Die Chroniken von Araluen - Der Krieger der Nacht - John Flanagan - E-Book

Die Chroniken von Araluen - Der Krieger der Nacht E-Book

John Flanagan

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Beschreibung

Ein mitterlalterliches Königreich, bedroht von bösen Kräften und ungeheuerlichen Kreaturen, verteidigt von einem jungen Waldläufer und seinen Freunden - willkommen in Araluen!

Kaum hat Will seine Ausbildung zum Waldläufer abgeschlossen, bekommt er es mit übernatürlichen Mächten zu tun. Zunächst hält er die Gerüchte über Hexerei für blanken Unsinn. Doch dann erblickt er im Wald die unwirkliche Gestalt eines dunklen Kriegers. Will muss sich einem Kampf stellen, auf den ihn keine Ausbildung der Welt vorbereiten konnte …

Spannende und actionreiche Abenteuer in einem fantastisch-mittlalterlichen Setting – tauche ein in »Die Chroniken von Araluen«!

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Seitenzahl: 366

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DER AUTOR

John Flanagan arbeitete als Werbetexter und Drehbuchautor, bevor er das Bücherschreiben zu seinem Hauptberuf machte. Den ersten Band von »Die Chroniken von Araluen« schrieb er, um seinen 12-jährigen Sohn zum Lesen zu animieren. Die Reihe eroberte in Australien in kürzester Zeit die Bestsellerlisten.

Inhaltsverzeichnis

DER AUTORWidmungEinsZweiDreiCopyright

Für Lyn Smith zum Dank für ihre jahrelange Unterstützung und Ermutigung

Im Norden, das wusste er, würden die ersten Winterstürme den Regen vor sich hertreiben, die See in hohen Wellen gegen die Küste drängen und weiße Gischtwolken hoch in der Luft bersten lassen.

Hier in der südöstlichsten Ecke des Königreichs waren die einzigen Anzeichen des bevorstehenden Winters die in der Luft sichtbaren Atemwölkchen seiner beiden Pferde. Der Himmel war von einem klaren Blau und die Sonne brannte warm auf seine Schultern. Er hätte im Sattel fast einnicken und es seinem Pony überlassen können, sich den Weg entlang der Straße zu suchen, doch seine harten Lehrjahre hatten ihn gelehrt, nie derartig nachlässig zu werden.

Wills Blick wanderte ständig hin und her, nach rechts oder links, weiter nach vorne und wieder zurück. Ein Beobachter hätte das gar nicht bemerkt, denn der Kopf blieb dabei völlig ruhig. Auch dies gehörte zu seiner Ausbildung: sehen, ohne gesehen zu werden; Dinge bemerken, ohne selbst bemerkt zu werden. Er wusste, dieser Teil des Königreichs war recht ruhig. Aus diesem Grund war ihm auch das Lehen Seacliff übertragen worden. Schließlich konnte einem neuen und gerade erst ernannten Waldläufer wohl kaum der schlimmste Unruheherd zugeteilt werden. Will lächelte bei dem Gedanken. Die Aussicht, seine erste eigene Stelle anzutreten, war aufregend genug, auch ohne dass er sich wegen eines Überfalls oder eines Aufstands Sorgen machen musste. Er war zufrieden, sich hier in dieser abgelegenen Gegend niederlassen zu können.

Das Lächeln auf Wills Lippen erstarb, als sein aufmerksamer Blick ein Stück weiter vorn neben der Straße etwas im hohen Gras erspähte.

Äußerlich ließ er sich das jedoch nicht anmerken. Weder stellte er sich in die Steigbügel, noch richtete er sich im Sattel auf, um besser sehen zu können, wie die meisten Leute es vielleicht getan hätten. Im Gegenteil, er schien noch tiefer in den Sattel zu sinken – scheinbar achtlos, was die Welt um ihn herum betraf. Aber seine Augen, die im Schatten unter der Kapuze seines Umhangs verborgen waren, blickten äußerst aufmerksam. Im Gras hatte sich etwas bewegt, da war er sich sicher. Und jetzt meinte er, dort etwas Schwarz-Weißes zu sehen – Farben, die so gar nicht zu dem verblassenden Grün und dem Rotbraun des Herbstes passten.

Er war nicht der Einzige, der bemerkte, dass da irgendetwas nicht stimmte. Reißers Ohren zuckten, er hob den Kopf und schnaubte.

