Die weiße Stadt - Karolina Ramqvist - E-Book

Die weiße Stadt E-Book

Karolina Ramqvist

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Beschreibung

Das große Haus steht einsam und kalt an einem See, umgeben von Schnee und Frost. Die kugelsicheren Fenster sind voller Eisblumen. Drinnen sitzt Karin auf einem verdreckten Sofa. Das Telefon ist abgestellt. Die Heizung funktioniert nicht mehr. Karin hat sich verändert. Früher war sie die Gangsterkönigin und Johns höchste Errungenschaft. Alle haben sie bewundert, alle wollten sein wie sie. Jetzt ist John tot, und sie hat eine Tochter, der sie sich mal nah und mal fern fühlt, die sie buchstäblich aussaugt und völlig auf sie angewiesen ist. Karin ist einsam und taub vor Trauer. Alles, was sie weiß, ist, dass sie ihr Kind beschützen muss. Und so beschließt sie, sich zu nehmen, was ihr zusteht. Mit Johns alten Waffen, seinem Auto und ihrer Freundin Therese macht sie sich auf den Weg, die Kontrolle über ihr Leben zurückzuerobern.

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Das Buch

Das große Haus steht einsam und kalt an einem See, umgeben von Schnee und Frost. Die kugelsicheren Fenster sind voller Eisblumen. Drinnen sitzt Karin auf einem verdreckten Sofa. Das Telefon ist abgestellt. Die Heizung funktioniert nicht mehr. Karin hat sich verändert. Früher war sie die Gangsterkönigin und Johns höchste Errungenschaft. Alle haben sie bewundert, alle wollten sein wie sie. Jetzt ist John tot, und sie hat eine Tochter, der sie sich mal nah und mal fern fühlt, die sie buchstäblich aussaugt und völlig auf sie angewiesen ist. Karin ist einsam und taub vor Trauer. Alles, was sie weiß, ist, dass sie ihr Kind beschützen muss. Und so beschließt sie, sich zu nehmen, was ihr zusteht. Mit Johns alten Waffen, seinem Auto und ihrer Freundin Therese macht sie sich auf den Weg, die Kontrolle über ihr Leben zurückzuerobern.

Die Autorin

Karolina Ramqvist wurde 1976 geboren. 2015 wurde sie mit dem Per-Olov-Enquist-Preis ausgezeichnet. In all ihren Büchern beschäftigt sie sich mit verschiedenen gesellschaftlichen Aspekten wie Rollenmodellen. Sie lebt in Stockholm.

Karolina Ramqvist

Die weiße Stadt

Roman

Aus dem Schwedischen von Antje Rávic Strubel

Ullstein

Die schwedische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Den vita staden bei Norstedts, Stockholm.

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ISBN 978-3-8437-1437-2

© 2015 © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, München Umschlagabbildungen: © re_bekka/Shutterstock

E-Book: L42 AG, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Es war das Ende des Winters. Unter einem Himmel, den es zu allen Zeiten gegeben hatte und der jetzt dunkel war, sah das Haus immer noch fast neu aus. Es schien zu glänzen. Ringsum gab es nichts als Stille und Schnee. Der Schnee umrahmte die frostüberzogenen großen Fenster und ragte aus den Schatten in hohen Wehen auf, die gegen die Hauswände drückten. Nirgends war geschippt worden.

Vom Wind aufgepeitschter Schnee lag als kleiner Wall auf der Treppe vor der Haustür. Eine gefrorene Woge, die davon zeugte, dass seit mehreren Tagen niemand das Haus verlassen oder betreten hatte.

Von innen war die Tür verriegelt und gründlich durch mehrere Schlösser gesichert. Direkt dahinter stand eine eingerissene Papiertüte, aus der weiße und braune Umschläge ragten. Rechnungen und Briefe, die nicht geöffnet worden waren. Der Boden war kalt und fleckig von Schmelzwasser und lehmigem Matsch, der auch auf die Tüte gespritzt war.

Der Flur lag im Dunkeln, obwohl es Morgen war. Der Spiegel an der Wand hing schief und war dreckig. Davor stand Karin, barfuß und nackt, und hielt die Tür zum Badezimmer auf, von wo aus das Licht auf ihren Körper fiel. Die Haut war körnig vor Kälte, sah bleich und bläulich aus. Ihr Bauch hing herab wie ein leerer Beutel, und die Brüste waren schwer und unförmig. Die linke war über Nacht angeschwollen, die Haut spannte so sehr, dass ein Netz von dünnen Adern sichtbar wurde.

