Brot und Milch - Karolina Ramqvist - E-Book

Brot und Milch E-Book

Karolina Ramqvist

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Beschreibung

Was hat Essen mit Verletzlichkeit und unserer Fähigkeit zu lieben zu tun? Eine Frau erinnert sich an die Mandarinen, die sie als kleines Mädchen eine nach der anderen fast wie in Trance vor der geschlossenen Schlafzimmertür ihrer Mutter verspeiste. Sie erinnert sich an den buttrigen Milchreis, den ihre Großmutter kochte. Und an den Teller Pfannkuchen auf dem großen weißen Tisch, der sie wissen ließ, dass sie die Nacht wieder allein verbringen müsste. In ihren sinnlichen, kraftvollen und meditativen Reflexionen schafft Karolina Ramqvist eine suchende Erzählung darüber, was Essen mit Verletzlichkeit, dem Erbe von Müttern und Töchtern und unserer Fähigkeit zu lieben zu tun hat. Eine komplexe, persönliche und zugleich zutiefst universelle Geschichte darüber, dass uns das, was uns zu erfüllen vermag, auch verzehren kann. Mit Karolina Ramqvist ist eine der wichtigsten schwedischen Gegenwartsautorinnen endlich auf Deutsch zu entdecken. »Ein einzigartiges Buch, das trotz seines ernsten Themas das Leben feiert.« Dagens Nyheter »Karolina Ramqvists Buch über die problematische Beziehung eines jungen Mädchens zum Essen ist auch die zutiefst originelle Chronik einer Familie.« Norra Skåne

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Karolina Ramqvist

Brot und Milch

Roman

 

Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein

 

Über dieses Buch

 

 

Eine Frau erinnert sich an die Mandarinen, die sie als kleines Mädchen eine nach der anderen fast wie in Trance vor der geschlossenen Schlafzimmertür ihrer Mutter verspeiste. Sie erinnert sich an den buttrigen Milchreis, den ihre Großmutter kochte. Und an den Teller Pfannkuchen auf dem großen weißen Tisch, der sie wissen ließ, dass sie die Nacht wieder allein verbringen müsste. In ihren sinnlichen, kraftvollen und meditativen Reflexionen schafft Karolina Ramqvist eine suchende Erzählung darüber, was Essen mit Verletzlichkeit, dem Erbe von Müttern und Töchtern und unserer Fähigkeit zu lieben zu tun hat. Eine komplexe, persönliche und zugleich zutiefst universelle Geschichte darüber, dass uns das, was uns zu erfüllen vermag, auch verzehren kann. Mit Karolina Ramqvist ist eine der wichtigsten schwedischen Gegenwartsautorinnen endlich auf Deutsch zu entdecken.

»Ein einzigartiges Buch, das trotz seines ernsten Themas das Leben feiert.« Dagens Nyheter

»Karolina Ramqvists Buch über die problematische Beziehung eines jungen Mädchens zum Essen ist auch die zutiefst originelle Chronik einer Familie.« Norra Skåne

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Karolina Ramqvist, geboren 1976, ist in Schweden eine der einflussreichsten Autorinnen ihrer Generation, deren umfassendes Werk internationale Beachtung gefunden hat. Sie wurde unter anderem mit dem Per-Olov-Enquist-Preis ausgezeichnet. Sie lebt in Stockholm.

 

Ursel Allenstein, 1978 geboren. Studium der Skandinavistik, Germanistik und Anglistik in Frankfurt und Kopenhagen. Sie ist Übersetzerin aus dem Schwedischen und Dänischen. 2011 erhielt sie den Hamburger Förderpreis für literarisches Übersetzen.

Inhalt

[Widmung]

Essen ist Liebe. [...]

Sie haben gesagt, [...]

Der große weiße [...]

Bei sich zu [...]

Mit dem großen [...]

Jetzt legte ich [...]

In meiner Erinnerung [...]

Ich hörte nicht [...]

Anfangs fragten sie [...]

Ich fragte mich, [...]

Meine Großmutter aß [...]

Manchmal ertappe ich [...]

Ich weiß nicht, [...]

Das dritte Kochbuch, [...]

Das nächste Mal [...]

Für mich spielte [...]

Meinen Vater hatte [...]

Ich hatte nicht [...]

Als ich am [...]

Genau wie bei [...]

Meine Kindheit hörte [...]

Sie hatte immer [...]

Manchmal denke ich [...]

Es heißt, Erinnerung [...]

Sie sagten mir, [...]

Sie haben mir [...]

Für meine Familie

Essen ist Liebe. Das höre ich ständig und immer öfter, und ich weiß, es ist wahr. Für mich hieß das aber auch: Liebe ist Essen.