»Hab’s gesehen«, sagte Will leise, um das Pferd wissen zu lassen, dass seine Warnung angekommen war. Daraufhin war Reißer still, nur seine Ohren waren noch aufgestellt. Das Packpferd, das zufrieden hinter ihnen hertrottete, zeigte keinerlei Interesse an der Umgebung. Aber es war schließlich auch nur ein ganz normales Packpferd und kein sorgsam ausgebildetes Waldläuferpony.

Das hohe Gras bewegte sich noch einmal. Es war nur eine schwache Bewegung, doch es wehte kein Wind, der sie hätte verursachen können. Will versicherte sich mit einem raschen Blick, dass er seinen Köcher mit einer einzigen Handbewegung erreichen konnte. Sein Langbogen lag bereits gespannt über seinen Knien. Waldläufer reisten nicht mit dem Bogen über der Schulter. Sie hielten ihn stets griffbereit.

Wills Herz klopfte schneller. Er war jetzt nur noch einige Pferdelängen von der Stelle entfernt. Er erinnerte sich an einen von Walts Ratschlägen: Konzentriere dich nicht nur auf das Offensichtliche. Dein Gegner will vielleicht, dass du genau das tust, damit du etwas ganz anderes übersiehst.

Nun wurde ihm auch bewusst, dass er sich voll und ganz auf diese Stelle im hohen Gras konzentriert hatte. Schnell ließ er den Blick in die weitere Umgebung wandern, hinüber zu den Bäumen. Vielleicht lagen dort Männer versteckt, die ihn angreifen wollten, sobald seine Aufmerksamkeit abgelenkt war. Räuber, Gesetzlose, Söldner, was oder wer auch immer.

Zwischen den Bäumen konnte er nichts erkennen, und als er sich betont beiläufig umdrehte, um das Führseil des Packpferdes festerzuziehen, entdeckte er auch hinter sich nichts. Am meisten beruhigte ihn die Tatsache, dass Reißer keine weiteren Warnsignale gab. Hätten sich Männer im Wald versteckt, wäre das Pony nicht so unbeteiligt geblieben.

Will zügelte Reißer. Das Packpferd ging noch ein, zwei Schritte und hielt dann ebenfalls an. Will ließ die rechte Hand unauffällig zum Köcher gleiten, nahm einen Pfeil heraus und hatte ihn innerhalb eines Sekundenbruchteils an die Sehne gelegt. Er schob die Kapuze zurück. Der Langbogen, das zottige Pony und der graugrün gesprenkelte Umhang wiesen ihn für jeden Bewohner des Königreichs als Waldläufer aus.

»Wer ist da?«, rief er und hob den Bogen. Er hatte noch nicht gezogen. Wenn da irgendjemand im Gras versteckt lag, würde er auch wissen, dass ein Waldläufer ziehen und treffen konnte, noch bevor jemand anders auch nur einen Finger rührte.

Keine Antwort. Reißer stand völlig still, so wie man es ihm beigebracht hatte für den Fall, dass sein Herr schießen musste.

»Zeig dich!«, rief Will. »Du dort in Schwarz und Weiß. Zeig dich!«

Da hatte er vor wenigen Augenblicken noch geglaubt, er sei hier in ein verschlafenes Nest gekommen. Und nun hatte er es vielleicht schon mit dem Hinterhalt eines unbekannten Feindes zu tun.

»Deine letzte Gelegenheit«, rief er. »Zeig dich oder gleich fliegt ein Pfeil in deine Richtung!«

Da hörte er es, wahrscheinlich als Antwort auf seine Stimme. Ein leises Jaulen. Ja, ganz eindeutig, das klang nach einem Hund. Reißer hörte es ebenfalls. Seine Ohren zuckten und er schnaubte.

Ein Hund?, dachte Will. Ein wilder Hund vielleicht, der ihn angreifen wollte? Doch diesen Gedanken tat er sofort ab. Ein wilder Hund hätte kein Geräusch von sich gegeben, das ihn warnte. Außerdem war es kein wütendes Knurren, sondern ein Jaulen. Will traf eine Entscheidung.

In einer schnellen Bewegung zog er den linken Fuß aus dem Steigbügel, schwang sein rechtes Bein über den Sattelknauf und sprang leichtfüßig auf den Boden. Auf diese Weise hatte er die ganze Zeit die Stelle, aus der möglicherweise Gefahr drohte, im Auge und zudem beide Hände frei zum Schießen.

