Die Chroniken von Araluen - Flucht aus dem Kerker - John Flanagan - E-Book

Die Chroniken von Araluen - Flucht aus dem Kerker E-Book

John Flanagan

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Beschreibung

Die Gefangenen des Barons

Nachdem ihr Plan, den Prinzen von Gallica zu retten, dramatisch gescheitert ist, werden Will und Lynnie ebenfalls vom gefährlichen Baron Lassigny in seinem düsteren Kerker gefangen gehalten. Freunde aus der Heimat machen sich auf den weiten Weg, um ihnen zu Hilfe zu kommen, doch dem Baron ist kein Trick zu schäbig. Die Waldläufer müssen ihre geballten Kräfte aufbieten, um den Verschwörern ein für alle Mal das Handwerk zu legen.

Spannende und actionreiche Abenteuer in einem fantastisch-mittelalterlichen Setting – tauche ein in »Die Chroniken von Araluen«!

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Seitenzahl: 320

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© Cameron Barrie

AUTOR

John Flanagan arbeitete als Werbetexter und Drehbuchautor, bevor er das Bücherschreiben zu seinem Hauptberuf machte. Den ersten Band von »Die Chroniken von Araluen« schrieb er, um seinen zwölfjährigen Sohn zum Lesen zu animieren. Die Reihe eroberte in Australien in kürzester Zeit die Bestsellerlisten und ist weltweit unvermindert erfolgreich, ebenso wie die Spin-off-Reihe »Brotherband«.

Von John Flanagan sind bei cbj erschienen:

DIE CHRONIKEN VON ARALUEN

Die Ruinen von Gorlan (27072)

Die brennende Brücke (27073)

Der eiserne Ritter (21855)

Der Angriff der Temujai-Reiter (21065)

Die Krieger der Nacht (22066)

Die Belagerung (22222)

Der Gefangene des Wüstenvolks (22229)

Die Befreiung von Hibernia (22342)

Der große Heiler (22343)

Die Schwertkämpfer von Nihon-Ja (22375)

Die Legenden des Königreichs (22486)

Das Vermächtnis des Waldläufers (22508)

Königreich in Gefahr (31255)

Im Bann des dunklen Ordens (31269)

Die Verschwörung von Gallica (31389)

Flucht aus dem Kerker (31534)

DIE CHRONIKEN VON ARALUEN – WIE ALLES BEGANN

Das Turnier von Gorlan (22625)

Die Schlacht von Hackham Heath (22631)

BROTHERBAND

Die Bruderschaft von Skandia (22381)

Der Kampf um die Smaragdmine (22382)

Die Schlacht um das Wolfsschiff (22383)

Die Sklaven von Socorro (22505)

Der Klan der Skorpione (22506)

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John Flanagan

DIE CHRONIKEN VON ARALUEN

Flucht aus dem Kerker

Aus dem Englischen von Angelika Eisold Viebig

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe Dezember 2022

© 2021 John Flanagan

© 2022 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Zuerst erschienen unter dem Titel »Ranger’s Apprentice. The Royal Ranger 5: Escape from Falaise« bei Penguin Random House Australia Pty Ltd.

Dieser Titel wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Angelika Eisold Viebig

Lektorat: Andreas Rode

Umschlagillustration: © Jeremy Reston

Umschlaggestaltung: Karsten Molesch, Liebenburg

MI · Herstellung: AW

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29627-8V001www.cbj-verlag.de

Eins

Fesselt sie«, befahl Baron Lassigny noch einmal schneidend. »Sie stehen unter Arrest.«

Lynnie und Will standen schweigend da, während zwei von Lassignys Leuten auf sie zukamen. Die Männer nahmen den beiden Waldläufern die Sachsmesser ab und fesselten ihnen die Hände. Lynnie versuchte, ihre Handgelenke anzuspannen, um später die Fesseln lockern zu können, sobald sie die Muskeln entspannte. Doch der Soldat kannte diesen Trick und versetzte ihr prompt einen Schlag auf die Handgelenke.

»Keine Spielchen!«, befahl er grob.

Sie zuckte mit den Schultern und entspannte die Muskeln, worauf er das Seil festzurrte, um jede noch so kleine Bewegung unmöglich zu machen. Lynnie merkte bereits nach kurzer Zeit, wie ihre Hände wegen der unterbrochenen Durchblutung taub wurden.

Lassigny deutete auf Prinz Giles, der aufgrund der überraschenden Ereignisse benommen und verwirrt wirkte. »Bringt ihn zurück in sein Zimmer«, befahl er.

Giles wurde am Arm gepackt und weggeführt. Der Prinz folgte, ohne sich zu wehren.

Lassigny wandte sich wieder Will und Lynnie zu. »Die beiden kommen in den Kerker«, befahl er.

Will und Lynnie wechselten einen kurzen Blick. Will zuckte mit den Schultern. Im Moment konnten sie nichts dagegen tun, da sie gefesselt und unbewaffnet waren. Die Männer, die sie gefesselt hatten, zogen jetzt ihre Dolche und traten hinter die beiden Waldläufer. Lassigny, der sah, dass sie keinen Widerstand leisteten, steckte sein Schwert wieder in die Scheide und deutete auf die Treppe.

»Na los!«, befahl er.

Will zögerte einen Moment und schon spürte er die scharfe Spitze eines Dolches im Rücken. Er verstand und ging zur Treppe. Lynnie lief neben ihm und die beiden Soldaten folgten dicht hinter ihnen. Lassigny und die anderen drei Soldaten kamen gleich danach.

Sie gingen die Treppe hinunter, kamen an der Wachstube vorbei, die auf gleicher Höhe wie der Wehrgang der Burg war. Einige der Wachen betrachteten neugierig die kleine Prozession. Im Erdgeschoss angekommen zögerten sie, da sie nicht wussten, wohin genau sie gehen sollten. Sofort erfolgte ein weiterer Piks mit dem Dolch, der sie in Richtung Bergfried lenkte.

»Ihr hättet es mir einfach sagen können«, protestierte Will. Der Dolch war scharf und wurde nicht gerade sanft eingesetzt.