Den Satz habe ich so ähnlich auch von einer Freundin gehört, einer ehemaligen Anorektikerin, die ich gemeinsam mit anderen Freundinnen vor vielen Jahren einmal zu mir nach Hause eingeladen hatte. Mein großer weißer Esstisch war mit bunt zusammengewürfeltem Porzellan und einem alten Besteck gedeckt, nach dem ich lange gesucht hatte. Der Tisch stand mitten in meiner damaligen Einzimmerwohnung, und die Freundin ließ den Blick über alles schweifen, was ich aufgetischt hatte. Ein dickes Stück Parmesankäse, warmer Broccoli mit Knoblauch und Zitrone, gegrillte Artischocken in der weißen Soufflé-Form aus den Achtzigern, die meine Mutter mir vermacht hatte, eine Platte mit grünen Bohnen, eine Schüssel voll zarter grüner Salatblätter und fein gehobeltem Fenchel und inmitten von alledem eine tiefe Keramikschale, in die ich gerade dampfend heiße Spaghetti all’arrabbiata mit Basilikumblättern und Fetzen halb geschmolzenen Büffelmozzarellas geben wollte.

Ich hatte zwei Flaschen Wein geöffnet und zwei Wasserkaraffen herausgestellt, dazu das Brot, das ich am Morgen in meinem Gasofen gebacken hatte, nur grob vorgeschnitten, damit die Gäste sich Stückchen davon abzupfen und in Olivenöl mit Salzflocken tunken konnten.

Meine Freundin betrachtete das alles und lächelte.

Du zeigst deine Liebe durch Essen, sagte sie wörtlich.

Ich wurde still und senkte den Blick. Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen, schaute nur auf die vielen Speisen und fühlte mich dumm, weil ich so noch nie darüber nachgedacht hatte. Zumindest hatte ich es nie so in Worte gefasst wie sie; es war, als wäre sie frei, alles zu sagen. Ich hatte noch nie mit jemandem über mein Verhältnis zum Essen gesprochen und es auch mir selbst gegenüber nie formuliert, und es beschämte mich, dass es für einen anderen Menschen derart offensichtlich war.

 

Im Nachhinein denke ich, sie wollte an diesem Abend vielleicht einfach nur auf die Vielfalt der sogenannten Sprache der Liebe hinaus; wie unterschiedlich wir den Menschen, die wir lieben, zeigen, dass wir sie lieben.

Möglicherweise hatte sie mich aber auch durchschaut. Denn sie wusste ja, welche Bedeutung und Funktion Essen haben kann, und ich glaube, erst dank ihrer Worte hatte ich kurz darauf einen so klaren Blick auf mich selbst. Und auf die Situation, als ich meiner Tochter einen Milchreisauflauf gekocht hatte und mit mir selbst und all meiner Unzulänglichkeit und Schwäche konfrontiert worden war, mit all dem, was ich nicht tun oder sagen konnte.

Es kommt mir manchmal so vor, als hätte ich mich direkt danach an andere Menschen mit ähnlichen Problemen gewandt, bei ihnen Hilfe gesucht. Dabei dauerte es viel länger. Die Erinnerung trügt. Es ist schwierig, sich an das eigene Leben zu erinnern. Es ist schwierig, die richtige Reihenfolge im Kopf zu behalten, und ich weiß eigentlich nicht einmal, wie die Sache mit dem Essen genau anfing und warum.

Die Menschen, bei denen ich Hilfe suchte, sagten, es könne schon mit der allerersten Nahrungsaufnahme anfangen. Mit der Milch, die so fett und süßlich ist, die das Neugeborene sättigt und beruhigt und seinen Schmerz lindert. Denn möglicherweise wollen wir an diesen Punkt zurück, wollen in den Armen eines anderen Menschen liegen und von ihm trinken. Man könnte meinen, es wäre einfach, von einem »Wir« zu sprechen, weil wir alle zum Überleben auf Nahrung angewiesen sind. Aber Menschen sind so verschieden. Überall sehe ich die Liebe zum Essen, ganz unkompliziert und genussvoll, und trotzdem frage ich mich, ob nicht doch jemand so ist wie ich.

Sie haben gesagt, ich müsse meine Geschichte erzählen, das sei der einzige Weg, davon loszukommen. Nicht, dass meine Geschichte so besonders wäre, sie fordern jeden dazu auf. Es gehört zu ihren Leitsätzen. Wenn sie darüber reden, klingen sie wie trockene Alkoholiker oder Ex-Junkies, und viele von ihnen sind genau das; ehemalige Süchtige, die mit dem Trinken oder mit den Drogen aufgehört und stattdessen mit dem Essen angefangen haben.

Aber ich weiß nicht, wie ich erzählen soll, was Essen für mich war. Ich fürchte, ich habe keine Sprache dafür. Ich glaube, diese Erzählung wird mich nicht so befreien, wie sie glauben, befreit worden zu sein, und ich will vor allem keine schöne Geschichte daraus machen.

Tu es trotzdem, sagen sie.

Also versuche ich es.

 

Ich sehe eine Mandarine vor mir.

Das ist das Erste. Die Mandarinen. Winter, Zitrusfrüchte-Saison, ich muss ungefähr drei Jahre alt gewesen sein. Es war mitten am Tag, draußen war es noch hell, und auf dem großen weißen Tisch lagen die Mandarinen, vielleicht dreizehn, vielleicht auch mehr, aber dreizehn ist die Zahl, die ich seither nicht mehr aus dem Kopf bekomme. Sie leuchteten flammend orange in unserer sonst weißen Küche.

