Die Chroniken von Araluen - Die Befreiung von Hibernia - John Flanagan - E-Book
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Die Chroniken von Araluen - Die Befreiung von Hibernia E-Book

John Flanagan

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Beschreibung

Ein mitterlalterliches Königreich, bedroht von bösen Kräften und ungeheuerlichen Kreaturen, verteidigt von einem jungen Waldläufer und seinen Freunden - willkommen in Araluen!

Die Menschheit glaubt an viele Dinge – Götter, Könige, Geld –, Hauptsache sie versprechen Schutz vor den vielfältigen Gefahren auf der Welt. Als sich im benachbarten Clonmel eine Sekte niederlässt, die verspricht gegen die Angriffe gesetzloser Plünderer vorzugehen, eilen die Menschen in Scharen herbei, um Gold gegen Schutz zu tauschen. Doch Walt hat schon eine Ahnung, welche Motive die Gruppe in Wahrheit verfolgt. Wird es ihm gelingen, gemeinsam mit Will und Horace diesen gefährlichen Feind zu vertreiben?

Spannende und actionreiche Abenteuer in einem fantastisch-mittlalterlichen Setting – tauche ein in »Die Chroniken von Araluen«!

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John Flanagan Die Chroniken von Araluen Die Befreiung von Hibernia

DER AUTOR

John Flanagan arbeitete als Werbetexter und Drehbuchautor, bevor er das Bücherschreiben zu seinem Hauptberuf machte. Den ersten Band von »Die Chroniken von Araluen« schrieb er, um seinen 12-jährigen Sohn zum Lesen zu animieren. Die Reihe eroberte in Australien in kürzester Zeit die Bestsellerlisten.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorEinsZweiDreiVierFünfCopyright

Reißer bemerkte das andere Pferd samt Reiter natürlich zuerst. Er stellte die Ohren auf, und Will spürte sein leichtes Schnauben eher, als dass er es hörte. Es war kein Warnsignal, was darauf schließen ließ, dass Reißer Pferd und Reiter kannte. Will beugte sich vor und tätschelte den Hals unter der zottigen Mähne.

»Guter Junge«, lobte er leise. »Und wo sind sie?«

Er ahnte bereits, wer das sein würde. Und noch während er sprach, trottete ein kastanienbraunes Pferd mit seinem Reiter aus dem Waldstück vor ihnen und wartete an der Wegkreuzung. Reißer schnaubte erneut und warf den Kopf zurück.

»Schon gut. Ich sehe sie auch.«

Will gab leichten Schenkeldruck, woraufhin Reißer sofort lostrabte. Der Braune wieherte und Reißer erwiderte den Gruß.

»Gilan!«, rief Will fröhlich, sobald sie in Hörweite waren. Sein Freund winkte, und als Will und Reißer schließlich neben ihm anhielten, grinste er übers ganze Gesicht.

Die beiden Waldläufer beugten sich in ihren Sätteln vor, um sich die Hände zu schütteln.

»Schön, dich zu sehen«, sagte Gilan.

»Ja, ganz meinerseits. Ich dachte mir schon, dass du es sein könntest. Reißer hat mir angezeigt, dass Freunde in der Nähe sind.«

»Deinem zottigen kleinen Pony entgeht wirklich nichts, was?«, antwortete Gilan lachend. »Sonst wärst du vermutlich schon längst nicht mehr am Leben.«

»Klein?«, erwiderte Will. »Du tust ja gerade so, als ob Blitz ein Schlachtross wäre.«

Gilans Pferd hatte zwar längere Beine als die meisten anderen Reittiere der Waldläufer, doch wie alle Pferde dieser Rasse war Blitz immer noch beträchtlich kleiner als die breit gebauten Schlachtrösser, auf denen die Ritter des Königreichs in den Kampf zogen.

Während die beiden jungen Waldläufer einander begrüßten, schien zwischen ihren Pferden ein ähnlicher Austausch stattzufinden, mit jeder Menge Schnauben und Kopfwerfen.

Gilan betrachtete die beiden belustigt. »Ich frage mich, was sie wohl gerade sagen.«

»Reißer bemitleidet Blitz, weil er einen solchen Knochensack wie dich tragen muss«, meinte Will. Gilan wollte gerade eine bissige Bemerkung machen, als Reißer seltsamerweise genau in diesem Moment nachdrücklich nickte und beide Pferde die Köpfe zu Gilan drehten. Reiner Zufall, sagte sich Gilan. Und doch war es merkwürdig, dass sie genau diesen Augenblick gewählt hatten.

»Weißt du«, sagte er kopfschüttelnd, »ich habe fast das Gefühl, du hast recht.«

Will blickte die Straße entlang, die er gerade gekommen war, dann in die andere Richtung.

»Noch nichts von Walt zu sehen.«

Gilan zuckte mit den Schultern. »Ich warte schon fast zwei Stunden und er ist immer noch nicht aufgetaucht. Eigenartig, er hat ja von uns allen den kürzesten Weg hierher.«

Es war die Zeit des jährlichen Waldläufertreffens, und bei den drei Freunden war es Brauch geworden, sich an der Wegkreuzung ein paar Meilen vor dem Versammlungsplatz zu treffen und das letzte Stück zusammen zu reiten. Vor der ersten Versammlung, an der Will teilgenommen hatte  – damals noch als Walts Lehrjunge  –, hatte Gilan versucht, seinem alten Lehrer aufzulauern, und Walt hatte diesen Versuch zusammen mit Will zunichtegemacht. Seit Will dem Lehen Seacliff zugeteilt und Gilan für Norgate verantwortlich war, trafen sie sich hier.

»Meinst du, wir sollen warten?«, fragte Will.

Gilan zuckte mit den Schultern. »Wenn er noch nicht hier ist, muss ihn etwas aufgehalten haben. Wir können genauso gut weiterreiten und schon mal die Zelte aufbauen.« Er gab seinem Pferd mit einer ganz leichten Berührung der Fersen das Kommando loszugehen. Will tat es ihm nach und sie ritten Seite an Seite weiter.

Einige Zeit später erreichten sie den Versammlungsplatz auf einer Lichtung im Wald, von der sorgfältig das Unterholz entfernt worden war. Die hohen Bäume hatte man stehen lassen, um den Waldläufern mit ihren kleinen Ein-Mann-Zelten Schutz zu bieten.

Will und Gilan ritten zu ihrem Lagerplatz und begrüßten unterwegs ihre Kameraden. Der Bund der Waldläufer war ein eingeschworener Haufen und die meisten kannten sich mit Namen. Sobald Will und Gilan an Ort und Stelle waren, schwangen sie sich vom Pferd, sattelten ab und rieben die Tiere nach dem langen Ritt trocken. Will nahm zwei faltbare Ledereimer und holte Wasser aus dem kleinen Bach, der durch das Gelände plätscherte, während Gilan eine Ration Hafer an Blitz und Reißer verteilte. In den nächsten Tagen konnten die Pferde hier in der Nähe grasen, doch nach dem langen Weg verdienten sie eine Belohnung. Und kein Waldläufer würde seinem Pferd je eine Belohnung vorenthalten.