Sie strich den Bauch mit den Händen glatt, hielt die Haut fest und beugte sich vor, um die Streifen zu betrachten, die sich wie ein flachnarbiges Relief davon abhoben, von den Leisten bis hoch zum Nabel. Sie musste an ihren letzten Flug nach New York denken, als sie von der Durchsage des Kapitäns geweckt worden war, der die Passagiere über die Sprechanlage aufgefordert hatte, aus dem Fenster zu schauen und die Aussicht über Island zu betrachten. Sie hatte sich aufgesetzt und hinabgeblickt zu einer Insel, die fast vollständig von Gletschereis bedeckt war, und im Eis hatte sie Streifen gesehen. Schwarze Ströme, die sich ausbreiteten wie das Haar eines Riesen, mit tausend kleinen Verzweigungen im eisigen Boden.

Die Streifen, die die Schwangerschaft auf ihrem Bauch hinterlassen hatte, sahen genauso aus, und als sie jetzt darauf hinabsah, fühlte sie sich so weit von ihnen entfernt wie damals vom Eis, als sie es in zehntausend Metern Höhe überflogen hatte.

Während der Schwangerschaft hatte sie sich eingeredet, sie müsse sich nur ausreichend Sorgen wegen der Schwangerschaftsstreifen machen, um keine zu bekommen.

Jetzt wusste sie, dass es so nicht funktionierte.

Angst ist kein wirksamer Bannspruch, sondern eine Unruhe, die der Kalkulation von Risiken entspringt. Es stimmt nicht, dass das, was einem am meisten Sorgen bereitet, nicht eintrifft. Eher wird es das wohl höchstwahrscheinlich tun.

Auf dem See lagen Eisschollen, die aneinander rieben, als warteten sie darauf, zusammenzufrieren. Das graue Wasser wirbelte in kleinen, gekräuselten Wellen um sie herum. Auf der anderen Seite lag der Wald, dunkel über weißgefleckten Klippen, der Steg zeichnete sich nur vage im Schnee ab. Man sah ihn nicht, wenn man nicht wusste, dass er dort war, unten am Ende des Grundstücks, wo Schilf aufragte, brüchige Halme aus Inseln von zerfurchtem Schnee.

Das Wetter war unbeständig gewesen in den letzten Tagen, möglicherweise schon Wochen. Es war milder geworden und hatte sogar angefangen zu tauen. Von ihrem Platz auf dem Barhocker an der Kücheninsel, seinem Platz, hatte sie gesehen, wie sich der See geöffnet hatte, ein grauer gähnender Mund. Dann war die Kälte zurückgekommen und hatte alles gelähmt, aber der Wind blies so stark, dass die Wasseroberfläche nicht zufrieren konnte.

Die Heizung im Badezimmer war abgestellt, und als sie das Wasser aufdrehte, beschlugen sofort die Spiegel, nahmen die gleichen weißlichen Schattierungen an wie das Eis. Ein Mantel aus Dampf lag auf ihrem Rücken, als sie aus der Dusche stieg, ohne das Wasser abzustellen, und in den Flur ging, schnell und auf Zehenspitzen, um den schmutzigen, kalten Boden nicht an ihren nackten Füßen zu spüren. Zu dieser Tageszeit war das Haus am kältesten.

Dream saß mit dem Rücken zu ihr in einer Windel auf dem Boden im Wohnzimmer und spielte mit dem weißen Kabel eines iPhone-Ladegeräts. Dream bekam nie genug davon, das Geräusch zu hören, mit dem der dünne metallene Stecker auf das Parkett schlug, oder von der Entdeckung, dass sie es war, die es auslöste. Dass es ihre Hand war, die das Kabel festhielt und bewegte.

Sie hielt inne und schaute dem Kind zu, das dort saß und sich auf seine Weise vergnügte, ahnungslos in Bezug auf alles, was ihr beider Dasein ausmachte, ein Dasein, das ihr selbst zu stumm, zu beendet vorkam, um sie richtig begreifen zu lassen, dass es für einen anderen Menschen der Anfang war.

