Broken - Sechs Geschichten - Don Winslow - E-Book
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Broken - Sechs Geschichten E-Book

Don Winslow

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Beschreibung

Sechs packende Geschichten voller Verbrechen und Korruption, Schuld und Gerechtigkeit, Verlust und Verrat, Rache und Vergebung von Bestsellerautor Don Winslow. In Broken schickt er einige seiner beliebtesten Charaktere wie Ben, Chon und O aus »Zeit des Zorns« in eine Welt voller Schwerverbrecher und Kleinkrimineller, besessener Polizisten, denen Job und Leben zusetzen, Privatdetektive, Kopfgeldjäger und Flüchtiger. Doch auch das aktuelle politische Klima in den USA findet sich thematisch wieder, als ein texanischer Grenzschützer sein Handeln aufgrund der unhaltbaren Zustände in den Sammellagern hinterfragen muss. So schafft Don Winslow mit Menschenkenntnis, Action und Humor eine Sammlung von Geschichten, die zu den Klassikern der Kriminalliteratur zählen wird. »Ein Meister der Spannung zeigt sein Können.« The New York Times »Die sechs Geschichten sind für Don-Winslow-Fans […] eine schöne Ergänzung zu seinem bisherigen Werk.« Kriminalakte Blog (Axel Bussmer), 26.11.2020

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Seitenzahl: 585

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HarperCollins®

Copyright © 2020 für die deutsche Ausgabe by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2020 by Don Winslow Originaltitel: »Broken« Erschienen bei: William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, US Published by arrangement with HarperCollins Publishers L.L.C., New York

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Coverabbildung: Oleinik luliia / Shutterstock E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959674881

www.harpercollins.de

Dank

Für die Leser.

Danke.

Zitat

Wenn Sie keine Zeit zum Lesen haben, haben Sie auch keine Zeit zum Schreiben (und auch nicht das Werkzeug).

So einfach ist das.

– Stephen King: Das Leben und das Schreiben

BROKEN

Die Welt bricht jeden, und manch einer ist nachher da stärker, wo er gebrochen wurde.

– Ernest Hemingway: In einem anderen Land

Niemand muss Eva erzählen, dass die Welt ein gebrochener Ort ist.

In der Polizeinotrufzentrale von New Orleans kriegt Eva McNabb im Laufe einer Nachtschicht reichlich von der Gebrochenheit der Menschen zu hören, und zwar acht Stunden am Stück, fünf Nächte die Woche, noch mehr, wenn sie Doppelschichten schiebt. Sie hört die Autounfälle, die Raubüberfälle, die Schießereien, die Morde, die Verstümmelungen, die Sterbenden. Sie hört die Angst, die Panik, die Wut, den Zorn, das Chaos, und sie schickt Männer auf dem schnellsten Weg dorthin.

Jedenfalls überwiegend Männer – es gibt immer mehr Frauen bei der Polizei –, aber für Eva sind sie alle ihre »Jungs«. Sie schickt sie in all diese Gebrochenheit hinein, und dann betet sie, dass sie heil wiederkommen.

Meistens tun sie das, manchmal nicht, und dann schickt sie mehr von ihren Jungs an die gebrochenen Orte.

Manchmal im echten Wortsinn, denn ihr Mann war Cop, und jetzt sind ihre zwei erwachsenen Söhne Cops.

Sie kennt dieses Leben also.

Sie kennt diese Welt.

Eva weiß, dass man da rauskommen kann, aber man kommt immer gebrochen raus.

Selbst im Mondschein sieht der Fluss dreckig aus.

Jimmy McNabb würde es nicht anders wollen, er liebt seinen dreckigen Fluss in seiner dreckigen Stadt.

New Orleans.

Er ist im Stadtteil Irish Channel aufgewachsen und lebt noch immer dort, nur ein paar Blocks entfernt von der Stelle, wo er jetzt steht, hinter einem Zivilfahrzeug auf dem Parkplatz am First Street Wharf.

Er und Angelo und der Rest seines Teams machen sich einsatzbereit – Schutzwesten, Helme, Schrotflinten, Blendgranaten. Wie ein SWAT-Team, bloß dass Jimmy »vergessen« hat, ausgerechnet diese Jungs zu dieser Party einzuladen. Wie er auch vergessen hat, die Hafenpolizei oder sonst wen einzuladen, bis auf sein eigenes Team vom Drogendezernat der Sonderermittlungseinheit.

Das hier ist eine Privatparty.

Jimmys Party.

»Die Hafen-Kollegen werden stinksauer sein«, sagt Angelo, als er seine Weste anzieht.

Jimmy sagt: »Wir holen sie hinterher zum Saubermachen.«

»Die spielen nicht gern die Hausmeister«, sagt Angelo. Er schließt den Klettverschluss vor der Brust. »Ich komm mir bescheuert vor in dem Scheißteil hier.«

»Du siehst auch bescheuert aus«, sagt Jimmy. Mit der blöden Weste sieht sein Partner aus wie das Michelin-Männchen. Angelo ist von schmächtiger Statur – er hat eine Crash-Diät mit Bananen und Milchshakes gemacht, um für die ärztliche Untersuchung vor der Aufnahme ins Dezernat auf das erforderliche Gewicht zu kommen, und hat seitdem kein Gramm mehr zugelegt. Er ist so dünn wie das Oberlippenbärtchen, von dem er glaubt, es ließe ihn wie Billy Dee Williams aussehen, was ein Irrtum ist. Angelo Carter, karamellfarbene Haut, scharf geschnittene Gesichtszüge, aufgewachsen im Ninth Ward – schwärzer geht’s nicht.

Jimmys Weste fühlt sich eng an.

Er ist ein großer Mann – eins zweiundneunzig, mit der breiten Brust und den breiten Schultern seiner irischen Vorfahren, die nach New Orleans kamen, um mit Spitzhacken und Schaufeln die Schleusen zu bauen. Er musste als Streifenbulle nur selten handgreiflich werden – nicht mal im Quarter –, weil schon allein seine Größe und sein Aussehen einschüchternd genug waren, um selbst die aggressivsten Betrunkenen zu einem spontanen Sinneswandel zu bewegen.

Aber wenn Jimmy doch mal rabiat werden musste, war ein ganzer Trupp Kollegen erforderlich, um ihn wieder zu bändigen. Einmal erledigte – erledigte – er einen ganzen Haufen Schlägertypen, die aus Baton Rouge gekommen waren und in Jimmys Stammkneipe Sweeny’s anfingen zu randalieren. Sie gingen vertikal und laut hinein, kamen horizontal und still wieder heraus.

Jimmy McNabb war ein echt harter Straßenbulle, wie sein Daddy vor ihm.

Big John McNabb war eine Legende.

Seine beiden Söhne hatten gar nicht die Wahl, irgendwas anderes zu werden als Cops, was nicht heißen soll, dass einer von ihnen was anderes hätte werden wollen.

Jetzt taxiert Jimmy sein Team. Er schätzt, dass alle nervös sind, aber nicht zu nervös, mit genau der richtigen Anspannung.

Diese Anspannung brauchst du.

Jimmy spürt es selbst, das Adrenalin, das ihm jetzt durch die Blutbahn strömt.

Er mag das.

Seine Mom Eva sagt, dass ihr Sohn schon immer den Kick gebraucht hat – egal, ob Adrenalin, Bier, Whiskey oder eine Wette auf der Pferderennbahn Jefferson Downs oder die letzte Chance als Schlagmann bei einem Baseballspiel der Polizeiliga am Ende des neunten Innings – »Jimmy braucht den Kick«.

Jimmy weiß, dass sie recht hat.

Sie hat meistens recht.

Das findet sie auch.

Jimmy und sein kleiner Bruder haben dafür einen Spruch: »Das letzte Mal, als Eva falschlag.«

Wie in: »Das letzte Mal, als Eva falschlag, lebten noch Dinosaurier auf der Erde.« Oder: »Das letzte Mal, als Eva falschlag, machte Gott am siebten Tag frei.« Oder, Dannys persönlicher Lieblingsspruch: »Das letzte Mal, als Eva falschlag, hatte Jimmy eine feste Freundin.«

Was so ungefähr, ja genau, in der achten Klasse war.

»Jimmy ist ein Pitcher«, sagte Eva einmal, »aber er spielt lieber auf dem Feld.«

Witzig, Eva, denkt Jimmy.

Du bist zum Brüllen.

Er und Danny nennen ihre Mom immer »Eva«. Nur wenn sie über sie reden, sie würden sie nie so ansprechen. Und ihren Dad nennen sie »John«. Das fing an, als Jimmy etwa sieben war und er und Danny wegen irgendeiner Verfehlung, bei der ein Baseball und eine kaputte Fensterscheibe eine Rolle spielten, zu Hausarrest verdonnert worden waren, und Jimmy sagte: »Mannomann, Eva war echt sauer.« Von da an blieben sie dabei.

Jetzt wirft Jimmy einen prüfenden Blick zu Wilmer hinüber. Suazo hat die Augen weit aufgerissen, aber der Honduraner läuft schnell heiß. Jimmy bezeichnet ihn als Honduraner, obwohl Wilmer ebenfalls in Irish Channel aufgewachsen ist, in der Siedlung El Barrio Lempira, die es schon gab, bevor Jimmy auf die Welt kam.

Wilmer, klein und breit – ein Kühlschrank –, ist ein Yat, ein echter Junge aus New Orleans, genau wie sie alle, und es ist gut, einen Latino im Team zu haben, besonders jetzt, seit nach Katrina mehr Honduraner und Mexikaner in die Stadt gekommen sind, um beim Wiederaufbau zu helfen, und keiner je eine Greencard von ihnen sehen wollte.

Gut, ihn gerade heute Abend dabeizuhaben.

Weil die Zielperson Honduraner ist.

Jimmy zwinkert ihm zu. »Tranquilo, ’mano.«

Ruhig Blut, Bruder.

Wilmer nickt.

Harold – und komm bloß nicht auf die Idee, ihn »Harry« zu nennen – läuft nie heiß.

