Die Chroniken von Araluen - Im Bann des dunklen Ordens - John Flanagan - E-Book

Die Chroniken von Araluen - Im Bann des dunklen Ordens E-Book

John Flanagan

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Beschreibung

Ein mitterlalterliches Königreich, bedroht von bösen Kräften und ungeheuerlichen Kreaturen, verteidigt von einem jungen Waldläufer und seinen Freunden - willkommen in Araluen!

König Duncan und Prinzessin Cassandra sind im Südturm der Burg von Araluen gefangen. Im Norden harren Sir Horace und Gilan, der Kommandant der Waldläufer, in einem verlassenen Fort aus und warten auf den nächsten Angriff des Dunklen Ordens. Waldläuferin Lynnie muss die Männer von Herons Bruderschaft finden und sie davon überzeugen, ihr zur Seite zu stehen. Denn nur so kann sie ihren Vater aus der Gefangenschaft befreien, um in den Kampf gegen die Verräter zu ziehen. Werden sie die Burg Araluen rechtzeitig erreichen? Und wenn alle Schlachten geschlagen sind und der Staub sich gelegt hat – wer wird dann der Herrscher im Königreich von Araluen sein?

Spannende und actionreiche Abenteuer in einem fantastisch-mittlalterlichen Setting – tauche ein in »Die Chroniken von Araluen«!

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Seitenzahl: 420

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© Cameron Barrie

DER AUTOR

John Flanagan arbeitete als Werbetexter und Drehbuchautor, bevor er das Bücherschreiben zu seinem Hauptberuf machte. Den ersten Band von »Die Chroniken von Araluen« schrieb er, um seinen 12-jährigen Sohn zum Lesen zu animieren. Die Reihe eroberte in Australien in kürzester Zeit die Bestsellerlisten und ist weltweit unvermindert erfolgreich, ebenso wie die Spin-off-Reihe »Brotherband«.

Von John Flanagan ist beim cbj Verlag erschienen

DIE CHRONIKEN VON ARALUEN

Die Ruinen von Gorlan (27072)

Die brennende Brücke (27073)

Der eiserne Ritter (21855)

Der Angriff der Temujai-Reiter (21065)

Die Krieger der Nacht (22066)

Die Belagerung (22222)

Der Gefangene des Wüstenvolks (22229)

Die Befreiung von Hibernia (22342)

Der große Heiler (22343)

Die Schwertkämpfer von Nihon-Ja (22375)

Die Legenden des Königreichs (22486)

Das Vermächtnis des Waldläufers (22508)

Königreich in Gefahr (31255)

Im Bann des dunklen Ordens (31269)

DIE CHRONIKEN VON ARALUEN – WIE ALLES BEGANN

Das Turnier von Gorlan (22625)

Die Schlacht von Hackham Heath (22631)

BROTHERBAND

Die Bruderschaft von Skandia (22381)

Der Kampf um die Smaragdmine (22382)

Die Schlacht um das Wolfsschiff (22383)

Die Sklaven von Socorro (22505)

Der Klan der Skorpione (22506)

John Flanagan

DIE CHRONIKEN VON ARALUEN

Im Bann des dunklen Ordens

Aus dem Englischen von Angelika Eisold Viebig

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Erstmals als cbt Taschenbuch März 2020

© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© John Flanagan 2018

Zuerst erschienen 2018 unter dem Titel «Ranger’s Apprentice-The Royal Ranger/Duel at Araluen« bei Penguin Random House Australia, Sydney, Australia

Übersetzung: Angelika Eisold Viebig

Lektorat: Andreas Rode

Umschlagillustration: © Jeremy Reston

Umschlaggestaltung: init Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen

CK · Herstellung: AS

Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-22785-2V001www.cbj-verlag.de

In Erinnerung an Bill Paget, 1942–2018

Prolog

Dimon, der frühere Hauptmann der Palastwache und jetzige Anführer des aufständischen Ordens der Roten Füchse, lehnte sich gegen das Fensterbrett und schaute mit finsterem Blick nach oben. Er befand sich im obersten Stockwerk des Bergfrieds von Schloss Araluen. Der um einige Stockwerke höhere Südturm ragte über ihm auf.

Dimon kam regelmäßig hierher, um zum neunten Stock des Südturms emporzublicken, wohin Prinzessin Cassandra, König Duncan und deren Männer sich zurückgezogen hatten. Gelegentlich nahm Dimon verschiedene Personen auf dem Balkon rund um den neunten Stock wahr, und einmal hatte er auch Cassandra selbst entdeckt, die nach unten in den Hof gespäht hatte.

Bei ihrem Anblick entfuhr ihm ein grimmiger Fluch, doch sie war sich seiner Gegenwart nicht im Geringsten bewusst. Überhaupt blickten die Leute auf dem Balkon kaum in seine Richtung. Vielmehr waren sie am Geschehen im Hof interessiert – Cassandras Bogenschützen forderten unter denjenigen, die sich unvorsichtigerweise aus der Deckung wagten, einen hohen Blutzoll.

Unter Dimons Führung war das Schloss von Soldaten des aufständischen Ordens erobert worden. Diesen Orden der Roten Füchse hatte Dimon bereits vor Jahren entdeckt. Damals hatte er lediglich aus einer Gruppe von Querulanten bestanden, die gegen das Gesetz protestierten, das auch Frauen die Thronfolge gestattete. Dieses Gesetz war bereits von Cassandras Großvater erlassen worden und bedeutete, dass Cassandra nach dem Tod ihres Vaters per Geburtsrecht Königin von Araluen werden würde. Der Orden der Roten Füchse jedoch hing stur an der alten Tradition, dass nur ein männlicher Erbe die Thronfolge antreten könne – eine Position, die Dimon aus vollem Herzen unterstützte, da er selbst entfernt mit Cassandra verwandt und seines Wissens auch der einzige männliche Nachkomme war.

Er war unter falschem Namen dem Orden beigetreten und dort schnell und unauffällig in die höchsten Zirkel gelangt. Der Orden war insgesamt nicht gut organisiert gewesen – seine Mitglieder waren groß im Führen von wütenden Reden gewesen, hatten sich aber als unfähig erwiesen, wenn tatkräftiges Handeln gefordert war. Dimon hingegen war weder desorganisiert noch unfähig. Er war ein begnadeter Redner, der bei jedem Publikum Leidenschaft wecken und es beeinflussen konnte. Er verfügte über eine charismatische Persönlichkeit und über die Fähigkeit, die Leute dazu zu bringen, ihn zu mögen und zu respektieren. Sehr schnell stieg er im Orden auf und wurde schließlich zum Anführer gewählt. Er organisierte den Orden neu und motivierte die Mitglieder, sodass sie zu einer potenten und effizienten geheimen Armee wurden. Er bestärkte sie in ihren Ansichten, und, was am wichtigsten war, er versah den Orden mit einem Programm und gab den Mitgliedern ein Ziel: die Rebellion gegen die herrschenden Vertreter der Krone.

Dimons Pläne wurden durch die Tatsache erleichtert, dass König Duncan nun bereits seit einiger Zeit krank war. Duncans Tochter Cassandra fungierte an seiner Stelle als Regentin, sodass für alle offensichtlich war, welche Auswirkungen das umstrittene Gesetz hatte.

Dimon benutzte den Orden als Werkzeug für seine eigenen Zwecke. Er hatte vor, den Thron zu übernehmen und sich selbst zum König krönen zu lassen. Den Orden der Roten Füchse sah er dabei als hervorragendes Werkzeug zur Umsetzung seiner Pläne.