»Klappe«, schnauzte ihn sein Bewacher an. Will zuckte mit den Schultern und ging auf die schwere Tür des Bergfrieds zu. Diesmal versuchte er, einen weiteren Stoß mit der unangenehmen Dolchspitze zu vermeiden, und ergriff mit seinen gefesselten Händen den eisernen Ring des Türgriffs, öffnete die Tür und ging vor den anderen hinein.

»Wohin jetzt?«, fragte er, als sie eingetreten waren.

»Runter«, erwiderte der Wachmann und deutete auf die Treppe in der Mitte der großen Halle. Will ging darauf zu, doch ein Befehl von Lassigny hielt sie auf, als sie die Treppe eben erreicht hatten.

»Sperrt sie in die Ostzellen«, befahl der Baron. Der Wachmann nahm den Befehl mit einem Brummen entgegen.

Zum ersten Mal seit dem Verlassen des Turms wandte sich Lassigny direkt an Will und Lynnie.

»Wir werden uns in ein paar Tagen unterhalten«, sagte er.

»Haben wir uns denn etwas zu sagen?«, fragte Will.

Lassigny lächelte – ein Lächeln, dem jeglicher Humor fehlte. »Oh, ich denke schon«, erwiderte er eisig. »Warten wir mal ab, wie ein paar Tage in der Zelle eure Zungen lösen werden. Vielleicht könnt ihr ja wieder für mich singen.«

Er drehte sich um und ging nach oben in sein Quartier. Will verspürte einen weiteren Pikser im Rücken.

»Schon gut, schon gut«, sagte er und ging die Treppe hinunter. Sein Bewacher folgte ihm, danach kamen Lynnie und deren Bewacher. Die anderen drei Soldaten folgten ihnen polternd die Holzstufen hinab.

Ein Stockwerk weiter unten waren die Treppenstufen nur noch aus unbearbeitetem Stein und die Luft war merklich kühler und feuchter. Die Steintreppe führte zwei weitere Stockwerke nach unten, dann wurden die beiden Gefangenen nach rechts geleitet.

Die Wände hier unten bestanden aus grob behauenem Stein. In Wandhalterungen steckten brennende Fackeln, die ein schwaches Licht lieferten. Will und Lynnie wurden einen schmalen, niedrigen Flur entlang bis zu einer Stelle geführt, wo sich ein Eisentor in der Mauer befand.

»Stehen bleiben!«, befahl der Mann hinter Will. Anscheinend wurde der Dolch nur für Kommandos eingesetzt, die Gehen betrafen, nicht fürs Anhalten. Der Wachmann rief jemanden, seine Stimme hallte laut durch den Gewölbegang.

»Marius! Wo bist du?«

Irgendwo aus der Dunkelheit weiter vorne kam ein unterdrückter Ausruf, dann quietschten die Angeln einer Tür, die sich langsam öffnete. Das gelbliche Licht einer Laterne erleuchtete einen niedrigen Gang. Eine breite Gestalt schob sich gebückt durch den niedrigen Türrahmen und betrat den Gang.

»Komm ja schon! Komme!«, rief der Mann, seine Stimme war rau und kehlig. In einer merkwürdigen Mischung aus Schlurfen und Hüpfen kam er auf sie zu und blieb dann stehen, um sie zu mustern. Im Licht der Fackeln war ein Gesicht mit einer hohen Stirn, buschigen Augenbrauen und einem verfilzten Bart zu erkennen. Die Nase schien irgendwann gebrochen worden zu sein – wahrscheinlich von einem schweren Schlag – doch man hatte sie nie gerichtet, sodass sie leicht nach einer Seite zeigte. Die Augen unter den Augenbrauen waren dunkel und mitleidlos.

Der Mann, den Wills Bewacher Marius genannt hatte, grinste beim Anblick der Gefangenen, und man konnte sehen, dass der Großteil seiner Zähne fehlte.

»Ah, unsere neuen Gäste sind angekommen«, sagte er und lachte unangenehm. Der Bund aus großen Schlüsseln, der von seinem breiten Ledergürtel hing, klapperte.

Der Wachmann hinter Will trat von einem Fuß auf den anderen. Will spürte, dass er sich in der Gegenwart des Kerkermeisters nicht gerade wohlfühlte.

»Mach einfach auf und sperr sie in eine der Zellen«, sagte er kurz.

»Alles braucht seine Zeit, Ramon«, antwortete der Kerkermeister in seinem kehligen Flüstern.

Er nahm einen großen eisernen Schlüssel vom Bund an seinem Gürtel, öffnete das Gitter und ließ die Gefangenen mit ihren Bewachern eintreten. »Sehen wir uns doch mal an, wen wir hier haben«, sagte er.

Er trat näher zu Will und spähte in sein Gesicht. Aus der Nähe waren sein Körpergeruch und sein schlechter Atem allzu deutlich wahrzunehmen.

»Na, wenn das nicht mal unser Singvogel ist«, meinte er. Dann trat er zu Lynnie. »Und seine hübsche Tochter.« Lynnie rührte sich nicht, als er sein kaputtes Gesicht ganz nah an ihres schob. »Willkommen in meinem schönen Heim«, sagte er zu ihr und lachte wieder laut auf.

Unwillkürlich zuckte Lynnie zusammen.

»Steck sie in eine der Zellen«, befahl Ramon.

Der Gang war mit Kerkerzellen auf jeder Seite gesäumt, jede durch ein weiteres verriegeltes Gitter abgetrennt.

Der Kerkermeister trat von Lynnie zurück. Er öffnete eine der Gittertüren mit dem gleichen Schlüssel wie zuvor das große Tor. Die Kerkertür quietschte, als er sie aufzog.

Mit einer spöttischen Verbeugung wies der Kerkermeister in die Zelle hinein.

»Bitte, meine lieben Gäste, macht es euch bequem.«

»Rein mit euch«, befahl Ramon ihnen kurz und knapp. Es war offensichtlich, dass er es kaum erwarten konnte, von dem Kerkermeister wegzukommen und diesen Ort hinter sich zu lassen.

Will und Lynnie brauchten keine weitere Aufforderung. Sie traten ein, woraufhin Marius das quietschende Gitter hinter ihnen zuschlug, den Schlüssel im Schloss drehte und mit einem heftigen Rütteln an den Gitterstäben noch einmal überprüfte, ob es auch wirklich geschlossen war.