Ich war allein dort, auf dem Boden vor dem Tisch, in der Wohnung war es still. Meine Mutter arbeitete in ihrem Zimmer, wie immer am Wochenende, wenn keine ihrer Freundinnen vorbeikam, um Kaffee zu trinken oder um den nahe gelegenen See zu spazieren. Ich erinnere mich daran, wie ich auf einen der Stühle kletterte, über die weiße Tischplatte nach einer Mandarine griff, sie in die Hand nahm. Ich hielt meine Nase daran, sog den Duft ein, streckte meine Zungenspitze hinaus und streifte die glatte Schale. Sie war so bitter, dass meine Zunge zurückschnellte wie ein kleines Tier in seine Höhle. Dann grub ich meine Nägel in die Mandarinenschale und roch die herben Aromen der austretenden Feuchtigkeit. Erst pulte ich ein Stückchen Schale ab, um die nackte, saftige Frucht darunter zu fühlen, dann einen langen Streifen. Und noch einen, und dann noch einen. Als ich die Schale komplett entfernt hatte, löste ich zwei zusammenhängende Spalten heraus, die aussahen wie aufeinandergelegte Lippen. Ich trennte sie voneinander, zupfte das dünne weiße Netz ab, das sie umspannte, legte mir eine der Spalten zwischen die Zähne und biss zu, so dass der Saft herausspritzte, kühl und erfrischend. Die Süße erfüllte nicht nur meinen Mund, sondern mein ganzes Ich, die ganze Küche, in der ich saß.

Ich kaute und schluckte, schob mir das zweite Stück in den Mund und biss zu, betastete die Fasern des Fruchtfleisches mit der Zunge, wühlte mit der Zungenspitze nach Resten in der Haut und saugte sie aus, ehe ich eine weitere Spalte nahm und die Prozedur wiederholte, und dann noch eine. Ich kaute, verschluckte mich an dem Saft und musste husten und mich räuspern, doch dann aß ich weiter, und nachdem ich die erste Mandarine ganz verspeist hatte, streckte ich mich über den großen weißen Tisch nach der zweiten.

Etwas Neues, Unbekanntes zitterte und brannte in mir. Ich aß eine Mandarine nach der anderen, und als keine mehr übrig war, verschwand der Rausch genauso schnell, wie er gekommen war. Eine große Farblosigkeit und Mattheit befielen mich. Ich starrte vor mich auf den Tisch, der auf einmal so anders aussah, dort, wo gerade noch die vielversprechenden runden Früchte gelegen hatten, war nur noch ein unordentlicher Schalenhaufen. Meine Finger waren klebrig, eine frische Zitruswolke umhüllte mich. Noch immer war ich allein in der Küche. Ich hatte eine Mandarine probieren wollen und dann alle auf einmal gegessen. Ich ganz allein hatte das getan, und trotzdem konnte ich mir kaum erklären, wie es dazu gekommen war.

Am anderen Ende der Wohnung wurde plötzlich die Zimmertür geöffnet. Hastig sammelte ich die Schalen ein und kletterte vom Stuhl, um sie irgendwie loszuwerden. Meine Mutter hatte so glücklich ausgesehen, als sie mit der Einkaufstüte nach Hause gekommen war. Sie hatte erklärt, Mandarinen gehörten zum Winter, und ich würde sie bestimmt mögen. Ein Streifen Schale landete auf dem Boden, und als ich mich umdrehte, sah ich, dass ich noch weitere verloren hatte, meine Hände waren einfach zu klein. Meine Mutter trat mit ihrer Teetasse in die Küche. Zu Hause trank sie immer Tee.

Was hast du gemacht?, fragte sie. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, versuchte nur, die Mandarinenschalen zu beseitigen, die wie eine Spur hinter mir auf dem Boden lagen. Hast du etwa alle Mandarinen aufgegessen?

Ich konnte nichts sagen.

Sie sah mich an, und als ich noch immer nichts sagte, bückte sie sich, hob die restlichen Schalen auf und warf sie in den Müll, ehe sie die Kanne von der Arbeitsfläche nahm, um sich Tee nachzuschenken.

Ich ging in mein Zimmer, um mit meinen Dosen zu spielen. Wenn man den Deckel öffnete und die Nase hineinsteckte, hingen noch die Aromen von Teeblättern darin, Jasmin, Zitrone, Muskattraube und Osmanthus. Meine Mutter hatte mir alle Düfte und Namen beigebracht, das schien ihr zu gefallen, aber gleichzeitig bemerkte ich bei ihr auch eine Irritation darüber, wie intensiv ich bestimmte Düfte wahrnahm und wie mich manche Gerüche, die anderen nichts ausmachten, in die Verzweiflung treiben konnten.

Ich reihte die Teedosen hintereinander auf, baute erst eine Mauer und dann einen Turm damit. Nach einer Weile spürte ich einen Juckreiz, es kribbelte und kratzte an meinen Beinen und an der Innenseite meiner Oberschenkel, und als ich meine dicke Strumpfhose auszog, um besser an die juckenden Stellen heranzukommen, entdeckte ich große rosarote Flecken, die sich auf meiner Haut ausgebreitet hatten. Meine Nägel hinterließen lange weiße Striemen, das Kratzen tat gut, aber je mehr ich kratzte, desto schlimmer wurde das Jucken, ich spürte es jetzt auch am Hals, an den Armen und an den Händen.