Danach säuberten sie den Platz von kleinen Ästen und Blättern und stellten ihre Zelte auf. Die Steine der alten Feuerstelle lagen wild durcheinander, wahrscheinlich hatte ein Tier sich daran zu schaffen gemacht. Deshalb legte Will die Feuerstelle neu an.

»Ich frage mich, was Walt so lange aufhält«, überlegte Gilan und blickte nach Westen, wo die Sonne hinter den Bäumen unterging.

»Vielleicht kommt er gar nicht«, sagte Will nachdenklich.

Gilan schob die Lippen vor. »Meinst du wirklich?«, fragte er zweifelnd. »Aber er geht sehr gern zu den Jahrestreffen, und er würde bestimmt keine Gelegenheit versäumen, dich wiederzusehen.«

Auch Gilan war bei Walt in die Lehre gegangen, und er wusste, dass der einstige Waisenjunge Will fast wie ein Sohn für Walt war.

»Nein«, fuhr er fort, »ich kann mir nicht vorstellen, was ihn davon abhalten sollte.«

»Nun ja, irgendeinen Grund wird es schon haben«, warf eine vertraute Stimme hinter ihnen ein.

Will und Gilan drehten sich um. Vor ihnen stand Crowley. Der Oberste Waldläufer war ebenfalls ein Meister in der Kunst, sich lautlos zu bewegen.

»Crowley!«, rief Gilan. »Woher kommst du denn plötzlich?«

Crowley grinste. »In der Welt der Reichen und Mächtigen, wie zum Beispiel auf Schloss Araluen, ist es durchaus von Vorteil, sich unbemerkt nähern zu können«, sagte er. »Die Leute reden oft über irgendwelche Geheimnisse; ihr wärt überrascht, wie viel ich aufschnappe, bevor sie auf mich aufmerksam werden.«

Die beiden jungen Waldläufer standen auf und schüttelten ihrem Anführer und Freund die Hand. Während Gilan Kaffee kochte, wiederholte Will die Frage, die ihm nicht aus dem Kopf gehen wollte.

»Was ist denn mit Walt los? Ist es wirklich denkbar, dass er nicht zur Versammlung kommt?«

Crowley zuckte mit den Schultern. »Vorgestern habe ich eine Nachricht von ihm erhalten. Er ist an der Westküste unterwegs und geht Gerüchten über einen religiösen Kult nach. Er war sich nicht ganz sicher, ob er es rechtzeitig hierher schafft.«

»Ein religiöser Kult?«, fragte Will. »Was für ein religiöser Kult denn?«

Crowley verzog angewidert das Gesicht. »Das Übliche, fürchte ich.« Er blickte Gilan an. »Du weißt, wovon ich spreche, oder?«

Gilan nickte. »Nur zu gut. ›Schließ dich unserer neuen Religion an‹«, ahmte er nach. »›Unser Gott ist der einzig wahre, und er wird dich vor dem Unheil beschützen, das bald über die Welt hereinbrechen wird. Nur bei uns wirst du sicher sein. Oh … und übrigens, wenn’s recht ist, gib uns doch für diesen Schutz einfach alles, was du besitzt.‹ Etwa so in der Art?«

Crowley seufzte. »So ungefähr, ja. Sie warnen die Leute vor einem drohenden Unglück, dabei sind sie selbst die Schuldigen.«

Crowley sah zu, wie die beiden jungen Waldläufer sich Honig in den Kaffee löffelten, und schüttelte den Kopf. »Ich konnte mich nie an den Geschmack von Honig in meinem Kaffee gewöhnen. Walt und ich haben früher oft darüber gestritten.«

»Er ist ein guter Lehrer«, sagte Gilan und nahm genussvoll einen Schluck von seinem Kaffee. »Hat Walt auch gesagt, wie sich dieser neue Kult nennt? Meistens kommen sie mit einem hochtrabenden Namen daher«, fügte er zu Will gerichtet hinzu.

»Nein, hat er nicht«, erwiderte Crowley. Er zögerte kurz, als widerstrebte es ihm, seinen nächsten Gedanken auszusprechen. »Er war allerdings besorgt, dass wieder die Erwählten dahinterstecken könnten.«

Der Name sagte Will nichts, aber Gilan reckte sofort den Kopf. »Die Erwählten? Ich erinnere mich an den Namen aus meinem zweiten Lehrjahr. Bist du nicht damals mit Walt losgezogen, um sie aus dem Land zu jagen?«

Crowley nickte. »Zusammen mit Berrigan und noch ein paar anderen.«

»Dann muss das ja eine ziemlich knifflige Angelegenheit gewesen sein«, stellte Will fest. Es gab ein altes araluanisches Sprichwort: »Ein Aufstand, ein Waldläufer.« Es besagte, dass selten mehr als ein Waldläufer nötig war, um ein Problem zu lösen, egal, wie schwierig es auch war.

»Stimmt«, bestätigte Crowley. »Es handelte sich um eine skrupellose Truppe und ihr Gift war bereits tief in die Herzen der Landbevölkerung eingedrungen. Sie loszuwerden dauerte eine Weile. Deshalb will Walt unbedingt mehr über diese neue Gruppierung herausfinden. Wenn es sich bei ihr um wiedererstarkte Erwählte handelt, müssen wir eingreifen.«

Er schüttete den letzten Rest seines Kaffees mit dem Kaffeesatz ins Feuer und stellte den Becher ab.

»Wir sollten uns allerdings nicht unnötig den Kopf zerbrechen, bevor wir nicht wissen, um was es eigentlich geht. In der Zwischenzeit haben wir eine Versammlung vorzubereiten. Gil, du könntest unseren beiden Lehrlingen, die in diesem Jahr ihren Abschluss machen, eine Extrastunde im Anschleichen geben.«

»Einverstanden«, antwortete Gilan.

»Und was dich betrifft, Will«, sagte Crowley, »wir haben drei Neulinge im ersten Lehrjahr. Hättest du Lust, sie ein wenig zu unterstützen?«

Er riss Will damit aus seinen trübsinnigen Gedanken. Wills Enttäuschung, dass sein einstiger Lehrmeister womöglich gar nicht zur Versammlung käme, war unübersehbar. Daher hielt der Oberste Waldläufer es für angebracht, ihm eine Aufgabe zuzuteilen, die ihn ablenkte.

»Oh, entschuldige, Crowley! Was hast du gesagt?«, fragte Will schuldbewusst.

»Ich fragte, ob du vielleicht Lust hast, den drei neuen Lehrlingen ein wenig unter die Arme zu greifen«, wiederholte Crowley.

