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Abenteuer, Freundschaft und die Kunst des Kämpfens
Skandia ist das Land der großen Helden, doch der Weg zum Krieger ist schwer. Jungen werden mit 16 Jahren in Bruderschaften unterrichtet und sollen schließlich gegeneinander antreten. Hal, ein junger Schiffsbauer aus Hallasholm wird zum Anführer einer Bande von Jungen berufen, die dasselbe Schicksal teilen wie er: Sie sind Außenseiter in ihrer Heimat – vereint in einem aussichtslos scheinenden, gefährlichen Wettkampf … Können die acht Gefährten gemeinsam gegen ihre Gegner bestehen?
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Seitenzahl: 519
© Random House Australia
DER AUTOR
John Flanagan arbeitete als Werbetexter und Drehbuchautor, bevor er das Bücherschreiben zu seinem Hauptberuf machte. Den ersten Band von »Die Chroniken von Araluen« schrieb er, um seinen 12-jährigen Sohn zum Lesen zu animieren. Die Reihe eroberte in Australien in kürzester Zeit die Bestsellerlisten.
Von John Flanagan ist als cbj Taschenbuch erschienen:
»Die Chroniken von Araluen. Die Ruinen von Gorlan« (27072)
»Die Chroniken von Araluen. Die brennende Brücke« (27073)
»Die Chroniken von Araluen. Der eiserne Ritter« (21855)
»Die Chroniken von Araluen. Der Angriff der Temujai-Reiter« (22065)
»Die Chroniken von Araluen. Der Krieger der Nacht« (22066)
»Die Chroniken von Araluen. Die Belagerung« (22222)
»Die Chroniken von Araluen. Der Gefangene des Wüstenvolks« (22229)
»Die Chroniken von Araluen. Die Befreiung von Hibernia« (22342)
»Die Chroniken von Araluen. Der große Heiler« (22343)
»Die Chroniken von Araluen. Der Schwertkämpfer von Nihon-Ja« (22375)
John Flanagan
BROTHERBAND
Die Bruderschaft von Skandia
Aus dem Englischen von Angelika Eisold Viebig
cbjist der Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe September 2013
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
© 2011 John Flanagan
Die englische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »BROTHERBAND. The Outcasts« bei Random House Australia Pty Limited, Sydney, Australia.
This edition published by arrangement with Random House Australia.
© 2013 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Angelika Eisold Viebig
Lektorat: Petra Koob-Pawis
Umschlagbild: © Jeremy Reston
Reproduced by arrangement with Philomel Books, a division of Penguin Young Readers Group,a member of Penguin Group (USA) Inc. All rights reserved.
Umschlaggestaltung: init|Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen, unter Verwendung der Originalgestaltung von www.blacksheep-uk.com
MI ∙ Herstellung: CB
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-10127-5www.cbj-verlag.de
Gewidmet unserer eigenen Bruderschaft:Max, Konan, Alex und Henry.
Teil eins
Das Versprechen
Kapitel eins
Zwölf Jahre vorher
Die Wolfswind tauchte kurz vor Sonnenaufgang aus dem Nebel auf wie ein Geist, der plötzlich feste Formen annimmt.
Mit eingeholtem Segel, nur durch vier Ruder bewegt, glitt das Wolfsschiff langsam zum Ufer. Die vier Männer an den Rudern versahen ihre Arbeit äußerst sorgsam, sie hoben die Ruder nach jedem Schlag nur so wenig aus dem Wasser, dass selbst das Geräusch von Tropfen, die wieder ins Meer spritzten, auf ein Minimum beschränkt war. Es waren Eraks erfahrenste Ruderer, geübt darin, sich einer feindlichen Küste so leise wie möglich zu nähern.
Und bei Beutezügen waren alle Küsten Feindesküsten.
Die Männer waren so geübt darin, dass man nur das leichte Schlagen kleiner Wellen am Schiffsrumpf hörte. Im Bug kauerten Svengal und zwei andere aus der Mannschaft, sie waren voll bewaffnet und spähten zum Ufer.