Sie schaute auf den rundlichen Körper und die unkontrollierten, ruckartigen Bewegungen. Dream war immer noch ein Rätsel für sie. Die großen Augen lagen dicht beieinander in einer Weise, die sie nicht wiedererkannte und die ein Unbehagen in ihr auslöste, und mitten auf dem Kopf stand eine Locke ab. Die Wangen wölbten sich rundlich vor mit kleinen geröteten, ausgetrockneten Flecken, die, wie sie annahm, von der Kälte und der trockenen Luft kamen. Im weichen Kinderfleisch war ein perfektes Rückgrat zu erahnen.

Sie wusste, dass das Kind einmal das Beste sein würde, was sie hatte, und bis dahin war es ein Glück, dass es so still war. Vielleicht bekam man nicht das Kind, das man verdiente, sondern das, mit dem man zurechtkam.

Sie duschte zu Ende, die Badezimmertür weit offen zum Flur, die Augen hin und wieder nach draußen gerichtet. Als sie fertig war, schaute sie noch einmal hinaus und sah die Kleine immer noch mit ihrem Kabel im Wohnzimmer sitzen. Sie trocknete sich ab und zog seinen Morgenrock an, den einzigen, den es noch gab, seit sie alle ihre Kimonos verkauft hatte.

Er lag schwer auf ihren Schultern und war viel zu groß.

Sein Körper war immer rot und warm gewesen, wenn er den Morgenrock angezogen hatte.

Sie band sich den Gürtel um die Hüfte, verknotete ihn und stand so da, ans Waschbecken gelehnt, und sog seinen Geruch ein, der noch immer tief im weichen Frottee hing. Der Duft von Zahnpasta und Deo und nasser, warmer Männerhaut.

Das Versprechen, dass alles gut werden würde.

Sie hoffte, dass die feuchte Wärme nicht so schnell verschwinden würde, aber sie verschwand. Als sie aus dem Badezimmer kam, war es noch kälter, als sie erwartet hatte. Sie hatte die Fußbodenheizung im ganzen Haus abgeschaltet, und jetzt drang ein eisiger Luftzug herein, sobald draußen auch nur ein leichter Wind wehte.

Sie müsste in die Garage gehen und das Isolierband suchen, das er dort aufbewahrte, müsste damit die Ventile neben den Fenstern im großen Zimmer abdecken, diese überdimensionierten Fronten aus halbtransparentem, kugelsicheren Glas, die so groß waren, dass man sie eigentlich gar nicht mehr als Fenster bezeichnen konnte.

Aber daraus wurde nie etwas.

Der Morgenrock schleifte fast übers Parkett, obwohl sie groß war. Ihre Latschen waren noch im oberen Stockwerk. An einer ihrer Fußsohlen war ein Krümel hängen geblieben, und als sie den Fuß hob und am Frottee abwischte, klang es, als würde ein kleiner Stein auf den Holzboden fallen.

Dream war eiskalt. Auf dem Sofa lag ein Strampler zum Knöpfen, der noch fast sauber aussah, und sie zog ihn dem Kind an, während sie gleichzeitig versuchte, die Beine und Ärmchen warm zu rubbeln. Mit dem Baby im Arm ging sie durch den großen offenen Raum zur Küchenzeile und schaltete den Wasserkocher an. Es roch in der Nähe der Spüle, ein fauliger Geruch, der kam und ging, und den sie nun schon seit einiger Zeit wahrnahm.

Sie setzte Dream vor dem Barhocker auf den Boden, schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihr Atmen, während das Wasser anfing zu kochen, sie versuchte, ans Wasser zu denken, an die Luft, die Luftströme, und ihrem Atem zu folgen, wechselseitig in jedem Nasenloch.

Es klingelte an der Tür.

Fuck.

Es klingelte noch einmal. Ein synthetischer Dreiklang.

Sie hatte nicht erwartet, dass die Käuferin so schnell auftauchen würde, aber dann fiel ihr ein, dass es immer so war: Sie riefen an und sagten, sie hätten die Annonce gesehen und wollten sofort vorbeikommen und es sich ansehen.

Sie erkannte sich selbst darin wieder, sie konnte sich erinnern, wie es war, etwas unbedingt haben zu wollen.

Sie nahm Dream hoch und ging schnell ins obere Stockwerk, holte die Tasche aus dem Kleiderschrank, lief wieder hinunter und öffnete. Die Tür schob den kleinen Wall von der Treppe und drückte den Schnee platt.

Es war grau und windig draußen.

Der Wind heulte und pfiff, und sofort drang die Kälte herein, griff eisig in ihr nasses Haar.

Auf der Treppe stand eine junge Frau in ihrem Alter. Schirmmütze, Pelz, schwarze Gummireitstiefel, die ihr bis an die Knie reichten.