Will nickte hastig. »Ja, natürlich! Entschuldigung. Ich dachte gerade an Walt. Ich hatte mich so darauf gefreut, ihn zu sehen.«

»Das haben wir alle«, sagte Crowley. »Sein mürrisches Gesicht lässt für uns die Sonne aufgehen. Aber für diese Dinge wird später noch genug Zeit sein.« Er zögerte. »Um genau zu sein … aber nein, das muss warten.«

»Was muss warten?« Wills Neugierde war geweckt. Crowley lächelte. Neugierde war das Merkmal eines guten Waldläufers. Aber Disziplin gehörte auch dazu.

»Lass gut sein, ich erzähle es bei passender Gelegenheit. Im Augenblick wäre ich dir dankbar, wenn du die Jungen im Bogenschießen unterstützt und eine taktische Übung mit ihnen durchführst.«

»Du kannst dich auf mich verlassen.« Will überlegte kurz, dann fragte er: »Soll ich mir selbst etwas Passendes ausdenken?«

Crowley schüttelte den Kopf. »Nein. Das haben wir schon gemacht. Kümmere dich nur darum, dass sie es schaffen. Die Übung dürfte dich amüsieren«, fügte er geheimnisvoll hinzu, stand auf und klopfte sich den Hosenboden ab. »Danke für den Kaffee«, sagte er gut gelaunt. »Wir sehen uns spätestens bei der Feier.«

Also gut«, sagte Will zu den drei Jungen. »Zeigt mir, wie gut ihr schießt. Zehn Pfeile auf jedes Ziel.«

Er deutete auf die drei großen Zielscheiben mit dem schwarzen Kreis in der Mitte, die in fünfundsiebzig Schritten Entfernung aufgestellt waren. Die drei Jungen traten vor an die Linie. Etwas weiter weg übten gerade zwei Waldläufer, sie schossen auf Ziele, die nicht größer als ein Teller waren und einhundertundfünfzig Schritte entfernt standen. Einen Moment lang sahen die drei Lehrlinge ehrfürchtig zu, wie die beiden Bogenschützen einen Pfeil nach dem nächsten in das kaum zu erkennende Ziel trafen.

»Irgendwann vor Sonnenuntergang wäre nett«, sagte Will trocken. Er merkte nicht, dass er in dem gleichen spöttischen Ton sprach, für den Walt bekannt war.

»Ja, Sir. Entschuldigung, Sir«, antwortete der Junge gleich neben ihm, und alle drei sahen Will aus großen Augen an. Er seufzte.

»Stuart?«, sagte er zu dem Jungen, der sich gerade bei ihm entschuldigt hatte.

»Ja, Sir?«

»Sprich mich nicht mit Sir an. Wir sind beide Waldläufer.«

»Aber…«, begann einer der anderen, ein roter Lockenschopf, dem die Haare immer in die Stirn fielen. Wie hieß er noch gleich?, überlegte Will. Ah, richtig. Liam!

»Ja, Liam?«

Der Junge scharrte verlegen mit den Füßen. »Aber wir sind Lehrlinge und Ihr…« Er hielt inne. Eigentlich hatte er sagen wollen: »Aber wir sind Lehrlinge und Ihr seid Ihr.«

Denn auch wenn Will das nicht klar war: Die Jungen bewunderten ihn. Er war der legendäre Will Hallas, der Waldläufer, der die Tochter des Königs vor Morgaraths Armee von Wargals gerettet hatte und der mit ihr zusammen die Entführung nach Skandia überstanden hatte. Außerdem hatte er Bogenschützen für die Schlacht gegen die Temujai-Reiter ausgebildet und angeführt. Und es war noch gar nicht lange her, da hatte er eine Invasion der Skotten an der Nordgrenze des Königreichs verhindert.

Die drei Lehrlinge bewunderten jeden ausgebildeten Waldläufer, aber Will Hallas war obendrein nur ein paar Jahre älter als sie und wie dafür geschaffen, von ihnen als Held verehrt zu werden. Entsprechend überrascht waren sie gewesen, als sie ihm zum ersten Mal begegnet waren. Sie hatten jemanden erwartet, der viel größer war  – einen richtigen Helden eben. Stattdessen standen sie einem jungen schlanken Mann mit einem vergnügten Grinsen gegenüber, der sogar etwas kleiner als der Durchschnitt war. Will war halb amüsiert, halb war es ihm peinlich. Dieses Verhalten war er eigentlich von Leuten gewöhnt, die Walt zum ersten Mal sahen. Dass sein eigener Ruf inzwischen fast dem seines einstigen Lehrmeisters gleichkam, wusste er nicht.

Eines verstand er aber sehr wohl, nämlich, dass ihnen der Unterschied zwischen einem ausgebildeten Waldläufer und einem Lehrling bewusst war. Ihm war es damals nicht anders gegangen.

»Ihr werdet zu Waldläufern ausgebildet«, erklärte er. »Und die Betonung liegt auf ›Waldläufern‹.« Er berührte das silberne Eichenblatt, das um seinen Hals hing. »Als Träger des silbernen Eichenblatts kann ich vielleicht Gehorsam und ein gewisses Maß an Respekt von euch erwarten. Aber ich erwarte nicht, dass ihr mich mit Sir ansprecht. Mein Name ist Will, und so sollt ihr mich auch nennen. So würdet ihr es bei meinem Freund Gilan halten und auch bei meinem früheren Lehrmeister Walt, wenn er hier wäre. So ist es bei den Waldläufern Sitte.«

Die Waldläufer waren eine besondere Truppe, und gelegentlich mussten sie Autorität gegenüber Leuten ausüben, die dem Rang nach über ihnen standen. Es war wichtig, dass die Lehrlinge beizeiten ein entsprechendes Selbstbewusstsein entwickelten.

Die drei Jungen tauschten untereinander Blicke aus, und prompt sah Will, wie ihre Schultern sich hoben und sie das Kinn ein wenig höher trugen.

»Ja … Will«, sagte Liam versuchsweise. Dann nickte er, als gefiele ihm der Klang der Worte. Die anderen nickten ebenfalls. Will ließ ihnen einen Moment Zeit, um das neu gewonnene Selbstvertrauen zu genießen, dann blickte er bedeutungsvoll zum Himmel.

»Tja, der Sonnenuntergang rückt immer näher«, sagte er wie zu sich selbst. Er verkniff sich ein Lächeln, als sofort drei Pfeile aus den Köchern gezogen wurden. Ein paar Sekunden später hörte er bereits das vertraute Zischen der Pfeile auf dem Weg ins Ziel.

»Zehn Schüsse«, sagte er. »Dann sehen wir nach, wie gut ihr getroffen habt.«

Er ging zu einem Baum in der Nähe, setzte sich und lehnte sich mit dem Rücken bequem gegen den Stamm. Die Kapuze über den Kopf gezogen und das Gesicht entsprechend im Schatten, schien er ein Nickerchen zu machen.