Der ruhige Seegang erleichterte zwar das Steuern des Schiffs, doch gegen eine kleine Geräuschkulisse hätte Svengal nichts einzuwenden gehabt. Unvermittelt sah er das Ufer aus dem Nebel auftauchen und er hob die zur Faust geballte Hand.
Weiter achtern beobachtete Erak seinen Stellvertreter, während dieser nun fünf Finger zeigte, dann vier, dann drei … entsprechend der Entfernung zum Ufer.
»Ruder einholen.«
Erak sprach die Worte in normaler Lautstärke, statt in dem ohrenbetäubenden bellenden Ton, mit dem er normalerweise Befehle erteilte. Im Mittelteil des Wolfsschiffs gab sein Bootsmann Mikkel die Befehle weiter. Die vier Ruder wurden zeitlich genau aufeinander abgestimmt aus dem Wasser gehoben und anschließend sofort senkrecht aufgestellt. Nur Sekunden später stieß der Bug des Schiffs sanft gegen das sandige Ufer. Erak spürte die Vibration unter seinen Füßen.
Svengal und seine beiden Kameraden schwangen sich über den Bug und landeten trotz ihrer bulligen Gestalt erstaunlich leichtfüßig im nassen Sand. Zwei von ihnen liefen das Ufer hinauf und schwärmten als Kundschafter nach beiden Seiten aus, um, wenn nötig, vor einem Hinterhalt zu warnen. Svengal nahm den kleinen Strandanker, der zu ihm hinabgelassen wurde, und ging ein gutes Dutzend Schritte den Strand hoch. Er stemmte sich gegen das Ankerseil, um es straff zu ziehen, und stieß den wie eine Schaufel geformten Anker in den harten Sand.
Auf diese Weise gesichert, trieb die Wolfswind nun in der sanften Brise leicht nach links.
»Links klar!«
»Rechts klar!«
Die beiden Kundschafter riefen in normaler Lautstärke, da keine Notwendigkeit mehr für besondere Heimlichkeit bestand. Svengal ließ noch einmal den Blick schweifen, dann meldete auch er: »Geradeaus klar!«
An Bord nickte Erak zufrieden. Er hatte zwar kein bewaffnetes Empfangskomitee am Ufer erwartet, aber es war immer besser, auf Nummer sicher zu gehen. Deshalb war er bei seinen Beutezügen so erfolgreich gewesen – und deshalb hatte er auch bislang nur wenige Leute aus seiner Mannschaft verloren.
»In Ordnung.« Er nahm seinen Schild vom Platz an der Verschanzung und schob den Griff über den linken Arm. »Gehen wir.«
Mit raschen Schritten ging er hinüber zum Bug des Wolfsschiffs, wo inzwischen seitlich eine Leiter angelegt worden war. Er schob seine schwere Streitaxt durch die Lederschlinge an seinem Gürtel und kletterte über den Bug und die Leiter hinunter. Seine Mannschaft folgte ihm. Befehle waren nicht nötig. Sie alle hatten dies schon viele Male durchgeführt.
Svengal gesellte sich zu ihm. »Weit und breit nichts zu sehen, Jarl«, berichtete er.
Erak stieß ein zufriedenes Knurren aus. »Hab auch nicht damit gerechnet. Die werden alle in Alteboske beschäftigt sein.«
Er sprach den Namen wie immer ohne Rücksicht auf die Feinheiten der hibernianischen Aussprache aus. Der erwähnte Ort hieß eigentlich Alto Bosque, ein eher unwichtiger Marktflecken etwa zehn Meilen weiter südlich, auf einem hohen bewaldeten Hügel, nach dem er auch benannt war.