Sie begrüßten einander, gaben sich die Hand, und sie bemühte sich zu lächeln. Schloss die Tür und ließ die andere direkt dahinter stehen bleiben.

Zeigte ihr die Tasche.

»Das war doch die, die du dir ansehen wolltest, oder?«

Die junge Frau nickte und sagte, sie würde in den Urlaub fahren, und dass sich diese Taschen gut zum Reisen eigneten. Lächelte, als Dream ihr zuwinkte, fragte sie, ob sie in Elternzeit sei.

»Ja.«

Es gelang ihr, noch einmal zu lächeln, als sie der Frau die Tasche hinhielt. Sogar das Futter war edel, das dezente Muster, das an teure Straßencafés und weißen Sand denken ließ.

»Du verkaufst mehrere, oder?«

»Ja, ich habe ein paar eingestellt. Eine wunderschöne 2.55. Chanel.«

Die Frau nickte. Sie untersuchte die Tasche und lobte den Zustand.

»Also, weißt du«, sagte sie dann. »Ich denk noch mal drüber nach.«

Sie ließ die ausgestreckte Hand sinken.

»Bist du mit dem Preis nicht einverstanden?«

»Nein, der ist okay.« Die junge Frau schaute sich die Tasche noch einmal an. »Es ist nur, dass ich gern ein Echtheitszertifikat von der Boutique hätte. Nicht, dass ich dir nicht trauen würde, aber wenn ich mich selbst dazu entschließen sollte, sie zu verkaufen, na ja, du weißt schon. Aber wenn du das besorgen könntest, dann nehme ich sie.«

Die Winterluft schlug ihr entgegen, als sie in der Tür stand, die Tasche noch in der Hand, und der Frau hinterhersah, die sich in ihr Auto setzte, die Scheibenwischer gingen an. Ein schonungsloser Windstoß traf das Haus, und sie musste mit aller Kraft an der Haustür ziehen, um sie zu schließen, aber das Schneetreiben erwischte sie doch.

Sie hob die Füße, strich sie an den Beinen ab, sodass Schnee und Schmelzwasser die Waden hinunterliefen. Sie brachte es nicht über sich, die Tasche wieder zurück nach oben zu tragen. Als sie abgeschlossen und den Riegel vorgeschoben hatte, hängte sie sie an einen Haken im Flur, fluchte, ging in die Küche und stellte noch einmal den Wasserkocher an, versuchte, dankbar zu sein dafür, dass sie noch Strom hatte.

Sie nahm die Teedose heraus und maß so wenige Teeblätter wie möglich ab. Dann setzte sie Dream neben die Sofas auf den Boden, ging zurück und goss das kochende Wasser über den Tee, ohne auch nur für den Bruchteil einer Sekunde die Vorstellung loszuwerden, wie sie das heiße Wasser versehentlich über Dream schüttete und das Kind verbrühte.

In der Broschüre, die sie von der Mütterberatung bekommen hatte, hieß es, die meisten schlimmen Unfälle mit Kindern würden zu Hause passieren. Kochendes Wasser, Stürze, Quetschungen. Sie sah es vor sich, wie sie mit Dream ins Bad rannte und sie unter die kalte Dusche hielt, oder sollte sie zuerst einen Krankenwagen rufen, und sie dachte, wie schwierig es sein würde, beides gleichzeitig zu tun.

Sie nahm den Becher und setzte sich auf den Barhocker an der Kücheninsel. Sein Platz. Er hatte gewöhnlich dort gesessen und Zeitung gelesen, ständig, immer, wenn er zu Hause war. Die Fußstütze war eiskalt an ihren Füßen. Sie pustete in den Tee und wärmte ihre Finger an der Tasse, die ebenfalls seine war. Eine abgeplatzte Fototasse, das Innere verfärbt von all dem Kaffee und Tee, den sie daraus getrunken hatten.

Zuerst er und jetzt sie.

Das Bild von Nicholas außen auf dem Becher. Sein Lächeln. Daten und Buchstaben standen dort, RIP.

Sie schaltete den Heizlüfter ein, zündete sich eine Zigarette an und fühlte, wie sich das Gift in ihrem Körper ausbreitete.

Schon länger bekam sie keine Zeitung mehr. Sie hatte das Abonnement gekündigt, als die Rechnung gekommen war, wenn sie gewusst hätte, was es kostete, hätte sie es schon früher gemacht, und jetzt vermisste sie die Zeitung.