»Hände!«, befahl Ramon und deutete auf einen waagrechten Spalt im Gitter. Will begriff, was er meinte, und streckte seine gefesselten Hände hindurch, damit Ramon die Fesseln mit dem Dolch durchschneiden konnte. Lynnie beeilte sich, es ihm nachzutun, und seufzte erleichtert auf, als das grobe Seil von ihren Handgelenken fiel.

»Hütet euch vor dem«, flüsterte Ramon und zeigte mit dem Kopf auf den riesigen ungekämmten Kerkermeister. »Er kann euch im Handumdrehen umbringen.«

»Danke für die Warnung«, flüsterte Lynnie, rieb sich ihre Handgelenke und verzog das Gesicht, als das Blut schmerzhaft wieder anfing zu zirkulieren.

Ramon blickte zu dem Kerkermeister hinter sich. »Pass gut auf sie auf«, mahnte er Marius. »Der Baron will in ein paar Tagen mit ihnen reden. Und er will, dass sie auch antworten können.«

Marius tat so, als wolle er sich wieder verbeugen und machte eine nach unten ausholende Handbewegung.

»Oh, das tu ich, tu ich«, sagte er und spielte den besorgten Gastgeber. »Ich lass gleich von den Dienern heißes Essen und Trinken und warme, weiche Zudecken bringen.« Er stieß ein bellendes Lachen aus, dann drehte er sich um und ging zurück in sein eigenes Reich. »Heißes Essen und warmes Bettzeug«, wiederholte er und lachte erneut.

Aber natürlich gab es keinerlei Essen und das Bett bestand aus einer dünnen Lage von altem Stroh auf dem feuchten Steinboden. Die Zelle selbst wurde nur vom Licht der Fackel im Gang erleuchtet. Will und Lynnie schauten sich um. In dem schwachen Licht gab es nicht viel zu sehen.

»Willkommen in unserem neuen Zuhause«, sagte Will.

Lynnie runzelte die Stirn. »Es ist nicht gerade ein Palast, oder?«

Ihr Mentor zuckte mit den Schultern. »Zumindest ist es warm und trocken«, antwortete er, doch Lynnie schnaubte abfällig.

»Es ist weder warm und gewiss auch nicht trocken«, stellte sie fest.

In der Zelle herrschte jene durchdringende, bis auf die Knochen gehende Kälte, die sich einstellt, wenn ein Raum einige Stockwerke unter der Erde ist und nie das Licht oder die Wärme der Sonne gesehen hat. Die Kälte schien regelrecht aus den Steinmauern herauszusickern. Und das schwache Licht zeigte ein paar glänzende dunkle Wasserpfützen auf dem Boden.

Will seufzte. »Tja, man kann nicht alles haben.«

Zwei

Sie schoben das Stroh zusammen, damit es eine dünne Lage über dem Steinboden ergab, und lehnten sich in ihre Umhänge gehüllt mit dem Rücken gegen die Wand. Die feuchte Kälte des Kerkers kroch bald durch ihre Umhänge bis in ihre Knochen. Im schwachen Licht konnten sie nur wenig von ihrer Umgebung erkennen.

Nach etwa einer Stunde hörten sie Marius den Gang entlangschlurfen, um die heruntergebrannten Fackeln gegen neue auszutauschen. Dann wurde eine Tür – wahrscheinlich die zu seinem Zimmer – zugeknallt und man hörte nichts mehr von ihm. Ein wenig später schaffte Lynnie es endlich einzuschlafen. Sie schlief zwar unruhig, doch irgendwie brachten sie auch die restliche Nacht in dieser kalten, unwirtlichen Umgebung hinter sich.

Als sie erwachten, stellten sie erstaunt fest, dass Tageslicht in die Zelle drang. Auf einer Seite ihres Kerkers befand sich ein Luftschacht. Wenn man sich ganz nah an die Wand stellte und nach oben blickte, konnte man ein Eisengitter erkennen. Sobald jemand vorbeiging, verdunkelte ein Schatten den Schacht.

»Der muss zum Hof gehen«, stellte Will fest.

Durch den Schacht gelangten Licht und Luft in den Kerker, wenn auch in beschränktem Umfang. Leider gestattete er auch das Eindringen von Regen, woher die großen Pfützen rührten, die jetzt deutlicher zu erkennen waren. Sobald es noch heller wurde, untersuchten Will und Lynnie ihr Gefängnis. Viel gab es nicht zu entdecken. Der Raum war recht groß, mit einer niedrigen Decke, genau wie im Flur. Der Boden war aus hartem Fels und die Mauern bestanden aus grob behauenen Steinen, die ohne sichtbaren Mörtel zusammengefügt waren. In einer Ecke befand sich ein grob abgetrennter Bereich, der als Abtritt diente. Will blickte um die Ecke und schnupperte vorsichtig.

»Nur in dringenden Fällen zu benutzen«, knurrte er, sobald er den Kopf wieder zurückgezogen hatte.

Abgesehen davon fehlte dem Raum jegliche Möblierung. Von einer Wand hingen einige Eisenfesseln an rostigen Ketten.

»Dieser Anblick gefällt mir gar nicht«, meinte Lynnie.

Will nickte. »Wir verscherzen es uns besser nicht mit unserem Freund Marius«, antwortete er.

Nach dem einfallenden Licht zu urteilen, mochte es etwa acht Uhr morgens sein, als sie hörten, wie der Kerkermeister sich näherte. Er spähte durch das Gitter zu ihnen hinein und kicherte kehlig.

»Wie ich sehe, sind meine Singvögelchen wach«, sagte er. »Und genau richtig fürs Frühstück: Frisches Brot und heißer Kaffee.«

Er schob ein Holztablett durch den Spalt in der Tür, wo Ramon am vergangenen Abend ihre Fesseln durchschnitten hatte, und balancierte es auf der breiten eisernen Platte, die den Boden des Spaltes bildete. Will ging hinüber, um das Tablett zu holen, doch sobald er das tat, zog Marius es aus seiner Reichweite.

»Sag erst Danke«, verlangte Marius und kicherte.

»Danke«, sagte Will.