Jimmy fragt sich manchmal, ob Gustafson überhaupt einen Puls hat, so cool ist der. Einmal ist Harold auf der Fahrt zu einem Einsatz, wo er ohne Weiteres hätte getötet werden können, auf der Rückbank in Tiefschlaf gefallen. Er ist Jimmy in »Vanillemilchshake-Version« – sanft, freundlich und sehr weiß. Blondes Haar, hellblaue Augen, ein regelrechter Saubermann.

Im Beisein von Harold achtet selbst Wilmer auf seine Ausdrucksweise, und Wilmer hat ein Mundwerk wie eine Latrine. Aber wenn Harold dabei ist, flucht Wilmer auf Spanisch, weil er richtigerweise davon ausgeht, dass Gustafson kein Wort versteht.

McNabb ist groß, Gustafson ist größer.

»Wir brauchen keine Mauer an der Grenze«, meinte mal einer, »es reicht schon, wenn Harold sich da hinlegt.«

Bei einer Wette (nicht zwischen Jimmy und Harold, Harold zockt nicht) hat Gustafson Jimmy wie eine Langhantel hochgestemmt.

Zehn Mal.

Hat Jimmy fünfzig Mäuse gekostet, aber das war es ihm wert.

Ich hab ein gutes Team, denkt Jimmy.

Seine Leute sind clever und mutig (aber nicht furchtlos, furchtlos ist dumm); ihre Stärken, Schwächen und Talente fügen sich perfekt zusammen. Jimmy hat es geschafft, sie seit mittlerweile fünf Jahren zusammenzuhalten, und sie kennen ihre jeweiligen Reaktionen so gut, wie sie ihre eigenen kennen.

Das alles werden sie heute Abend brauchen.

Sie haben nämlich noch nie ein Schiff gestürmt.

Heroinlabore in Hochhäusern, Crack-Lager in Bruchbuden, Bikerclubs, Treffs von Drogenbanden, das hatten sie alles schon, zigmal.

Aber ein Frachtschiff?

Das ist neu.

Aber damit bringt Oscar Diaz eine riesige Lieferung Methamphetamin in die Stadt, und deshalb werden sie es stürmen.

Sie haben den Honduraner seit Monaten im Visier.

Haben ihn aber in Ruhe gelassen.

Haben den Kleinkram durchgehen lassen, darauf gewartet, dass Oscar sein großes Ding abzieht.

Und jetzt ist es so weit.

»Okay, dann wollen wir mal«, sagt Jimmy. Er greift hinten in den Wagen und holt seinen alten, abgewetzten Baseballhandschuh raus, den er seit der Highschool hat und in dem ein verschrammter Ball klemmt.

Auch die anderen holen ihre Handschuhe, dann nehmen sie ein paar Schritte voneinander entfernt Aufstellung und werfen sich gegenseitig den Ball zu wie beim Training. Sie sehen ein bisschen lächerlich aus, mit ihren Westen und Helmen, aber es ist ein Ritual, und McNabb hält viel von Ritualen.

Sie haben noch nie einen Mann verloren, wenn sie sich vor einem Einsatz den Ball zugeworfen haben, und er hat nicht vor, jetzt jemanden zu verlieren.

Und es ist eine unausgesprochene Mahnung: Lasst den Ball nicht fallen – macht keine Fehler.

Sie werfen ein paarmal hin und her, dann zieht Jimmy seinen Handschuh aus und sagt: »Laissez les bons temps rouler.«

Auf geht’s.

Eva McNabb hört die Stimme des Kindes am Telefon.

Es ist ein Notruf wegen häuslicher Gewalt.

Der kleine Junge hat panische Angst.

In ihren fast vierzig Ehejahren mit Big John McNabb hat Eva – sie knapp über eins sechzig, er eins dreiundneunzig – genug Erfahrungen mit Gewalt in den eigenen vier Wänden gemacht. John schlägt sie nicht mehr, aber er wird gefährlich wütend, wenn er betrunken ist, und er ist meistens betrunken, seit er im Ruhestand ist. Jetzt wirft er mit Gläsern und Flaschen und schlägt Löcher in Wände.

Eva kennt sich also mit häuslicher Gewalt aus.

Dieser Fall ist anders.

Sie sind alle schlimm, aber dieser ist schlimm.

Das hört sie in der Stimme des Jungen, dem Gebrüll im Hintergrund, den Schreien, dem hohlen dumpfen Klang, mit dem die Schläge landen, die sie durchs Telefon hören kann. Es hat schon schlimm angefangen, und sie kann nur versuchen, dafür zu sorgen, dass es nicht noch schlimmer endet.

»Schätzchen«, sagt sie sanft ins Telefon, »hörst du mir zu? Kannst du mich hören?«

Die Stimme des Jungen bebt. »Ja.«

»Prima«, sagt Eva. »Wie heißt du?«

»Jason.«

»Jason, ich bin Eva«, sagt sie. Es ist gegen die Vorschriften, ihren Namen zu nennen, aber scheiß auf die Vorschriften, denkt Eva. »Also, Jason, die Polizei ist auf dem Weg zu dir, die sind ganz bald da, aber bis dahin … Habt ihr einen Wäschetrockner, cher?«

»Ja.«

»Sehr gut«, sagt Eva. »Also, Jason, Schätzchen, ich möchte, dass du jetzt in den Trockner kletterst, okay? Machst du das für mich, Herzchen?«

»Ja.«

»Prima. Mach das jetzt sofort. Ich bleib am Telefon.«

Sie hört, wie der Junge sich bewegt. Hört noch mehr Schreie, noch mehr Gebrüll, noch mehr Flüche. Dann fragt sie: »Bist du im Trockner, Jason?«

»Ja.«

»Braver Junge«, sagt Eva. »Jetzt möchte ich, dass du die Tür zuziehst. Kriegst du das hin? Hab keine Angst, Schätzchen, ich bin hier.«

»Ich hab die Tür zugemacht.«

»Braver Junge«, sagt Eva. »Jetzt bleibst du schön da drin, und wir beide unterhalten uns ein bisschen, bis die Polizei da ist. Okay?«

»Okay.«

»Ich wette, du magst Videospiele«, sagt sie. »Welche magst du am liebsten?«

Eva fährt sich mit den Fingern durch das kurze schwarze Haar, das einzige Anzeichen für ihre Nervosität, und hört zu, wie der Junge was von Fortnite, Overwatch und Black Ops 3 erzählt. Auf dem Bildschirm vor ihr beobachtet sie den blinkenden Punkt, der anzeigt, wie sich der Streifenwagen der Adresse des Jungen im Stadtteil Algiers nähert.

Danny ist dort in Revier 4 in einer Funkstreife unterwegs, aber der Wagen auf dem Bildschirm ist nicht seiner.

Was sie erleichtert.

Eva sorgt sich immer um ihre beiden Jungs, aber Danny ist jünger, der Sensible (Jimmy ist so sensibel wie ein Schlagring), der Weichere von beiden, und sie will nicht, dass er sieht, was der Officer, der als Erster in dieses Haus geht, wahrscheinlich zu sehen bekommt.

Der Wagen ist jetzt fast am Ziel, knapp einen Block entfernt, gefolgt von zwei anderen Einheiten – Danny ist nicht dabei. Sie hat alle drei mit dem Hinweis losgeschickt, dass Kinder beteiligt sind.

Alle Cops im Revier wissen, dass sie Gas geben müssen, wenn Eva McNabb ihnen das sagt. Sonst bekommen sie von ihr die Leviten gelesen, und darauf ist keiner scharf.

Eva hört die Sirenen übers Telefon.

Dann den Schuss.

Die Kugel trifft das Metallschott haarscharf neben Jimmys Kopf und prallt so wild und unberechenbar ab, dass Angelo sich der Länge nach aufs Deck wirft.

Im ersten Moment denkt Jimmy, dass sein Partner getroffen wurde, doch dann rollt Angelo sich dicht ans Schott und gibt ihm das Daumen-hoch-Zeichen.

Dennoch, es ist verdammt ungünstig, dass die Honduraner kämpfen wollen, Querschläger schwirren mit einem widerlichen Heulton um sie herum, prasseln wie die Kugeln in einer Lostrommel, und Jimmy und sein Team sitzen in einem engen Gang fest.

Vielleicht hätte ich doch das SWAT-Team anfordern sollen, denkt Jimmy.

Die Schüsse kommen aus einer offenen Ladeluke gut zehn Meter weiter den Gang hinunter. Jemand muss als Erster durch diese Luke, denkt Jimmy, oder wir ziehen den Schwanz ein und machen, dass wir runter von dem Schiff kommen.

Dieser Jemand werde ich sein, denkt Jimmy. Er nimmt eine Blendgranate von seinem Gürtel und schleudert sie durch die Luke. Ohne Raffinesse, ohne Drall, bloß ein schnurgerader Fastball mitten in die Strike-Zone.

Die grellweiße Explosion blendet hoffentlich die Schützen auf der anderen Seite.

Jimmy stürmt sofort vorwärts, feuert drauflos.

Einige Kugeln kommen zurück, aber er hört Schritte auf dem Stahldeck, die von ihm weglaufen.

»Polizei! Waffen hinlegen!«, brüllt er eingedenk der zu erwartenden Untersuchung durch die Interne Ermittlung.

Jetzt hört er polternde Schritte vor und hinter sich, weiß, ohne sich umzudrehen, dass Angelo, Wilmer und Harold hinter ihm aufschließen. Vor sich sieht er einen Mann, und dann ist der Mann auf einmal verschwunden, und Jimmy begreift, dass der Typ eine Leiter runter ist.

Als Jimmy oben an der Leiter ankommt, sieht er den Mann noch die Sprossen runterklappern, aber Jimmy macht das anders. Er legt eine Hand ans Geländer, schwingt sich runter und landet direkt vor dem Mann.

Der will seine Waffe heben, doch Jimmy ist schneller, streckt das Arschloch mit einem linken Haken zu Boden, bewusstlos. Jimmy tritt ihm sicherheitshalber aufs Gesicht – und um eine Lektion zu erteilen, was passiert, wenn du eine Schusswaffe auf einen Cop vom Drogendezernat richtest.

Dann wird es schwarz.