Am Vortag hatten sieben Leute aus Eraks Mannschaft die Jolle genommen, um dort an Land zu gehen und einen blitzschnellen Überfall auf den Marktflecken durchzuführen. Alto Bosque besaß keine Garnison, sodass man einen Reiter aus der Stadt nach Santa Sebilla geschickt hatte, wo eine kleine Militärgarnison stationiert war. Eraks Plan war, dass der dortige Kommandant aufgrund des Überfalls die Garnison nach Alto Bosque abzog, woraufhin er und seine Männer dann ungehindert Santa Sebilla ausplündern könnten.
Santa Sebilla war ebenfalls ein kleiner Ort, wahrscheinlich sogar kleiner als Alto Bosque. Doch über die Jahre hatten seine Goldschmiede einen gewissen Ruf erlangt. Immer mehr Kunsthandwerker waren nach Santa Sebilla gekommen und es hatte sich zum Zentrum für feinstes Juwelierhandwerk entwickelt.
Wie die meisten Nordländer machte sich Erak nicht viel aus feinen, kunstvollen Dingen. Sehr viel jedoch machte er sich aus Gold, und er wusste, dass davon in Santa Sebilla besonders viel zu finden war – viel mehr, als man normalerweise in einem so kleinen Ort erwarten würde. Die Gemeinschaft von Goldschmieden benötigte größere Mengen kostbaren Rohmaterials und in ihrem Fall waren das Gold, Silber und Edelsteine. Erak war ein glühender Anhänger des Prinzips der Umverteilung, solange ein großer Teil in seine Richtung umverteilt wurde. Entsprechend hatte er diesen Beutezug schon seit Wochen genau geplant.
Er sah sich um. Die Ankerwache von vier Männern stand am Bug der Wolfswind und würde hier bleiben, während die restliche Mannschaft ins Landesinnere aufbrach. Zufrieden nickte er.
»Schick deine Kundschafter vor«, befahl er Svengal, der daraufhin den beiden Männern das Startzeichen gab.
Das Ufer stieg hier langsam an und ging in ein von Büschen und Bäumen bewachsenes Gelände über. Die Kundschafter durchquerten schnellen Schritts dieses spärlich bewachsene Landstück und winkten die Mannschaft dann weiter. Das Gelände war zunächst flach, doch ein paar Meilen im Landesinneren erhoben sich Hügel. Die ersten rosafarbenen Strahlen der Sonne zeigten sich über ihren Spitzen. Erak wurde bewusst, dass sie ihrem Zeitplan hinterher waren. Er hatte den Ort vor Sonnenaufgang erreichen wollen, wenn die Bewohner alle noch schlaftrunken waren.
»Macht mal Tempo«, befahl er, und die Mannschaft, die in Zweierreihen aufgestellt war, setzte zu einem Dauerlauf an. Die Kundschafter bewegten sich immer etwa fünfzig Schritte vor ihnen. Erak vermutete, dass nirgendwo eine ernst zu nehmende bewaffnete Wehr verborgen war. Dennoch schadete es nicht, Vorsicht walten zu lassen.
Sie wurden von den Kundschaftern weitergewunken und überwanden einen flachen Hügel. Vor ihnen lag Santa Sebilla.
Die Gebäude waren aus Backsteinen gemauert und weiß verputzt. Später am Tag würden sie unter der heißen hibernianischen Sonne in einem fast blendenden Weiß strahlen. Im Licht der Dämmerung sahen sie jedoch matt und grau aus. Der Ort war nicht auf dem Reißbrett entworfen worden, sondern über die Jahre gewachsen, sodass Häuser und Lager dort standen, wo ihre Eigentümer es für nötig erachteten. Das Ergebnis war eine ungeordnete Ansammlung von krummen, planlosen Straßen und verstreut liegenden Gebäuden.
Erak ignorierte die langen, verwinkelten Straßenzüge mit Häusern und Läden, denn er hatte es auf das Vorratslager abgesehen – ein großes Gebäude am Stadtrand, wo das Gold und die Juwelen gelagert wurden.