Doch in Wirklichkeit verfolgte er jede Kleinigkeit und beobachtete insbesondere die Schusstechnik der drei Jungen.

Während der nächsten zwei Tage versuchte Will, diese zu verbessern. Liam hatte sich angewöhnt, den rechten Daumen am Mundwinkel als Maßstab für einen voll ausgezogenen Bogen zu nehmen.

»Nimm stattdessen lieber den Zeigefinger«, riet Will ihm. »Wenn du den Daumen nimmst, dreht deine Hand leicht nach rechts ab und das wirkt sich auf die Zielgenauigkeit aus.«

Liam nickte und befolgte den Rat. Sofort verbesserte sich seine Treffsicherheit.

Nick, der Stillste der drei, fasste seinen Bogen zu fest. Er war ein ernster Junge, der unbedingt immer alles richtig machen wollte. Aus diesem Grund umklammerte er den Bogen, statt ihn so locker zu halten, wie es nötig war. Ein zu fester Griff führte aber dazu, dass man den Bogen beim Abschuss verzog und das Ziel verfehlte. Auch bei ihm korrigierte Will den Fehler und ließ ihn dann weiterüben.

Stuart stellte sich recht geschickt an und machte keine offenkundigen Fehler. Doch auch er würde nur durch unermüdliches Üben die erwünschte Fertigkeit erlangen.

»Üben, üben und nochmals üben«, sagte Will. »Vergesst nie das alte Sprichwort: ›Ein normaler Bogenschütze übt, bis er es kann. Ein Waldläufer übt …« Er wartete, dass jemand den Satz beendete.

»Bis er niemals danebenschießt«, riefen die drei Lehrlinge im Chor.

Will nickte lächelnd. »Vergesst das nie.«

Am dritten Tag gab es eine Pause von den stundenlangen Übungen mit Pfeil und Bogen. Am Vorabend hatten die Jungen die schriftliche Aufgabe mit einer taktischen Fragestellung erhalten, die man sich für sie ausgedacht hatte. Die Stunden zwischen Abendessen und Lichtlöschen hatten sie damit verbracht, sich mit dem vorliegenden Problem zu beschäftigen und an einer Lösung zu knobeln.

Will hatte man die Aufgabenstellung ebenfalls ausgehändigt. Er schüttelte den Kopf, als er sie las. »Crowley und sein Sinn für Humor«, seufzte er.

Gilan hob den Kopf. Er war gerade dabei, einen Riss in seinem Umhang auszubessern. Er hatte nämlich ausgerechnet einen Dornenbusch ausgesucht, um vorzuführen, wie man sich am besten ungesehen bewegt, und dabei war sein Umhang zu Schaden gekommen.

»Wieso? Was hat er denn gemacht?«, fragte er.

Will hielt die Pergamentrolle hoch. »Die taktische Übung! Jetzt verstehe ich auch Crowleys Andeutung, ich würde mich gewiss amüsieren. Die Jungen sollen einen Weg finden, um eine vom Gegner besetzte Burg einzunehmen. Sie müssen sich Verbündete suchen und die Burg zurückgewinnen. Kommt dir das irgendwie bekannt vor?«

Gilan grinste. »Ich meine, schon mal von einem ähnlichen Vorfall gehört zu haben«, gab er zu. Natürlich war das die Situation, der sich Will im Winter vor Burg Macindaw gegenüber gesehen hatte.

»Mein Leben scheint allen als Lehrbeispiel zu dienen«, murrte Will.

Er kam damit der Wahrheit näher, als er ahnte. Crowley hatte den Mitgliedern des Bundes einen ausführlichen Bericht über die Belagerung zukommen lassen und alle waren äußerst beeindruckt von Wills Vorgehensweise gewesen. Von da an nahm man ihn sich zum Vorbild, wenn man eine viel kleinere Streitkraft zur Verfügung hatte, als ratsam war.

Gilan wusste all das, aber er hütete sich, es Will zu verraten. Er spürte, dass es seinem Freund peinlich wäre, einen solchen Bekanntheitsgrad zu besitzen. Deshalb war Will auch der einzige Waldläufer, dem Crowleys Zusammenfassung der damaligen Ereignisse nicht zugegangen war.

»Was steht ihnen denn zur Verfügung?«, fragte Gilan.

Will runzelte die Stirn. Am Ende der Aufgabenstellung fand sich eine Liste der Mittel, die bei der Lösung des Problems verwendet werden durften.

»Ein Wandergaukler«, las er vor. Das war seine eigene Verkleidung in Macindaw gewesen. »Sehr lustig. Ein Ritter zu Pferd  – Gruß an Horace! Die frühere Garnison der Burg, insgesamt vierzig Soldaten, die natürlich im ganzen Land verstreut sind. Ein Trupp Akrobaten und Spielleute … hm, die könnten von Nutzen sein. Und die Dorfbewohner.«

»Keine Nordländer, die Schiffbruch erlitten haben, oder geheimnisvolle Zauberer?«, neckte ihn Gilan.

Will schnaubte. »Nein. Wenigstens die hat Crowley mir erspart.«

Er dachte noch einmal über die Aufgabenstellung nach. Akrobaten! Die könnte man einsetzen, um auf die Burgmauern zu gelangen…

Dann blickte er hoch und schüttelte über sich selbst den Kopf. Das hier war nicht seine Angelegenheit, sondern die der drei Jungen. Seine Aufgabe war es, die Umsetzbarkeit ihrer Lösung zu prüfen.

»Klingt nach Spaß«, meinte Gilan.

Will zuckte mit den Schultern. »Mal sehen, was sie sich ausgedacht haben.«

Walt lag bewegungslos in den Ginsterbüschen am Hang über dem Dorf Selsey. Sein Umhang verbarg ihn vor Blicken, während er das Geschehen weiter unten verfolgte. Er hatte das Dorf nun bereits seit einigen Tagen beobachtet, unbemerkt von dessen Bewohnern oder den Fremden, die an der Küste ihr Quartier aufgeschlagen hatten.

Selsey war ein nettes kleines Fischerdorf. Rund ein Dutzend Hütten drängte sich am Nordende der Küste, unmittelbar am Fuße eines steilen Berges. Der Küstenstreifen war schmal, kaum dreihundert Fuß breit, und das Dorf lag ganz am Ende der Bucht.

Das Bergmassiv, das die Bucht auf drei Seiten umgab, fiel steil nach unten ab und war zugleich hoch genug, um das Dorf und die Bucht vor Wind und Stürmen zu schützen. Die vierte Seite war zum Meer hin offen. Aber Walts aufmerksamem Blick entging nicht der Wirbel im Wasser, der an einer Stelle auf einen Damm schließen ließ  – eine Anhäufung von Steinen unter der Wasseroberfläche, um die größten Wellen vor dem Einlaufen zu brechen.