Danny McNabb ist auf Nachtschicht.

Das macht ihm nichts aus, die meisten Einsätze finden in der Nachtschicht statt, und ein Streifenpolizist im zweiten Jahr braucht Einsätze, wenn er vorankommen will. Und ihm gefällt sein Einsatz im Revier 4 – Algiers –, weil Algiers zwar theoretisch zu New Orleans gehört, aber doch eine Welt für sich ist.

»Der Wilde Wilde Osten«, so wird es genannt.

Algiers hält einen Streifencop auf Trab, und das gefällt Danny. Aber jetzt sitzt er seit Stunden im Wagen, und seine langen Beine werden allmählich steif.

Wenn sein Bruder Jimmy ein Stier ist, dann ist Danny ein Rennpferd.

Lang, schlank und schlaksig.

Er erinnert sich noch an den Tag, als er Jimmy offiziell größenmäßig überholte. Seine Mutter hatte sie beide mal wieder am Türrahmen antreten lassen und ihre Kopfhöhe mit Bleistiftstrichen markiert. Jimmy war sauer, wollte sich unbedingt mit ihm schlagen. (»Du bist vielleicht größer, aber du bist nicht stärker.«) Eva ließ das jedoch nicht zu.

Am Abend gingen sie raus zum Baseballplatz, um noch ein bisschen zu spielen, und auf dem Weg dorthin sagte Jimmy ganz ernst: »Du bist jetzt vielleicht größer, aber du bist noch immer mein kleiner Bruder. Das bist du, und das bleibst du. Kapiert?«

»Kapiert«, sagte Danny. »Aber ich seh besser aus.«

»Stimmt«, sagte Jimmy. »Pech, dass du so einen Minipimmel hast.«

»Willst du den auch noch messen?«

Jimmy stöhnte auf. »Wieso muss ausgerechnet ich ’ne Schwuchtel als Bruder haben?«

Als Danny Roxanne die Geschichte erzählte, änderte er den Ausdruck »’ne Schwuchtel« in »’nen Schwulen«. Das war nicht ganz so lustig, aber Roxanne ist lesbisch, und er wusste, dass ihr »Schwuchtel« nicht gefallen würde. Andererseits wusste er auch, dass Jimmy sich nichts dabei gedacht hatte. Jimmy hasst nicht speziell Schwule, er hasst alle und jeden.

Danny hat ihn mal danach gefragt, nachdem Jimmy wieder eine seiner Wutreden vom Stapel gelassen hatte. »Hasst du eigentlich alle und jeden?«

»Mal überlegen«, sagte Jimmy. »Schwule, Lesben, Heteros, Schwarze, Latinos, Weiße … Asiaten, wenn wir hier welche hätten … ja, ich hasse praktisch alle und jeden. Und das wirst du auch, wenn du den Job ein paar Jahre gemacht hast.«

Dannys Mom und Dad haben so ziemlich das Gleiche zu ihm gesagt. Der größte Nachteil der Polizeiarbeit sei der, dass du irgendwann alle und jeden hasst – außer andere Cops. Er glaubt das aber nicht. Er glaubt bloß, dass Polizisten selektive Erfahrungen mit Menschen machen. Cops sehen einfach zu viele schlimme Dinge und vergessen deshalb, dass es auch Gutes gibt.

Eva wollte nicht, dass er Cop wird.

»Dein Mann ist Cop«, antwortete er, »dein ältester Sohn ist Cop.«

»Du bist anders als sie«, sagte sie.

»Inwiefern anders?«

»Ich meine das positiv«, sagte Eva. »Ich will nicht, dass du so wirst wie dein Vater.«

Wütend, verbittert, betrunken.

Dem Job die Schuld dafür gebend.

Das ist aber er, dachte Danny. Das bin nicht ich.

So werde ich nie sein.

Er hat jetzt ein schönes Leben.

Einen guten Job, eine hübsche kleine Wohnung in Channel, eine Freundin, die er liebt. Jolene arbeitet als Nachtschwester im Touro Hospital, sodass sogar ihre Arbeitszeiten übereinstimmen. Und sie ist ein Schatz, mit langem schwarzem Haar, blauen Augen und einem schrägen Humor.

Das Leben ist gut.

Der Streifenwagen parkt auf der Verret Street am McDonough Park, gegenüber der Holy Name of Mary Church, weil der Gemeindepriester sich bei ihrem Captain über die »Perversen« beschwert hat, die angeblich in den frühen Morgenstunden im Park cruisen.

Gerade Priester sollten sich nicht über Perverse beschweren, denkt Danny.

Eva bestand darauf, dass er in die Messe ging, bis er dreizehn war, obwohl sie selbst nie hinging. Er und Jimmy besuchten katholische Schulen einschließlich der Archbishop Rummel Highschool, und Jimmy sagte oft, katholische Schuljungen ließen sich in zwei Gruppen unterteilen, »die Schnellen und die Gefickten«.

Jimmy und Danny gehörten zu den Schnellen.

Jedenfalls parken er und Roxanne schon die ganze verdammte Woche hier, um den Priester bei Laune zu halten, und sie haben nicht einen »Perversen« zu Gesicht bekommen, und Danny langweilt sich zu Tode.

Sitzt nur im Dunkeln herum.

Irgendwer hat das Licht ausgemacht.

Jimmy kann jetzt nur noch rote Lichter sehen, die sich durch die Dunkelheit bohren wie in einem blöden Lasertag-Raum, bloß das hier ist real, die Kugeln werden real sein, das Sterben wird real sein.

Ein Punkt landet auf seiner Brust, und er hechtet aufs Deck.

»Runter! Runter! Alle runter!«, brüllt er.

Er hört, wie seine Jungs sich fallen lassen.

Die roten Punkte suchen nach ihnen.

Jimmy nimmt seine Taschenlampe, knipst sie an und lässt sie nach links von sich wegrollen. Sofort wird sie beschossen, und er nimmt das Mündungsfeuer ins Visier und schießt. Angelo und Wilmer machen dasselbe, und Jimmy hört Harolds Flinte donnern.

Dann hört er ein Ächzen, und jemand stöhnt vor Schmerz.

»Gebt auf!«, schreit Jimmy. »Legt eure Waffen hin! Sag’s ihnen, Wilmer!«

Wilmer brüllt die Aufforderung auf Spanisch.

Die Antwort sind Schüsse.

Scheiße, denkt Jimmy.

Gottverdammte Scheiße.

Dann hört er einen Motor anspringen.

Was zum …?

Lichter gehen an.

Scheinwerfer.

Jimmy blickt nach links und sieht Harold mit einem Gabelstapler auf sie zukommen. Auf der Gabel stehen zwei schwere Kisten, und Harold hebt sie an wie einen Schild und schreit: »Rauf mit euch!«

Der Rest vom Team springt auf wie Soldaten auf einen Panzer. Sie schießen um die Kisten herum, während Harold direkt auf die Schützen zusteuert, die im Licht der Scheinwerfer zu einem Schott zurückweichen, weil sie nirgendwo anders hinkönnen.

Es sind vier.

Nicht mitgezählt die zwei Verletzten, die versuchen, von dem anrollenden Gabelstapler wegzukriechen.

Scheiß auf sie, denkt Jimmy.

Wenn sie es schaffen, schaffen sie es eben.

Falls nicht … na, egal.

Sind sowieso Kakerlaken.

Jimmy lehnt sich hinaus und sieht, wie einer von den zurückweichenden Mistkerlen eine AK hebt, als wüsste er nicht, was er machen soll.

Harold nimmt ihm die Entscheidung ab. Fährt mit dem Gabelstapler direkt in ihn rein und drückt ihn gegen das Schott. Die anderen drei lassen ihre Knarren fallen und heben die Hände.

Jimmy springt vom Gabelstapler und schlägt einem von ihnen ins Gesicht, fest. »Das hättet ihr schon vor zwanzig Minuten machen können und uns allen jede Menge Ärger ersparen.«

Angelo findet einen Lichtschalter und betätigt ihn.

»Na also«, sagt Jimmy.

Was er sieht, ist Crystal Meth.

Vom Boden bis zur Decke gestapelte Rechtecke, eingepackt in schwarzem Plastik.

»Das sind bestimmt drei Tonnen«, sagt Angelo.

Mindestens, denkt Jimmy.

Ein paar Millionen Dollar Verlust für Oscar Diaz. Kein Wunder, dass seine Jungs drauflosgeballert haben.

Oscar wird nicht begeistert sein.

Wilmer und Angelo fesseln die Verdächtigen mit Kabelbindern. Harold drückt den AK-Boy noch immer gegen die Wand, obwohl das Sturmgewehr längst polternd aufs Deck gefallen ist.

Jimmy geht zu ihm. »Du steckst ganz schön in der Klemme, was?«

AK-Boy windet sich.

»Was machen wir jetzt bloß mit dir?«, fragt Jimmy. »Hast du schon mal eine Zecke platzen sehen? Ich meine, wenn sich eine Zecke so richtig mit Blut vollgesaugt hat und du auf sie draufdrückst, bis sie einfach platzt? Wenn ich unserem Harold sage, er soll aufs Gas treten, dann … platsch.«

»Nein, bitte nicht.«

»Nein, bitte nicht?«, sagt Jimmy. »Du wolltest mich wegpusten, Mann.«

»Willst du nicht allmählich Meldung machen?«, fragt Angelo. »Die Jungs da verbluten sonst.«

»Einen Moment noch«, sagt Jimmy.

Er und Harold bringen AK-Boy an Deck.

Der Fluss ist noch immer schlammig.

Fließt aber schnell.

»Wie heißt du?«, fragt Jimmy AK-Boy.

»Carlos.«

»Carlos, kannst du schwimmen?«

»Ein bisschen.«

»Das hoffe ich«, sagt Jimmy. Er hebt Carlos über die Reling. »Sag Oscar Diaz, Jimmy McNabb lässt schön grüßen.«

Er wirft ihn ins Wasser.

»Jetzt können wir Meldung machen«, sagt Jimmy.