Das größte Hindernis stellte seiner Meinung nach Cassandras Mann dar, Sir Horace, Erster Ritter des Königreichs Araluen und Befehlshaber der Armee. Horace war ein äußerst geschickter Krieger, ein erfahrener Stratege und Taktiker. In seiner Rolle als militärischer Anführer wurde er vom Waldläufer Gilan, dem Kommandanten des berühmten Bundes der Waldläufer, unterstützt, der zudem Horaces langjähriger Freund war. Damit Dimon Erfolg hatte, mussten diese beiden von Schloss Araluen weggelockt und am besten getötet werden. Deshalb hatte er eine kleine Streitmacht des Ordens im Norden des Reiches eine Rebellion anzetteln lassen. Wie von ihm erhofft, waren Horace und Gilan mit dem größten Teil der Schlossbesatzung nach Norden aufgebrochen und prompt in die ihnen gestellte Falle gegangen: Plötzlich stand ihnen eine viel größere Truppe gegenüber, als sie erwartet hatten. Diese Truppe bestand sowohl aus Ordensmitgliedern als auch aus sonderländischen Söldnern, die Dimon verpflichtet hatte. Da die Schlossgarnison zahlenmäßig mit etwa eins zu vier unterlegen war, hatten Horaces Männer sich in eine alte Hügelfestung zurückgezogen. Auch wenn Horace und seine Leute derzeit von den Sonderländern belagert wurden, wusste Dimon, dass ein Anführer von Horaces Fähigkeiten nicht sehr lange in Schach gehalten werden konnte. Es war also unerlässlich, dass Dimon rasch handelte, um den Thron zu übernehmen.

Anfangs war alles gut gegangen. Dimon hatte sich seinen Weg über die mächtige Zugbrücke durch eine List erobert und so zusammen mit einer Streitkraft aus Mitgliedern des Ordens die sonst uneinnehmbaren Mauern von Schloss Araluen überwunden. Fast hätte er es auch geschafft, Cassandra und ihren Vater gefangen zu nehmen.

Doch Maikeru, der Schwertmeister Cassandras aus Nihon-Ja, hatte sich Dimon und seinen Männern entgegengestellt und hatte sie so lange aufgehalten, bis Cassandra und Duncan sich zusammen mit einer kleinen Streitkraft aus treu ergebenen Palastwachen und Bogenschützen in die oberen Stockwerke des Südturms zurückgezogen hatten.

Der achte und der neunte Stock des Südturms waren als eine Art letzter Rückzugsort angelegt worden, für genau einen solchen Notfall, in dem das Schloss doch eingenommen wurde. Ein Teil der Wendeltreppe gleich unterhalb des achten Stocks konnte entfernt werden, sodass etwaige Angreifer keinen Zugang zu den oberen beiden Stockwerken hatten, während die Belagerten sich zwischen dem achten und neunten Stockwerk über eine innen gelegene Holztreppe hin- und herbewegen konnten. Dieser Rückzugsort war mit Vorräten und Waffen ausgestattet und eine große Regenwasserzisterne im Dach über dem neunten Stock versorgte die Belagerten mit Wasser.

Bis jetzt hatte Cassandra die Versuche Dimons, sich den Weg in den achten Stock des Turmes zu erkämpfen, abwehren können. Doch nun hatte er eine Idee, die vielleicht ihr Untergang sein konnte.

Er drehte sich um, als er ein zaghaftes Klopfen an der Tür vernahm.

»Lord Dimon? Seid Ihr da?«

Er erkannte die Stimme. Es war Ronald, der Anführer seiner kleinen Gruppe von Waffenkonstrukteuren und Belagerungsspezialisten. »Herein!«, rief Dimon.

Die Tür wurde geöffnet und der Mann trat ein. Wie viele seines Berufs, war er schon etwas älter, sein graues Haar verriet jahrelange Erfahrung in seinem Handwerk. Er zögerte. Alle Männer in Dimons Truppe wussten, dass ihr Anführer schlechte Laune hatte, seit der Schwertkämpfer aus Nihon-Ja seinen Plan durchkreuzt und einen schnellen Erfolg verhindert hatte.

»Was ist?«, fragte Dimon gereizt. Die Unsicherheit des Mannes verärgerte ihn.

»Das Material für den Apparat ist angekommen, Mylord«, erklärte ihm der Mann. »Wir können sofort mit dem Bau beginnen.«

Zum ersten Mal seit Tagen erschien ein Lächeln auf Dimons Gesicht. Er rieb sich erwartungsvoll die Hände.

»Ausgezeichnet«, sagte er. »Jetzt können wir die Dinge ausgesprochen unangenehm für meine Cousine Cassandra machen. Ausgesprochen unangenehm.«

Eins

Paps ist mit seinen Leuten zahlenmäßig unterlegen und die feindliche Truppe hat ihn unter ständiger Beobachtung«, erklärte Madelyn. »Er kann sie also nicht überraschen. Wenn ich genügend Männer bekäme und einen Überraschungsangriff von hinten gegen den Feind führen könnte, würde das Paps eine Gelegenheit zum Durchbruch verschaffen.«

Der Verräter Dimon ging davon aus, dass Lynnie zusammen mit ihrer Mutter im Südturm festsaß, doch die angehende Waldläuferin hatte längst mehrere Geheimtunnel und verborgene Treppen entdeckt, die es ihr ermöglichten, ungehindert im Schloss ein- und auszugehen. Lynnie hatte eine Versammlung des Ordens der Roten Füchse belauscht und dadurch von Dimons Plan erfahren, ihren Vater und seine Männer im Norden in eine Falle zu locken, um zwischenzeitlich durch eine List Schloss Araluen einzunehmen.

Jetzt war sie heimlich zum Schloss zurückgekehrt und hatte sich über den Geheimgang in den neunten Stock geschlichen, wo sie mit Cassandra einen Plan schmiedete, um ihrem Vater zu helfen.

Cassandra dachte über die Idee nach. »Das könnte klappen«, sagte sie. »Aber wo willst du die Männer finden?«

Lynnie zuckte mit den Schultern. »Können wir nicht die Armee mobilisieren?«, fragte sie.

Das Schloss verfügte lediglich über eine kleine reguläre Garnison. Die Soldaten, Ritter und Fußsoldaten der Armee wurden aus den Bauernhöfen und Dörfern rekrutiert und im Kriegsfall oder bei anderweitiger Gefahr ins Heer berufen.

Cassandra schüttelte den Kopf. »Es würde zu lange dauern, sie einzuberufen«, sagte sie. »Und Dimon bekäme schnell Wind davon.« Sie stand auf und begann mit gerunzelter Stirn auf- und abzugehen.

»Wir können hier zwar auf unbestimmte Zeit ausharren«, sagte sie, »aber wir müssen einen Weg finden, um deinen Vater und Gilan aus dieser Hügelfestung zu befreien. Wenn sie dann zurückkommen und Dimon angreifen, können wir gleichzeitig hier ausbrechen und ihn so von beiden Seiten in die Zange nehmen. Du sagst, es gibt einen Tunnel ins Torhaus?«, fragte sie und Madelyn nickte. »Dann könntest du die Zugbrücke herablassen und Horace und seine Männer hereinlassen.«

Sie drehte sich um und ging weiter auf und ab, während ihr Verstand fieberhaft arbeitete.

»Aber wenn du einen Überraschungsangriff auf die Truppe unternehmen willst, die Horace und Gilan festhält, wirst du genügend Männer benötigen. Gute, kampferprobte Männer. Die Art, die diesen Abschaum von Roten Füchsen das Grausen lehrt …«

Ihre Stimme brach ab, während sie sich weiter den Kopf zermarterte. Auf einmal glättete sich ihre Stirn und sie blickte mit einem breiten Lächeln zu ihrer Tochter.

»Und ich denke, ich kenne genau die Männer, die du brauchst«, sagte sie.

Cassandra ging zum Fenster und blickte hinaus auf das grüne Parkland. In ihrer Stimme lag ein zuversichtlicher Ton, der vorher nicht da gewesen war, sodass Madelyn sie neugierig ansah.

»Dann sag schon«, forderte sie ihre Mutter auf.

»Die Nordländer«, war die Antwort.

Im ersten Moment war Madelyn verwirrt. »Welche Nordländer?«

»Hal und seine Männer – die Bruderschaft der Seevögel.« Cassandra wirkte von Minute zu Minute zuversichtlicher. »Sie müssten jeden Tag von der Küste zurückkommen.«

»Aber warum sollten sie uns helfen?«, fragte Madelyn.