Reißer schnaubte wieder. In gefährlichen Momenten wie diesem war es ihm lieber, wenn sein Herr fest im Sattel saß.

»Alles in Ordnung«, beruhigte Will das Pony und ging mit angelegtem Pfeil weiter.

Dreißig Fuß. Zwanzig. Fünfzehn… Er konnte den schwarz-weißen Fleck im Gras nun besser sehen. Und jetzt bemerkte er noch etwas anderes: ein fast bräunliches Rot von getrocknetem Blut und das helle Rot von frischem Blut. Wieder hörte er das Jaulen, und dann sah Will ganz deutlich, was da vor ihm lag.

Er drehte sich um, gab Reißer das Zeichen, dass alles in Ordnung war, und das Pony trottete zu ihm. Will legte den Bogen ab und kniete sich neben den verwundeten Hund.

»Was hast du denn, mein Kleiner?«, fragte er sanft.

Beim Klang der Stimme drehte der Hund den Kopf und wimmerte, als Will ihn vorsichtig streichelte. Will betrachtete den länglichen, blutenden Riss, der sich rechts vom Vorderlauf bis zum Hinterlauf erstreckte. Sobald das Tier sich bewegte, quoll frisches Blut aus der Wunde. Will fing den gequälten Blick des Tieres auf. Es war einer der Hütehunde, die in der nördlichen Grenzregion gezüchtet wurden. Sie waren für ihre Klugheit und Treue weithin bekannt. Das Tier hatte einen schwarzen Rumpf mit einer weißen Halskrause und einem Tupfer Weiß am Ende des buschigen Schwanzes. Die Beine waren weiß, und sein Kopf sah aus, als ob ihm eine Kapuze übergezogen worden wäre, denn die Ohren waren schwarz, während über die Schnauze und zwischen den Augen entlang eine breite weiße Blesse verlief.

Die Wunde seitlich am Bauch schien nicht allzu tief zu sein, und es bestand die Hoffnung, dass der Brustkorb die lebenswichtigen Organe des Hundes geschützt hatte. Allerdings war sie sehr lang. Die auseinanderklaffenden Ränder waren glatt, als rühre die Verletzung von einer Klinge her. Der Hund war schwach und hatte viel Blut verloren. Vielleicht zu viel.

Will erhob sich und holte aus seiner Satteltasche den Medizinbeutel heraus, den alle Waldläufer bei sich führten. Reißer beobachtete ihn neugierig und schien beruhigt, dass der Hund keine Bedrohung darstellte. Will zeigte ihm den Beutel. »Die Medizin hilft bei den Menschen«, sagte er mit einem Schulterzucken, »also müsste sie doch auch bei einem Hund helfen.«

Er kehrte zu dem verletzten Tier zurück und streichelte es sanft. Es versuchte, den Kopf zu heben, aber Will hielt es fest und murmelte beruhigende Worte, während er mit seiner freien Hand den Beutel öffnete.

»Dann sehen wir uns doch einmal an, was sie mit dir gemacht haben, mein Junge«, sagte er.

Das Fell um die Wunde war von getrocknetem Blut verklebt. Will säuberte es, so gut er konnte, mit Wasser aus seinem Schlauch. Dann öffnete er eine kleine Dose mit Salbe und schmierte sie vorsichtig auf die Wundränder. Die Salbe war schmerzstillend und würde die Wunde betäuben, sodass er das Tier versorgen konnte, ohne ihm noch mehr Qualen zuzufügen.

Er wartete ein paar Minuten, damit die Salbe wirken konnte, dann betupfte er die Wunde mit einer Kräutertinktur, die eine Entzündung verhindern und die Heilung beschleunigen würde. Die Salbe tat ihre Wirkung und die Behandlung schien dem Hund keine schlimmeren Schmerzen zu bereiten. Dabei stellte Will auch fest, dass er den Hund fälschlicherweise »Junge« genannt hatte. Es war ein Weibchen.

Die Hündin spürte, dass sie Hilfe bekam, und lag ganz still. Gelegentlich wimmerte sie noch einmal, doch nicht vor Schmerz, sondern eher erleichtert. Will setzte sich zurück auf die Fersen und betrachtete mit zur Seite gelegtem Kopf die Wunde. Immer noch sickerte frisches Blut heraus, und ihm war klar, dass er sie verschließen musste. Verbinden war jedoch kaum sinnvoll bei dem dicken Fell des Hundes und der ungünstigen Stelle der Verletzung. Es blieb wohl nichts anderes übrig, als die Wunde zu nähen.