Ich schälte mich aus dem Pullover, zog mich bis auf die Unterhose aus, ich kratzte weiter, es wurde immer schlimmer. Als ich es nicht mehr aushielt und nicht wusste, was ich noch tun sollte, rannte ich durch den Flur zu meiner Mutter, obwohl ich wusste, dass ich sie nicht stören durfte. Ich ging über ihren dicken weißen Teppich in ihre Richtung, sie saß gebeugt am Schreibtisch, vor sich die Schreibmaschine und all ihre Papiere neben einem Teller mit ein paar Kekskrümeln und ihrer Tasse, die innen dunkel war vom Tee. Mama, sagte ich, und sie brummelte irgendetwas, ohne den Blick von ihrer Arbeit zu heben. Ich stellte mich direkt hinter sie und brach in Tränen aus, vielleicht zwang ich sie auch absichtlich hervor, um auf mich aufmerksam zu machen und ihr zu zeigen, dass ich einen guten Grund hatte, sie beim Schreiben zu stören.

Sie schnellte mit dem Stuhl herum, erschrak, als sie meinen Ausschlag sah, und stand sofort auf. Ihr besonderer Duft und ihre Wärme umhüllten mich, als sie mich hochnahm, in ihr Bett legte und sich neben mich setzte. Ich liebte all ihre Gerüche. Im Winter, wenn sie sich mit der Kälte mischten, waren sie am schönsten, und ich sehnte mich immer danach; Leder, Zigarettenrauch, das Parfüm, das in ihrem Wolfspelzmantel hing, wenn sie mich abholte, die Gerüche ihrer Haut und ihres Körpers, wenn sie zu Hause war. Ich betrachtete uns im Spiegel neben dem Schreibtisch, in dem sie sich immer ansah, bevor sie ausging. Was ist das, fragte sie mit einer Stimme, die anders klang als sonst, unsicher und ein wenig schrill statt tief und sanft. Was hast du gemacht? Sie starrte auf den Ausschlag, und ich erinnere mich, dass es mir so vorkam, als würde ich meinen eigenen Körper verlassen, als würde auch ich mich nur noch von außen sehen, genau wie sie.

Sie legte die Hand auf meine Stirn und sagte, ich hätte Fieber, und dann hob sie das große schwere Telefon vom Boden auf ihren Schoß, es gab ein leises, schepperndes Schrillen von sich. Aus dem Stapel unter ihrem Nachttisch zog sie ein Telefonbuch hervor, legte es neben sich auf das Bett, suchte eine Nummer heraus und wählte sie. Dann setzte sie sich mit dem Hörer in der Hand neben mich, die Telefonschnur ringelte sich an ihren nackten Beinen hinab nach unten, ihre Haut war warm und sommersprossig, und ihr Geruch umgab sie wie ein ganz eigener Raum, den ich so gern betreten und nie wieder verlassen hätte. Den ganzen Vormittag über hatte sie in dem langen T-Shirt gearbeitet, in dem sie auch schlief, und keine Zeit gehabt, sich etwas Ordentliches anzuziehen. Sie hatte auch eine andere Arbeit, am Wochenende widmete sie sich ihrer Nebentätigkeit. Das andere war ihr Brotjob, wie sie es nannte.

Ich wälzte mich auf dem Bett zwischen den Decken, während sie mit jemandem telefonierte, der ihr Fragen stellte und dem sie Fragen stellte, wie es dazu kommen könne, ob es gefährlich sei, was man dagegen tun müsse. Dann ging sie in die Küche und holte eine Salbe aus der Hausapotheke im Putzschrank. Nachdem sie all meine juckenden Quaddeln eingecremt hatte, strich sie mir über das Haar und sang mir etwas vor, bis ich einschlief.

 

Im Nachhinein kann ich mich nicht erinnern, dass sie wütend gewesen war, weil ich alle Mandarinen aufgegessen und so das Nesselfieber ausgelöst hatte. Ich erinnere mich nur an den Geschmack, die Süße in meinem Mund, wie sehr sie mich überwältigte. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich vom Essen verwandelt wurde, aber sicher bin ich mir nicht. Es taucht nur als Erstes in meinem Gedächtnis auf, wenn ich mich erinnere, und ich weiß, die eigene Erinnerung ist unzuverlässig und subjektiv. Es ist eben nur eine Erinnerung – ein Widerschein oder Echo vergangener Zeiten, ein Bild oder eine Szene, die mit jeder Vergegenwärtigung weiter verzerrt wird.

Der große weiße Tisch ist für eine große Familie oder viele Gäste gedacht, aber meistens habe ich allein daran gesessen. Es ist ein Tisch für ein geräumiges Esszimmer, aber meine Mutter und ich hatten kein Esszimmer, und heute habe ich auch keins. Er steht in meinem Wohnzimmer, ringsherum die acht weißen Stühle, genau wie früher. Zwei davon sind inzwischen kaputt, und an einer Stelle hat die Tischplatte eine kleine Macke, als wäre etwas Schweres draufgefallen. Ansonsten sieht er genauso aus wie damals, als ich ein Kind war.