»Weil sie alte Freunde und Verbündete sind. Wir haben ihnen geholfen, als die Temujai vor Jahren in ihr Land einfielen. Und wir haben die Sache mit dem Lösegeld organisiert, als die Arridi damals ihren Oberjarl entführt hatten. Sie schulden uns was. Und sie gehören nicht zu den Leuten, die eine Schuld vergessen.«

»Wenn du das sagst.« Madelyn konnte die Zuversicht ihrer Mutter, dass die Nordländer ihnen sofort zu Hilfe kämen, nicht nachvollziehen, aber Cassandra kannte die Seewölfe besser als sie. Da gab es jedoch noch eine andere Frage. »Sind sie nicht nur zu zwölft?«

Cassandra lächelte. »Zwölf Nordländer! Dein Vater sagt immer, ein Nordländer zählt so viel wie drei normale Soldaten. Wenn ein Dutzend Nordländer die Sonderländer überraschend von hinten angreift, dann wird genau die Panik und Verwirrung verbreitet, die du brauchst, glaub mir.«

»Du hast wahrscheinlich recht«, stimmte Madelyn zu. »Aber wie setze ich mich mit ihnen in Verbindung?«

Cassandra ging zur Wand, an der eine große Landkarte von Araluen hing. Madelyn folgte ihr und wartete, während ihre Mutter die Karte studierte, mit dem Finger dem Verlauf des Flusses Semath folgte und dabei – wie zu sich selbst – weitersprach.

»Mal sehen. Sie sind den Semath hinab zum Meer gesegelt. Das kaputte Wolfsschiff war hier …« Sie tippte mit dem Finger auf einen Punkt an der Küste, südlich der Mündung des Semath.

»Hal sagte, sie wären in etwa zehn Tagen zurück, also hast du noch ein paar Tage Zeit.«

Sie verfolgte mit dem Finger den sich schlängelnden Fluss zurück ins Landesinnere bis zu einem Punkt, wo er eine scharfe Biegung nach Süden machte, und tippte auf die südliche Landzunge, die durch die Flussbiegung geformt wurde.

»Hier, würde ich sagen. Das wäre die beste Stelle für dich, um sie abzufangen, denn du würdest sie aus einiger Entfernung kommen sehen. Das wird dir ausreichend Zeit geben, ihre Aufmerksamkeit auf dich zu lenken.«

Madelyn studierte den Punkt auf der Karte einen Moment. Die Landzunge schien tatsächlich die beste Wahl – nahe genug, um sie rechtzeitig zu erreichen, und mit einem guten freien Blick flussabwärts. Zugleich lag sie weit genug entfernt, dass Dimon nicht mitbekam, was sie machte.

»Dann sollte ich wohl lieber aufbrechen«, sagte sie.

Ihre Mutter hob die Augenbrauen. »Was? Jetzt sofort?«

»Klar. Ich muss los, solange es noch dunkel ist. So laufe ich weniger Gefahr, dass Dimons Wachen mich entdecken. Ich packe mir noch Vorräte für unterwegs ein, dann mach ich mich auf den Weg«, sagte sie.

Cassandra nickte. »Und angenommen, Horace und Gilan schaffen es, aus der Hügelfestung auszubrechen, wie sieht dann dein Plan aus?«

»Wir kommen hierher zurück und ich führe eine kleine Gruppe durch den Tunnel unter dem Schlossgraben. Von da aus gelangen wir zu einer verborgenen Treppe, die im Torhaus mündet. Sobald wir dort sind, senken wir die Zugbrücke. Dann sind Paps und seine Männer an der Reihe.«

»Und sobald sie innerhalb der Schlossmauern sind«, fuhr Cassandra fort, »werden meine Männer und ich die Roten Füchse von hinten angreifen.« Sie berührte den Griff des Katana, das sie an ihrem Gürtel trug. »Ich sähe Dimon wirklich gern am anderen Ende meines Schwertes!«

Eine halbe Stunde später stand Madelyn mit dem Proviantbeutel über ihrer Schulter an der Tür zur Geheimtreppe. Cassandra stand neben ihr. Sie ließ ihre Tochter nur widerstrebend gehen, nachdem sie gerade erst entdeckt hatte, dass sie gesund und unversehrt war.

»Vielleicht könnte ich mit dir nach unten zum Tunneleingang kommen«, sagte sie und deutete auf die Tür.

»Mama, es sind achtzehn steile Leitern. Willst du wirklich all diese Sprossen nach unten steigen und dann gleich wieder nach oben?«, fragte Madelyn.

Cassandra schüttelte reumütig den Kopf. »Nicht wirklich. Es ist nur … ach, ich weiß auch nicht … pass einfach auf dich auf.«

Madelyn nickte einige Male, denn sie traute ihrer Stimme nicht ganz. Dann umarmte sie rasch ihre Mutter, öffnete die Tür und verschwand im Eingang zum dunklen Treppenhaus.

Zwei

Innerhalb des Palisadenzauns auf dem Hügel rührten sich die Männer mit dem ersten Licht der Morgendämmerung.

Die Wachen auf den Wehrgängen, die seit Mitternacht im Dienst waren, gähnten mit geröteten Augen. Sie begrüßten ihre Ablösung auf unterschiedliche Weise – manche waren dankbar, dass die lange Wache während der dunklen Stunden vorbei war, andere waren gereizt, wenn ihre Ablösung ein paar Minuten zu spät kam. Dann eilten sie alle nach unten aufs Gelände, wo die Feuerstellen am Ende der Zeltreihen zu neuem Leben erwachten. Der Geruch nach Holzfeuer wehte durch die Festung, zusammen mit dem willkommenen Duft von frisch gekochtem Kaffee und brutzelndem Speck.

Horace und Gilan schritten den hölzernen Wehrgang ab und munterten die Männer der Wachablösung auf.

»Seid wirklich wachsam«, mahnte Horace von Zeit zu Zeit. »Wir wollen doch nicht, dass uns dieser Abschaum von Sonderländern noch überrascht.«

Die Wachen antworteten munter. Schließlich hatten sie ihren Posten gerade erst angetreten und waren froh, dass sie nicht die Wache von Mitternacht bis zum Morgengrauen gehabt hatten, welche von allen am anstrengendsten war. Abgesehen von der Tatsache, dass der Körper um diese Zeit grundsätzlich nach Ruhe und Erholung verlangte, fühlte sich ein Wachhabender meist allein und verletzlich, wenn seine Kameraden schliefen. Er musste dann fünf Stunden lang angestrengt in die unsichere Dunkelheit spähen. Womöglich bildete er sich ein, eine Bewegung gesehen zu haben, wo gar keine war, und stand dann vor der Frage, ob da wirklich jemand durch das hohe Gras geschlichen war und er Alarm schlagen müsste oder nicht. Diese ständige Anspannung zehrte an jedermanns Energie – sowohl geistig als auch körperlich.

Horace sah den Leutnant der Kavallerie, der jeden Tag die Wachen einteilte. Der Mann patrouillierte in die von Horace und Gilan entgegengesetzte Richtung und vergewisserte sich, dass die Männer auch tatsächlich wachsam waren. Horace winkte ihn zu sich und der Mann kam sofort, ging in Habachtstellung und legte den Zeigefinger an den Rand seines Helms.

»Die Männer der Wache von Mitternacht bis zum Morgen«, begann Horace. »Wie wählt Ihr sie aus?«

Der Leutnant überlegte kurz. »Normalerweise ist es eine Bestrafung für die üblichen kleineren Vergehen, Sir«, erklärte er. »Ungepflegte Ausrüstung oder ein unaufgeräumter Schlafplatz, etwas in der Art.«

Horace nickte einige Male. »Dachte mir schon, dass es etwas Derartiges wäre. In Zukunft wechselt auch hier bitte wieder planmäßig. Lasst nicht den gleichen Mann diesen Dienst zwei oder drei Nächte nacheinander absolvieren.«

Der Leutnant zögerte und sah zweifelnd drein. »Ja, Sir«, antwortete er, aber sein Ton legte nahe, dass er das nicht verstand.