Auf der Südseite der Bucht machte Walt einen schmalen Streifen ruhigen Wassers aus, das die Passage in die Bucht hinein bildete. Das musste die Stelle sein, von wo die Fischerboote in See stachen.

Die Hütten waren zwar klein, aber keine ärmlichen Katen. Sie waren solide gebaut, frisch gestrichen und sahen recht gemütlich aus. Die Boote waren ähnlich gut instand gehalten und gepflegt. Die Masten und Ausleger waren zum Schutz vor Salzwasser und der salzhaltigen Luft frisch lackiert, die Segel ordentlich verstaut.

Auf den ersten Blick schien das Dorf klein und unbedeutend zu sein, aber dieser Eindruck täuschte. Es war eine gut organisierte kleine Gemeinschaft, und an einer Küste, an der es nur wenige geschützte Flecken wie diesen gab, hatten es Fischer nicht schwer, gute Absatzmärkte für ihren Fang zu finden. Daher handelte es sich um eine durchaus wohlhabende Gemeinde.

Und das erklärte auch die Anwesenheit der Erwählten. Walt war froh, dass er sich dafür entschieden hatte, bei der diesjährigen Versammlung der Waldläufer zu fehlen und stattdessen den Gerüchten nachzugehen, die von der Westküste Araluens eingetroffen waren.

Es waren kaum mehr als vage Andeutungen gewesen, denn dieser Teil der Küste war eine der wenigen Gegenden, die nicht der Rechtsprechung eines der fünfzig Lehen unterstand. Das Landstück war vor vielen Jahren, als die Lehensgrenzen gezogen wurden, aus irgendeinem Grund übersehen worden. Anfänglich hatte eine Gruppe vertriebener Hibernianer es für sich beansprucht. Der König von Araluen hatte sich damals die unwirtliche Küstengegend nur kurz auf der Landkarte angesehen und dann beschlossen, sich nicht darum zu streiten. Stattdessen richtete er sein Augenmerk darauf, fünfzig aufsässige, verfeindete Barone zu einen, um eine Regierungsstruktur für das Land als Ganzes zu schaffen.

Also war dieser etwa fünfzehn Meilen lange Teil der Küste sich selbst überlassen worden. Wäre dem König damals klar gewesen, dass er damit die Kontrolle über einen der besten natürlichen Hafen im Umkreis von hundert Meilen aufgab, hätte er vielleicht anders entschieden. So jedoch konnte die kleine Fischersiedlung über die Jahre hinweg unauffällig erblühen, ohne Rechenschaft schuldig zu sein und ohne Steuern zu bezahlen.

Da sie aber so nahe an der äußersten Westgrenze des Lehens Redmont lag, hatte Walt sie über die Jahre hinweg immer im Auge behalten, ohne dass die Einwohner es bemerkt hatten. In den letzten Monaten hatte er Gerüchte über eine religiöse Gruppierung gehört, deren Verhalten ihm nur allzu bekannt vorkam. Die Leute sprachen von Neuankömmlingen in Dörfern oder Weilern, die angeblich nur Freundschaft suchten. Die Fremden schenkten den Kindern Spielsachen und überreichten den Anführern der Gemeinschaft kleine Geschenke.

Im Gegenzug baten sie um nichts weiter als einen Platz, wo sie ihrem hochherzigen und gütigen Gott, dem Goldenen Gott Alseiass huldigen konnten. Sie machten keinen Versuch, die Einheimischen zu ihrer Religion zu bekehren. Alseiass war ein großzügiger Gott, der die Rechte der anderen Götter respektierte.

Und so lebten die Erwählten  – diesen Namen hatten sich die Anhänger von Alseiass gegeben  – einige Wochen lang harmonisch mit den Einheimischen zusammen.

Dann passierten auf einmal merkwürdige Dinge. Vieh starb unter geheimnisvollen Umständen. Schafe und Haustiere wurden verkrüppelt aufgefunden. Ernten und Häuser wurden niedergebrannt. Brunnen wurden vergiftet. Bewaffnete Banditen und Räuber tauchten in der Gegend auf, überfielen Reisende und abgelegene Bauernhäuser. Je mehr Zeit verging, desto gewagter und gewalttätiger wurden die Angriffe. Eine regelrechte Schreckensherrschaft begann und die Einheimischen fürchteten um ihr Leben. Ein solches Dorf befand sich dann geradezu im Belagerungszustand, und niemand wusste, wann der nächste Angriff kam.

Das war der Moment, an dem die Erwählten auf den Plan traten. Die Banditen, so behaupteten sie, seien Anhänger des bösen Gottes Balsennis  – einem dunklen Gott, der Alseiass und alles, wofür er stand, hasste. Sie behaupteten auch, dies bereits woanders erlebt zu haben. Balsennis versuche, jede Gemeinschaft zu ruinieren, wo Alseiass und seine Anhänger Glück fanden. Doch Alseiass sei der Stärkere der beiden und könne helfen. Alseiass könne die Anhänger seines dunklen Bruders vertreiben und dem Dorf wieder den Frieden sichern.

Natürlich gab es dafür einen Preis. Um Balsennis zu vertreiben, müssten besondere Gebete gesprochen und Beschwörungen abgehalten werden. Alseiass konnte es schaffen, aber man müsste einen besonderen Schrein und Altar für die Vertreibungszeremonien bauen. Er sollte aus den reinsten Materialien gemacht sein: aus weißem Marmor, kostbarem Zedernholz, ohne Knoten oder Astlöchern … und natürlich aus Gold.

Alseiass war schließlich der Goldene Gott. Er bezog seine Stärke aus dem wertvollen Metall; Gold gab ihm die nötige Macht, um Balsennis zu besiegen.

Früher oder später willigten die Dorfbewohner ein. Angesichts der immer heftigeren Angriffe und Unglücksfälle holten sie ihre Ersparnisse hervor und brachten versteckte Schätze herbei. Je länger sie zögerten, desto schlimmer wurden die Angriffe. Wurden anfänglich nur Tiere getötet, so traf es bald auch Menschen. Irgendwann fand man die Anführer der Gemeinschaft ermordet in ihren Betten auf. Spätestens dann rückten die Dorfbewohner ihre Schätze heraus. Der Schrein wurde gebaut. Die Erwählten beteten, sangen und fasteten.

Daraufhin blieben die Angriffe aus und die »Unfälle« wurden weniger. Die Banditen ließen sich seltener sehen und das Leben ging wieder seinen gewohnten Gang.

Bis dann eines Tages, wenn das Dorf völlig ausgeplündert war, die Erwählten spurlos verschwanden. Die Dorfbewohner wachten auf und stellten fest, dass die Anhänger von Alseiass fort waren  – und mit ihnen das Geld und Gold der Einheimischen.