Marius hielt das Tablett immer noch außer Reichweite. »Danke, guter Marius«, verlangte er zu hören.

»Danke, guter Marius«, sagte Will.

Doch das Tablett blieb immer noch außer seiner Reichweite. »Danke, guter, bester Marius.«

»Danke …«, begann Will, doch der Kerkermeister kam ihm zuvor

»Danke, guter, bester, spendabler Marius für unser leckeres Frühstück.«

Unter größter Anstrengung schaffte Will es, seine wachsende Genervtheit mit dieser kindischen Spielerei nicht zu zeigen. Es hat keinen Sinn, diesen monströsen Kerl zu reizen, das war ihm klar.

»Danke, guter, bester, spendabler Marius für unser leckeres Frühstück.«

Wieder stieß Marius ein hohes Kichern aus – ein merkwürdiges Geräusch für einen solch ausgewachsenen Mann. Doch diesmal ließ er das Tablett dort, wo Will es erreichen und in die Zelle holen konnte.

»War mir doch ein Vergnügen«, sagte er, drehte sich um und schlurfte den Flur hinab in sein Zimmer, während er weiter vor sich hinkicherte. Will schüttelte den Kopf und atmete tief aus.

»Ist es wirklich frisches Brot und Kaffee?«, fragte Lynnie, stellte sich auf ihre Zehenspitzen und spähte über Wills Schulter auf das Tablett.

»Machst du Scherze?«, erwiderte Will mit einem Seufzer. Auf dem Tablett befanden sich zwei Zinntassen, ein verbeulter Zinnkrug mit kaltem Wasser und zwei alte Brotstücke, eines leicht angeschimmelt.

»Oh«, sagte Lynnie. »Ich dachte mir schon, dass es sich zu gut anhört, um wahr zu sein.«

»Du bist ja sehr leichtgläubig«, erwiderte Will. Er nahm die schimmlige Brotscheibe. »Ich nehme die hier.«

Lynnie nickte dankbar. »Danke dir.«

Sie aßen und tranken sofort. Auch wenn das Essen alles andere als appetitlich war, waren sie doch beide hungrig und durstig. Will goss einen Teil des Wassers, das zumindest sauber zu sein schien, in die Tassen und ließ die Hälfte davon im Krug.

»Wir wissen nicht, wann wir wieder etwas bekommen«, meinte er.

Er stellte das Tablett auf die Eisenplatte in der Tür und kehrte zu seinem Platz an der Wand zurück. Dort ließ er sich nach unten gleiten, um auf dem Boden zu sitzen und den Rücken an der rauen Wand anzulehnen.

»Was jetzt?«, fragte Lynnie. Sie saß ein Stück weiter in der gleichen Stellung. Zumindest war der Boden hier trockener, da die Stelle an der Mauer etwas höher lag und das Wasser sich im niedrigeren Bereich auf dem Boden sammelte.

»Tja, wir werden wohl hier sitzen und Däumchen drehen, bis Lassigny geruht, mit uns zu reden«, sagte Will.

»Däumchen drehen«, wiederholte Lynnie mit zur Seite gelegtem Kopf. »Wie genau dreht man denn den Daumen, frage ich mich? Und warum dreht man den Daumen, statt sich etwas einfallen zu lassen?«

»Däumchen zu drehen, ist eine von jeher praktizierte Weise, sich die Zeit zu vertreiben«, erklärte Will. »Wohingegen du dir einfallen lässt, mir alberne Fragen zu stellen.«

Lynnie stieß einen tiefen Seufzer aus. Abgesehen von der Kälte, der Unbequemlichkeit und dem ungenießbaren Essen, gehörte auch die Langeweile zu den unangenehmen Aspekten der Gefangenschaft. Es gab einfach überhaupt nichts zu tun, nichts zu sehen und nichts zu hören. Für eine energiegeladene junge Frau wie sie war dieser Mangel an Möglichkeiten nahezu unerträglich.

Natürlich war sie dafür ausgebildet, lange Zeit in Deckung auszuharren und still und ungesehen zu bleiben. Aber bei solchen Gelegenheiten wartete sie zumindest darauf, handeln zu können. Sie verhielt sich still, weil gleich etwas passieren würde.

Hier hingegen war das einzige zu erwartende Ereignis die Ankunft ihres Gefängniswärters mit einer weiteren ekligen Mahlzeit.

»Ich frage mich, was Lassigny vorhat«, überlegte sie laut. »Wie lange denkst du, wird er uns hier schmoren lassen? Er sagte ja, er wolle mit uns reden, oder? Also wann denkst du, wird er das tun?«

»Gelangweilt?«, fragte Will mit einem gewissen Mitgefühl.

»Auf jeden Fall. Und es ist noch nicht einmal Mittag«, antwortete sie.

Er nickte einige Male. »Vielleicht könntest du versuchen, das zu tun, was ich tue, wenn ich mich langweile?«, schlug er vor.

Sie drehte sich zu ihm. »Und was ist das?«

»Still dazusitzen und den anderen Leuten in meiner Nähe nicht auf die Nerven zu gehen.«

So zurechtgewiesen lehnte sie sich wieder gegen die Wand und änderte einige Male die Stellung, um bequemer sitzen zu können. Egal, wie sehr sie sich bemühte, es schien immer irgendeinen spitzen Stein zu geben, der sich in ihren Rücken bohrte. Sie seufzte noch einmal, doch Will ignorierte sie.

»Vielleicht könnten wir ihn austricksen, damit er uns entkommen lässt«, schlug sie vor.

Will sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Mit ihm meinst du wohl diesen unangenehmen Hünen ein Stück weiter den Gang hinunter?«

Sie nickte.

»Und wie sollten wir das deiner Meinung nach tun?«

»Na ja, ich könnte so tun, als sei ich krank. Ich könnte stöhnen und voller Schmerzen schreien, und du könntest ihn rufen und dazu bekommen, die Zelle zu betreten, um nachzusehen, ob mit mir alles in Ordnung ist.«

»Und dann?«

»Dann könntest du ihn überwältigen und wir könnten entkommen.«

»Zwei Probleme«, sagte Will. »Zum einen bezweifle ich, dass Marius sich einen Dreck darum schert, ob du stöhnst und schreist. Er würde es wahrscheinlich sogar genießen.«

Er schwieg, während sie darüber nachdachte.