Eine halbe Stunde später wimmelt es auf dem Schiff von Rettungssanitätern und von Polizisten aller Einheiten: Die Polizei von New Orleans, das SWAT-Team, die Drogenbekämpfung DEA, die Hafen-Polizei, sogar die Louisiana State Police taucht auf, weil in der Geschichte der Stadt New Orleans vielleicht noch nie eine solche Menge Drogen sichergestellt wurde und jeder mit von der Partie sein möchte.

Mit Sicherheit wurde noch nie eine solche Menge Meth sichergestellt.

Am Kai kreuzen die ersten Medienvertreter auf.

Jimmy zündet erst seine und dann Angelos Zigarette an.

Angelo nimmt einen tiefen Zug und fragt dann: »Was hat der Boss gesagt?«

»Große Schlagzeilen, Elf-Uhr-Nachrichten, keiner von uns verletzt«, sagt Jimmy, »was soll Landreau da schon sagen? ›Glückwunsch.‹«

»Aber er ist sauer.«

Landreau ist sauer, denkt Jimmy. Das SWAT-Team ist sauer, die DEA ist sauer, die Hafen-Polizei ist sauer – Jimmy kümmert das nicht, denn er weiß …

Oscar Diaz ist stinksauer.

Das ist er, und zwar nicht, weil die triefend nasse Ratte ihm den Fußboden versaut.

Das Hochhaus steht am anderen Flussufer in Algiers Point, Oscar bewohnt das Penthouse, und seine Terrasse bietet Aussicht auf den Mississippi und dahinter auf das Zentrum von New Orleans, vom French Quarter über Marigny bis Bywater. Aber nicht darauf konzentriert Oscar sich jetzt, er konzentriert sich auf diesen Carlos, der ihn gerade mehr gekostet hat, als er für das Penthouse bezahlt hat.

Der ihn sogar noch mehr gekostet hat.

Der ihn mehr als bloß Geld gekostet hat.

Das sollte Oscars Chance sein, aus dem Mittelfeld der Drogendealer in die Topliga aufzusteigen. Das war seine große Gelegenheit – eine so große Fracht den Fluss hoch nach St. Louis und Chicago zu bringen. Zu beweisen, dass New Orleans ein Hauptumschlagplatz werden kann, dass man den Fluss und den Hafen nutzen kann, um den Stoff anzuliefern, ihn dann auf Lkw umzuladen und über die Highways weiterzuschicken. Wenn ihm das gelungen wäre, hätten die Sinaloa-Leute ihm eine sehr viel größere Ladung anvertraut, genug Meth, um in L. A. und New York Fuß zu fassen.

Jetzt werden die Sinaloaner denken, dass er ein Stück Scheiße ist. Dass New Orleans zu gefährlich ist. Er muss sich ans Telefon hängen und ihnen sagen, dass er ihre Drogen verloren hat, und er weiß, das wird der letzte Anruf sein, den sie von ihm entgegennehmen.

Seine Drogen sind also futsch, sein Geld ist futsch, und seine Chance ist futsch. Er wird mindestens fünf weitere Jahre lang Stoff an prolliges Gesindel in den Bayous verticken müssen.

Er geht zurück ins Wohnzimmer und bleibt vor seinem Aquarium stehen, einem dreihundertfünfzig Liter fassenden Red Sea Reefer 350, in dem sich seine Liebsten tummeln – sein großer leuchtend gelber Zackenbarsch (hat ihn 6.000 Dollar gekostet), sein kleiner rot-silberner Sägebarsch (10.000 Dollar), der Prachtkaiserfisch, golden mit stahlblauen Streifen (hat ihn nichts gekostet, war ein Geschenk vom Kartell), und seine jüngste Errungenschaft und sein ganzer Stolz, sein 30.000 Dollar teurer Blauer Königin-Engelfisch, der so viel kostet, weil die hinreißenden Schönheiten in tiefen Unterwasserhöhlen leben.

Oscar hat in sein Aquarium mit den kostbaren, wunderschönen Korallen sehr viel Zeit, Geld, Pflege und Liebe gesteckt. Er hebt den Deckel, streut ein paar Flocken Trockenfutter hinein und öffnet dann einen Plastikbehälter voll roher Muschelstückchen und wirft sie ins Wasser.

»Du stresst meine Fische«, sagt er zu Carlos. »Meine Fische reagieren sehr empfindlich auf Stress, und im Moment nehmen sie deinen wahr.«

»Tut mir leid.«

»Entspann dich«, sagt Oscar. »Also, wer hat gesagt, er lässt mich schön grüßen?«

»Er hat gesagt, sein Name wäre Jimmy McNabb«, sagt Carlos.

»DEA?«

»Cop hier in der Stadt«, sagt Carlos. »Drogendezernat.«

»Und er hat dich vom Schiff geworfen, damit du mir das ausrichtest.«

»Genau.«

Oscar wendet sich an Rico. »Bring Carlos raus und leg ihn um.«

Carlos wird leichenblass.

»Ich verarsch dich«, sagt Oscar lachend. Er blickt wieder Rico an. »Sieh zu, dass mein Junge eine heiße Dusche und saubere Klamotten kriegt. Der Scheißfluss ist dreckig. Entiendes, Rico?«

Rico versteht. Bring Carlos raus und leg ihn um.

Als sie weg sind, geht Oscar zurück auf die Terrasse und blickt über die Stadt.

Jimmy McNabb.

Tja, Jimmy McNabb, du hast dich mit mir persönlich angelegt.

Du hast dich mit mir angelegt, und du hast mir etwas weggenommen.

Jetzt nehme ich dir etwas weg.

Etwas, das dir wichtig ist.

Der Cop, der den Einsatz wegen häuslicher Gewalt gefahren ist, kommt anschließend in die Notrufzentrale, um mit Eva zu sprechen.

Sie hat alles über Funk mitgehört, aber er will seine Anerkennung zeigen. »Genauso gelaufen, wie du dir gedacht hast. Der Kerl hat die Frau erschossen und dann sich selbst.«

»Was ist mit dem Jungen?«

»Wir haben ihn im Wäschetrockner gefunden«, sagt der Officer. »Es geht ihm gut.«

So gut, denkt Eva, wie es einem kleinen Jungen gehen kann, der gerade mit anhören musste, wie sein Vater seine Mutter erschießt.

»Gut, dass der Typ sich erschossen hat«, sagt sie. »Erspart uns eine Gerichtsverhandlung.«

»Da hast du recht.«

»Und der Kleine kommt ins Heim«, sagt Eva.

Ihr ist zum Heulen zumute.

Aber Eva heult nicht.

Jedenfalls nicht vor einem Cop.

Rico hört Oscar aufmerksam zu. Dann schüttelt er den Kopf und sagt: »Von Cops muss man die Finger lassen.«

Oscar lässt sich das durch den Kopf gehen. Dann: »Wer sagt, dass man das muss?«

Danny und Roxanne beobachten noch immer den Park, warten schon die dritte Nacht auf die Perversen, die sich nicht blicken lassen.

»Okay«, sagt Danny nach langem Nachdenken, »Rachel vögeln, Monica heiraten, Phoebe umbringen.«

»Die arme Rachel«, sagt Roxanne. »Immer gevögelt, nie geheiratet.«

»Nein, sie und Ross haben in Vegas geheiratet, schon vergessen?«

»Ja, aber da waren sie betrunken.«

»Zählt trotzdem«, sagt Danny. »Du?«

Roxanne sagt: »Monica umbringen, Rachel heiraten, Phoebe vögeln.«

»Das war schnell.«

»Ich hab auch schon lange drüber nachgedacht«, sagt Roxanne. »Ich wollte Phoebe schon immer flachlegen. Seit der ersten Staffel.«

»Nicht zu fassen. Wie alt warst du da, sieben?«

»Ich war eine frühreife Lesbe«, sagt Roxanne. »Ich hab mit Barbie-Puppen gespielt.«

»Jedes kleine Mädchen hat mit Barbie-Puppen gespielt.«

»Nein, Danny«, sagt sie, »ich hab mit Barbie-Puppen gespielt.«

»Oh.«

Roxannes Blut und Hirnmasse spritzen Danny ins Gesicht.

Es geht wahnsinnig schnell.

Eine Hand packt ihr kurzes Haar und zerrt sie nach draußen.

Das Fenster auf seiner Seite zerbirst.

Danny greift nach seiner Pistole, doch da hat er schon ein Tuch auf Mund und Nase. Er tritt auf den Boden, versucht, sich abzustoßen, aber es ist zu spät.

Er ist bewusstlos, als sie ihn vom Wagen wegschleifen.

Die Sirenen klingen wie jaulende Hunde.

Erst einer, dann noch einer, dann vier, fünf, ein Dutzend Streifenwagen rasen Richtung McDonough Park. Sie kommen aus ganz Algiers, dann vom 4. Revier, dann über den Fluss vom 8.

Sie reagieren auf Code 10-13.

Officer in Gefahr.

Der Klang ist grauenhaft.

Ein Alarmchor.

Der durch Algiers hallt.

Die Party findet natürlich im Sweeny’s statt.

Woanders kommt überhaupt nicht infrage, schließlich geht Jimmy schon dorthin, seit er ein Kind war. Buchstäblich – er war elf, zwölf Jahre alt, als er seinen Alten regelmäßig aus der Bar nach Hause holte.

Oder ihm wenigstens den Gehaltsscheck abnahm, bevor er den komplett versoff.

Jetzt ist Jimmy hier Stammgast, und sein Alter betrinkt sich nur noch zu Hause.

Deshalb ist es am Abend nach dem großen Fang nur natürlich, dass die Cops sich zum Feiern im Sweeny’s versammeln.

Das Team ist selbstverständlich da – Angelo, Wilmer, Harold – und all die anderen Jungs und Mädels vom Drogendezernat, ein halbes Dutzend Cops von der Strategic Intelligence Division und ein paar Streifenbullen und Detectives vom den Revieren 4, 8 und der hiesigen 6.