Meine Mutter hatte ihn mitgenommen, als sie kurz nach meiner Geburt meinen Vater verließ. Der Tisch stand vor dem Fenster in unserer Küche, die lang, schmal und dunkel war, und morgens frühstückte ich immer dort. An die weiß gestrichene Wand darüber hatte meine Mutter ein großes Poster mit einem fotografischen Stillleben von einem Tisch gehängt, auf dem Tisch lag Gemüse, Licht fiel darauf, die Konturen schimmerten, es sah so echt aus und war gleichzeitig so schön; unterschiedliche Kürbisse, Schwarzwurzeln, Rote Bete und ein großer glänzender Kohlkopf mit zusammengepressten Blättern, deren Adern sich genauso abzeichneten wie die unter meiner Haut.

Auf der anderen Seite der Küche war die Wand kahl, in der Mitte befand sich das Fenster, durch die halb heruntergelassenen Jalousien konnte man die schmale Straße und den Spielplatz sehen, die Autos und Häuser, alle aus grobkörnigem grauen Beton, der glitzerte, wenn die Sonne darauffiel. Ich sah die braunen Dornenhecken vor dem Fenster und spürte die Säure der Blätter auf der Zunge, sobald ich an sie dachte. Meine Oma hatte mir erklärt, wie man sie abzupfen und kauen konnte. Sie hatte mir auch den Kerbel gezeigt, der in großen Büscheln hinter dem Haus wucherte und dessen Lakritzgeschmack mich an das Kaugummipapier erinnerte, das ich gern von der Straße aufhob, um daran zu riechen. Außerdem hatte sie mir verraten, wo die Hagebutten und kleinen harten Äpfel wuchsen, die noch aus der Zeit vor dem Bau der Mietshäuser übrig waren. Sie zeigte mir die Taubnesseln, die aus Rissen im Asphalt sprossen, und wie ich die Blüten abziehen und den süßen Nektar heraussaugen konnte. Manchmal waren die Pflanzen vom Staub der vorbeifahrenden Autos bedeckt, aber die weißen Blüten blieben im Schutz der Blätter immer unberührt. Die Dornenhecken, die vor unseren Fenstern wuchsen, waren wohl als Schutz gegen Einbrecher gepflanzt worden. Angeblich sollten irgendwann einmal Terrassen für die Bewohner des Erdgeschosses gebaut werden, und ich glaube, wir träumten wirklich davon, auf einem eigenen Fleckchen im Freien sitzen zu können. Besonders wahrscheinlich war das aber nicht, und außerdem erschien mir dieser Platz auch ein bisschen gefährlich, verglichen mit dem Esstisch in der Küche. Dort war ich vollkommen geschützt und hatte gleichzeitig fast alles im Blick, was draußen passierte.

Morgens gingen vor allem Leute auf dem Weg zur Schule oder zur Arbeit vorbei. Die Tagesmütter mit den vielen Kindern, die in einer Reihe liefen und sich an einem Seil festhielten, die Eltern, die in der Fabrik nahe unserem Haus oder in einem Büro im Zentrum arbeiteten. Ein paar Schichtarbeiter, die gerade nach Hause kamen. Ich erinnere mich, dass ich süßes weißes Polarbrot mit Diätmargarine zum Frühstück aß oder säuerliche dunkle Roggenbrötchen, die Rallarhalvor hießen, Gleisarbeiterhalbe. Meine Mutter und meine Großeltern hatten mir von den Wanderarbeitern erzählt, die früher die Schienen verlegten, und die Ränder der Rallarhalvor waren so hart, dass einem der Mund brannte, wenn man zu viele davon aß. Ich trank langsam von meiner Milch und aß meine Brote in sehr kleinen Bissen nach einem bestimmten Muster, das ich mir ausgedacht hatte. Ich betrachtete die Abdrücke meiner Milchzähne dort, wo ich abgebissen hatte, sie sahen aus wie kleine Gewölbe.

Wir hatten immer Diätmargarine zu Hause, denn Butter war nicht gut. Meine Mutter mochte sie nicht und ich auch nicht. Sie sprach oft von all den Sachen, die sie schon als Kind nicht hatte essen können und deren Geruch sie bis heute nicht ertrug, deftige Gerichte aus ihrer Heimat im Süden des Landes, für Menschen, die den ganzen Tag an der frischen Luft auf den Höfen schufteten oder aus Familien stammten, die es früher einmal getan hatten und aus alter Gewohnheit und Vorliebe an dieser Küche festhielten; fetttriefender Schweinebauch oder panierter Bratfisch mit feinen Gräten, die im Hals kitzelten, Kartoffelbrei mit zerlassener Butter, dick bestrichene Schmalzbrote.

Ich mochte so etwas auch nicht und musste fast würgen, wenn sie erzählte, was man in ihrer Kindheit gegessen hatte. Ich verabscheute Sahne und Butter und Fett und konnte nur die entrahmte Milch mit dem niedrigsten Fettgehalt trinken, die bläulich schimmerte und keine Spuren im Glas hinterließ. Zu jedem Frühstück bekam ich diese fettarme Milch, und während ich aß und trank, las ich, was auf dem Karton stand. Anfangs betrachtete ich lediglich die aneinandergereihten schwarzen Buchstaben auf der gewachsten Oberfläche, der gleiche Reigen von Zeichen wie auf den Teedosen in meinem Zimmer, doch nachdem ich sie an immer mehr Orten entdeckt hatte, versuchte ich, sie zu deuten, F und L und M und P, meiner Mutter gefiel das, und sie erklärte mir, wie sie klangen, wenn sie für sich allein standen, und wie sie klangen, wenn sie zusammenhingen.