Dann fragte sie: »Was ist das andere Problem? Du hast von zwei Problemen gesprochen.«

»Wie genau soll ich ihn denn überwältigen? Hast du ihn dir schon mal genauer angesehen? Er ist ein Riese und mindestens drei Mal so groß und stark wie ich.«

Lynnie überlegte. Dieses kleine Detail hatte sie noch nicht richtig durchdacht. »Na ja, ich würde dir natürlich helfen.«

Will schüttelte lustlos den Kopf. »Selbst wenn wir zu zweit sind, ist er immer noch doppelt so stark.«

»Wir könnten ihn mit etwas niederschlagen«, schlug Lynnie vor.

Will deutete in die leere Zelle. »Womit denn? Mit einer Handvoll Stroh?«

Lynnie sah sich um. »Da ist doch der Wasserkrug?«, sagte sie hoffnungsvoll.

»Ja, das stimmt«, sagte Will. »Und damit und einem Stück Bleirohr könnte ich ihn vielleicht überwältigen.«

Wieder herrschte Stille. »Ich habe immer noch mein Wurfmesser«, sagte Lynnie.

Will nickte. »Ich auch.«

Überraschenderweise hatten Lassignys Männer sie bei der Gefangennahme nicht durchsucht, sondern ihnen nur die Sachsmesser abgenommen und zur Seite geworfen. Wills kleineres Wurfmesser war immer noch an seinem linken Unterarm befestigt und Lynnies war in einer Scheide unterhalb ihres Kragens verborgen. »Aber«, fuhr er fort, »bist du auch bereit, ihn kaltblütig umzubringen?«

Sie verzog das Gesicht. »Nicht wirklich.«

Erneut breitete sich Schweigen aus. Diesmal war es zu Lynnies Überraschung Will, der es nach ein paar Minuten brach.

»Woher wusste er es?«

Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Woher wusste wer was?«

»Lassigny. Woher wusste er, dass wir vorhatten, Giles zu befreien? Offensichtlich hat er es erwartet. Selbst Marius war nicht überrascht, als wir in den Kerker gebracht wurden. Man hatte ihm gesagt, es kämen Gefangene. Also woher wusste Lassigny das?«

»Vielleicht ist er einfach von Natur aus misstrauisch?«, meinte Lynnie, doch Will schüttelte den Kopf.

»Es gab nichts, was uns mit Prinz Giles in Verbindung gebracht hätte«, sagte er. »Das war schließlich der Grund für Philippe, um Hilfe von außen zu bitten.« Er schwieg einen Moment. »Jemand muss uns verraten haben.«

»Uns verraten? Wer hätte das tun können? Und wer würde das tun?«

Will drehte sich langsam um und begegnete ihrem Blick.

»Das ist die große Frage, nicht wahr?«

Drei

In dieser Nacht gab es ein heftiges Gewitter.

Das grelle Licht der Blitze zuckte durch den Lichtschacht und erleuchtete den Umriss der Öffnung immer wieder für einige Sekunden. Der Donner war ohrenbetäubend und ließ die Wände und den Boden der Zelle vibrieren, selbst so tief unter der Erde noch.

Verstörender als die Geräusche des Sturms waren jedoch die Geräusche, die aus dem Raum des Kerkermeisters kamen, weiter unten im Gang. Marius war anscheinend zu Tode geängstigt von dem Sturm. Bei jedem Donnerschlag schrie er auf, und bei jedem Blitzschlag, der durch den schmalen Gang zuckte, heulte er angstvoll.

In den frühen Morgenstunden ebbte der Sturm schließlich ab und Marius’ Schreie machten einem leisen Heulen und Schluchzen Platz, das immer noch deutlich hörbar bis zu den beiden Gefangenen getragen wurde.

»Bist du wach?«, fragte Will seine Schülerin, als der Donner in der Ferne verhallte.

»Wer hätte denn dabei schlafen können?« Lynnie zog ihren Umhang enger um sich. Durch den Lichtschacht war Regen in ihr Gefängnis eingedrungen, riesige Tropfen, die auf dem Steinboden hochsprangen. Lynnie und Will waren weiter und weiter weg vom Lichtschacht gekrochen und mussten zusehen, wie das Regenwasser langsam auf sie zusickerte.

Unwillkürlich erinnerte Lynnie sich an den Sturm, den sie auf dem Weg zu Lassignys Schloss erlebt hatten, und sie dachte sehnsüchtig an die Wärme und Sicherheit, die sie zusammengekauert unter ihren Decken im Karren verspürt hatte, mit Stupsers weicher Nase nur wenige Handbreit entfernt hinter dem Segeltuch der Wagenplane. Unwillkürlich schauderte Lynnie zusammen, als sie die damalige Situation mit den feuchtkalten Bedingungen hier im Kerker verglich.

Als Marius den beiden Gefangenen kurz nach Tagesanbruch ihr Essen brachte, wirkte er verstört und seine Augen waren blutunterlaufen. Zweifellos litt er immer noch unter der unruhigen Nacht. Will trat zum Gitter, nahm das Tablett aus der Öffnung und begab sich sofort wieder zurück zu Lynnie, um außerhalb der Reichweite des Wärters zu sein. Marius musterte sie schlecht gelaunt, als sie sich beide auf den Boden setzten und über das Essen und das Wasser beugten. Mit einem verächtlichen Grunzer drehte er sich um und schlurfte zurück zu seinem Lager.

Doch jeder Gedanke an möglicherweise auftauchende Probleme mit Marius erübrigte sich bald, denn am Vormittag tauchte Ramon mit drei Soldaten im Kerker auf und rief Marius zu, er solle das Tor öffnen. Der Kerkermeister kam aus seinem Zimmer, schlurfte den Gang entlang und suchte den riesigen Eisenschlüssel an seinem Schlüsselring heraus. Ramon bemerkte die immer noch geröteten Augen und den gereizten Gesichtsausdruck.

»Du hast wohl den Sturm genossen?«, fragte er sarkastisch.

Marius, der über das Schloss gebeugt dastand, sah hoch.