»Diese Stunden vor der Morgendämmerung sind es, in denen wir am angreifbarsten sind«, erklärte Horace. »Wenn ein Mann eine Wache als Bestrafung übernehmen muss, wird er verärgert sein und sich eher darum Gedanken machen, wie übel man ihm mitspielt. Das wiederum bedeutet, dass er weniger wachsam ist.«

Am Gesicht des Leutnants konnte man ablesen, dass ihm diese Idee noch nicht gekommen war. In den drei Jahren, in denen er in der Armee war, war diese Wache traditionell eine Bestrafung für kleinere Sünden gewesen. Und da Männer, die faul oder unordentlich waren, dazu neigten, das öfter als nur einmal zu tun, waren sie oft diejenigen, die mehrfach hintereinander die letzte Wache übernehmen mussten.

»Ja, Sir. Tut mir leid, Sir«, sagte er und straffte seine Gestalt noch etwas mehr.

Horace lächelte ihn an. »Nichts passiert. Ändert das einfach in Zukunft.«

Er entließ den Leutnant mit einer informellen Geste und setzte zusammen mit Gilan seinen Weg fort. Auf einmal schnüffelte er aufmerksam in der Luft. »Es geht doch nichts über den Duft von gebratenem Speck am Morgen«, sagte er.

Gilan zuckte mit den Schultern. »Am besten genießt du den Duft. Zu essen wird es davon nicht mehr gerade viel geben.« Vor einigen Tagen hatte Horace ihre Rationen gekürzt, um ihren beschränkten Lebensmittelvorrat zu strecken.

Jetzt nickte der hochgewachsene Krieger, allerdings mit besorgtem Blick, wenn er an den unvermeidbaren Tag dachte, an dem ihnen die Vorräte ausgehen würden. Er ging zu der massiven Palisade, legte die Ellbogen oben auf die Baumstämme und spähte hinunter auf das feindliche Lager. Gilan stellte sich neben ihn.

Auch im gegnerischen Lager wachte man gerade auf. Rauch stieg aus frisch angefachten Feuern auf und war an einem halben Dutzend Punkten zu sehen. Es war windstill, und der Rauch stieg senkrecht in die Luft, bis er sich dort verflüchtigte. Mehrere Männer bewegten sich gemächlich im feindlichen Lager hin und her, und man konnte sehen, dass sie gerade erst aufgestanden waren und lieber noch weitergeschlafen hätten.

»Dort gibt es jedenfalls keinen Mangel an Speck«, kommentierte Gilan.

Horace antwortete nur mit einem Brummen.

»Was glaubst du, wird ihr nächster Schritt sein?«, fuhr der Waldläufer fort.

Horace schob nachdenklich die Lippen vor. »Eigentlich müssen sie gar nichts machen«, antwortete er. »Sie wissen, dass wir hier in der Falle sitzen, und sie können sich auch denken, dass unsere Vorräte knapp werden. Also können sie es sich leisten abzuwarten. Natürlich werden sie den üblichen nächtlichen Angriff versuchen, um uns im Schlaf zu überraschen. Wenn es auch sonst nichts bringt, wird es jedenfalls unseren Schlaf stören und uns nachts wach halten.«

»Das ist ganz schlecht«, meinte Gilan. »Nachts, wenn ich schlafe, ist nämlich die einzige Zeit, in der ich nicht hungrig bin.«

»Du hast es gut«, erwiderte Horace. »Wenn ich hungrig bin, träume ich sogar vom Essen.«

»Du träumst auch vom Essen, wenn du nicht hungrig bist«, entgegnete sein Freund.

Wie von ihrer Unterhaltung ausgelöst, begann Horaces Magen plötzlich heftig zu knurren.

Gilan gab vor, schockiert zu sein, und machte einen Schritt von seinem Freund weg. »Mein Gott! Ich dachte, wir erleben ein Erdbeben«, sagte er in gespieltem Schrecken.

»Wenn wir nicht bald etwas zu essen bekommen, kann es gut sein, dass wir eines erleben«, antwortete Horace.

»Da wären immer noch die Ersatzpferde«, merkte Gilan an.

Horace fuhr wie von der Tarantel gestochen herum und sah ihn ungläubig an. »Willst du etwa vorschlagen, dass wir eines davon schlachten sollen, um es zu essen?«, fragte er aufgebracht.

Gilan zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Tja, so etwas soll hin und wieder schon vorgekommen sein«, antwortete er. Als er jedoch sah, wie Horace das Kinn vorgeschoben hatte, fuhr er fort: »Aber ich glaube nicht, dass es schon so schlimm um uns steht. Woran ich eigentlich dachte, war, dass wir die Ersatzpferde vielleicht freilassen. Auf diese Weise werden unser Getreide und das Futter für die restlichen Pferde doppelt so lange reichen.«

Horaces verärgerter Gesichtsausdruck schwand. »Das ist eine gute Idee«, gab er zu. Dann runzelte er die Stirn. »Aber vergiss nie, dass es für einen Kavalleristen sehr schwer ist, sein Pferd aufzugeben.«

»Besser, als es zu essen«, erinnerte Gilan ihn.

»Das stimmt. Nun, wir werden sehen, wie die Dinge sich entwickeln. Eines ist jedenfalls sicher: Wir brauchen keine Reittiere, solange wir hier feststecken.«

Sie musterten das feindliche Lager einige Minuten schweigend.

»Sie haben sich große Mühe gegeben, uns wegzulocken«, meinte Gilan nachdenklich.

»Sie hatten vor, uns zu töten«, sagte Horace.

»Richtig. Aber warum sich all diese Mühe machen? Was sonst hatten sie im Sinn? Sicher sagten sie nicht einfach: ›Lasst uns Horace und Gilan überlisten, damit sie nach Norden kommen und wir sie dann umbringen können.‹ Es muss noch einen anderen Teil dieses Plans geben.«

»Wie zum Beispiel, Schloss Araluen einzunehmen?«, fragte Horace.

Dies war der Schluss, zu dem sie stets gelangten, wenn sie die Lage besprachen, und Gilan stieß einen frustrierten Seufzer aus. »Mir fällt einfach nichts anderes ein, was sie vorhaben könnten. Dir vielleicht?«

Horace verzog bei dieser Frage besorgt das Gesicht. »Nein. Mir auch nicht. Aber das Schloss ist keine Nuss, die einfach zu knacken wäre. Es ist praktisch uneinnehmbar. Selbst Morgarath wusste das, und er hatte Tausende von Soldaten bei sich.« Er machte eine Pause. »Und Dimon ist ein guter Soldat. Selbst mit einer kleinen Einheit wird er es schaffen, sie abzuwehren.«

»Außer sie verschaffen sich durch eine List Zutritt«, warf Gilan ein, doch jetzt war Horace noch entschiedener in seiner Zurückweisung.

»Sie könnten Cassandra nicht täuschen«, sagte er und fügte dann ein wenig kläglich hinzu: »Ich habe das jedenfalls in den ganzen neunzehn Jahren meiner Ehe kein einziges Mal geschafft.«

»Und doch müssen sie irgendetwas vorhaben. Ich kann einfach nicht aufhören, mir darüber Gedanken zu machen.«

»Ich vermute, wir werden es herausfinden, wenn wir diesen Haufen nach Hause schicken.« Horace zeigte mit dem Daumen auf die Angreifer.

Gilan sah ihn mit gespielter Überraschung an. »Ach, wir schicken sie nach Hause?«, fragte er. »Wie stellen wir das denn an?«

Horace tätschelte ihm die Schulter. »Du wirst dir schon einen meisterhaften Plan einfallen lassen, wie wir das schaffen.«

Gilan nickte mehrmals. »Das hätte ich mir ja denken können.«

»Das ist es doch, was ihr Waldläufer tut. Ihr schmiedet Pläne und Ränke … und ihr seid sehr gut darin. Ich bin mir ganz sicher, dass du noch eine Idee haben wirst. Warte nur nicht zu lange damit.«

»Mal sehen, was mir einfällt. Vielleicht muss ich mal ein Nickerchen machen. Ich kann viel besser Pläne schmieden, während ich ein Nickerchen mache. In der Zwischenzeit lass uns gehen und uns etwas von diesem so schnell schwindenden Speck holen.«

Horace stieß sich mit beiden Händen von der Palisade ab und drehte sich zur Treppe, die nach unten führte.