Vor ihr lag eine Mütterzeitschrift. Ihre Freundin Anna, die mit Peter zusammen war, hatte sie mitgebracht, als Dream gerade geboren war und Peter mit John zusammengearbeitet hatte. Die Zeitschrift war aufgeschlagen bei einem Artikel über eine Kochbuchautorin und ihre Kinder. Die Bilder, auf denen alle lachten und in einer großen Küche Vollkornbrei aßen, füllten ihr Inneres jedes Mal mit einem wattigen Gefühl. Es war, als hätte sie selbst von dem Brei gegessen, oder als wäre sie selbst eine von jenen Frauen, die sich um nichts sorgen mussten.

Vorsichtig nahm sie einen Schluck Tee. Er schmeckte nach nichts, aber es war auch eigentlich nur die Wärme, nach der sie sich sehnte.

Sie zündete sich eine Zigarette an und betrachtete die Aussicht.

Der Himmel draußen war grau, das Wasser auch.

Es schneite nicht mehr.

Sie kam sich lächerlich vor, als sie die Natur auf der anderen Seite der Glasscheibe betrachtete und bemerkte, was dadurch alles in ihr wachgerufen wurde.

Es war nicht so, dass sie in die Natur hinauswollte.

Sie wollte die Natur sein.

Sie beneidete sie.

Sie hätte sich auf die eisüberzogene Klippe vor der Terrasse legen und dortbleiben wollen, bis der Stein sich ihrer erbarmte und sie zu einem Teil von sich machte. Sie wollte eins sein mit der großen schweren Ruhe, die dort draußen zu herrschen schien. Sie wollte einer der Kiesel unter dem Schnee in den Spalten der Klippe sein, oder eine der Nadeln, die an den Zweigen zitterten, wenn die Kiefern im Wind schwankten. Die Feuchtigkeit in der Luft, die Schneeflocke, die von der Kälte kam und mit ihr verschwand. Eine Daunenfeder der Schwäne, die zusammen auf der Wasseroberfläche auf- und abschaukelten, gegen Eisschollen und Wellen stießen, gleichgültig gegenüber den Windböen, die in ihre Federn fuhren, und gegenüber der Kälte, die sie und alles um sie herum im Griff hatte.

So wollte sie existieren, ebenso stoisch und unerschrocken angesichts des eigenen Untergangs.

Auf der Böschung und nach unten zum Wasser hin lag der Schnee dick und unberührt bis auf einige kleine Fußspuren der Vögel hier und da, und die Ahornsträucher am Haus waren immer noch eingeschneit. Vor der Terrassentür hatte die Schneedecke zu schmelzen begonnen. Unter den kleinsten Haufen wurde altes gefrorenes Laub sichtbar und Nadeln, die im vergangenen Jahr von den Kiefern gefallen waren. All das, was sie lange, bevor der Schnee gekommen war, hätte wegfegen sollen; und wenn sie gekonnt hätte, hätte sie das auch getan.

Dort, wo das Holz durchschimmerte, konnte man die Flecken auf den Brettern sehen, die von den weißen Kotspritzern der Dohlen kamen, die im Herbst über das Haus geflogen waren. Am Fuß der riesigen Erle lagen kleine schwarze Zweige und Zapfen, und die Strahler der Außenbeleuchtung spähten aus dem Weiß hervor wie Mäuse. Den Baum beleuchteten sie abends nicht mehr.

Früher hatte sie oft gedacht, die Lampen wären Kameras, die auf sie gerichtet waren, um ihre Bewegungen im Haus zu überwachen. Das war natürlich Paranoia, aber damals, als das Haus das Zentrum des Geschehens gewesen war, waren ihr diese Gedanken völlig normal erschienen.

Jetzt war das Haus ein gewöhnliches Haus, mehr oder weniger, und sie kümmerte sich nicht mehr so darum wie zuvor. Niemand kümmerte sich darum. Die Oberflächen, deren blankes Glänzen sie sehr geliebt hatte, waren von Staub und Schmutz überzogen. Fettflecke, die zurückgeblieben waren. Auf der Kücheninsel breitete sich ein Muster kreisrunder Ringe aus, Spuren vom Teebecher. Auf dem Fußboden hatte sich der Staub gesammelt, und auf den großen Fenstern hoben sich dünne Ablagerungen vom Glas ab wie Kreidezeichnungen. Weiter unten waren klebrige kleine Handabdrücke zu sehen, dicht übereinander.