Landreau ist der Form halber auf einen Drink vorbeigekommen, sogar ein paar Staatsanwälte haben sich blicken lassen, und zwei Typen von der DEA haben dem Team Cowboyhüte geschenkt und einen Toast ausgebracht: »Wir wollen mal, wie McNabbs Schwanz, nicht zu hart sein – Schwamm drüber.«

Aber die meisten Gäste sind früh gegangen, und jetzt ist nur noch das Team da, ein paar Cops vom Drogendezernat und die anderen, die zu unterschiedlichen Zeiten in ihrer Laufbahn mit ihnen zusammengearbeitet haben. Die wenigen Zivilisten in der Bar halten sich wohlweislich aus allem raus und amüsieren sich bloß im Stillen über die wilden Geschichten, die erzählt werden.

»Ich hocke also da im Dunkeln«, sagt Jimmy, »mach mir vor Angst in die Hose und denke: Wir sind am Arsch – und plötzlich kommt Harold … Harold auf einem Gabelstapler angedonnert …«

Ein Sprechchor skandiert: »Harold! Harold! Harold!«

Harold steht mit einem Mikro in der Hand auf der kleinen Bühne und versucht sich als Stand-up-Comedian. »Ich geh also zu meinem Proktologen. Der wirft einen Blick auf meinen Anus und sagt: ›Jimmy McNabb?‹«

»Ich liebe dich, Harold«, sagt Jimmy ein bisschen angeheitert. »Auf eine sehr heterosexuelle, männliche, christliche Art …«

»Harold! Harold! Harold!«

Harold klopft auf das Mikro. »Ist das Ding an?«

»… so, wie Jesus den einen Jünger geliebt hat …«

»Judas«, sagt Wilmer.

»Nein, den anderen.«

»Petrus.«

»Den oder sonst wen«, sagt Jimmy. »Jedenfalls … Wo war ich gerade?«

»Jeder Cop wünscht sich einen Teamführer, der Integrität, Mut und Ehrgefühl hat«, sagt Harold. »Aber wir haben Jimmy McNabb, und ich sage: ›So geht’s auch.‹«

Angelo steht leicht schwankend auf und schlägt auf den Tisch. »Angelo will Sex! Wer will Sex mit Angelo?!«

»Jimmy«, sagt Wilmer.

Lucy Wilmette, eine erfahrene Zivilfahnderin vom 8., hebt die Hand. »Ich will Sex mit Angelo.«

»Das ist schon mal ein Anfang«, sagt Angelo. »Also, wer noch?«

»›Wer noch?‹«, fragt Lucy. »Menschenskind, Angelo.«

Eva beobachtet die blinkenden Punkte auf dem Bildschirm.

Wie Bienen, die zum Stock schwärmen.

Sie verfolgt die Funksprüche.

Officer verwundet … Officer liegt auf der Straße … Rettungswagen erforderlich … ich wiederhole, Rettungswagen erforderlich … erster Officer vor Ort … erster Officer vor Ort … erster Officer vor Ort … Wagen 240 D … Wo ist der andere Officer … Wieso antwortet er nicht … Schüsse gemeldet … Zeuge vor Ort … Gott, sie ist noch ein halbes Kind … Verdammt, wo bleibt der Rettungswagen … Sie verblutet … Ich fühl keinen Puls … Sean, sie ist tot … Wo ist ihr Partner? Verdammt noch mal,wo ist ihr Partner?!

Wagen 240 D.

Dannys Wagen.

Mit der linken Hand drückt sie Jimmys Kurzwahltaste an ihrem Telefon.

Mailbox.

Er ist auf der Party.

Im Sweeny’s.

Jimmy, geh ran!

Es geht um deinen Bruder.

»Ist das so ein Cop, von dem man die Finger lassen muss?«, fragt Oscar.

Danny ist mit Handschellen an einen Metallstuhl gefesselt, der im Betonboden einer Lagerhalle an den Kais von Algiers Point verschraubt ist. Seine Fußknöchel sind an die Stuhlbeine gefesselt.

»Weckt ihn auf«, sagt Oscar.

Rico ohrfeigt Danny, bis er zu sich kommt.

»Jimmy McNabbs kleiner Bruder«, sagt Oscar.

Danny blinzelt, sieht einen rundgesichtigen Latino vor sich stehen. »Wer sind Sie?«

»Ich bin der Mann, der dir wehtun wird«, sagt Oscar.

Er zündet den Schweißbrenner an.

Die Flamme erstrahlt blau.

Jimmy hebt einen Pitcher voll Bier. »Lasst uns trinken! Darauf, dass wir denen mal wieder gezeigt haben, wo der Hammer hängt!«

Er schüttet sich das Bier direkt aus dem Pitcher in den Mund.

»Jimmy! Jimmy! Jimmy!«

Jimmy stellt den leeren Pitcher ab, wischt sich mit dem Handrücken über den Mund und sagt: »Mal im Ernst …«

»Im Ernst«, sagt Wilmer.

»… darauf, dass wir Drogen und Waffen einkassieren und die bösen Jungs in den Knast bringen. Auf die besten Cops der Welt. Leute, ich liebe euch. Euch alle. Ihr seid meine Brüder und Schwestern, und ich liebe euch.«

Er plumpst auf seinen Stuhl.

»War das gerade die nette Seite von Jimmy McNabb?«, fragt Lucy.

»Das war betrunkenes Geschwafel«, sagt Wilmer.

Gibson, ein Sergeant vom 4., kommt ins Sweeny’s und sieht, dass die Party volle Fahrt aufgenommen hat. Er späht durch die Menge und entdeckt Jimmy McNabb auf der Bühne, wo er gerade eine grausige Karaoke-Version von Thunder Road hinlegt.

Gibson sucht nach Angelo Carter und findet ihn an der Bar.

»Kann ich dich kurz sprechen?«, fragt Gibson. »Draußen?«

»Ach du Scheiße«, sagt Angelo. »Danny?«

Die Nachricht macht ihn schlagartig nüchtern. Er kennt Danny, seit der ein Kind war, ein nerviger kleiner Bruder, der sich nicht abschütteln ließ, der Jimmy anhimmelte, auch zur Polizei wollte.

Und jetzt ist er tot?

»Es ist echt übel«, sagt Gibson. »Wir haben seine Leiche an den Kais bei Algiers Point gefunden. Er ist gefoltert worden.«

Verbrannt.

Jeder Knochen in seinem Körper gebrochen.

Jetzt sagt Gibson: »Wir müssen es Jimmy sagen.«

»Der dreht durch«, sagt Angelo.

Jimmy McNabb liebt nichts in der Welt außer seinen Partnern und seiner Familie. Wenn er erfährt, dass Danny tot ist, wird er gewalttätig werden.

Er wird die Bar zerlegen.

Er wird andere und sich selbst verletzen.

Sie müssen das verdammt noch mal verhindern.

»Wir machen Folgendes«, sagt Angelo.

Angelo geht als Erster durch die Tür.

Gefolgt von Wilmer, Harold, Gibson, drei der kräftigsten Streifenbullen, die Angelo im 6. finden konnte, und Sondra D, die aus ihrer verblüffenden Ähnlichkeit mit Marilyn Monroe eine lukrative Karriere als Tausend-Dollar-pro-Nummer-Callgirl gemacht hat. Sie hatte gerade einen Kunden im Roosevelt Hotel, einen Feuerwehrmann von außerhalb, als Angelo anrief.

Alle im Lokal erstarren.

Das passiert immer, wenn Sondra einen Raum betritt.

Silbernes Paillettenkleid.

Platinblondes Haar.

»Jimmy!«, ruft Angelo. »Ich hab dir jemanden mitgebracht.«

Jimmy blickt von der Bühne runter und grinst.

Sondra schaut zu ihm hoch und sagt: »Ich bin Sergeant Sondra von der Abteilung für … Innere Angelegenheiten …«

Alle lachen.

Einschließlich Jimmy.

»Du warst ein ganz bööööser Officer«, sagt Sondra in ihrer besten MM-Stimme. Sie zieht ein Paar Handschellen aus ihrem Dekolleté und lässt sie von ihrer rechten Hand baumeln. »Und jetzt bist du verhaftet.«

Harold und Wilmer steigen auf die Bühne, fassen Jimmy an den Ellbogen und schieben ihn die Stufen runter zu Sondra.

»Umdrehen«, sagt Sondra. »Hände auf den Rücken.«

»Legst du mir Handschellen an?«, fragt Jimmy.

»Fürs Erste.«

»Tu, was die Lady dir sagt«, rät Angelo.

Jimmy zuckt die Achseln. »Nichts lieber als das …«

Er dreht sich um, legt die Hände auf den Rücken, und Sondra lässt die Handschellen zuschnappen.

Angelo kontrolliert, ob sie auch fest verschlossen sind, beugt Jimmy dann sanft über die Theke, schiebt den Mund dicht an sein Ohr und murmelt: »Jimmy, ich muss dir was sagen.«

Leute aus der Notrufzentrale sagten später, dass Evas Schrei draußen vor dem Gebäude zu hören war.

Das mag stimmen oder auch nicht.

Fest steht jedenfalls, dass sie nach dieser Nacht nie wieder lauter als in einem heiseren Flüsterton sprach.

Jimmy rastet aus.

Er schwingt den Kopf wie einen Knüppel, schlägt erst Angelo von sich weg, schwingt dann in die andere Richtung und trifft Wilmer. Er tritt nach hinten aus wie ein Maultier, befördert einen Uniformierten zu Boden.

Dann fängt Jimmy an, mit dem Kopf auf die Theke zu schlagen.

Einmal, zweimal.

Ein drittes Mal.

Mit voller Wucht.

Angelo versucht, ihn an den Schultern zu packen, doch Jimmy schnellt hoch, dreht sich mit blutüberströmtem Kopf um und rammt ihn nach hinten, dass er über einen Tisch rutscht. Flaschen und Gläser fliegen, als Angelo auf den Boden kracht.

Jimmy wirbelt herum und tritt einen Cop in den Bauch.

Dreht sich und verpasst einem anderen einen Rückwärtskick gegen das Knie.

Ein anderer Cop springt vor, um ihn zu packen, doch Jimmy verpasst ihm einen Kopfstoß auf die Nase, und der Cop lässt los.