»Na, das ist jedenfalls schon mal ein guter Plan. Ich wusste doch, dass ich mich auf dich verlassen kann.«

Drei

Die Nordländer hatten das beschädigte Wolfsschiff geleert und zurückgebaut, bis es nicht mehr als eine leere Hülle war, die auf dem rauen Sandstrand lag, wo die Mannschaft vor einigen Tagen angelandet war.

Waffen, Schilde, Bettrollen und Vorräte waren alle am Strand, weit über der Hochwassermarke, gelagert. Während der letzten Stunde war die Mannschaft damit beschäftigt gewesen, die Deckplanken zu entfernen und gesondert zu lagern. Der Mast, die Rah, Segel und Takelage bildeten einen anderen sorgfältig geschichteten Stapel. Inzwischen hatte das Schiff wohl nicht viel mehr als die Hälfte seines ursprünglichen Gewichts.

Hal Mikkelson stand mit in die Seiten gestemmten Händen da und begutachtete die leere Hülle. »Also gut«, sagte er. »Ziehen wir sie hoch auf eine ebene Stelle.«

Die Wolfbiter lag gegenwärtig am Ufer. Ihre Mannschaft nahm die Seile, die am Bug und an bestimmten Punkten des Rumpfes befestigt waren. Hals Mannschaft ging zum Heck, um zu schieben.

»Bereit?«, rief Hal, und nachdem kein Einwand kam, fuhr er fort: »Eins, zwei, drei, los!«

Die Seile spannten sich, als die Männer ihr ganzes Gewicht einsetzten und ihre Füße in den Sand stemmten. Anfangs widerstand das Schiff ihren Anstrengungen, doch dann begann es langsam, sich zu bewegen.

»Stemm dich mit dem Rücken dagegen, Ingvar!«, befahl Hal.

Der massige Krieger biss die Zähne zusammen und beugte sich fast parallel zum Boden, während er mit aller Kraft drückte. Durch seine zusätzliche Anstrengung bekam das Schiff mehr Schwung, sodass es flüssiger die kleine Uferböschung hinaufglitt.

Hal hob eine Hand. »In Ordnung! Das reicht!«, rief er.

Die beiden Mannschaften entspannten sich und ließen die Seile fallen. Jern Eisläufer, der Skirl des Schiffes, klopfte sich den Staub von den Händen und ging zu Hal hinüber.

»Du hast eine gute Stelle zum Anlanden gewählt«, sagte Hal zu ihm und blickte sich in der schmalen Bucht um, deren hohe Landzungen den Strand und die Bucht vor den stärksten Winden schützten.

Jern zuckte mit den Schultern. »Das war mehr Glück als Verstand«, gab er zu. »Ich merkte, wie der Rumpf sich bog, nachdem wir diesen Felsen gerammt hatten, und wollte sie einfach nur so schnell wie möglich an Land bringen.«

Hal grinste. »Gut«, sagte er. Dann ging er zum Schiff. »Jetzt müssen wir noch die Stützhölzer darunter befestigen und sie ausrichten.«

Früher am Tag hatte er die Männer beauftragt, Äste von den Bäumen in der Umgebung abzuhacken und daraus kräftige Stützbalken zuzuschneiden. Nun gab er die nötigen Befehle, um das Schiff auf der Backborseite hochzustemmen und vier der Stützhölzer darunterzuschieben. Zugleich wurden vier weitere Stützbalken auf der gegenüberliegenden Seite angebracht, damit das Schiff nicht umkippte. Hal musterte die Stützen genau, um sich zu vergewissern, dass sie gut positioniert waren und der Sand unter ihnen fest genug war. Er stieß mit aller Kraft gegen den Rumpf und versuchte, ihn in alle Richtungen zu kippen, doch die Stützen hielten.

Stig, Hals bester Freund und erster Maat, stand dabei und beobachtete alles mit besorgtem Blick. Er wusste, was jetzt kam, und winkte Ingvar, den stärksten Mann der beiden Mannschaften, zu sich.

»Bleib einfach in der Nähe, für den Fall, dass wir gebraucht werden«, sagte er.

Ingvar verstand und nickte.

Hal ließ sich auf Hände und Knie fallen und spähte unter den aufgebockten Schiffsrumpf. Er hob eine Hand und fuhr damit die glatten Planken entlang, drückte und probierte. Die Planken fühlten sich solide an. Schließlich schob er sich ganz unter das Schiff und tastete die mit Algen und Muscheln übersäten Planken, die sich jetzt nur wenige Finger breit über ihm befanden, sorgfältig ab. Er holte einen kleinen Holzschlägel aus seinem Werkzeuggürtel und schlug damit an verschiedenen Stellen gegen den Rumpf.

Als er das tat, machten Stig und Ingvar unwillkürlich einen Schritt nach vorn und passten auf, dass das Schiff sich auch wirklich nicht bewegte und keine der Stützen unter der Wucht der Hammerschläge verrutschte. Jern beobachtete das Ganze ebenfalls besorgt, auch wenn seine Besorgnis weniger Hals Sicherheit, sondern eher dem Schiff selbst und dem, was Hal entdecken mochte, galt. Er wusste, Hal war ein erfahrener Schiffsbauer, der so etwas schon vorher gemacht hatte.

Hal schob sich nun ein Stück weiter Richtung Heck. Als er etwa ein Drittel der Schiffslänge zurückgelegt hatte, hielt er an. »Jern? Ist das die Stelle, wo ihr den Felsen gerammt habt?«, fragte er. Er klopfte probeweise gegen den Rumpf.

Jern verzog das Gesicht und überlegte. »So ziemlich, Hal, soweit ich das sagen kann.«

»Hm«, sagte Hal nachdenklich. Er klopfte wieder gegen den Rumpf. Diesmal war der Klang etwas anders, irgendwie dumpfer. Hal schlug noch zweimal gegen die Planken, wobei er den Schlägel in dem beengten Raum nur eingeschränkt bewegen konnte.

Ingvar hatte seine Hand auf die Seite des Rumpfes gelegt und spürte die Vibration der Schläge. »Ich wünschte, er würde das nicht machen«, murrte er und behielt die nächste Stütze gut im Auge.

»Er weiß, was er tut«, antwortete Stig, auch wenn es eher hoffnungsvoll klang als sicher. »Gut. Da kommt er«, fügte er erleichtert hinzu.

Hal kroch unter dem Schiffsrumpf hervor. Stig streckte ihm die Hand entgegen, um ihm hochzuhelfen. Hal grinste ihn an und klopfte den Sand von den Knien seiner Beinkleider.

»Ihr seid mir ja wieder mal richtige Glucken«, sagte er und schloss Ingvar in die Feststellung ein. »Ich weiß schon, was ich mache.«

Er griff nach oben, hielt sich an der Reling des Schiffs fest, zog sich hoch und schwang sich in das Innere des Rumpfes.

Weiteres Klopfen kam nun aus dem Inneren des Wolfsschiffs und hallte in der leeren Hülle nach. Stig und Ingvar entspannten sich. Jetzt konnte zumindest keine lockere Stütze mehr dazu führen, dass das Schiff auf ihren Skirl heruntersackte.

Jern jedoch war immer noch besorgt, während er auf das Urteil wartete. Die Wolfbiter war für dieses Jahr als Pflichtschiff eingeteilt – das Schiff, das laut Abkommen zwischen König Duncan von Araluen und dem Oberjarl der Nordländer entlang der Küste Patrouille fuhr, Piraten, Schmuggler und Sklavenhändler verfolgte und dringende Botschaften überbrachte. Vor etwa zwei Wochen war die Wolfbiter in einen heftigen Sturm geraten, an die Küste getrieben und gegen einen nicht in der Seekarte verzeichneten Felsen geschleudert worden. Jern hatte das entsetzliche Knacken bei diesem Aufprall gehört und sofort gespürt, dass der Schiffsrumpf sich verbogen hatte. Weil er fürchtete, der Kiel könnte gebrochen sein, hatte er sich entschlossen, das Schiff an Land zu bringen, bevor es womöglich auseinanderbrach.