Mehr als ein halbes Jahr war vergangen.

Das Größerwerden des Kindes erinnerte sie daran.

Die vergehende Zeit erinnerte sie an all das, was sie gewollt hatte, an diese Träume von einem gemeinsamen Leben.

Natürlich hätte sie mit Sack und Pack und der Kleinen schon längst woanders hingehen sollen, aber sie hatte sich nicht dazu aufraffen können. Das Haus war ein Teil von ihr, und solange sie sich innerhalb seiner Wände aufhielt, war es, als wäre nichts geschehen. Hier konnte sie weiterhin seine Gegenwart spüren; sich einbilden, sie würde ihn aus den Augenwinkeln sehen, seine breitschultrige, hochgewachsene Gestalt in einem der Zimmer.

Wenn sie hinausging, wurde ihr die Veränderung jedes Mal überdeutlich bewusst. Draußen gab es nichts. Sie näherte sich der Haustür und sah sich in einem tiefen Tal, einer Schlucht, die sie durchlief, ohne hinausgelangen zu können und ohne zu wissen, was sie auf der Wanderung erwartete.

Als es passiert war, war Therese zu ihr gezogen. Sie hatte mit ihr und Dream hier gewohnt, bis Alex fand, dass es reichte, und gekommen war, um sie abzuholen. Er warf ihre Sachen in sein großes Auto, schleppte Therese aus dem Haus und zwang sie, wieder mit ihm nach Hause zu fahren. Aber Therese war zurückgekehrt. Therese oder Anna.

Sie waren beinahe jeden Tag gekommen.

Sie putzten und räumten auf, brachten Essen mit, das sie nicht zu sich nehmen konnte, und Filme, die sie nicht sehen wollte, und gingen mit dem Kinderwagen zu Spaziergängen hinaus, damit sie schlafen konnte.

Dann hörte das auf.

Sie riefen nicht mehr an, und sie rief auch nicht an. Damals hielt sie das für das Beste.

Sie entglitten einander, und die ganze Idee, dass sie eine Familie hatten sein wollen – noch dazu eine Familie, die toleranter war als die, die sie ursprünglich gehabt hatten –, löste sich schneller auf als erwartet. Das ging so zügig, dass sie nicht richtig begriff oder einsehen wollte, was da eigentlich geschah. Anna und Therese hatten gesagt, sie sei es gewesen, die sie beide verlassen habe, und sie hatte gedacht, dass den beiden nie richtig an ihr gelegen gewesen sei, dass sie nur wegen John mit ihr befreundet gewesen seien. Schließlich war es John, der über alle und alles in ihrer kleinen Welt bestimmte, aber er gab auch denen, die in seiner Nähe waren, das Gefühl, im Licht zu sein.

Alle wollten ihm nah sein.

Als er verschwand, löste sich ihr Kreis auf, so hatte sie es damals aufgefasst, aber jetzt wusste sie, dass nur sie selbst draußen gelandet war. Die anderen hatten wie gewohnt weitergemacht, auch ohne sie und ihn. Sie beide waren wie zwei Steine, die aus der Mauer gefallen waren, und die Mauer schloss sich aufs Neue.

Die Demütigung, nicht länger jemanden zu haben, und die Traurigkeit darüber, nicht länger ihn zu haben, trieb sie tiefer in die Einsamkeit. Sie hatte den Säugling ständig am Körper, und ihre Existenz bestand aus Geschrei, durchwachten Nächten und dem dünnem, durchscheinenden Ausfluss, der ohne Unterlass aus ihr heraussickerte und dicke große Binden nötig machte.

Sie sah zu der niedrig hängenden Wolkendecke über dem See, den Klippen und dem schwarzen Wald auf der anderen Seite. Sie suchte nach Rissen in den Schneewolken, nach durchbrechenden Lichtstrahlen, Niederschlag, irgendetwas. Als sollte der Himmel sich um das kümmern, womit sie selbst nicht fertig wurde, und ihr ein Zeichen geben, dass es Zeit war.

Sie aus dem Winterschlaf holen.

Ein schleifendes Geräusch war zu hören, und sie drehte sich um und sah Dream auf dem Fußboden. Sie robbte über das Parkett, wie sie es gerade erst gelernt hatte, zog sich mit den Ellbogen voran, während die Beine hinterherschleiften, die Augen auf den Boden vor sich gerichtet. Ein dünner Faden Spucke hing ihr vom Mund.

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