Ich las auch den Text auf der Brottüte und der Margarineschachtel und in der Zeitung, die immer vor meiner Mutter lag und schwarze Spuren auf dem Tisch hinterließ, die sie anschließend wegwischte. Sie klang glücklich, wenn sie mir half, und ich hörte, wie sie anderen Leuten erzählte, was ich mir selbst beibrachte, und eines Tages konnte ich alles auf der Milchtüte lesen, die sie vor mir abgestellt hatte. Es war ein kurzer Text über die Arbeit der Milchbauern, wie sie aus der Milch ihrer Kühe Sahne und Butter herstellten und wie die Kühe unsere Landschaft pflegten, wenn sie auf den Weiden grasten. Das war mir nicht bewusst gewesen, ich hatte zwar schon Weiden gesehen, aber nie darüber nachgedacht, dass etwas dafür getan werden musste, damit sie so aussahen, wie sie aussahen.

Die Diätmargarine gehörte auf die glatte, dunkle Unterseite des Polarbrots, weil man sie dort dünner verstreichen konnte, außerdem hatte diese Seite einen besonderen Geschmack vom Backen und eine dünne Schicht Mehlpuder, die diesen Geschmack im Kontrast zur Margarine noch deutlicher hervortreten ließ. Wenn ich das Brot ohne alles aß, hielt ich den platten Fladen in beiden Händen und riss mit den Zähnen große Stücke davon ab. Auf diese Weise fühlte ich mich wie ein notleidendes Kind. Ein hungriges Kind, dem man Brot gibt, wie im Märchen oder in irgendeinem Fernsehfilm.

Als ich eines Morgens in die Küche kam, sagte meine Mutter, wir hätten weder Milch noch Brot übrig. Ich weiß nicht, was passiert war, ob sie vergessen hatte, etwas zu kaufen, oder erst nach Ladenschluss von der Arbeit gekommen war oder was auch immer, aber es machte mir Angst, dass es nichts zu essen gab, dass diese Routine so einfach durchbrochen werden konnte. Ab und zu wurde die Milch im Kühlschrank sauer und bildete schwabbelige Klumpen, und ich hatte auch schon erlebt, wie das Brot in der Tüte geschimmelt war, nicht das säuerliche Roggenbrot, aber das weiße Polarbrot, darauf konnten Flecken grünweißer Sporen wachsen, die so stanken, dass ich mehrmals in die Mülltüte spucken musste, nachdem ich es weggeworfen hatte. Aber es war noch nie vorgekommen, dass wir keins von beidem zu Hause hatten. Meine Mutter öffnete eines der Gefrierfächer und kramte nach einem Orangensaft, den sie angeblich einmal dort hineingelegt hatte. Als sie ihn nicht fand, blieb sie einen Moment schweigend stehen und starrte in die Luft. Dann öffnete sie den Kühlschrank, nahm den Traubensaft von meinen Großeltern heraus, schenkte einen Schluck ein und verdünnte ihn mit Wasser, ehe sie mir das Glas hinstellte. Später legte sie mir noch eine Zimtschnecke auf den Teller und sagte, ich dürfe niemandem erzählen, was ich gefrühstückt hätte.

Die Zimtschnecke war warm und mit Zucker bestreut, und ihr Duft stieg mir sofort in die Nase. Dennoch sah sie irgendwie beunruhigend aus dort auf dem Teller, und ich schlang sie in wenigen Bissen herunter, ohne diese Ausnahme genießen zu können. Noch dazu schmeckte sie gar nicht so gut wie gedacht, so früh am Morgen waren mir der süße Saft und das Teilchen fast zu viel, nicht zu vergleichen mit der kalten Milch, die ich normalerweise trank. Als ich aufgegessen hatte, sagte sie, heute müsse ich meine Zähne besonders gründlich putzen, und dann machten wir uns wie immer schweigend zum Aufbruch bereit, und als wir die Wohnung verließen und Hand in Hand die Straße entlangliefen, versuchte ich, mich kleinzumachen, damit mich niemand bemerkte.

Sie brachte mich in die Kita, und dort, in meiner Gruppe, überlegte ich den ganzen Tag, was wohl passieren würde, wenn es jemand erfuhr. Davor hatte ich Angst, und gleichzeitig wollte ich es so gerne erzählen. Ich verstand, dass ich es nicht durfte. Es gab gutes und schlechtes Essen. Noch dazu konnte Essen, das in dem einen Zusammenhang gut und erstrebenswert war, im anderen schlecht sein. An einem ganz normalen Wochentag Saft und ein süßes Teilchen zu frühstücken war geradezu unerhört, das hatte ich begriffen. Es verstieß gegen alle Regeln, und deshalb konnte ich mit niemandem darüber sprechen. Jedenfalls ahnte ich, dass meine Mutter das gemeint hatte –, dass man es als etwas Besorgniserregendes auffassen könnte.