Die Erwählten zogen weiter und woanders begann das Spiel von Neuem.

Walt war zu einem Zeitpunkt in die Gegend gekommen, wo die Erwählten angeblich beteten und fasteten, um das Dorf vor den Übergriffen von Balsennis zu schützen. Der Waldläufer hatte aber auch gesehen, welche Menge an Nahrungsmitteln die Erwählten versteckt hatten  – ein Beweis dafür, dass das »Fasten« genauso falsch war wie ihre Religion.

Und er hatte entdeckt, wo diejenigen lagerten, die für die Erwählten die grobe Arbeit erledigten  – skrupellose Handlager, die Scheunen niederbrannten, Tiere abschlachteten und die Dorfältesten entführten und ermordeten. Natürlich achteten sie darauf, dass die Dorfbewohner von dieser Komplizenschaft nichts mitbekamen. Es war ein gut geplantes Vorhaben. Walt hatte all das vor vielen Jahren schon einmal erlebt. Und nun ging es wieder los.

Walt sah jetzt eine Gestalt aus einem großen Zelt kommen, das am Rand des Küstenstreifens aufgebaut war, nahe der Stelle, wo die Fischerboote aus dem Wasser gezogen und abgelegt wurden.

Der Mann war groß und kräftig. Sein langes graues Haar war in der Mitte gescheitelt. Aus dieser Entfernung konnte Walt seine Gesichtszüge nicht genau erkennen, doch aufgrund der bisherigen Beobachtung wusste er, dass das Gesicht des Mannes voller Pockennarben war. Davor hat Alseiass ihn anscheinend nicht beschützen können, dachte Walt grimmig.

Der Stab, den der Mann trug, wies ihn als Anführer aus. Es war ein einfacher, ungehobelter Ast, dessen oberes Ende mit einer Steinplatte besetzt war, die das Symbol der Erwählten zeigte: ein mit Runen verzierter Kreis, in der Mitte mit einer Kugel besetzt, die mittels eines schmalen, steinernen Stegs mit einer kleineren Halbkugel außerhalb des Kreises verbunden war. Walt beobachtete den Anführer, der zielgerichtet auf das größte Haus des Dorfes zuging.

»Noch ein bisschen mehr Gold eintreiben, was?«, murmelte Walt. »Mal sehen, was wir da unternehmen können.«

Der Anführer traf sich vor dem Haus mit einer Gruppe Dorfbewohner  – offensichtlich die Dorfältesten  – und es begann ein lebhaftes Gespräch. Walt hatte das alles früher schon erlebt. Der Anführer teilte den Dorfältesten zögernd mit, dass mehr Wertsachen nötig wären. Alseiass brauche zusätzliche Stärke, um seinen alten Feind zu besiegen, und die bekam er nur durch Gold und Juwelen. Gerade weil der Anführer nur zögernd um mehr bat und bei einer Weigerung nicht weiter darauf beharrte, vermied er den Eindruck, er wolle das Gold für sich selbst.

Walt beobachtete, wie der Anführer mit den Schultern zuckte und sich abwandte. Vermutlich hatte er gerade erklärt, dass er und seine Leute weiter beten und fasten würden, um den Dorfbewohnern zu helfen.

»Und heute Nacht«, murmelte Walt vor sich hin, »wird eines der Häuser in Flammen aufgehen.«

Die drei Lehrlinge saßen in einer abgeschiedenen Lichtung, die Pergamentrollen mit der Aufgabenbeschreibung auf den Knien, und sahen Will erwartungsvoll an.

»Also gut«, begann Will. Er war leicht irritiert von den gespannt auf ihn gerichteten Blicken. Womöglich dachten die Jungen, er hätte bereits die perfekte Lösung für sie parat. Doch das war nicht der Sinn der Sache.

»Ihr habt alle die Aufgabenstellung gelesen?«

Die drei nickten.

»Alles verstanden?«

Wieder kam ein Nicken.

»Also, wer will sich als Erster daran versuchen?«

Nach einem Augenblick des Zögerns schoss Nicks Hand nach oben. Will verwunderte das nicht. Er hatte bereits vermutet, dass Nick den Anfang machen würde.

»Sehr gut, Nick, dann lass mal hören«, forderte Will ihn auf.

Nick räusperte sich mehrmals. Er sah seine Notizen durch und redete dann vornübergebeugt in einem einzigen Wortschwall los.

»Alsogutdasproblemistdasswirkeineausreichendezahlansoldatenhabenumdieübliche …«

»Hoppla!«, unterbrach ihn Will. Nick sah nervös auf, er ahnte, dass er etwas falsch gemacht hatte.

»Langsam!«, mahnte Will ihn. Nick war ehrgeizig, das hatte Will längst erkannt. Er hatte überstürzt geantwortet, so wie er zuvor den Bogen allzu fest gefasst hatte.

»Immer mit der Ruhe, Nick«, sagte er aufmunternd. »Nehmen wir mal an, man hat dich gerufen, um deinen Plan König Duncan vorzulegen…« Er machte eine Pause und sah, wie die Augen des Jungen bei diesem Gedanken groß wurden. Verständnisvoll fügte er hinzu: »Das ist gar nicht so unwahrscheinlich, weißt du. Das tun wir Waldläufer von Zeit zu Zeit. Aber du würdest doch nicht ins Schloss stürmen und dabei rufen: ›Hallokönigduncanichsolleucheinpaarideenlieferndasmachichdochglattsofort‹, oder?« Er hatte Nicks atemlose Redeweise ziemlich gut nachgeahmt und die anderen beiden Jungen lachten. Nick stimmte nach kurzer Verlegenheit ebenfalls ein.

»Nein, das würdest du nicht«, beantwortete Will seine eigene Frage. »Wenn du einen Plan erklärst, dann musst du langsam und deutlich sprechen, damit die Leute verstehen, was du meinst. Du musst deine Ideen gut durchdacht haben und sie in logischer Abfolge vorstellen. Also, jetzt hol mal tief Luft …«

Nick atmete tief ein und aus.

»Und fang noch einmal von vorne an. Langsam.«

»Also gut«, sagte Nick, »das Problem ist, dass wir keine ausreichende Zahl an Soldaten haben, um eine richtige Belagerung durchzuführen. Also müssen wir einen Weg finden, um erstens Truppen aufzutreiben und zweitens die zahlenmäßige Unterlegenheit auszugleichen.«

Er sah erwartungsvoll auf. Will nickte.

»So weit, so gut. Und dein Vorschlag?«

»Ich schlage vor, die fünfunddreißigköpfige Mannschaft eines nordländischen Schiffes als Angriffstruppe zu rekrutieren unter dem Kommando des Ritters zu Pferde, der bereits zu meiner Verfügung ist. Die Schlagkraft der Nordländer in einer Schlacht würde die zahlenmäßige Unterlegenheit mehr als …«

Will fuchtelte in der Luft herum, um den Wortschwall einzudämmen.