Ramon riss plötzlich beide Hände in die Luft und machte einen Schritt nach vorn. »Bumm!«, schrie er und lachte, als Marius zusammenzuckte.

»Ich würde ihn lieber nicht verärgern«, meinte Will.

Doch Ramon schnaubte abfällig. »Wir sind zu viert und er ist unbewaffnet. Und das weiß er«, sagte er. »Ehrlich gesagt, würde es mir gefallen, wenn er etwas gegen uns versucht.«

Er bedeutete Marius, die Zellentür zu öffnen, und der Kerkermeister tat, wie ihm geheißen, wenn auch mit wütendem Gesicht. Unübersehbar bestand zwischen dem Wachmann und dem Kerkermeister nicht gerade große Zuneigung.

Will schüttelte den Kopf. »Eines Tages seid ihr vielleicht nicht in der Überzahl«, meinte er. Doch Ramon schnaubte nur noch einmal und bedeutete dann den beiden Waldläufern, sie sollten mitkommen.

»Wohin geht es denn?«, fragte Will, doch Ramon war nicht mitteilsam.

»Das findet ihr schon noch heraus«, erwiderte er grob. »Hände her.«

Die drei anderen Männer hatten ihre Dolche gezogen, während das Tor aufgesperrt wurde. Dabei behielten sie die beiden Gefangenen im Auge, bereit, auf das geringste Zeichen von Widerstand zu reagieren.

»Tu, was er sagt«, empfahl Will seiner Schülerin. Er streckte seine Arme vor, bereits an den Handgelenken überkreuzt, und Ramon schlang ein kurzes Seil darum und fesselte ihn gekonnt. Das Gleiche machte er bei Lynnie, nachdem sie ihre Hände ausgestreckt hatte. Diesmal lachte er kurz auf, als er bemerkte, dass sie nicht versuchte, ihre Muskeln anzuspannen.

»Hast deine Lektion gelernt, was?« Er packte sie am Oberarm und drehte sie grob zum Gittertor. »Gehen wir.«

Zwei Soldaten gingen voraus, Ramon und der andere Soldat folgten ein paar Schritte hinter Will und Lynnie und hielten dabei ihre Dolche nur wenige Fingerbreit von den Gefangenen entfernt bereit. Doch wenigstens verwendeten sie die Klingen jetzt nicht, um sie damit zum Gehen anzutreiben.

Die Gruppe ging die Treppe hinauf, bis zum Erdgeschoss. Will hatte angenommen, dass Lynnie und er zu Lassignys Arbeitsräumen gebracht werden sollten. Doch als er sich der großen mittigen Treppe zuwandte, die zu den oberen Stockwerken führte, hielt Ramon ihn zu seiner Überraschung auf.

»Nicht hier entlang«, sagte er. »Nach draußen!«

Will stieß die Tür auf und trat hinaus in den Hof. Die Sturmwolken hatten sich verzogen und das Sonnenlicht war hell und gleißend – besonders für jemanden, der so lange Zeit in der Dunkelheit eines Kerkers verbracht hatte. Sowohl Lynnie als auch Will schirmten ihre Augen mit den gefesselten Händen ab und zögerten, unsicher, wohin sie gehen sollten.

»Nordwest-Turm«, befahl Ramon und deutete in die Richtung.

Sie durchquerten den Burghof in Richtung Nordwesten, wo Lynnie noch vor ein paar Tagen den Zorn eines Burgwächters auf sich gezogen hatte, als sie versucht hatte, sich die Konstruktion des Gebäudes genauer anzusehen. Sie gingen aufs Tor zu, und einer der Wachmänner ging mit schnellen Schritten vor, um das Tor zu öffnen und die beiden Gefangenen hineinzutreiben.

»Treppe«, befahl Ramon und beschränkte sich weiter auf einsilbige Befehle, während er mit dem Dolch auf die Treppe in der Mitte des Turmes deutete.

»Nach unten?«, fragte Will, der erwartete, dass sie in einen anderen Kerker gebracht wurden. Doch erneut wurde er überrascht.

»Nein, nach oben!«, befahl Ramon, und Will gehorchte schulterzuckend.

Sie stiegen die Treppe hinauf. Lynnie zählte acht Stockwerke auf dem Weg nach oben, bis sie schließlich einen Treppenabsatz erreichten, von dem nach beiden Seiten ein Flur mit vielen Türen abging, alle zur Außenmauer ausgerichtet.

»Links«, befahl Ramon, »dritte Tür.«

Sie folgten seinen Anweisungen. Will blieb vor der dritten Tür stehen und wartete auf Anweisungen.

»Öffnen und reingehen«, befahl Ramon.

Die beiden Waldläufer traten ein, gefolgt von Ramon und den anderen Wachen. Will und Lynnie musterten ihre neue Umgebung. Sie befanden sich in etwas, was nach einer kleinen Zimmerflucht aussah. Zwei Lehnstühle aus Holz standen vor einem schmalen Kamin an der Außenwand. Ein Stück weiter, vor dem Fenster, stand ein Tisch, an dem zwei Stühle mit geraden Rückenlehnen einander gegenüberstanden. Zwei Schlafzimmer schlossen sich an dieses Wohnzimmer an, die Türöffnungen dazu waren hinter schweren Vorhängen verborgen. Wills und Lynnies Besitztümer, einschließlich Wills Mandola, waren aus der Schlafnische im Gemeinschaftsraum geholt worden und lagen nun in der Mitte des Wohnzimmers.

Ramon machte eine ausholende Handbewegung ins Zimmer. »Macht es euch bequem«, sagte er. »Der Baron wird später mit euch reden.«

Er löste ihre Fesseln und bedeutete den anderen Wachen, ihm zu folgen, woraufhin sie gemeinsam den Raum verließen und die Tür hinter sich schlossen. Die beiden Waldläufer hörten das Klicken, als der schwere Schlüssel an der Außenseite der Tür gedreht wurde. Will und Lynnie tauschten einen verblüfften Blick aus.

»Das ist nicht das, was ich erwartet hatte«, stellte Will fest.