 

Damals war meine Mutter noch keine vierzig. Ich glaube, sie war 38. Die Zimtschnecke hatte sie aus dem Gefrierfach geholt und im Backofen aufgetaut. Ihre Mutter, meine Großmutter, hatte sie gebacken. Auch Oma hatte erst spät Kinder bekommen, wenn auch aus anderen Gründen als meine Mutter, die, wie sie es nannte, erst ihren eigenen Dingen nachgehen wollte. Meine Großeltern waren alt und wohnten weit weg, aber wenn meine Mutter verreiste oder etwas anderes vorhatte oder ich krank war und nicht in die Kita oder Schule gehen konnte, kamen sie mit dem Zug angereist, um zu helfen. Und obwohl ich nicht wollte, dass meine Mutter einfach so verschwand, wie sie es mitunter tat, sehnte ich mich zugleich nach dem Besuch meiner Großeltern.

Bevor sie kamen, kaufte meine Mutter immer ein Roggenknäckebrot, von dem Opa fand, es schmecke genau wie das Brot seiner Kindheit, das es in ihrer Gegend nicht gab. Ich liebte den Anblick dieser großen Knäckebrotpackung, die im Schrank über dem Kühlschrank auf ihn wartete, und wie er sich jedes Mal darüber freute, obwohl er schon damit gerechnet haben musste, sie dort zu finden. Er sah jedes Mal wieder erwartungsvoll aus, wenn er die Packung und das weiße Papier im Inneren aufriss und mit seiner großen Nase den Duft des Roggenknäckebrots einsog. Ich liebte es, wie meine Oma und er unsere Wohnung einnahmen, mit all ihren Gewohnheiten, die sich so stark von unseren unterschieden. Wenn sie gekommen waren, erkannte ich schon an der Haustür den Geruch nach Zimtschnecken, der wie eine warme Wand im Flur hing. Die Tage waren ganz anders als sonst, als hätten sie plötzlich mehr Farbe und Klang und Fülle und würden sich ausdehnen, als würde ständig etwas Gutes passieren oder kurz bevorstehen. Jeden Abend bezogen sie das Ecksofa meiner Mutter und räumten am nächsten Morgen alles wieder weg. Unsere Zimmer veränderten sich durch ihr Geplauder, durch das Radio, das ständig lief, den Geruch der Kräuter, die wir sonst nicht benutzten, Dillsamen, Kümmel und Muskatnuss, die Oma auf der feinsten Seite der Küchenreibe rieb und über unseren Nudelauflauf oder Kartoffelbrei streute.

Wenn sie gerade nicht redete, sang sie ihre altmodischen Lieder über das Landleben und über glückliche oder unglückliche Liebe, und Opa erzählte lustige Geschichten darüber, wie er als Laufbursche in der Stadt gearbeitet hatte, für die französische Brasserie, die heute immer noch am selben Ort liegt wie damals, vor hundert Jahren, und die ich mittlerweile oft besuchte. Als ich damit anfing, lebte mein Opa noch, und ich kam nie darauf, es ihm zu erzählen. Oder wollte ich es nicht? Jedenfalls erwähnte ich ihm gegenüber nicht, dass ich häufig dort essen ging und schon mehrmals von dem Teil des Restaurants, wo früher der Eingang gelegen hatte, mit meinen hochhackigen Schuhen über den glatten Boden in den neueren Teil gegangen war, durch ebenjene Küche, wo der Küchenchef und die anderen Köche ihn ausgeschimpft und geohrfeigt hatten, wenn er eine Minute zu spät gekommen war oder zu wenig Käse mitgebracht hatte oder vielleicht auch einfach nur, weil ihnen danach war, einen Waisenjungen vom Land zu triezen, der sonst niemanden hatte. Alles, was dort im Restaurant oder im Käseladen oder der Metzgerei am Marktplatz und in den umliegenden Straßen passiert war, verwandelte er in unterhaltsame Anekdoten. Und wenn ich Glück hatte, setzte er sich neben mich, ahmte die schimpfenden Köche nach und führte mir vor, wie ihm die Schläge um die Ohren pfiffen. Es war wie eine Theatervorstellung nur für mich allein. Ich verfolgte jede Schwankung seiner Stimme und jede Regung in seinem Gesicht und hoffte, er würde auch zu dem gruseligen Teil über den Mann kommen, vor dem er sich auf dem Heimweg in Acht nehmen musste. Sogar das war eine Art Spaß, bei dem ich ein Schaudern und Kribbeln spürte.

 

Oma brachte immer ihre Backrezepte von zu Hause mit, linierte DIN A4-Blätter, vergilbt und mit Teig- und Fettflecken übersät, damit sie Schokokuchen und Kokosmakronen backen konnte, aber mit dem Hefeteig fing sie als Erstes an. Bevor sie die frisch gebackenen Zimtschnecken aus dem Ofen nahm, stellte sie mir immer ein Glas eiskalte Milch aus dem Kühlschrank hin. Dann setzte sie sich zu mir und sah mir beim Essen zu, und ich weiß noch, dass ich das Gefühl hatte, ihre Zimtschnecken und sie würden für mich zu einer Einheit werden.