»Am besten mache ich es gleich, während die Salbe noch wirkt«, sagte er zu dem Tier.

Die Hündin spürte wohl die Nadelstiche, als er, so schnell er konnte, mit etwa einem Dutzend Stichen die Wundränder mit feinem Seidenfaden verschloss. Sie schien jedoch keine stärkeren Schmerzen zu verspüren und nach einem ersten Zurückzucken lag sie still und gestattete ihm weiterzumachen.

Als Will fertig war, legte er vorsichtig eine Hand in das weiche dichte Fell auf dem schwarz-weißen Kopf. Die Wunde war nun zwar versorgt, aber es war offensichtlich, dass das Tier nicht laufen konnte.

»Bleib hier«, sagte er leise. »Bleib!«

Die Hündin blieb gehorsam liegen, während er zum Packpferd ging und sich an seinen Sachen zu schaffen machte.

Er führte zwei große Beutel mit sich, in denen sich Bücher und persönliche Dinge befanden, einen auf jeder Seite des Packsattels. Mit seinem zweiten Umhang und einigen Decken polsterte er den Raum dazwischen aus, bis er ein weiches, bequemes Nest geschaffen hatte, in dem die Hündin liegen konnte.

Er ging zu ihr zurück, legte die Arme unter den warmen Körper und hob sie vorsichtig an. Die ganze Zeit sprach er mit leiser, beruhigender Stimme auf sie ein. Die Salbe wirkte sehr gut, würde aber nicht lange anhalten, und die Wunde würde bald wieder schmerzen. Die Hündin jaulte noch einmal leise auf, dann hielt sie still, während er sie behutsam auf den Platz legte, den er für sie vorbereitet hatte. Wieder streichelte er ihren Kopf und kraulte sie sanft zwischen den Ohren. Sie drehte leicht den Kopf, um seine Hand zu lecken. Die kleine Bewegung schien sie bereits sehr anzustrengen. Verblüfft bemerkte Will jetzt, dass sie zwei verschiedenfarbige Augen hatte. Bisher hatte er immer nur das linke, das braune Auge gesehen, erst jetzt bemerkte er, dass das rechte Auge blau war. Das verlieh ihr selbst in ihrem beklagenswerten Zustand einen kecken, übermütigen Blick.

»Braves Mädchen«, lobte er sie. Als er sich zu Reißer zurückdrehte, merkte er, dass das Pony ihn neugierig betrachtete.

»Wir haben einen Hund«, erklärte Will.

Reißer schüttelte den Kopf und schnaubte. Wozu denn?, schien er zu erwidern.

Am frühen Nachmittag erreichten sie das Meer, und Will wusste, er war beinahe am Ziel seiner Reise.

Burg Seacliff befand sich auf einer großen Insel, die wie ein Blatt geformt und vom Festland durch eine knappe Achtelmeile tiefes Wasser getrennt war. Bei Ebbe gewährte ein schmaler Damm Zugang zur Insel, doch bei Flut, wie es jetzt der Fall war, musste man die Fähre nehmen. Der eingeschränkte Zugang hatte geholfen, Seacliff viele Jahre lang sicher zu halten, und war einer der Gründe, warum das Lehen als ungefährliche Gegend galt. Früher hatte es natürlich oft unruhige Zeiten wegen der Piraten gegeben, die auf ihren Wolfsschiffen einfielen. Doch es war mittlerweile schon einige Jahre her, seit die Seewölfe aus dem Norden ihre Raubzüge an der Küste von Araluen durchgeführt hatten.

Die Insel war ungefähr zwölf Meilen lang und acht breit. Die Burg konnte Will noch nicht sehen, denn sie befand sich, wie so häufig bei Befestigungen, auf einer Anhöhe in der Mitte der Insel.