Und da war es. Größer als die anderen Gebäude, mit einer dicken Holztür, die mit Messingbändern verstärkt war. Normalerweise gab es dort eine Wache, das wusste Erak. Aber sein Ablenkungsmanöver schien zu klappen, denn man hatte offensichtlich das örtliche Militär abgezogen. Eine mögliche Verteidigung konnte nur noch von einer kleinen Burg kommen, die etwa eine Meile entfernt auf den Klippen stand. Dort waren vermutlich bewaffnete Männer. Allerdings war die Burg der Sitz irgendeines unwichtigen hibernianischen Adeligen. Und so wie Erak den hochnäsigen Adel kannte, würden der Burgherr und seine Leute so wenig wie möglich mit den einfachen Händlern von Santa Sebilla zu tun haben. Zwar kauften sie Schmuck von ihnen, aber weder mischten sie sich unter die Einheimischen, noch waren sie scharf darauf, sie zu beschützen.
Die Seewölfe waren jetzt auf dem Weg zum Vorratslager. Als sie an einer Seitenstraße vorbeikamen, tauchte ein verschlafener Stadtbewohner auf, der einen mit einem schweren Stoß Feuerholz bepackten Esel am Zügel hinter sich her führte. Im ersten Moment bemerkte der Mann, der mit gesenktem Kopf schläfrig dahintrottete, die Streitmacht der bewaffneten Seewölfe gar nicht. Dann riss er die Augen auf und blieb wie versteinert stehen.
Erak sah, wie zwei seiner Männer auf ihn zugehen wollten.
»Lasst ihn«, befahl er, denn der Feuerholzverkäufer konnte ihnen kaum schaden. Die Männer traten zurück in die Reihe.
Von Eraks Stimme aufgeschreckt, ließ der Mann den Zügel fallen und rannte in die schmale Gasse zurück, aus der er gerade gekommen war. Sie hörten das Klatschen seiner bloßen Füße auf dem harten Boden, während er so schnell wie möglich die Flucht ergriff.
»Tür öffnen«, befahl Erak.
Mikkel und Thorn traten nach vorn. Mikkel, der lieber mit dem Schwert als mit der Streitaxt kämpfte, lieh sich eine Axt von einem Kameraden und gemeinsam machten sich er und Thorn an der Tür zu schaffen. Die beiden waren Eraks verlässlichste Krieger, und er nickte zustimmend, als sie die Tür mit ein paar gekonnten Schlägen zu Kleinholz zerlegten.
Thorn und Mikkel waren beste Freunde. Sie kämpften stets zusammen und vertrauten einander blind. Und doch waren sie rein äußerlich sehr unterschiedlich. Mikkel war größer und schlanker als die meisten Nordländer. Aber er war auch kräftig und muskulös und hatte die Reaktionsschnelligkeit einer Katze.
Thorn war etwas kleiner als sein Freund, hatte dafür jedoch breitere Schultern. Er gehörte zu den erfahrensten und gefährlichsten Kriegern von ganz Skandia. Trotz seiner bulligen Gestalt konnte auch Thorn sich blitzschnell bewegen, wenn es sein musste.
Erak hatte nicht viel Zeit, die beiden Männer zu beobachten, denn sie hatten die Tür im Nu zerlegt.
»Holt das Gold«, befahl er, woraufhin seine Männer ins Lager eindrangen.
Sie brauchten vielleicht eine halbe Stunde, um das Gold und Silber in Säcke zu packen. Sie nahmen so viel, wie sie tragen konnten, und mussten noch einmal genauso viel, wie sie in den Säcken hatten, zurücklassen.
Vielleicht ein andermal, dachte Erak, auch wenn er wusste, dass ein zweiter Überfall bestimmt nicht so leicht und kampflos abginge wie dieser. Er wünschte nur, er hätte sich den Esel des Feuerholzverkäufers geschnappt. Das Tier hätte weitere Goldsäcke für sie zum Schiff tragen können.