Harold umklammert Jimmy von hinten, drückt ihm die Arme an den Körper und hebt ihn vom Boden. Jimmy hakt seinen linken Fuß um Harolds Knöchel und presst ihm die rechte Ferse in den Schritt. Harold lässt nicht los, lockert aber seinen Griff so weit, dass Jimmy sich drehen kann, wieder Boden unter die Füße bekommt, den Kopf unter Harolds Kinn schiebt und nach oben drückt. Die meisten Männer würden kapitulieren, ehe er ihnen das Genick bricht, aber Harold gehört nicht zu den meisten Männern, sein Hals ist ein Stiernacken, und er hält durch. »Ich will dir nicht wehtun, Jimmy.«

Jimmy trifft ihn zweimal mit dem Knie in die Eier.

Da sind keine Muskeln.

Harold lässt los.

Jimmy tritt den nächsten Tisch um, noch zwei Stühle, rennt gegen eine Wand, haut den Kopf dagegen, rammt dann mit dem Knie ein Loch in den Putz.

Angelo schlägt ihm mit einem geborgten Gummiknüppel auf den Hinterkopf.

Ein gekonnter routinierter Schlag.

Jimmy rutscht bewusstlos an der Wand runter.

Vier Männer tragen ihn nach draußen und verfrachten ihn auf die Rückbank eines Streifenwagens.

Sie fahren ihn zum 6. Revier und stecken ihn in eine Arrestzelle.

Captain Landreau mag Jimmy McNabb nicht, aber er mag es auch nicht, einen seiner Leute auf dem Boden einer Zelle sitzen zu sehen, den Rücken an die Wand gelehnt.

»Holt ihn verdammt noch mal da raus«, sagt Landreau. »Sofort.«

Sie öffnen die Tür, Jimmy steht auf und geht.

Sein Team wartet auf ihn, aber Jimmy sieht zwei Streifenpolizisten, die mit kreidebleichen Gesichtern auf ein Handy starren. Sie legen es schnell weg, als sie Jimmy sehen.

»Was ist?«, fragt Jimmy. »Was guckt ihr euch da an?«

»Das willst du nicht sehen«, sagt Angelo.

»Was guckt ihr euch da an?«, fragt Jimmy einen der Officer, einen verängstigten Neuling.

Der Neuling antwortet nicht.

»Ich hab gefragt, was ihr euch da anguckt!«

Der Neuling wendet sich Hilfe suchend an Angelo, als wollte er sagen, was soll ich machen? Das ist schließlich Jimmy McNabb, Herrgott noch mal.

»Wieso guckst du ihn an?«, fragt Jimmy. »Ich rede mit dir. Gib mir das Scheißhandy.«

»Das willst du nicht sehen, Jimmy«, sagt Angelo wieder.

»Ich entscheide, was ich sehen will«, sagt Jimmy. Er fixiert wieder den Neuling. »Her mit dem Ding.«

Der Neuling gibt ihm das Handy.

Jimmy sieht den Videoclip und drückt auf »Play«.

Sieht …

Danny schreit sich die Seele aus dem Leib.

Der Stuhl wackelt wie ein Aufziehhase.

»Guckt mal, wie er hoppelt!«, sagt eine Stimme.

Eine andere Stimme: »Heiz ihm noch mal ein.«

»Dann stirbt er vielleicht«, sagt eine dritte Stimme.

»Das soll er nicht«, sagt der zweite Mann. »Noch nicht.«

Eine Lücke im Clip. Ein Schnitt, dann …

Dannys Kinn sackt herab.

Sein Körper ist mit Brandwunden übersät.

Und gebrochen.

Jeder größere Knochen.

»Hast du alles drauf?«, fragt der zweite Mann.

»Das geht viral«, sagt eine neue Stimme.

»Nimm das auch noch auf«, sagt der zweite Typ wieder. »Tee-Ball.«

Ein Baseballschläger kracht gegen Dannys Kopf.

Wieder ein Schnitt, dann …

Dannys verkohlter Körper, die geballten Fäuste zum Gesicht gereckt wie schwarze Krallen, liegt verkrümmt zwischen hohem Gras und Müll am Fluss.

Eine Laufschrift am unteren Bildrand lautet:

OSCAR LÄSST SCHÖN GRÜSSEN.

Jimmy McNabb hat den Ausdruck »gebrochenes Herz« immer für eine Metapher gehalten.

Jetzt weiß er es besser.

Sein Herz ist gebrochen.

Er ist gebrochen.

Sie begraben Danny auf dem Lafayette Cemetery Nummer 1 im Garden District.

Die Aufbahrung war kaum zu ertragen, der Sarg geschlossen.

Eine irische Trauerfeier wird es nicht geben. Niemand möchte lachen und Anekdoten erzählen. Und John McNabb ist bereits betrunken – alles wie gehabt –, bloß wütender, finsterer, verbitterter, sogar schweigsamer.

Er ist kein Trost für seine Frau oder seinen noch lebenden Sohn.

Andererseits gibt es keinen Trost.

Polizisten in Galauniform mit weißen Handschuhen – Jimmy ist einer von ihnen – tragen den Sarg zu Grabe.

Es werden Salutschüsse abgefeuert, der Dudelsack spielt »Amazing Grace«.

Eva weint nicht.

Klein, wie sie ist, jetzt noch kleiner, in Schwarz gekleidet, sitzt sie auf dem Klappstuhl und starrt geradeaus.

Nimmt die zusammengefaltete Flagge entgegen und legt sie sich auf den Schoß.

Jolene hingegen weint, schluchzt mit bebenden Schultern, während sie von ihrer Mutter und ihrem Vater gestützt wird.

Der Dudelsack spielt »Danny Boy«.

Das Haus ist eines dieser schmalen Einfamilienhäuser, wie sie typisch für New Orleans sind, und steht unweit der Kreuzung von Annunciation und Second Street. Ein kleiner Vorgarten, dürres Gras und Erde, liegt hinter einem Maschendrahtzaun, der an dem rissigen Bürgersteig entlangverläuft.

Jimmy geht durch die Haustür ins Wohnzimmer.

Sein Alter sitzt in einem Sessel.

Er hat ein Glas in der linken Hand und starrt aus dem Fenster, ohne seinen Sohn zur Kenntnis zu nehmen.

Sie haben einander nicht mehr viel zu sagen, seit Jimmy etwa achtzehn war, endlich größer als Big John, und seinen stockbesoffenen Alten gegen die Küchenwand stieß und sagte: »Wenn du Mom noch einmal schlägst, bring ich dich um.«

Und Big John lachte und sagte: »Da mach dir mal keinen Kopf. Wenn ich sie noch einmal schlage, bringt sie mich um.«

Wie sich herausstellte, hatte Eva sich eine kleine Glock 19 gekauft und wörtlich zu Big John gesagt: »Wenn du noch einmal die Faust gegen mich erhebst, befördere ich dich ins Jenseits.«

Big John glaubte ihr.

Von da an schlug er nur noch gegen Wände und Türen.

Jetzt geht Jimmy an ihm vorbei, durch das Schlafzimmer seiner Eltern, dann in das Zimmer, das er und Danny sich geteilt hatten.

Verdammt quälend, in dem Zimmer zu sein.

Er muss daran denken, wie er Danny immer die Ohren zuhielt, wenn Big John und Eva sich stritten. Und Danny jedes Mal fragte: »John schlägt Eva wieder, was?«

»Nein«, sagte Jimmy dann. »Die spielen bloß.«

Aber Danny wusste Bescheid.

Jimmy versuchte, ihn zu beschützen, so wie immer, aber davor konnte er ihn nicht beschützen.

Und du konntest ihn nicht beschützen, als er dich am meisten brauchte, denkt Jimmy, während er sich in dem Zimmer umschaut – die alten Baseballhandschuhe, das Jessica-Alba-Poster, bei dem sich an der Ecke das vergilbte Klebeband gelöst hat, das Fenster, durch das er und Danny sich nachts rausschlichen und das Bier tranken, das Jimmy im Park versteckt hatte.

Jimmy geht in die Küche, wo Eva an der Arbeitsplatte steht und ihren starken Zichorienkaffee in einen Becher gießt.

Ein Topf Hühnchen-Gumbo köchelt auf dem Herd.

Jimmy hätte schwören können, dass derselbe Gumbo-Topf auf dem Herd stand, solange er zurückdenken konnte, und dass Eva lediglich von Zeit zu Zeit mehr Wasser und neue Zutaten hineingab.

Sie hat das schwarze Kleid gegen eine dunkelblaue Bluse und Jeans getauscht. Jetzt hält sie Jimmy den Kaffeebecher hin, aber er schüttelt den Kopf.

»Dann einen Drink?«

»Nein.«

»Du musst nach Jolene sehen«, sagt Eva. »Es nimmt sie ganz schön mit.«

»Mach ich.«

Sie mustert ihn von oben bis unten, taxiert ihn lange. Dann sagt sie: »Du bist ein wütender Mann, Jimmy. Du warst ein wütender Junge.«

Jimmy zuckt die Achseln.

Eva hat recht.

»Du hasst, um zu hassen«, sagt sie.

Auch das stimmt, denkt Jimmy.

»Ich hab versucht, den Hass aus dir herauszulieben«, sagt Eva, »aber er hat dich verzehrt. Vielleicht lag es an deinem Vater, vielleicht lag es an mir, vielleicht war es einfach deine Natur, aber ich bin nicht an dich rangekommen.«

Jimmy sagt nichts.

Er kennt Eva gut genug, um zu wissen, dass sie noch nicht fertig ist.

»Danny war nicht so«, sagt sie. »Er war ein liebevoller kleiner Junge, ein liebevoller Mann. Er war der Beste von uns.«

»Ich weiß.«

Ein weiterer langer Blick, ein weiteres Taxieren. Dann umfasst Eva seine Handgelenke. »Ich möchte, dass du alles annimmst, was ich aus dir herauslieben wollte. Ich möchte, dass du deinen Hass annimmst. Ich möchte, dass du deinen Bruder rächst.«

Sie blickt in sein verquollenes, zerkratztes Gesicht.

In seine schwarzen, fast zugeschwollenen Augen.