Zufällig war Hal Mikkelson zur gleichen Zeit auf Schloss Araluen eingetroffen. Hal war mit einem ganz anderen Auftrag unterwegs, aber als ihn die Nachricht erreicht hatte, die Wolfbiter sei ernsthaft beschädigt, war er so schnell wie möglich zurück an die Ostküste gesegelt, um zu helfen. Jern konnte sich äußerst glücklich schätzen, denn Hal war wahrscheinlich der beste Schiffsbauer in ganz Skandia.

Doch wenn der Kiel des Schiffes wirklich gebrochen war, würde selbst Hal den Schaden nicht reparieren können, das wusste Jern. In diesem Fall würden sie die Wolfbiter aufgeben und mit einem anderen Schiff nach Skandia zurückreisen müssen. Das hieße auch, Araluen ohne ein Patrouillenschiff zu lassen, bis eine andere Mannschaft sich über die Sturmweiße See auf den Weg nach Araluen machte. Das würde Monate dauern, und unter den Schmugglern und Sklavenhändlern, die in diesen Gewässern unterwegs waren, würde sich herumsprechen, dass entlang der Küste keine Patrouille mehr unterwegs war. Sofort würden sie wieder ihr Unwesen treiben. Solche Neuigkeiten verbreiteten sich schnell.

Das Klopfen verstummte, und Hal zog sich an der Reling hoch, um sich dann über das Dollbord zu rollen.

Jern machte einen zögernden Schritt nach vorn und wollte das Schlimmste eigentlich gar nicht hören.

Aber Hal lächelte ihn aufmunternd an. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Kiel in Ordnung ist«, sagte er.

Jern stieß die Luft aus, die er schon viel zu lange angehalten hatte. Auf diese Nachricht hatte er gewartet – auch wenn er sich nicht gestattet hatte, allzu hoffnungsfroh zu sein. Wie viele Seeleute war er abergläubisch und glaubte, wenn er auf etwas Gutes hoffte, würde es nicht geschehen.

»Das sind gute Nachrichten«, sagte er jetzt. »Danke, Hal.«

Hal zuckte mit den Schultern. »Ich bin froh, dass es zu reparieren ist.«

Stig legte den Kopf auf eine Seite und musterte das beschädigte Schiff kritisch. »Kannst du es hier reparieren, auf dem Strand?«

Hal schüttelte den Kopf. »Nicht richtig. Wir müssen die Planken entfernen, bis nur noch das Skelett des Schiffes da ist. Dann müssen wir die beschädigten Spanten entfernen und durch neue ersetzen. Auch für die beschädigten Planken müssen wir Ersatz anfertigen. Dafür bin ich nicht ausgerüstet und das ist für hier draußen eine etwas zu große Aufgabe.«

Jerns Gesichtszüge sackten nach unten. Hatte Hal nicht gesagt, das Schiff könnte repariert werden?

Hal klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Keine Sorge. Wir können hier zumindest eine recht gute provisorische Reparatur vornehmen – eine, die dich wieder nach Hause bringt. Dann kannst du es dort von einem Schiffsbauer richtig reparieren lassen.« Er kratzte sich am Kinn, während er über die vor ihm liegende Aufgabe nachdachte. »Wir brauchen Hölzer, die wir rechts und links an den angebrochenen Spanten festmachen wie Schienen an einem gebrochenen Bein. Ich werde ein Muster für dich machen, damit du sie anfertigen lassen kannst. Ich schlage vor, du lässt das im Dorf unterhalb von Schloss Araluen machen, dort gibt es eine gute Zimmerei. Dann könnt ihr die Stücke hierher zurückbringen und sie an Ort und Stelle verschrauben.«

»Und das wird halten?«, fragte Jern.

Hal nickte. »Fürs Erste. Jedenfalls wird es so lange halten, dass ihr nach Hause segeln könnt. Aber je länger wir damit warten, desto mehr werden sich die beschädigten Spanten lockern und dann wieder anfangen durchzuhängen.«

Er blickte zum Himmel. Die Sonne war schon hinter den Hügeln westlich des Strandes untergegangen und Regen kündigte sich an.

»Es wird gleich dunkel. Bringen wir die Wolfbiter ein Stück weiter den Strand hoch. Ich schlage vor, du lässt vier oder fünf Männer hier, um sie zu bewachen. Die anderen kommen morgen mit mir zurück nach Schloss Araluen.«

Noch bevor am Morgen die Flut hereinkam, packten die zwei Dutzend Mann von der Wolfbiter, die mit der Seevogel zurück nach Schloss Araluen fuhren, ihre Waffen, Schilde und Seesäcke und marschierten hinunter zum Strand, wo Hals Schiff am Ufer lag. Die Seevogel war viel kleiner als die Wolfbiter, und es gab ein leichtes Durcheinander, als alle an Bord gingen und Platz suchten, um ihr Zeug zu verstauen. Dann verteilten sich die Männer an Deck, während Stig und Ingvar das Schiff vom Strand ins Wasser schoben. Das übliche Geklapper von Holz auf Holz war zu hören, als die Ruderer die Riemen durch die Ruderdollen schoben, dann tauchten sie die Ruderblätter ins Wasser und legten sich in die Riemen. Schnell glitt das kompakte kleine Schiff hinaus ins tiefe Wasser.

Hal schlängelte sich zwischen Männern, die an Deck waren, hindurch und übernahm das Steuerruder. Er nickte Stig zu, der am hintersten Ruder saß, und sein erster Maat rief den Ruderern die Befehle zu.

»Backbord stoppen. Stoppt. Wende über Backbord. Backbord rückwärts, Steuerbord voraus! Und los!«

Unter den entgegengesetzten Stößen von zwei Reihen Rudern drehte sich die Seevogel vorbildlich um die eigene Achse, bis ihr Bug hinaus aufs Wasser zeigte.

»Wende halt. Alles voraus – und los!«, kommandierte Stig und gab dann den Takt für die Ruderer vor: »Und – Zug! Und – Zug! Und – Zug!«

Jern ging nach vorn und stellte sich neben Hal auf die Steuerplattform. Anerkennend sah er zu, wie das kleine Schiff an Geschwindigkeit zulegte, das Land, das die Bucht umgab, zog mit zunehmender Geschwindigkeit an ihnen vorbei.

»Sie lässt sich gut lenken«, bemerkte er.

Hal freute sich über das Kompliment und lächelte. »Danke. Wir fahren auch sehr gern mit ihr«, sagte er. Er blickte hoch zum Stander am Mast. Dieser zeigte nach Steuerbord. Das bedeutete, dass sie den Wind genau vor sich haben würden, sobald sie die Mündung der Bucht erreicht und nach Norden gedreht hatten.

Jern bemerkte den Blick. Um genau zu sein, hatte er gerade selbst den Stander überprüft. Das war bei jedem Skirl eine unwillkürliche Reaktion. »Sieht so aus, als müssten wir rudern«, sagte er.

Hal war zum gleichen Schluss gekommen. Die Seevogel mit ihrer besonderen Takelung konnte auch gegen den Wind kreuzen, indem sie im Zickzack fuhr. Doch das bedeutete ein ständiges Bedienen der Segel, was schwierig wäre, da das Deck mit so vielen zusätzlichen Passagieren überfüllt war.

Andererseits bedeuteten diese zusätzlichen Passagiere, dass sie genügend Männer hatten, die sich an den Rudern abwechseln konnten. Insgesamt, entschied Hal, kämen sie schneller voran, wenn sie zur Mündung des Semath rudern würden.

»Meine Jungs können euch an den Rudern ablösen, wenn ihr wollt«, bot Jern an.

Hal nickte dankbar. »Zuerst bringen wir die Seevogel aus der Bucht.«

Er wartete, bis sie eine Meile weiter vor der Küste waren. Im Augenblick kam der Wind aus Norden, doch das konnte sich ohne Vorwarnung ändern, und dann hätten sie es vielleicht mit einem Wind zu tun, der sie zurück gegen das Land drückte. Alle Skirls versuchten, einer solchen Gefahr aus dem Weg zu gehen, sodass es üblich war, die Küstenlinie in Blickweite zu behalten, aber genug Platz für eventuelle Manöver zu lassen.