Lynnie schüttelte den Kopf und ging langsam im Zimmer umher. Außer den beiden Schlafzimmern gab es noch einen dritten Raum, der vom Wohnzimmer abging, dieser wurde durch eine Tür statt durch Vorhänge abgetrennt. Lynnie stieß die Tür auf und trat ein, um sich in einer kleinen Badestube mit einem abgetrennten Abtritt in einer Ecke wiederzufinden. Sie inspizierte alles und stellte fest, dass es sauber und gepflegt war – definitiv eine Verbesserung gegenüber den Gegebenheiten in Marius’ Kerker.

Kaum war sie ins Wohnzimmer zurückgekehrt, als auch schon das Geräusch des Schlüssels im Schloss erneut zu vernehmen war und zwei Dienstboten den Raum betraten. Im Korridor hielten zwei bewaffnete Soldaten unmittelbar vor dem Zimmer Wache.

Die Dienstboten blickten neugierig zu den beiden Personen, die sich in diesem Zimmer befanden. Die Magd trug ein Tablett, das mit einem weißen Tuch abgedeckt war. Der Diener trug einen großen Eimer heißes Wasser, aus dem der Dampf hochstieg. Er brachte es in die Badestube und stellte den Eimer dort auf den Boden, wobei er ein wenig heißes Wasser über die Bretter schüttete. Die Dienstbotin, die das Tablett auf den Tisch gestellt hatte, zog das Tuch weg und enthüllte weiche Brötchen und einen Teller mit Schinken und Käse. Viel interessanter fanden Will und Lynnie jedoch die leicht eingebeulte Emaillekanne, aus welcher der Duft von heißem Kaffee stieg. Lynnie merkte, wie ihr das Wasser im Munde zusammenlief.

»Ihr sollt euch säubern und dann essen und trinken«, erklärte ihnen der Dienstbote. »Der Baron will in einer Stunde nach euch schicken.«

Und damit gingen sie hinaus. Erneut klickte der Schlüssel schwer von draußen im Schloss. Will und Lynnie tauschten wieder einen Blick aus.

»Was soll das denn jetzt?«, fragte Lynnie.

Will zuckte mit den Schultern. »Lassigny lässt uns eine Botschaft zukommen«, stellte er fest. »Er wird Informationen von uns wollen. Der Kerker sollte uns zeigen, was mit uns passiert, wenn wir sie ihm nicht geben. Das hier winkt uns offensichtlich, wenn wir mit ihm zusammenarbeiten. Der klassische goldene Käfig, würde ich sagen.«

Lynnie blickte nachdrücklich zur schweren Holztür.

»Aber dennoch ein Käfig«, meinte sie.

Vier

Bis Ramon zurückkehrte, um sie zu Lassigny zu bringen, hatten sie sich gewaschen, frische Kleidung angezogen und gegessen. Wie zuvor wurde der Wachmann von drei bewaffneten Männern begleitet, und man fesselte die Hände der beiden Waldläufer, bevor sie die Räume verlassen durften.

»Der Baron wartet, also los«, befahl Ramon und ging den Flur entlang voraus.

Will und Lynnie folgten ihm die Treppe hinunter, hinter sich die drei Soldaten, deren Hände bereits an den Knäufen ihrer Dolche lagen. Der kleine Trupp trat in den Hof hinaus und machte sich auf den Weg zum Bergfried. Offensichtlich hatte sich ihre Gefangennahme in der Burg herumgesprochen, denn sie wurden unterwegs neugierig gemustert.

Sobald sie den Bergfried betraten, deutete Ramon auf die breite Haupttreppe. »Nach oben«, befahl er.

Auf dem ersten Treppenabsatz angekommen, hielt Will erwartungsvoll inne. Hier befand sich das Arbeitszimmer des Barons, und er vermutete, dass man sie beide dorthin brachte. Er hatte recht. Ramon ging an ihnen vorbei und klopfte an die Tür, die in Lassignys Arbeitszimmer führte.

Kurz darauf wurde die Tür von einem nahezu glatzköpfigen Mann mittleren Alters geöffnet. Angesichts seiner schlichten Arbeitskleidung und der Tatsache, dass er eine Schreibfeder in den tintenbefleckten Fingern hielt, vermutete Will in ihm einen Schreiber des Barons.

»Was ist?«, fragte der Mann. Sein geringschätziges Verhalten ließ darauf schließen, dass er sich gegenüber einfachen Soldaten wie Ramon als überlegen erachtete. Es schien jedoch fraglich, ob er eine derartige Herablassung auch dann gezeigt hätte, wenn der Baron nicht in der Nähe gewesen wäre.

»Die Gefangenen sind hier, wie der Baron befohlen hat«, erwiderte Ramon. Das überhebliche Benehmen des Schreiberlings schien an ihm abzuprallen. Der Glatzkopf drehte sich wieder in das Zimmer hinter ihm.

»Mein Herr, die Gefang…«

Lassignys tiefe Stimme unterbrach ihn. »Ich habe es gehört, Nicolas. Sie sollen hereinkommen.«

Der Schreiberling öffnete die Tür weiter und Ramon schob die beiden Gefangenen ins Zimmer. Er und die anderen Wachen folgten dicht dahinter und wechselten zur Seite, um die Gefangenen einzuhegen.

Lassigny saß auf einem Stuhl mit hoher Lehne hinter dem riesigen Schreibtisch, der sich unmittelbar gegenüber der Tür befand und dessen Platte mit Papieren übersät war. In einer Hand hielt der Baron ein Stück Pergament. Vor dem Schreibtisch stand ein kleiner gepolsterter Hocker – offensichtlich der Platz von Nicolas bei der Zusammenarbeit mit dem Baron. Lassigny winkte den Schreiber jetzt zu sich und reichte ihm das Pergament.

»Kümmert Euch darum«, befahl er knapp.

Nicolas nahm das Pergament entgegen und verbeugte sich. »Natürlich, mein Herr Baron. Wäre das dann im Moment alles?«

»Ja. Geht und kümmert Euch um all diesen Unsinn.« Lassigny wedelte abfällig in Richtung des ungeordneten Stoßes von Papieren auf dem Schreibtisch vor sich. Nicolas streckte sich nach vorn und sammelte rasch alles ein. Dann verbeugte er sich unterwürfig und ging gebückt und im Rückwärtsgang zur Tür, drehte sich erst auf den letzten paar Metern um, eilte hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Während all das geschah, musterte Lassigny die beiden Personen, die vor seinem Schreibtisch standen. Jetzt warf er Ramon einen Blick zu.