»Tust du das für mich?«, fragt Eva. »Tu das für mich. Denk an Danny. Denk an deinen kleinen Bruder.«

Jimmy nickt.

»Und bring sie alle um«, sagt Eva. »Bring all die Männer um, die meinen Danny umgebracht haben.«

»Das werd ich.«

Eva lässt seine Handgelenke los.

»Und sorg dafür, dass sie leiden«, sagt sie.

Ihr Unterschlupf und Treffpunkt ist im French Quarter, im ersten Stock eines alten Hauses auf der Dauphine Street.

Die Wohnung gehört einem Typen, der im großen Stil Gras vertickt hat und jetzt acht Jahre in Avoyelles absitzt. Dass er dort gelandet ist und nicht in Angola, wie das Staatsgefängnis von Louisiana genannt wird, hat er McNabb zu verdanken, denn der hat beim Strafrichter, der ihm noch einen Gefallen schuldete, ein gutes Wort für ihn eingelegt.

Das Team kann also eine Wohnung im French Quarter nutzen, nicht weit von den Clubs, den Bars und den Scharen von Touristinnen. Sie haben das in vollen Zügen ausgekostet.

Aber das waren bessere Zeiten.

Jetzt steht Jimmy in der Mitte des Wohnzimmers.

»Auf dem Clip waren vier Stimmen«, sagt er. »Eine davon war offenbar Oscar Diaz. Die anderen drei sind nicht identifiziert.«

»Der Typ, den du in den Fluss geworfen hast, wurde tot aufgefunden«, sagt Angelo. »Kugel in den Hinterkopf. Der bringt uns also auch nicht weiter.«

»Was ist mit den anderen, die wir verhaftet haben?«, fragt Jimmy.

Wilmer ergreift das Wort. Er ist schließlich der Honduraner.

»Einer ist in Orleans erstochen worden«, sagt er und meint das Zentralgefängnis in der Stadt. »Ist verblutet, bevor der Wärter bei ihm war. Die anderen zwei sind auf Kaution frei.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Die sind abgetaucht. Wahrscheinlich mehr auf der Flucht vor Oscar als vor uns.«

»Was ist mit Oscar?«

»Ich hab mich im ganzen Barrio Lampira umgehört«, sagt Wilmer. So wird das größte honduranische Viertel genannt. »Ich war in Saint Teresa’s. Keiner weiß, wo er sich verschanzt hat.«

»Oder sie wissen es und wollen ihn nicht verpfeifen«, sagt Angelo.

Wilmer schüttelt den Kopf. »Nein. Ich war bei Freunden, Verwandten. Die ganze Community ist wütend wegen der Sache mit Danny. Dieses Arschloch Oscar ist neu. Keine Familie, nichts. Keiner kennt ihn richtig.«

»Irgendwer doch«, sagt Jimmy. »Irgendwer kennt irgendwen. Frag noch mal in der Gegend nach. Fühl denen richtig auf den Zahn.«

»Es wird so gut wie unmöglich sein«, sagt Harold, »sie alle vier zu finden.«

»Ich muss nicht alle vier finden«, sagt Jimmy. »Ich muss bloß den Ersten finden.«

Jimmy und Angelo fahren nach Metairie auf der anderen Seite vom Highway 61 in Jefferson Parish.

Ein Stadtteil mit viel Grün.

»Früher hatten Schwarze keine Chance, hier draußen was zu kaufen«, sagt Angelo. »Wenn die nach Metairie gekommen sind, dann bloß, um hier Klos zu putzen.«

»Was hat sich verändert?«, fragt Jimmy.

»Katrina«, sagt Angelo. »Die Leute brauchten Häuser, der Markt konnte nicht widerstehen.«

»Wolltest du denn hier draußen wohnen?«, fragt Jimmy.

»Ums Verrecken nicht.«

»Warum ärgert es dich dann?«

»Tut’s gar nicht«, sagt Angelo. »Ich mach bloß Konversation.«

Angelo biegt von der Northline Street in den Nassau Drive, eine bogenförmige Straße mit weiten Rasenflächen und Swimmingpools, die an den Golfclub grenzt.

Charlie Corellos Haus mit dem roten Ziegeldach steht in Höhe des sechsten Tees. Angelo parkt in der geschwungenen Einfahrt, und sie gehen zur Tür und klingeln. Ein Hausmädchen öffnet und führt sie zum Swimmingpool in einem großen Innenhof.

Mit nacktem Oberkörper, tief gebräunt und dick mit Sonnencreme eingeschmiert, sitzt Corello unter einem Sonnenschirm an einem schmiedeeisernen Tisch, trinkt Eistee und schaut auf seinen Laptop. Er steht auf und legt Jimmy eine Hand auf die Schulter. »Mein Beileid, Jimmy.«

»Danke.«

»Setzt euch.« Er deutet auf zwei Stühle. »Schön, dich zu sehen, Angelo. Wollt ihr irgendwas?«

»Nein, danke.«

Das dichte Haar auf Charlies Kopf und Brust ist jetzt schneeweiß, und er hat ein paar Pfund zugelegt, seit Jimmy ihn das letzte Mal gesehen hat, vor vielleicht fünf Jahren. Charlies Großvater kontrollierte früher ganz New Orleans. Ach was, er kontrollierte ganz Louisiana. Ehrlich gesagt kontrollierte er einen großen Teil der USA.

Manche behaupten, Charlies Großvater habe den Präsidenten ermorden lassen.

Die Corello-Familie ist nicht mehr das, was sie mal war, aber Charlie hat noch immer jede Menge Einfluss in New Orleans. Drogen, Prostitution, Erpressung, Schutzgeld – die üblichen Mafia-Geschäfte.

Alle bezahlen sie dafür, dass Charlie unter einem Sonnenschirm am Golfclub sitzen kann.

»Wie verkraftet Eva es?«, fragt Charlie.

»Wie zu erwarten.«

»Grüß sie von mir.«

»Mach ich.«

»Was kann ich für euch tun?«, fragt Charlie.

»Machst du mit irgendwelchen Honduranern Geschäfte?«, fragt Jimmy.

»Das hier ist nur unter uns, ja?«, fragt Charlie. »Ich muss euch ja wohl nicht abklopfen, ob ihr Mikros tragt?«

»Du kennst mich doch.«

Das stimmt. Charlie und er haben miteinander Geschäfte gemacht, damals, als Jimmy Streifencop war, und später, als er Zivilfahnder bei der Sitte war. Jimmy bekam zu Weihnachten einen Umschlag, Charlie sorgte dafür, dass seine Leute bei den Mädels nicht brutal wurden oder Drogen an Kids verkauften.

Sie hielten beide Wort.

Jimmy hat keinen Umschlag mehr angenommen, seit er im Drogendezernat ist, und er hat ein paar von Charlies Geschäftspartnern hochgehen lassen, aber er hat nie Ermittlungen bis nach Metairie verfolgt.

»Ich kaufe Ware bei einigen Honduranern«, sagt Charlie, »aber nicht bei diesem Schwanzlutscher Diaz.«

»Du weißt also nicht, wo er zu finden ist?«

»Ich setz meine Leute drauf an«, sagt Charlie, »und wenn sie was rausfinden, erfährst du es als Erster.«

»Ich danke dir«, sagt Jimmy. »Aber eines muss ich dir sagen. Ich werde die Drogenhandel-Community ordentlich unter Druck setzen, und diesmal gehe ich jeder Spur nach, egal, wohin sie mich führt, auch nach Jefferson Parish. Capisce, Carlo?«

»Droh mir nicht, Jimmy«, sagt Charlie. »Wir kennen uns schon lange, unsere Väter vor uns. Komm als Freund zu mir.«

»Als Freund«, sagt Jimmy, »in dem Raum waren vier Männer. Nenn mir nur einen davon.«

Charlie trinkt einen Schluck Tee und schaut lange auf den Golfplatz, wo gerade vier betrunkene weiße Männer über das sechste Grün trampeln. Dann sieht er wieder Jimmy an und sagt: »Du kriegst von mir einen Namen.«

Wilmer und Harold marschieren mit gezückten Dienstmarken in den kleinen Club im Barrio Lempira.

Rund ein Dutzend Leute sitzt mitten am Tag an der Bar oder an Tischen. Überwiegend Männer, alles Honduraner, keiner von ihnen froh, die Polizei zu sehen.

»Guten Tag!«, sagt Wilmer. »Ihre Polizei stattet Ihnen einen freundlichen Besuch ab.«

Aufstöhnen, Flüche.

Ein Mann will zum Hinterausgang stürzen, aber Harold ist schnell, trotz seiner Größe. Er kriegt ihn hinten am Hemd zu fassen, packt ihn und drückt ihn gegen die Wand.

»Leert eure Taschen!«, sagt Wilmer. »Legt alles auf die Theke oder Tische! Wenn wir bei einem von euch noch irgendwas finden, stopfen wir es ihm entweder ins Maul oder in den Arsch, je nachdem, wonach mir gerade ist! Háganlo!«

Hände greifen in Taschen, kommen mit zerknüllten Geldscheinen heraus, mit Kleingeld, Schlüsseln, Handys, kleinen Tütchen Gras, Pillen, einer Nadel, einem Löffel.

Harold tastet seinen Mann ab, findet ein Springmesser und ein Tütchen Marihuana, eine Rolle Geldscheine und etwas Crystal. »Sieh einer an, was haben wir denn da?«

»Das gehört mir nicht.«

»Und das ist das erste Mal, dass ich das zu hören kriege.« Er zieht ein Portemonnaie aus der Gesäßtasche des Mannes und findet einen Führerschein. »Wenn ich eine Personenabfrage mache, Mendez, Mauricio, finde ich dann einen ausstehenden Haftbefehl gegen dich? Lüg mich nicht an.«

»Nein.«

»Ich hab gesagt, lüg mich nicht an.«

Der Barbesitzer hinter der Theke wirft Wilmer einen bösen Blick zu.

Wilmer sieht es. »Was glotzt du mich so an, cabrón? Hast du mir was zu sagen?«

Der Besitzer knurrt etwas von wegen »deine eigenen Leute«.