Die Bewohner des Orts waren inzwischen erwacht, ängstliche Gesichter spähten aus den Fenstern und um Straßenecken. Doch diese Leute waren keine Krieger, und niemand war bereit, den grimmig aussehenden Männern aus dem Norden entgegenzutreten. Erak nickte zufrieden, als der letzte seiner Männer so wie alle anderen beladen mit zwei kleinen, aber schweren Säcken aus dem Lagerhaus kam. Er stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Das war leicht, dachte er, sogar noch leichter, als er erwartet hatte.
Der Rückweg zur Küste ging allerdings nicht so schnell vonstatten, schwer beladen, wie sie waren. Mindestens ein Dutzend Dorfbewohner folgte ihnen. Sie hielten stets Abstand und beobachteten in ohnmächtigem Zorn, wie die Seewölfe ihre Beute wegtrugen.
»Thorn, Mikkel, ihr bildet die Nachhut«, ordnete Erak an. Er würde nicht den Fehler machen, ihre Verfolger zu unterschätzen.
Die beiden Männer nickten und reichten ihre Säcke anderen Kameraden, dann wechselten sie an den Schluss der langen Reihe. Sie marschierten etwa zwanzig Schritte hinter der Mannschaft und drehten sich immer wieder um, damit sie die Dorfbewohner im Auge behalten konnten. Einmal tat Thorn so, als wolle er zwei von ihnen angreifen, die zu nahe gekommen waren, woraufhin diese schnellstens davonliefen.
»Hasen«, sagte Mikkel abfällig.
Thorn grinste und wollte seinem Freund schon zustimmen, als er etwas entdeckte. Sein Grinsen schwand.
»Sieht so aus, als bekämen wir es auch noch mit ein paar Hasen auf Pferderücken zu tun«, sagte er.
Auf dem unwegsamen Pfad durchs Gebüsch folgten ihnen fünf Reiter. Die aufgehende Sonne ließ sowohl ihre Rüstungen als auch die Spitzen ihrer Speere funkeln. Sie befanden sich noch in einiger Entfernung zu den Nordländern, kamen jedoch rasch näher. Die beiden Kameraden konnten bereits das schwache Klimpern des Pferdegeschirrs und ihrer Ausrüstung hören.
Thorn blickte zu seinen Kameraden, die gerade in den schmalen Pfad einbogen, der zum offenen Ufergelände führte. Er stieß einen schrillen Pfiff aus und sah, wie Erak stehen blieb und sich umdrehte. Der Rest der Mannschaft lief so schnell wie möglich weiter.
Thorn deutete auf die Reiter. Da er nicht wusste, ob Erak sie sehen konnte, hielt er die rechte Hand mit ausgestreckten Fingern hoch und führte sie dann zur Faust geballt an die Schulter – das Zeichen für Feind. Er deutete wieder auf die Reiter.
Er sah, wie Erak ein bestätigendes Zeichen gab, dann auf den Eingang zum Hohlweg deutete, durch den die letzten seiner Männer gerade gingen. Thorn und Mikkel nickten beide.
»Gute Idee«, sagte Mikkel. »Wir halten sie dort auf.«
Die hohen Felswände und der schmale Durchgang würde die Reiter behindern. Außerdem konnten die beiden Seewölfe nicht seitlich angegriffen und eingekreist werden. Die Verfolger waren also zu einer Frontattacke gezwungen. Normalerweise war diese Abwehrtaktik mit einem gewissen Risiko verbunden, aber bei den beiden Seewölfen handelte es sich um sehr erfahrene und geübte Krieger. Und sie wussten, dass Erak sie nicht alleine dieser neuen Gefahr überließe. Sobald das Gold sicher auf dem Schiff verstaut war, würde er Männer zu ihrer Unterstützung schicken. Ihre Aufgabe war es nur, Zeit zu gewinnen, nicht sich selbst zu opfern. Beide Seewölfe waren zuversichtlich, ein paar Landeier zu Pferde lange genug aufhalten zu können.
Sie legten an Geschwindigkeit zu. Hinter ihnen hörten sie das Jubeln der Dorfbewohner, weil die Nordländer anscheinend um ihr Leben rannten. Aber die beiden hatten nicht die Absicht zu entkommen. Stattdessen drehten Mikkel und Thorn sich um, sobald sie den Hohlweg erreicht hatten. Sie zogen ihre Waffen und schwangen sie probeweise.