Mittags hatte Will noch überlegt, ob er für eine Mahlzeit Rast machen sollte, aber jetzt, so nahe am Ziel seiner Reise, entschied er sich dafür, weiterzuziehen. Gewiss gab es irgendeinen Gasthof im Dorf. Vielleicht bekäme er gar ein Mahl in der Burg. Er zog am Führseil des Packpferdes, damit es auf gleiche Höhe herankam, und beugte sich hinüber, um die verwundete Hündin zu betrachten. Ihre Augen waren geschlossen und sie lag mit der Nase auf den Vorderpfoten. Er sah, wie sich die Flanken unter ihren Atemzügen hoben und senkten. Es war noch etwas Blut an den Wundrändern, doch das war inzwischen eingetrocknet. Zufrieden, dass es dem Tier gut ging, gab Will seinem Pony leichten Schenkeldruck, und sie setzten ihren Weg fort, hinunter zur Fähre, einem langen, flachen Floß, das am Ufer lag.

Der Fährmann, ein kräftiger Mann um die vierzig, lag an Deck seines Floßes und schlief in der warmen Herbstsonne, erwachte jedoch, als er das leise Geklingel des Pferdegeschirrs hörte. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und kam dann schnell auf die Füße.

»Ich muss zur Insel übersetzen«, sagte Will.

Der Mann salutierte unbeholfen. »Aber natürlich, mein Herr. Natürlich. Zu Euren Diensten, Waldläufer.«

In seiner Stimme schwang eine gewisse Unruhe mit. Will seufzte im Stillen. Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass die Leute vor Waldläufern Angst hatten  – selbst dann, wenn sie so jung waren wie er. Er war von Natur aus freundlich und aufgeschlossen und sehnte sich manchmal nach ungezwungener Kameradschaft mit anderen Leuten. Aber so etwas gab es für ihn nicht. Den Bund der Waldläufer umgab ein Hauch des Geheimnisvollen. Ihre legendäre Geschicklichkeit mit ihren Waffen, ihre Fähigkeit, sich lautlos und ungesehen zu bewegen, und die Geschichten, die sich um ihre Gemeinschaft rankten, das alles trug zu dieser Aura bei.

Der Fährmann zog an dem dicken Seil, das vom Festland zur Insel gespannt war und wie ein Flaschenzug durch dicke Ösen verlief, die hinten und vorn am Boot festgemacht waren. Das Floß glitt vom Sandstrand nach unten, bis es schließlich auf dem Wasser schwamm. Gute Idee, dachte Will und musterte die Zugvorrichtung. Das ermöglicht ihm, das große Floß leichter zu bewegen.

An der Reling war ein Schild angebracht, auf dem die Tarife zu lesen waren.

»Keine Gebühr für den Waldläufer. Ihr habt freie Fahrt«, sagte der Fährmann, als er sah, wie Will sich die Tarife anschaute.

Will schüttelte den Kopf. Walt hatte ihm eingeschärft, immer überall zu bezahlen. Achte darauf, nie in jemandes Schuld zu stehen, hatte er gesagt. Du darfst nie jemandem verpflichtet sein.

Er rechnete schnell im Kopf. Eine Viertelkrone pro Person, das Gleiche für ein Pferd. Und dann noch drei Groschen für andere Tiere. Also insgesamt fast eine Krone. Er schwang sich aus dem Sattel und holte eine Silbermünze aus seinem Beutel und reichte sie dem Mann. »Ich bezahle«, sagte er. »Da bekomme ich dann noch zwei Groschen zurück.«

Der Fährmann nahm die Münze und sah verblüfft auf den Reiter und die beiden Pferde.

Will deutete mit dem Daumen auf das Packpferd. »Auf dem Packpferd befindet sich noch ein Tier«, erklärte er.

Der Fährmann nickte und reichte ihm zwei Groschen Wechselgeld zurück.

»In Ordnung.« Er spähte neugierig auf das Packpferd, das Will nun auf das Floß führte, und entdeckte die Hündin.

»Schönen Hund habt Ihr da«, sagte er.

»Ich fand ihn verletzt am Straßenrand«, erzählte Will. »Jemand hat ihn mit einem Messer oder etwas Ähnlichem verletzt und einfach liegen gelassen.«

Der Fährmann rieb sich nachdenklich übers Kinn. »John Buttle hat so einen Hütehund. Ihm wäre es zuzutrauen, ein Tier böse zuzurichten und dann liegen zu lassen. Ja, John Buttle ist sehr jähzornig, besonders wenn er getrunken hat.«

»Und was macht dieser John Buttle?«, fragte Will.