Wenn ich an Oma dachte, dachte ich an die Zimtschnecken und umgekehrt. War ich allein, aß ich sie immer auf eine ganz bestimmte Weise, damit ich möglichst lange etwas davon hatte, obwohl sie dann nicht mehr so gut waren, wie wenn Oma sie direkt aus dem Ofen geholt hatte, sich zu mir setzte und auch eine nahm. Ich begann damit, den Perlzucker abzuknabbern, den sie darübergestreut hatte, biss mit den Vorderzähnen ein Korn nach dem anderen ab, bis sie alle weg waren und kaum sichtbare Löcher in der goldenen Oberfläche hinterlassen hatten. Dann löste ich das Ende des Teigs und rollte die Schnecke zu einem langen Streifen aus, der oben goldbraun war, mit eingebackenen Rosinen oder Korinthen und Zimtspritzern auf den blassen, leicht feuchten Innenseiten, und dann erst aß ich sie. Das einzige Mal, als sie misslungen waren, hatte Oma Zitronat anstelle von Rosinen in den Teig gemischt, kleine, gummiartige grüne Stückchen, die mich mit ihrer herben Süße schockierten und fortan jedes Mal ekelten, wenn ich sie in der Speisekammer sah, wie zuckerige Popel in ihrer durchsichtigen kleinen Plastikverpackung. Oma versprach mir, das nie wieder zu tun. Ich backe ja für dich, sagte sie und fuhr mir mit dem Daumen über die Wange, wobei sie mich am Ende jedes Mal versehentlich ein bisschen kratzte. Sie wollte immer genau wissen, was mir schmeckte, damit sie mehr davon machen konnte.

 

Bis auf die kleine Verhärtung an der Nagelhaut ihres Daumens war ihr Körper ganz weich, und wenn sie mich auf den Schoß nahm und umarmte, lehnte ich mich mit dem Rücken an ihren Bauch und Busen wie an zwei große Kissen. Ihr Atem duftete nach Teig und gemörsertem Kardamom, nach Rose und Fünf-Kräuter-Halstabletten. Sie roch anders als meine Mutter, leichter, aber fast genauso komplex und berauschend, und aus ihren Kleidern drangen karamellartige, herbe Düfte, von denen ich nie genug bekam.

Ich saß auf ihrem Schoß und sog die Luft ein, strich über ihre Arme und Wangen, ihre Sommersprossen und Leberflecken und Hautveränderungen, ziellos, und mit dem Gefühl, all das wäre ein eigenes Land, das nur mir gehörte und das nur ich sehen konnte. Ihr Gesicht war voller Runzeln und Sprenkel; Erwartung und Entzücken huschten darüber, und in ihrem Mundwinkel war die Andeutung eines Lächelns zu sehen. Wenn ich aufblickte, verriet ihr Gesicht Dankbarkeit und etwas Schwärmerisches, Verträumtes, und ich hatte den Eindruck, sie würde mich oft ansehen, als wartete sie nur auf einen Wunsch von mir oder irgendetwas, das ich sagte oder tat, um daran Anteil zu nehmen.

Wenn meine Großeltern bei uns waren, kamen fast nie andere Erwachsene zu Besuch. Dann fanden nur selten Essen oder Partys statt, und ich musste meine Mutter auch zu nichts begleiten, weil sonst niemand auf mich aufpassen konnte. Wir waren zu Hause, nur wir vier, oder nur die beiden und ich, wenn meine Mutter ausgegangen war, und ich wünschte mir jedes Mal, sie würden nie wieder nach Hause fahren.

Als letzte gute Tat vor ihrer Abreise backte meine Großmutter immer noch mehr Zimtschnecken, drei Bleche voll, die sie auf Plastikbeutel verteilte und einfror. Oft lief sie in ihrer braungesprenkelten Kittelschürze aus Polyester herum, darunter eine beigefarbene Nylonstrumpfhose, die ständig rutschte, so dass sie sich vorbeugen und den Rock anheben und sie im Schritt wieder hochziehen musste. Auf Zugreisen trug sie jedoch immer lange Hosen und einen Pullover, den sie als Jumper bezeichnete, und hatte ich ihre Abreise einmal vergessen, wurde ich spätestens daran erinnert, wenn ich morgens aufwachte und sie in dieser Kleidung sah. Es kam nie vor, dass sie noch im Bett lag, wenn ich aufstand, sie war weit vor mir wach, und auch vor allen anderen, selbst wenn sie nichts vorhatte und den ganzen Tag zu Hause blieb.

 

Als ihre Abreise wieder einmal bevorstand, beschloss ich, ihr zu gestehen, wie sehr ich sie vermissen würde. Ich dachte lange darüber nach, was ich sagen sollte, ehe ich all meinen Mut zusammennahm und fragte, ob sie nicht einfach bleiben könnten. Oma saß auf einem Stuhl an dem großen weißen Tisch, der neben ihr besonders weiß aussah, sie hob mich auf ihren Schoß, und dann schlang sie ihre Arme um mich und sagte, das gehe leider nicht, obwohl sie es selbst gerne wolle, aber sie kämen ja bald wieder. Anschließend beugte sie sich vor und tätschelte den Gefrierschrank, sie erinnerte mich daran, dass ich ja die Zimtschnecken hätte, die sie für mich daließ. Wenn meine Sehnsucht zu groß war, brauchte ich nur eine zu essen.