Hal nickte Jern zu. Der Skirl der Wolfbiter machte ein paar Schritte nach vorn und hob die Stimme, um zu seiner Mannschaft zu sprechen.

»Also gut, Jungs, warum übernehmen jetzt nicht sechzehn von euch und zeigen den Seevögeln, wie echte Seeleute rudern.«

Nach einem Moment, in dem noch rasch besprochen wurde, wer wann rudern würde, kletterten seine Männer auf die Ruderbänke und ersetzten die ursprüngliche Mannschaft an den Rudern. Mit acht Männern auf jeder Seite hatten sie zwei Männer an jedem Riemen. Jerns erster Maat, Sten Engelson, nahm Stigs Platz ein und gab den Takt vor. Unter der verstärkten Schubkraft schoss die Seevogel geradezu vorwärts, ihr Bug durchschnitt das Wasser in Höchstgeschwindigkeit, sodass eine beträchtliche Bugwelle entstand und sich hinter ihr weißes Kielwasser bildete.

Jesper kam nach achtern und machte es sich auf dem Deck neben Hals Platz am Steuerruder bequem.

»Das ist das richtige Leben«, sagte er. »Können wir sie behalten?«

Einer der Ruderer hatte das mit angehört und grinste auf seiner Ruderbank. »Sie ist ja ein Leichtgewicht«, stellte er fest und zog seinen Riemen ohne sichtbare Anstrengung durchs Wasser. »Wir könnten den ganzen Tag so weitermachen.«

»Ach ja?«, rief Sten von seiner Bank aus. »In dem Fall können wir ja die Geschwindigkeit ein wenig erhöhen: Und – Zug! Und – Zug! Und – Zug!«

Die Seevogel gewann noch mehr an Geschwindigkeit. Das Schiff sauste über die Wellen, der Bug stieß durch die Wellenberge und schickte die Gischt zurück übers Schiff und die Männer, die auf dem Deck saßen. Niemanden störte das. Sie waren Seeleute und daran gewöhnt, nass zu werden. Die hohe Geschwindigkeit des Schiffs machte die kleine Unannehmlichkeit, durchnässt zu werden, mehr als wett.

Stig gesellte sich zu den beiden Skirls auf die Steuerplattform.

»Ich stimme Jesper zu«, sagte er. »Nehmen wir doch diese Kerle mit auf all unsere Fahrten, dann bräuchten wir nie mehr ein Segel zu hissen.«

»Deine Männer wissen auf jeden Fall, wie die Riemen zu handhaben sind«, sagte Hal zu Jern.

Der ältere Skirl nickte. »Das ist eine gute Mannschaft. Aber wie Lars sagte, dieses Schiff ist auch ein echtes Leichtgewicht. Sie sind an die Wolfbiter gewöhnt, die drei oder vier Mal so viel wie diese kleine Schönheit hier wiegt.«

»Nun, meine Männer freuen sich natürlich darüber, sich ausruhen zu können«, sagte Hal und deutete mit einem Kopfnicken zu Ulf und Wulf, die Zwillinge, die bei der Rudermannschaft gut gelaunte Sticheleien loswurden. Tatsächlich genoss die ganze Mannschaft der Seevogel die Seltenheit, gerudert zu werden, statt selbst rudern zu müssen. Und sie genossen auch die Begeisterung, dass ihr Schiff so schnell gerudert werden konnte. Noch nie zuvor waren sie unter Rudern so schnell durch das Wasser gepflügt.

Sie sausten die Küste hoch, die wie ein langes graugrünes Band an ihnen vorbeizog. Die Mannschaft der Wolfbiter konnte ihre hohe Geschwindigkeit ohne irgendein Anzeichen von Müdigkeit halten. Lange bevor Hal es ursprünglich erwartet hatte, öffnete sich die Mündung des Flusses Semath an der Küste. Hal bewegte das Steuerruder und drehte den Bug des Schiffes um neunzig Grad, in Richtung des breiten Flusses.

Die Wellen und der Wind hatten sie bis zu diesem Punkt heftig gezaust. Jetzt änderten sich die Windverhältnisse und damit auch die schaukelnde Bewegung des Schiffes.

Hal musterte den Fluss vor sich aus schmalen Augen. Ursprünglich hatte er den Kurs auf die Mitte des Flusses ausgerichtet. Doch obwohl der Bug immer noch in diese Richtung zeigte, konnte er sehen, dass die geänderten Windverhältnisse das Schiff in Richtung des Südufers trugen.

Jern zögerte, nicht sicher, ob er Hals Aufmerksamkeit auf diese Tatsache lenken sollte. Es käme ausgesprochen schlechten Manieren gleich, einem anderen Skirl einen Ratschlag zu erteilen, ohne gefragt worden zu sein. Er entspannte sich, als er gleich darauf sah, wie Hal das Ruder bewegte, sodass der Bug zum nördlichen Ufer zeigte. Nach ein paar weiteren kleinen Anpassungen des Steuerruders glichen sich Strömung und Wind aus und die Seevogel hielt einen klaren Kurs in der Mitte des Flusses.

Hal hatte Jerns momentane Unschlüssigkeit erkannt und lächelte ihn jetzt an. »Ich hatte es auch bemerkt«, sagte er.

Die rollende Bewegung wurde schwächer, als sie in den Schutz der Landzungen kamen und der Wellengang abnahm. Der Wind war jedoch immer noch stark genug, und sobald sie ein paar Hundert Meter ins Landesinnere gefahren waren, gab Hal dem anderen Skirl ein Handzeichen.

»Rudern halt! Riemen hoch!«, befahl dieser daraufhin seinen Männern, und die acht Ruderblätter hoben sich aus dem Wasser und wurden tropfend parallel zur Wasseroberfläche gehalten.

»Riemen einholen!« Mit lautem Geklapper wurden die Riemen aus den Ruderdollen gezogen und hereingeholt. Das Schiff bewegte sich weiter vorwärts, aber nun langsamer.

»Segel setzen!«, rief Hal.

Ulf und Wulf hatten bereits auf den Befehl gewartet. Sie sprangen auf, eilten nach vorn.

»Riemen verstauen!«, befahl Jern. Es klapperte erneut, als die acht Eichenhölzer erhoben und dann in den wie Gabeln geformten Ruderablagen verstaut wurden. Gleichzeitig folgten Ingvar, Jesper und Stefan den Zwillingen und nahmen ihre jeweiligen Positionen auf der Steuerbordseite ein.

»Backbordsegel hissen!«, befahl Hal. Und schon glitt das Segel den Mast hoch.

Innerhalb weniger Minuten strömte das Kielwasser hinter ihnen in gerader Linie. Die Seevogel befand sich auf Kurs und bewegte sich mindestens so schnell wie unter der Muskelkraft der Mannschaft der Wolfbiter.

Jern nickte anerkennend. »Wie ich schon sagte, ein nettes kleines Schiff.«

Hal blickte zum Ufer, an dem sie vorbeizogen, und schätzte die Geschwindigkeit ab. »Wenn wir dieses Tempo beibehalten, werden wir bereits in drei Stunden vor Schloss Araluen anlegen«, sagte er.

Vier

Madelyn träumte.

Sie träumte, sie befände sich auf dem Markt im Hof von Schloss Redmont. Verkaufsbuden waren aufgebaut, an denen man Kleidung, Messer, Äxte, Sattel und Zaumzeug erstehen konnte, außerdem frisch eingefärbte Stoffe. Doch sie war unterwegs zu ihren Lieblingsständen – dort, wo Essen verkauft wurde. Zielstrebig ging sie auf den Stand mit Pasteten zu. Sie tastete in ihren Taschen, um sich zu vergewissern, dass sie ein paar Silbermünzen bei sich hatte. Sie brauchte nur eine für die würzige Pastete, die sie am liebsten aß, und sie wollte sie auf jeden Fall bezahlen.