Der Fährmann zuckte mit den Schultern. »Eigentlich ist er Viehhüter. Aber er macht sehr viele verschiedene Dinge. Manche sagen, seine wahre Arbeit beginnt erst nachts, entlang der Straßen, wenn Reisende abgepasst werden können, die noch spät unterwegs sind. Aber man konnte ihm nie etwas nachweisen. Für meinen Geschmack ist er viel zu schnell mit seinem Speer bei der Hand. Man muss sich vor ihm in Acht nehmen, jawohl.«

Will blickte wieder zum Packpferd und dachte an die schlimme Wunde des Hundes. »Wenn Buttle derjenige ist, der dieses Tier verletzt hat, dann tut er gut daran, sich vor mir in Acht zu nehmen«, erwiderte er ruhig.

Daraufhin betrachtete der Fährmann Wills Gesicht genauer. Es war jung und freundlich. Aber man erkannte auch den entschlossenen Blick. Dem Mann fiel wieder ein, dass Waldläufer stets für eine Überraschung gut waren. Dieser liebenswürdig aussehende junge Mann wäre kein Waldläufer geworden, wenn er nicht auch einen eisernen Willen hätte. Diese Leute waren schwer zu durchschauen. Es hieß sogar, sie wären in schwarzer Magie und Zauberei bewandert, und der Fährmann war sich gar nicht sicher, ob da nicht etwas dran war. Verstohlen machte er das Zeichen gegen das Böse und ging nach vorne. »Dann leg ich mal ab«, sagte er, froh, eine Ausrede zu haben, um das Gespräch zu unterbrechen.

Will spürte den Stimmungsumschwung. Er blickte fragend zu Reißer, doch dem schien das ziemlich egal zu sein. Der Fährmann zog an dem dicken Seil und die Fähre glitt über das Wasser zur Insel. Kleine Wellen schlugen an den schlichten Bug und gegen die niedrigen Seitenbalken. Will sah, dass das Fährmannshaus sich ebenfalls auf der Insel befand. Nun, das war kein Wunder, dort war es sicherer. Die Fahrt dauerte nicht lange und bald setzte der Bug der Fähre auf dem rauen Sand der Insel auf. Der Fährmann löste das Tau und bedeutete Will, dass er an Land gehen könne.

»Danke schön«, sagte Will und führte Reißer vom Floß. Die Hufe des Ponys klapperten laut auf den Planken.

Der Fährmann salutierte. »Zu Diensten, Waldläufer.«

Es dauerte noch etwa eine halbe Stunde, bis Will die Burg erreicht hatte. Die Straße wand sich durch große, lichte Wälder ins Innere der Insel. Die Landschaft war ganz anders als die dichten Wälder um Burg Redmont oder die dunklen Nadelwälder von Skandia, an die Will sich erinnerte.

Das Laub hatte sich verfärbt, hing aber zum Großteil noch an den Bäumen. Alles in allem war es eine reizvolle Gegend. Während Will so dahinritt, sah er jede Menge Wild – Hasen und Truthähne, einmal sogar einen Hirsch, der sofort vor ihm floh. Wahrscheinlich gab es hier viele Wilddiebe. Will hatte Mitgefühl mit den Dorfbewohnern, die sich ihre karge Kost gelegentlich mit Wild aufbesserten. Glücklicherweise war Wilderei eine Angelegenheit des örtlichen Gesetzes und Verstöße dagegen wurden durch den Wildhüter des Barons geahndet. Dennoch hatte Will vor herauszufinden, wer dafür infrage kam. Wilddiebe wussten über vieles Bescheid. Und genaue Kenntnis war das Rüstzeug eines Waldläufers.

Der Wald wurde immer lichter und kurz darauf ritt Will schon hinaus in den hellen Sonnenschein. Die sich nach oben windende Straße hatte ihn zu einem natürlichen Plateau gebracht, einer weiten Ebene von vielleicht einer knappen Meile Durchmesser. In der Mitte stand Burg Seacliff und das dazugehörige Dorf – eine Ansammlung strohgedeckter Hütten nahe den Burgmauern.