»Hol Stühle für sie«, befahl er. Ramon gehorchte sofort und zog zwei Stühle aus einer Reihe von einem halben Dutzend, die entlang der Wand standen. Er stellte sie vor den Schreibtisch, dem Baron genau gegenüber.

»Setzt euch«, befahl Lassigny den Gefangenen und sie gehorchten. »Löst ihre Fesseln«, befahl er Ramon, der daraufhin einem der anderen Männer bedeutete, Lynnies Fesseln zu lösen, während er selbst sich um Wills Fesseln kümmerte. Lynnie massierte ihre Handgelenke und bewegte die Finger, um die Blutzirkulation anzuregen. Wieder waren ihre Fingerspitzen schon taub geworden vom Einschnitt des Seils. Lassigny schien es nicht eilig zu haben, mit ihnen zu sprechen, und so sah sie sich während des Wartens im Raum um.

Das dominierende Möbelstück war der große Tisch, der als Schreibtisch genutzt wurde. Hinter dem Stuhl des Barons hing ein lebensgroßes Porträt eines Adligen, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Lassigny aufwies – ein Ahne, vermutete Lynnie. Auf einer Seite neben dem Gemälde waren überkreuzte Hellebarden befestigt. Auf der anderen Seite hing ein spatenförmiger Schild mit Lassignys Wappen – ein stilisierter gelber Falke vor einem grünen Hintergrund. Rechts vom Schreibtisch loderte ein ordentliches Feuer in einem großen Kamin.

Doch es war etwas zur Linken, das ihre Aufmerksamkeit erregte. An dieser Wand lehnte der lange röhrenförmige Kasten, den sie im Stall versteckt hatten, in dem Abteil, in dem Reißer und Stupser untergebracht waren – ein Kasten, der Lynnies und Wills Bögen und ihre Köcher mit den Pfeilen beinhaltete.

Lassigny, der sie mit aufmerksamem Blick beobachtet hatte, sah, dass sie den Kasten bemerkt hatte.

»Bring das zu mir!«, befahl er Ramon und deutete auf das Etui. Nachdem Ramon gehorcht hatte, öffnete Lassigny den Deckel. Erstaunt blickte Ramon auf die Waffen. Die beiden Sachsmesser in den Scheiden der zusammengerollten Gürtel folgten den Bögen, die jetzt schwer auf den Tisch geknallt wurden.

»Ungewöhnliche Besitztümer für einen Musikanten und seine Tochter, würde ich sagen«, meinte Lassigny leise. Er blickte von Lynnie zu Will, als erwarte er von ihm eine Antwort.

Will zuckte mit den Schultern. »Wir leben in gefährlichen Zeiten, mein Herr«, sagte er. »Wir sind Reisende und müssen uns schützen. Die Straßen sind voller Gefahren und nur ein Narr würde unbewaffnet losziehen.«

»Erst vor wenigen Tagen wurden wir von Räubern überfallen«, warf Lynnie ein, und Lassignys Blick wanderte zurück zu ihr, offensichtlich war er überrascht, dass sie das Wort ergriffen hatte. Zweifellos erwartete er, dass Will das Reden übernahm, weil er ein Mann und dazu noch der Ältere der beiden war. Lynnie seufzte innerlich. Es war eine Haltung, die ihr nur allzu vertraut war.

»Ach ja, junge Dame?«, sagte er. »Und habt ihr euch mit diesen eindrucksvollen Waffen verteidigen können?«

Er zog einen der Pfeile aus dem Köcher, tastete über den stählernen Breitkopf und prüfte seine Schärfe mit dem Daumen.

»Das war nicht mehr nötig«, antwortete sie. »Zufällig kam ein Krieger vorbei, der uns zu Hilfe eilte.«

»Wie außerordentlich nett von ihm«, sagte Lassigny. »Wie war denn sein Name?«

Lynnie zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich leider nicht, mein Herr. Er verfolgte die Banditen zu Pferde, bevor wir ihn fragen konnten.«

»Welch ein Jammer«, sagte der Baron sarkastisch. Sarkasmus scheint sein normaler Umgangston zu sein, dachte Lynnie.

Er saß da und musterte sie wortlos, und sie nutzte die Gelegenheit, umgekehrt ihn zu studieren. Anders als Will hatte sie bislang kaum Gelegenheit gehabt, den Baron aus der Nähe zu betrachten, abgesehen von einer kurzen Begegnung im Hof vor ein paar Tagen.

Sein schwarzes Haar zeigte einige graue Strähnen, und seine Augen waren, wie sie schon bemerkt hatte, wie Glaslava – dunkel und undurchdringlich. Seine Gesichtszüge waren ausgeprägt und gleichmäßig. Über seinem rechten Auge war eine schmale Narbe zu sehen, wohl Zeugnis einer alten Verwundung. Die Schultern waren breit, wie man es von einem Mann erwarten konnte, der als Ritter ausgebildet war. Da er momentan hinter dem Schreibtisch saß, hätte sie seine Größe nur schwer schätzen können. Doch von der Begegnung im Hof wusste sie, dass er etwas größer war als der Durchschnitt.

Am auffälligsten an diesem Mann war seine Haltung – die herablassende, verächtliche Art, die er gegenüber ihnen und jedem anderen, mit dem er sprach, an den Tag legte. Offensichtlich glaubte er, allen anderen Menschen von Natur aus überlegen zu sein, und machte keinerlei Anstalten, sein großes Selbstbewusstsein zu verbergen.

Nach seiner Musterung richtete er den Blick abrupt auf Will. Seine Bewegungen waren schnell und abgehackt, ähnlich denen eines Falken. Das Wappentier des Barons passte also nur allzu gut zu ihm.

»Ihr seid Araluaner«, stellte er fest. Wie Will schon bei einem vorherigen Zusammentreffen bemerkt hatte, wechselte der Baron gern unvermittelt das Thema. Das war eine Taktik, welche die von ihm Befragten aus dem Konzept bringen und eine unvorsichtige Antwort hervorrufen sollte.