All zu oft reichten ihr die Verkäufer die Ware und winkten ab, wenn sie bezahlen wollte. »Für einen Waldläufer kostet das nichts«, sagten sie dann lächelnd.

Doch Will hatte ihr beigebracht, für alles selbst zu bezahlen. »Wir akzeptieren keine Gratisessen oder Geschenke. Auf diese Weise schulden wir niemandem etwas.«

Auf ihre Nachfrage hin hatte er weiter ausgeholt. »Stell dir mal vor, dass du eines Tages einen dieser Händler dabei ertappst, wie er Essen oder Wein aus dem Schlosskeller schmuggelt. Oder du erwischst ihn direkt beim Schmuggeln auf dem Fluss. Also nimmst du ihn fest und er schaut dich an und sagt: ›Aber Ihr habt doch immer die kostenlosen Pasteten genommen, die ich Euch gegeben habe.‹ Du wirst diesen Leuten etwas schuldig sein. Und das wird es dir viel schwerer machen, deine Arbeit zu erledigen.«

Widerstrebend musste sie eingestehen, dass er recht hatte. Es war für einen Waldläufer besser, unbelastet von jeder Art von Schuld oder Verpflichtung zu sein. Deshalb lebten Will und sie auch außerhalb des Schlosses in ihrer gemütlichen kleinen Hütte im Wald. Waldläufer mussten als unparteiisch wahrgenommen werden, von niemandem beeinflusst, weder vom hochherrschaftlichen Baron noch vom niedrigsten Pastetenverkäufer.

Der appetitliche Duft von Pasteten stieg ihr jetzt in die Nase und ihr Magen knurrte bereits erwartungsvoll. Sie nahm eine der Münzen aus ihrer Westentasche und beschleunigte ihre Schritte.

Ein breit gebauter Mann, der ihr entgegenkam, rempelte sie an. Da sie darauf nicht gefasst gewesen war, ließ sie die Münze fallen. Als sie sich bückte, um sie aufzuheben, rempelte der Mann sie noch einmal an.

»Aufhören!«, forderte sie ärgerlich. Doch er schubste sie immer wieder.

Erstaunlicherweise beugte er sich dicht zu ihr und blies ihr seinen warmen Atem ins Gesicht. Sie wich zurück. Sein Atem roch nicht gerade nach Rosen. Um genau zu sein, roch er eigenartigerweise nach Gras und Hafer.

Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass sie in Stupsers langes Gesicht blickte, nur ein paar Fingerbreit weg von ihrem eigenen.

»Schluss damit! Was machst du da?«, fragte sie schlaftrunken. Seinem Namen getreu hatte ihr Pferd sie an der Schulter angestupst. Es gab gar keinen breit gebauten Mann. Und was noch schlimmer war: Es gab keinen Pastetenstand. Nur ihr Pferd und das dichte Gras, in dem sie eingenickt war.

Bei Blarneys immerwährendem Bart, wenn du schläfst, dann schläfst du richtig fest, was? Ich versuche schon eine ganze Weile, dich wach zu bekommen. Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf.

Wie alle Pferde von Waldläufern neigte auch Stupser zu Übertreibungen. Das Stupsen konnte nicht länger als eine halbe Minute gedauert haben. Madelyn setzte sich auf und rieb sich die Augen.

»Was weißt du denn über Blarney … oder seinen Bart?«, fragte sie gereizt.

Blarney war eine niedrige Gottheit der Hibernianer, von der Walt ihr erzählt hatte. Blarneys Bart wuchs immer weiter bis zu seinen Füßen, egal wie oft er ihn schnitt oder wie häufig er sich rasierte. Jede Nacht bekam er wieder seine volle Länge, sodass Blarney ständig darüber stolperte. Deshalb war Blarney eine stets sehr schlecht gelaunte niedrige Gottheit.

Stupser legte wissend den Kopf zur Seite. Ich höre vieles. Ich weiß vieles. Und ich mache mir manche Gedanken. Im Augenblick dachte ich vor allem, dass du vielleicht gern wüsstest, dass ein Schiff in unsere Richtung segelt.

Sofort war Madelyn hellwach.

»Was? Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?« Sie wollte aufspringen, doch ihr linker Stiefel verfing sich im Saum ihres Umhangs, sodass sie stolperte und ins Gras fiel.

Stupser schnaubte. Du und Blarney, ihr passt ganz gut zusammen, oder? So sicher auf den Füßen. So beweglich.

»Ach, halt die Klappe!«, erwiderte sie, erhob sich nun etwas vorsichtiger und nahm Bogen und Köcher auf, die neben ihr gelegen hatten.

Stupser konnte nicht anders, als noch einmal zu schnauben.

Madelyn schirmte jetzt ihre Augen mit einer Hand ab und spähte flussabwärts. Und da konnte sie auch schon ein blasses Dreieck erkennen, bei dem es sich wohl um das einige Hundert Meter entfernte Segel der Seevogel handelte. Das kleine Schiff pflügte mit Höchstgeschwindigkeit durchs Wasser, getrieben von einem kräftigen Wind, der von der rechten Seite kam. Madelyn runzelte die Stirn. Rechte Seite war wohl nicht der Ausdruck, den Seeleute verwendeten. Dafür gab es doch irgendeinen bestimmten Begriff.

»Steuerbank«, sagte sie zu sich und zog ihre Kapuze hoch.

Stupser schnaubte erneut, diesmal hörbar. Steuerbank?

»Steuerbank. So nennen die Seeleute die rechte Seite ihres Schiffes«, erklärte sie mit überlegenem Tonfall.

Stupser schüttelte den Kopf. Ich denke, der Ausdruck, den du meinst, ist »Steuerbord«.

Sie gab auf, denn ihr war klar, dass sie ihn bei einer solchen Diskussion nicht schlagen konnte. Stattdessen begann sie das Flussufer entlangzulaufen. Er trottete fröhlich hinter ihr her.

»Wer hat dich denn zu einem Experten gemacht?«, grummelte sie leise vor sich hin. Aber natürlich hörte er sie.

Wie gesagt: Ich höre vieles. Und ich weiß vieles.

»Du bist ein Besserwisser. Ein Besserwisser und etwas aufgeblasen«, sagte sie zu ihm.

Er sah sie leicht irritiert an. Aufgeblasen?

Sie nickte und sah ihn nun direkt an. »Aufgeblasen! Und glaub mir, das weiß ich genau. Du hast mir nämlich gerade deinen nach Hafer und Gras riechenden Atem ins Gesicht geblasen, und das war ganz bestimmt nicht lustig.«

Ausnahmsweise schien er keine Antwort darauf zu haben. Er warf den Kopf zurück und starrte sie entrüstet an. Dann schüttelte er nachdrücklich seine Mähne.

Zufrieden mit ihrem kleinen Sieg eilte Madelyn zum Flussufer hinunter. Das Schiff war inzwischen nur noch etwa hundert Meter entfernt. In der Hoffnung, dass jemand mit scharfem Auge im Ausguck stand, zog sie einen weißen Schal aus ihrer Weste und winkte damit.

Jesper befand sich auf dem Ausguck im Bug und entdeckte die plötzliche Bewegung am Ufer. Er war leicht irritiert von der Tatsache, dass er diese Person gar nicht bemerkt hatte, bis dieses weiße Tuch geschwenkt worden war. Wer immer das war, war in einen grün und braun gesprenkelten Umhang gekleidet, weshalb die Person sich auch unauffällig in die Umgebung einfügte. Verspätet rief er Hal eine Warnung zu.

»Dort vorne am Flussufer winkt uns jemand!«

Auf der Steuerplattform hatten Hal, Jern und Thorn eben ihre Pläne für die Reparaturarbeiten an der Wolfbiter besprochen. Auf Jespers Ruf hin richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf das Ufer.

»Was hat er denn an?«, fragte Jern.

Hal kniff die Augen zusammen. Wie Jesper fand auch er es recht schwierig, die Person zu erkennen. Aber er hatte solche Umhänge bereits bei anderen Gelegenheiten gesehen. »Das muss ein Waldläufer sein«, sagte er.

Jern runzelte die Stirn. »Macht es schwer, ihn zu sehen«, meinte er.