise unwohl fühlte, doch aus einem Grund, der sehr wichtig für sie war, wollte Mutter das unbedingt durchziehen.
Während sie die Beschreibung studierte, die ihr jemand gegeben haben musste, nutzte Helen die Gelegenheit und entfernte sich etwas.