Wie die meisten Nordländer bevorzugte Thorn eine schwere Streitaxt als Waffe. Mikkel war mit einem langen Schwert bewaffnet. Beide trugen gehörnte Helme und über dem linken Arm große Holzschilde, deren Mitte und Ränder mit Metall verstärkt waren. Sie gingen in Kampfposition, sodass ihre Verfolger nur noch ihre Köpfe und Beine sahen – und natürlich die blitzenden Waffen, in denen sich das Sonnenlicht spiegelte.
Die Reiter gewannen den Eindruck, dass die Schilde und Schwerter den Zugang zum Hohlweg völlig versperrten. Da sie geglaubt hatten, dass die Nordländer panisch vor ihnen flohen, waren sie jetzt ziemlich verblüfft über das selbstbewusste Verhalten der zwei Männer. Etwa dreißig Schritte vor ihnen zügelten sie die Pferde und sahen einander an, jeder hoffte, ein anderer würde das Kommando übernehmen.
Die beiden Nordländer spürten ihre Unsicherheit und bemerkten, wie ungeschickt sie ihre Speere und kleinen runden Schilde handhabten.
»Ich denke, diese Jungen sind noch feucht hinter den Ohren«, meinte Mikkel grinsend.
Thorn nickte. »Ich bezweifle, dass sie schon viele Kämpfe erlebt haben.«
Sie hatten recht. Die Reiter, die vom Schloss gekommen waren, weil ein Bote den ganzen Weg von Santa Sebilla dorthin gerannt war und sie alarmiert hatte, waren jung und unerfahren. Sie stammten alle aus wohlhabenden Familien. Ihre Eltern hatten ihnen stets jeden Wunsch erfüllt: ein neues Kettenhemd, ein Schwert mit goldverziertem Knauf, ein edles Schlachtross. Sie betrachteten ihre Ausbildung zum Ritter eher als gesellschaftliches Muss, denn als ernsthafte Kriegskunst. Sie hatten noch nie bewaffneten und entschlossenen Kriegern gegenübergestanden und erkannten nun, dass das, was als ein aufregendes Abenteuer begonnen hatte, bei dem es galt, ein paar heruntergekommene Räuber in Angst und Schrecken davonzujagen, sich plötzlich in eine gefährliche Auseinandersetzung verwandelt hatte, bei der man den Tod finden konnte. Also zögerten sie und überlegten, was sie als Nächstes tun sollten.
Dann stieß einer, der entweder tapferer oder närrischer als seine Kameraden war, einen Kriegsruf aus und trieb sein Pferd vorwärts, während er gleichzeitig versuchte, seinen Speer auf die beiden Nordländer zu richten.
»Der gehört mir«, sagte Thorn und trat ein paar Schritte vor. Mikkel hatte nichts dagegen. Thorns riesige Axt war gegen einen Reiter die wirksamere Waffe.
Thorn musterte seinen Gegner mit zusammengekniffenen Augen. Der junge Mann schwankte im Sattel wie ein Kartoffelsack und versuchte, seinen Speer unter dem rechten Arm gerade zu halten und auf seinen Feind zu zielen. Es wäre lächerlich einfach, ihn zu töten, dachte Thorn. Aber das könnte bei seinen Kameraden den Wunsch nach Vergeltung auslösen. Besser war es, ihn zu demütigen.
Er wehrte den Speer mit seinem Schild ab und lenkte ihn mit Leichtigkeit weg. Dann schlug er die flache Seite seiner Axt gegen die Flanke des Pferds und brachte es so aus dem Gleichgewicht. Als es stolperte, drängte er mit dem Schild vorwärts und traf das Tier erneut. Das Pferd stieß gegen die raue Felswand des Hohlwegs, verlor den Tritt und kam ins Straucheln. Der Reiter hatte kaum Zeit, seine Füße aus den Steigbügeln zu bringen, um nicht unter dem Tier begraben zu werden. Er kippte zur Seite und fiel auf seinen kleinen Schild. Ungeschickt griff er nach dem Knauf seines Schwerts und versuchte, die lange Klinge aus der Scheide zu ziehen. Als er die Waffe zur Hälfte gezogen hatte, versetzte Thorn ihm einen Tritt, sodass er das Schwert loslassen musste und es ihm aus der Hand fiel.