»Hoppla! Hoppla!«, rief er. »Immer langsam mit den jungen Pferden. Nordländer? Wo kommen die denn auf einmal her?«

Nick sah ihn verblüfft an.

»Na ja … wahrscheinlich aus Skandia«, erwiderte er, und die beiden anderen Jungen nickten eifrig.

»Nein, nein, nein«, begann er, doch dann kam ihm ein Gedanke und er sah die anderen zwei stirnrunzelnd an.

»Habt ihr alle beschlossen, eine Schiffsmannschaft von Nordländern zu rekrutieren?«, fragte er.

Liam und Stuart nickten.

»Tja, und wie kommt ihr darauf, dass ihr das tun könnt?«, fragte er. Die Jungen sahen einander an, dann antwortete Liam.

»Das ist das, was du bei der Burg Macindaw gemacht hast.« Sein Ton verriet, dass er die Frage für überflüssig hielt.

Will hob hilflos die Hände. »Aber ich kannte die Nordländer. Sie sind meine Freunde.«

Liam zuckte mit den Schultern. »Ja, klar. Aber ich könnte sie auch kennenlernen. Alle sagen immer, dass ich ziemlich leicht Freundschaften schließe. Bestimmt könnte ich sie zu meinen Freunden machen.« Nick und Stuart nickten beifällig.

Will deutete auf die Pergamentrolle.

»Aber es gibt keine Nordländer auf eurer Liste!«, erinnerte er die Jungen. »Wie kommt ihr also darauf, dass ihr sie einfach … herzaubern könnt?«

Wieder tauschten die Jungen Blicke aus. Diesmal antwortete Stuart.

»In der Aufgabenstellung heißt es, wir sollen unsere Vorstellungskraft einsetzen …« Er zögerte.

Will forderte ihn mit einem Wink auf, weiterzureden.

»Also stellen wir uns vor, dass es Nordländer in der Gegend gibt.«

»Und dass wir mit ihnen befreundet sind«, warf Liam ein.

Will stand auf. Zum ersten Mal hatte er eine Ahnung davon, was Walt im ersten Jahr von Wills eigener Lehrzeit durchgemacht hatte. Für die Jungen schien alles, was sie vorbrachten, so logisch.

»Aber das geht nicht!«, rief er ungeduldig. Als er ihre bekümmerten Mienen sah, zwang er sich zur Ruhe. »Die Aufgabenstellung gibt euch genau vor, welche Personen und Gegenstände ihr einsetzen dürft. Ihr könnt nicht einfach Sachen erfinden, die euch in den Kram passen.«

Alle drei machten enttäuschte Gesichter.

»Ich meine, wenn ihr das tun dürftet, könntet ihr euch ja gleich ein Dutzend Riesentrolle ausdenken, die losstürmen und die Mauern für euch einreißen.«

Nick, Liam und Stuart nickten pflichtschuldig, und Will fügte hastig hinzu: »Das war ein Scherz!« Woraufhin sie ein zweites Mal nickten. Mit einem Seufzer setzte er sich wieder.

Die drei Jungen begriffen, dass sie wieder von vorn anfangen mussten. Als Will merkte, wie niedergeschlagen sie waren, gab er sich einen Ruck. Er hatte nicht vor, ihnen die Arbeit abzunehmen, aber ein kleiner Wink konnte nicht schaden.

»Also gut, zuerst sehen wir uns mal an, was wir zur Verfügung haben.«

»Wir haben eine Truppe Akrobaten«, begann Liam.

Will sah ihn an. »Fällt dir etwas ein, wofür wir sie brauchen könnten?«

Liam schob nachdenklich die Lippe vor.

»Sie könnten unsere Truppen unterhalten und die Moral steigern«, sagte Nick.

»Wenn wir Truppen hätten«, warf Stuart ein.

»Sobald wir Truppen haben!«, verbesserte Liam gereizt.

Will wollte nicht, dass sie ihre Zeit mit kleinlichen Streitereien verschwendeten, deshalb gab er ihnen einen weiteren Hinweis.

»Was hält euch davon ab, in die Burg zu gelangen? Worin besteht die Hauptabwehr einer Burg?«, fragte er.

Stuart antwortete in einem Ton, der verriet, dass er die Frage für kinderleicht hielt. »Die Mauern natürlich.«

»Genau. Hohe Mauern. An die fünfzehn Fuß hoch.« Will machte eine erwartungsvolle Pause und sah nacheinander die drei Jungen an. »Gibt es womöglich einen Zusammenhang zwischen hohen Mauern und Akrobaten?«

Plötzlich dämmerte es den dreien. »Sie könnten die Mauern hochklettern«, rief Nick.

Will deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. »Genau. Aber ihr braucht trotzdem Kampftruppen. Wohin ist die Garnison verschwunden?«

»Die Soldaten sind überall im Lehen verstreut, zurück in ihren Bauernhöfen und Weilern.« Das kam von Liam. Er runzelte die Stirn und dachte laut weiter. »Wir bräuchten jemanden, der von Ort zu Ort reist und sie zusammentrommelt …«

»Aber der Feind darf es nicht bemerken«, warf Will schnell ein.

»Der Gaukler!«, rief Stuart triumphierend aus. »Er erregt keinen Argwohn, wenn er im Land umherreist!«

Will lehnte sich lächelnd zurück. »Jetzt fangt ihr endlich an euren Kopf zu benutzen!«, sagte er. »Macht weiter und kommt am Nachmittag mit euren Vorschlägen und Ideen zu mir.«

Die drei Jungen sahen einander an und grinsten zufrieden. Sie konnten es kaum erwarten, den Plan weiterzuentwickeln. Sie sprangen auf, aber Will hielt sie zurück.

»Noch etwas: das Dorf. Wie viele Einwohner hat es?«

Nicks Antwort kam prompt. »Zweihundert. Aber es gibt nur wenige Krieger dort. Die meisten sind Bauern und Tagelöhner.«

»Ich weiß«, sagte Will. »Aber denkt mal darüber nach, was das Gesetz über jedes Dorf sagt, das mehr als hundert Einwohner hat.«

Das Gesetz verlangte, dass jedes Dorf mit mehr als hundert Einwohnern seine jungen Männer als Bogenschützen ausbildete. So konnte Araluen eine große Streitmacht an Bogenschützen vorhalten, die bei Bedarf in die Armee einberufen wurden. Will sah, dass die Jungen darauf noch nicht gekommen waren, und kam zu dem Schluss, dass er ihnen nun genug geholfen hatte.

»Denkt darüber nach«, wiederholte er und schickte sie weg. Er lauschte ihrem aufgeregten Plappern, während sie weggingen, und lehnte sich an den Baumstamm. Unterrichten war anstrengend, so viel stand fest.

»Gute Arbeit«, dröhnte Crowleys Stimme hinter dem Baum hervor.