Wilmer geht zu ihm, packt ihn vorne am Hemd und zieht ihn halb über die Theke. »Damit eins klar ist. Ihr seid nicht meine Leute. Meine Leute haben Jobs. Die sind jetzt bei der Arbeit, statt sich am helllichten Tag in einem Drecksloch von Bar zu besaufen.«

Er zieht den Besitzer noch näher. »Hast du sonst noch was zu lallen, Boss, oder willst du deine Zähne im Mund behalten?«

Der Besitzer schaut nach unten auf die Theke.

Wilmer beugt sich zu ihm und flüstert: »Jeden Tag, cabrón. Ich komme jeden Tag wieder, bis diese cucarachas hier nicht mehr aufkreuzen. Brandschutzkontrolleure, Lebensmittelkontrolleure, die werden auch jeden Tag herkommen, und ein Zwanziger wird sie nicht davon abhalten, dir das Leben schwer zu machen.«

»Was willst du, Geld?«

»Du willst wohl, dass ich dir eine klatsche, was?«, sagt Wilmer. »Ich will kein Geld, cabrón, ich will Namen. Ich will den Namen von jedem, der Oscar Diaz kennt oder der irgendwen kennt, der irgendwen kennt, der ihn kennt.«

Er lässt den Besitzer los und wendet sich einem jungen Burschen zu, der auf einem Hocker sitzt. »Ich werde dich jetzt durchsuchen, m’ijo.«

»Ich bin nicht Ihr Sohn.«

»Woher willst du das wissen?«, sagt Wilmer. »Ich komm viel rum. Hände auf die Theke.«

Der Bursche tut wie geheißen. Wilmer klopft ihn ab und findet ein Tütchen Gras in seiner Jeanstasche. »Was hab ich vorhin gesagt? Hä? Was hab ich gesagt?«

Wilmer rupft das Gras aus dem Tütchen und hält es dem Jungen vor den Mund. »Guten Appetit.«

Der Bursche schüttelt den Kopf und presst die Lippen aufeinander.

»Willst du es lieber in den culo haben?«, fragt Wilmer. »Mach ich gern. Und dann buchte ich dich ein. Jetzt iss.«

Der Junge stopft sich das Gras in den Mund.

Wilmer wendet sich an die anderen. »Steckt eure Schlüssel und euer Geld wieder ein! Alles andere gehört jetzt mir. Ihr habt gehört, was mit dem jungen Officer passiert ist. Das ist eine Schande für meine Community. Also nennt mir gefälligst Namen. Sonst habt ihr bald keine Anlaufstelle mehr, wo ihr mitten am Tag hinkönnt. Egal, wo ihr hingeht, ich werde da sein!«

Harold fragt: »Was willst du mit dem hier machen?«

»Festnehmen.«

Sie schleifen den Typen zum Wagen und stoßen ihn auf die Rückbank. Harold macht eine Personenabfrage, und die ergibt ausstehende Haftbefehle wegen Verletzung von Bewährungsauflagen und Drogenhandel. »Hab ich dich nicht gewarnt, mich anzulügen?«

»Okay, es gibt Haftbefehle gegen mich«, sagt Mauricio.

»Das ist jetzt dein geringstes Problem«, sagt Wilmer. »Wir bringen dich nämlich zu Jimmy McNabb.«

Die zwei Autos parken in einer Seitenstraße in Algiers.

Jimmy hat Mauricio gegen den vorderen Kotflügel gedrückt.

Angelo sitzt auf der Haube und schaut sich Mauricios Handy an. »Wie ist dein Passcode?«

»Den muss ich euch nicht verraten«, sagt Mauricio. »Ich kenne meine Rechte.«

»Der Mann kennt seine Rechte, Jimmy«, sagt Angelo.

»Erzähl mir mehr«, sagt Jimmy zu Mauricio.

»Hä?«

»Über deine Rechte«, sagt Jimmy. »Erzähl mir, welche du noch hast.«

»Ich hab das Recht, zu schweigen …«

»Und …«

»Ich hab das Recht auf einen Anwalt«, sagt Mauricio. »Wenn ich mir keinen leisten kann, wird mir einer zugewiesen.«

»Kannst du dir einen leisten?«, fragt Jimmy.

»Nein.«

»Dann weise ich mich dir zu«, sagt Jimmy. »Und als dein Anwalt rate ich dir, uns deinen Passcode zu geben, bevor ich Harold da sage, er soll deine Hand in die Autotür halten, während ich sie zuknalle. Hör auf meinen Rat, Mauricio.«

»Das könnt ihr nicht machen.«

»Mit welcher Hand holst du dir einen runter, Mauricio?«, fragt Angelo. »Sag ihm auf jeden Fall, es ist die andere, weil er das wirklich machen wird.«

»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs«, sagt Mauricio.

»Ernsthaft?«, fragt Jimmy.

»Leicht zu merken.«

»Das nervt mich so an euch Meth-Junkies«, sagt Jimmy. »Dass ihr alle so saublöd seid.«

»Es funktioniert«, sagt Angelo. Er scrollt durch das Handy. »Anscheinend ist Mauricios superschlaues Codewort für Meth ›taquitos‹. ›Ich hab das dinero. Komme mir ein Tütchen taquitos holen‹.«

»Ich hab ein bisschen Hunger. Ich könnte ein paar taquitos vertragen«, sagt Jimmy. »Mauricio, du hast doch nichts dagegen, dass wir deinem Dealer simsen und ein Treffen vereinbaren, oder? Das würde deine Rechte nicht verletzen?«

Mauricio schmollt: »Ich hab ja wohl keine Wahl.«

Angelo sagt: »Der Typ hat zurückgeschrieben ›üblicher Treffpunkt‹. Wo ist das?«

Mauricio antwortet nicht.

»Mach mal die Autotür auf«, sagt Jimmy.

Mauricio nennt ihm eine Adresse auf der Slidell Street in Algiers.

»Und einen Namen«, sagt Jimmy.

Fidel.

Auf der Fahrt rüber nach Algiers klingelt Jimmys Telefon.

»McNabb.«

»Du kennst mich nicht«, sagt der Mann. »Ich bin einer von Charlies Leuten. Der Typ, den ihr sucht, heißt José Quintero. Er war dabei.«

»Kannst du mir sagen, wo er ist?«

»Sorry, nein.«

»Sag Charlie, ich danke ihm«, sagt Jimmy. »Als Freund.«

Wilmer klopft an Fidels Tür.

»Quién es?«

»Mauricio.«

Es wird aufgemacht, aber die Kette bleibt vorgelegt.

Harold tritt die Tür auf.

Jimmy geht hinein, während Fidel, der auf dem Rücken gelandet ist, aufzustehen versucht. Jimmy lässt ihn nicht, sondern tritt ihm mit voller Wucht gegen das Kinn, was ihn wieder niederstreckt.

Und ausknockt.

Als Fidel zu sich kommt, sieht er Jimmy und Wilmer auf dem Sofa sitzen und sein Bier trinken. Angelo steht zwischen ihm und dem Nachbarzimmer, Harold versperrt die Wohnungstür.

Eine Pistole – eine uralte .25er – liegt auf dem Couchtisch.

»Wird auch Zeit, dass du aufwachst«, sagt Jimmy. »Du hast hier so viel Meth, das bringt dir garantiert fünfzehn bis dreißig Jahre ein. Aber du bist außerdem keine zwei Blocks von einer Grundschule entfernt, Fidel, also blüht dir lebenslänglich. Ohne Aussicht auf Bewährung.«

»Ihr habt mir den Scheiß untergeschoben!«

»Ja, damit würd ich’s auch versuchen«, sagt Jimmy. »Mal sehen, was die Geschworenen dazu sagen. Oder aber wir spazieren hier einfach wieder raus und tun so, als wäre diese ganze unangenehme Geschichte nie passiert.«

»Was wollt ihr?«, fragt Fidel.

»José Quintero.«

»Ich geh in den Knast.«

»Weißt du, was? Genau das hab ich mir gedacht«, sagt Jimmy. »Dass du mehr Angst davor hast, was Oscar dir oder deiner Familie oder wem auch immer antun könnte. An der Pistole auf dem Tisch sind schon deine Fingerabdrücke. Ich jag dir eine Kugel in den Kopf und drück die Knarre in deine kalte, tote Hand.«

»Sie bluffen.«

»Ich bin Danny McNabbs Bruder.«

Fidels Augen weiten sich.

»Ja, den Namen kennst du«, sagt Jimmy. »Glaubst du noch immer, dass ich bluffe?«

»Ich schwöre«, sagt Fidel. »Ich hab Ihren Bruder nicht angerührt. Ich hab bloß die Kamera gehalten.«

»Mehr hast du nicht gemacht?«, fragt Jimmy. »Du blöder Scheißkerl, ich wusste nicht, dass du dabei warst!«

»Ich schwöre!«

»Tja, wenn das alles ist, was du gemacht hast«, sagt Jimmy, »verrat mir einfach, wo ich Quintero finden kann.«

Fidel sagt es ihm.

Jimmy nimmt die .25er vom Tisch und schießt Fidel in den Kopf.

»Wieder mal ein Drogendeal, der schiefgegangen ist«, sagt Jimmy.

Sie verlassen das Haus.

Einer erledigt.

Jolene wohnt auf der Constance Street in Channel, in Fußnähe zu dem Krankenhaus, wo sie arbeitet. Sie kommt im Morgenrock an die Tür, trocknet sich mit einem Handtuch die nassen Haare.

Sie ist eine klassische Cajun – langes, glänzendes schwarzes Haar, Augen, von denen Jimmy schwört, dass sie violett sind.

So schön, wie Jimmy sie in Erinnerung hat.

»Ich hab gerade geduscht«, sagt sie. »Komm rein.«

Jimmy tritt ins Haus.

Der vordere Raum ist eine kleine Küche.

»Eva hat mich gebeten, bei dir vorbeizuschauen«, sagt Jimmy, »und zu fragen, wie es dir geht.«

Sie lacht. »Was glaubst du wohl, wie es mir geht? Ich bin ein Wrack. Ich bin am Boden zerstört. Willst du einen Drink oder so?«

»Es ist zehn Uhr morgens.«