Der junge Reiter blickte entsetzt hoch zu Thorn. Er zitterte am ganzen Leib, als er sah, wie sein Gegner die furchtbare Streitaxt schwang. Dann schlug sie nur eine Handbreit von seinem Gesicht entfernt in den Boden. Die Augen des Nordländers blickten kühl und er sagte nur ein einziges Wort.
»Lauf!«
Der junge Hibernianer stemmte sich unbeholfen hoch und wollte loslaufen. Da verspürte er einen heftigen Tritt in den Hintern, denn Thorn hatte mit dem Stiefel nachgeholfen. Stolpernd und laut schreiend rannte der junge Mann zu seinen Kameraden zurück. Ihre Pferde bewegten sich unruhig, die Furcht der Reiter übertrug sich auf die Tiere.
Hinter sich hörte der junge Mann die beiden Nordländer lachen.
Thorns Vermutung war richtig gewesen. Die offensichtliche Leichtigkeit, mit der er den Reiter kampfunfähig gemacht hatte, war wirksamer als alles andere. Indem er ihn leben ließ, hatte er gezeigt, wie gering diese Grünschnäbel von ihnen eingeschätzt wurden.
Solche Missachtung machte die Hibernianer noch unsicherer.
»Ich glaube, du hast sie eingeschüchtert.« Mikkel grinste seinen Freund an.
Thorn zuckte mit den Schultern. »Das wollte ich auch. Man sollte ihnen verbieten, mit diesen spitzen Stäben durch die Gegend zu reiten. Sie könnten sich noch selbst verletzen.«
»Schicken wir sie zum Teufel«, sagte Mikkel. »Sie gehen mir langsam auf die Nerven.«
Ohne Vorwarnung schwangen die beiden Nordländer ihre Waffen und rannten mit großem Kampfgeschrei auf die kleine Gruppe zu.
Dieser Schrecken war zu viel für die Reitergruppe. Sie sahen die furchterregenden Krieger auf sich zukommen und jeder war überzeugt, dass er das Ziel des nächsten Angriffs wäre. Der erste drehte sein Pferd und gab ihm die Sporen. Als das Tier unter ihm plötzlich einen großen Satz machte, ließ er vor Schreck den Speer fallen. Sein Verhalten war ansteckend. Innerhalb von wenigen Sekunden galoppierten alle vier davon. Das gestürzte Pferd hatte sich inzwischen hochgestemmt und rannte mit, sein Reiter stolperte hinterher, behindert durch seine engen Reitstiefel, die Sporen und die leere Schwertscheide, die gegen sein Bein schlug.
Lauthals lachend blieben Mikkel und Thorn stehen und stellten ihre Waffen ab.
»Ich hoffe bloß, sie kommen gut nach Hause«, sagte Mikkel, woraufhin Thorn nur noch lauter lachte.
»Seid ihr Mädels bereit, zu uns zu kommen?« Das war Svengal, der mit fünf Männern zurückgekehrt war, um die Nachhut zu verstärken. »Scheint, als bräuchtet ihr keine Hilfe mehr.«
Immer noch lachend steckten Thorn und Mikkel ihre Waffen weg und kehrten zurück zu Svengal und den anderen.
»Das hättest du mal sehen sollen«, begann Mikkel. »Thorn hat ihnen solche Angst eingejagt, dass sie davongelaufen sind. Der Anblick seines hässlichen Gesichts war zu viel für sie. Davon ist sogar das Pferd umgefallen.«
Svengal lachte. Er hatte der Nachhut zu Hilfe kommen wollen, dann jedoch beeindruckt zugesehen, wie Thorn mit dem angreifenden Reiter umgesprungen war.