Will zuckte zusammen und setzte sich verblüfft auf. »Crowley!«, rief er aus. »Lass das! Du hast mich erschreckt.«

Der Kommandant lachte, trat näher und setzte sich neben Will auf einen großen umgestürzten Baumstamm.

»Das hast du sehr gut gemacht. Unterrichten ist gar nicht so einfach. Man muss entscheiden, wie stark man die Schüler in die richtige Richtung lenkt und wann man sie allein nachdenken lässt. Du wirst ein guter Lehrer sein, wenn du selbst einen Lehrling bekommst.«

Will sah ihn verblüfft, ja fast ein wenig entsetzt an. Einen Lehrling? Das bedeutete eine große Verantwortung, nicht zu vergessen die ständige Ablenkung, wenn man andauernd einen jungen Menschen an den Fersen hatte, der Fragen stellte oder losstürmte, noch bevor ein Problem richtig durchdacht war …

Plötzlich wurde ihm klar, dass er an sein eigenes Verhalten als Lehrling dachte, und erneut verspürte er großes Verständnis und Hochachtung für Walt.

»Das hat noch Zeit«, sagte er.

Crowley nickte.

»Ja, das hat es. Einstweilen habe ich andere Pläne für dich.«

Als Will mehr von ihm wissen wollte, lächelte Crowley nur. »Dazu kommen wir noch, wenn es so weit ist.«

Und das war für den Augenblick alles, was Will aus ihm herausbekam.

Es war nach Mitternacht. Selsey war dunkel und lag still da, sämtliche Einwohner schliefen. Niemand hielt Wache. In diesem abgelegenen Dorf hatte es dafür nie eine Notwendigkeit gegeben.

Aber heute Nacht war das anders  – genau wie Walt es erwartet hatte.

Er kauerte hinter einem der vielen Fischerboote, das auf den Sandstreifen hochgezogen worden war, damit das Wasser es bei Flut nicht umspülte. Walt hatte angenommen, dass die Erwählten bei einem der Häuser zuschlagen würden. Aber dann war ihm klar geworden, dass es ein lohnenderes Ziel für sie gab. Die Fischerboote. Die Quelle des Wohlstands dieses Dorfes.

Und er schien recht zu behalten. Ein halbes Dutzend schattenhafter Gestalten schlich an die Fischerboote heran. Und wieder einmal fragte sich Walt, warum die Leute immer gebückt heranschlichen. Das trug überhaupt nicht zur Tarnung bei. Im Gegenteil, man sah dadurch nur umso verdächtiger aus. Trotzdem verhielten sich die meisten Leute unter ähnlichen Umständen genauso.

Vier der Männer hielten bei einem Stoß Fischernetzen und Ausrüstung etwa zehn Schritte entfernt an. Die anderen beiden liefen weiter zu dem Boot neben Walts Versteck. Der Waldläufer spähte um das Heck, während die Männer sich in den Sand knieten, nur ein paar Schritte entfernt  – nahe genug, dass er ihr Flüstern verstehen konnte.

»Wie viele sollen es sein?«, fragte einer.

»Farrell sagt, zwei dürften reichen, um ihnen eine Lektion zu erteilen.« Farrell war der grauhaarige Anführer, den Walt untertags beobachtet hatte. »Ich übernehme das hier. Du kümmerst dich um das gleich dahinter.« Der Sprecher deutete mit dem Kopf auf das Boot, hinter dem Walt sich versteckt hielt. Sein Kumpan nickte und kroch auf Händen und Knien zum Bug des Bootes.

Schnell zog Walt sich hinter das dritte Boot zurück. Der Strand war mit Treibholz und Algen übersät. Sobald Walt hörte, wie der Mann das Boot umrundete, ließ er sich in den Sand fallen und blieb liegen. Falls der Mann in seine Richtung blickte, würde er den reglosen Waldläufer vermutlich für einen Stoß Treibholz halten. Nicht umsonst gab es ein altes Waldläufersprichwort, das besagte: Wenn man nicht erwartet, dich zu sehen, dann sieht man dich auch nicht.

Walt hörte das Schaben eines Feuersteins und hob ganz langsam und fast unmerklich den Kopf. Der Mann kauerte mit dem Rücken zu Walt hinter dem Boot. Und dann bemerkte Walt den bläulichen Funken des Feuersteins.

Auf Ellbogen und Knien glitt der Waldläufer geräuschlos vorwärts wie eine riesige Schlange und erhob sich im allerletzten Moment, als er den ahnungslosen Mann erreicht hatte. Der bemerkte ihn erst, als Walt den Arm gegen seine Kehle presste und seinen Kopf nach vorne drückte, was den Würgegriff noch verstärkte. Der Mann konnte nur noch einmal kurz Atem holen, bevor ihm die Luftzufuhr komplett abgedreht wurde.

»Was ist los?«, fragte der andere Mann in lautem Flüsterton. Walt, der seinen Würgegriff beibehielt, flüsterte zurück: »Nichts. Feuerstein fallen gelassen.«

Er sah den Funken beim anderen Boot und hörte die ärgerlich geflüsterte Antwort.

»Dann halt die Klappe und mach endlich.«

Der Bandit war inzwischen bewusstlos zusammengesunken. Walt legte ihn im Sand ab. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Die von der Sonne ausgetrockneten geteerten Bootsplanken würden sofort lichterloh brennen. Der schnellste Weg, um den zweiten Mann zu erreichen, war über das Boot hinweg. Walt schwang sich mit einem Satz darüber und rollte sich im Sand ab.

Als er wieder auf die Füße kam, sah er, dass der zweite Mann seinen Span bereits angezündet hatte. Der Bandit richtete sein ganzes Augenmerk auf die größer werdende Flamme. Als er ein leises Geräusch hinter sich hörte, drehte er den Kopf, aber seine Augen waren von dem brennenden Span geblendet, daher erkannte er nur undeutlich eine dunkle Gestalt. Natürlich nahm er an, dass es sich dabei um seinen Kumpan handelte.

cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House

An Catherine und Tyler: Danke für alles!

1. Auflage Deutsche Erstausgabe Oktober 2012 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2009 John Flanagan

Die englische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Ranger’s Apprentice. The Kings of Clonmel« bei Random House Australia Pty Limited, Sydney, Australia. This edition published by arrangement with Random House Australia. © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Übersetzung: Angelika Eisold Viebig Lektorat: Petra Koob-Pawis Vignetten: Mathematics Umschlagbild: Cliff Nielsen Reproduced by arrangement with Philomel Books, a division of Penguin Young Readers Group, a member of Penguin Group (USA) Inc. All rights reserved. Umschlaggestaltung: init. Büro für Gestaltung, Bielefeld MI · Herstellung: cb Satz: Uhl + Massopust, Aalen

eISBN 978-3-641-10125-1

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