»Tja, du hast deine Rolle auch gut gespielt«, erwiderte Thorn. »Aber ich muss zugeben, ich war wirklich überragend.«
»Ich weiß nicht, ob das richtige Wort dafür …« Mikkel hob gerade den Arm, um seinen Freund auf die Schulter zu klopfen, als der Speer ihn traf.
Er kam aus dem Nichts. Später, als Thorn darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass es vermutlich jener Speer war, den der fliehende Reiter fallen gelassen hatte. Einer der Dorfbewohner hatte ihn wohl aufgehoben und blind vor Wut nach den Nordländern geschleudert und war dann um sein Leben gerannt, ohne abzuwarten, ob er getroffen hatte.
Er hatte getroffen und das Ergebnis war verheerend. Das schwere Eisen hatte sich unter Mikkels erhobenem Arm in den Körper gebohrt. Er stieß einen Schrei aus und fiel erst auf die Knie, dann zur Seite. Entsetzt ließ Thorn sich neben seinen Freund zu Boden fallen. Er sah die Blässe im Gesicht seines Freundes, während das Leben langsam aus ihm wich.
»Schwert …«, stieß Mikkel hervor. Wenn ein Seewolf in der Schlacht ohne eine Waffe in der Hand starb, würde seine Seele in aller Ewigkeit in der Unterwelt wandern müssen. Svengal hatte bereits sein eigenes Schwert gezogen und es in Mikkels ausgestreckte Finger gedrückt. Der Verletzte sah dankbar zu ihm hoch, dann blickte er zu seinem besten Freund.
»Thorn«, keuchte er. Die Anstrengung, dieses eine Wort auszusprechen, war beinahe zu groß.
Thorn beugte den Kopf zu Mikkel. »Halte durch, Mikkel. Wir bringen dich aufs Schiff.« Das Schiff bedeutete Sicherheit und Rettung. Allein die Tatsache, an Bord zu sein, bot Seeleuten Trost in einer solchen Situation.
Doch Mikkel wusste es besser. Er schüttelte den Kopf.
»Meine Frau … der Junge … kümmere dich um sie, Thorn.«
Thorns Blick verschwamm, als er die Hand seines Freundes fasste, damit Mikkels Griff um das Heft des Schwertes nicht nachließ.
»Das werde ich. Du hast mein Wort.«
Mikkel nickte matt. »Wird nicht … leicht für ihn werden. Er braucht …«
Der Schmerz und der Schock überwältigten ihn, aber es war immer noch Leben in seinen Augen. Thorn fasste seine Hand fester, drängte ihn, den Satz zu beenden. Er musste wissen, was der letzte Wunsch seines Freundes war, er musste wissen, was er für ihn tun sollte.
»Was braucht er, Mikkel? Was ist es?«
Mikkels Lippen bewegten sich lautlos. Er nahm einen tiefen, schaudernden Atemzug, der seinen Körper schüttelte. Mit letzter Anstrengung sagte er ein Wort, bevor er starb.
»Dich!«
Kapitel zwei
Sechs Jahre später
Karina Mikkelsfrau fand Thorn an einem frühen Wintermorgen. Er lag zusammengekrümmt in Lumpen und einer mottenzerfressenen alten Felljacke, halb bewusstlos an der windgeschützten Seite ihres Gasthauses. Der leichte Schnee der Nacht hatte sein Haar weiß gepudert und das zerfressene Fell weiß gefärbt. Sein Gesicht und seine Hände waren blau von der schneidenden Kälte und seine Nase lief unablässig.
Thorn war die Nacht zuvor so betrunken gewesen, dass er auf dem Weg zum Bootsschuppen, wo er wohnte, die Richtung verloren hatte. Er war aus dem Wind in den Schutz der Wand gekrochen und hatte sich hingelegt, in der stillen Hoffnung, einfach zu sterben.
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