Die Burg selbst war fast eine Enttäuschung, wenn man die beeindruckende Erscheinung von Burg Redmont oder die Schönheit des Königschlosses von Araluen kannte. Diese Burg hier war kaum mehr als eine Feste und die sie umgebenden Mauern waren vielleicht gerade mal zwanzig Fuß hoch. Als Will genauer hinsah, bemerkte er, dass zumindest ein Teil der Einfriedung aus Holz war – große Baumstämme, die senkrecht in den Boden gerammt und mit Eisenklammern zusammengehalten wurden. Aber offenbar wurde es als ausreichender Schutz angesehen. Zumindest standen in jeder Ecke solide Türme, und in der Mitte befand sich der wuchtige Bergfried, der bei einem Angriff die letzte Zuflucht wäre. Oben wehte die Flagge mit dem Hirschkopf, dem Wappen von Baron Ergell.

»Wir sind angekommen«, sagte Will zu Reißer. Das Pony schüttelte die Mähne.

Will hatte die Zügel angezogen, als die Burg in Sicht gekommen war. Jetzt trieb er Reißer mit einem Fersendruck an. Wie immer bewegte sich das Packpferd etwas langsamer, sodass sich einen Moment lang das Führseil spannte, doch dann trabte auch das Packpferd weiter. Rauch lag in der Luft. Nach eingebrachter Ernte war das Stroh auf den Feldern gebündelt und verbrannt worden und glomm noch immer. In ein oder zwei Wochen würden die Bauern die Asche in die Erde einpflügen. Der Rauchgeruch, die Felder, die niedrig stehende nachmittägliche Herbstsonne, all das weckte Erinnerungen in Will. Erinnerungen an seine Kindheit, an Erntearbeiten und Erntefeste. Aber auch an die letzten sechs Jahre und an die tiefe Zuneigung, die zwischen ihm und seinem Freund und Lehrmeister Walt entstanden war.

Die Bauern auf den Feldern hielten in ihrer Arbeit inne und starrten den Fremden in dem gesprenkelten Umhang an, der auf die Burg zuritt. Er nickte jenen zu, die in der Nähe des Weges arbeiteten, und sie erwiderten den Gruß zögernd. Einfache Bauern verstanden die Waldläufer nicht und entsprechend trauten sie ihnen auch nicht so recht. In Zeiten von Krieg oder Gefahr baten sie die Waldläufer um Hilfe, ansonsten hielten sie lieber Abstand.

Mit den Bewohnern der Burg verhielt es sich gewiss anders. Baron Ergell und sein Heeresmeister – Will überlegte einen Moment, wie sein Name war – ach ja, Norris hieß er wohl –, wussten genau, welche Bedeutung die Waldläufer für die fünfzig Lehen des Königreichs hatten. Anders als die einfachen Leute fürchteten sie die Waldläufer nicht, was jedoch nicht hieß, dass sie freundschaftliche Beziehungen zu ihnen pflegten.

Vergiss nicht, hatte Walt ihm gesagt, unsere Aufgabe ist es, den Baronen beizustehen, aber unsere oberste Treue gilt dem König. Wir sind die direkten Vertreter des königlichen Willens, und manchmal mag das nicht unbedingt mit den Wünschen der Einheimischen einhergehen. Wir arbeiten mit den Baronen zusammen und wir beraten sie. Aber wir behalten unsere Unabhängigkeit. Du darfst dich nicht dem Baron verpflichtet fühlen oder dich zu sehr mit den Menschen in der Burg anfreunden.

Natürlich waren die Dinge in einem Lehen wie Redmont, wo Will seine Lehrzeit abgeleistet hatte, etwas anders. Baron Arald, der Herr von Redmont, war Mitglied des Königlichen Rats. Das gestattete eine nähere Beziehung zwischen dem Baron, dem Heeresmeister und Walt, dem Waldläufer in seinem Lehen. Doch grundsätzlich war das Leben eines Waldläufers eher einsam.

Dafür gab es natürlich auch gewisse Entschädigungen. Zum Beispiel die Kameradschaft, die zwischen den Mitgliedern des Bundes selbst herrschte. Es gab fünfzig Waldläufer, in jedem Lehen einen, und natürlich kannten sie einander. Will kannte auch den Mann, dessen Nachfolge er in Seacliff nun antrat. Bartell war einer der Prüfer während Wills Lehrzeit gewesen, und seine Entscheidung, in den Ruhestand zu gehen, hatte dazu geführt, dass Will das silberne Eichenblatt bekam, das Symbol eines voll ausgebildeten Waldläufers. Bartell, der mit dem Alter den Unbilden des Lebens als Waldläufer nicht mehr so viel abgewinnen konnte – langes Reiten, wenig Schlaf, unablässige Aufmerksamkeit –, hatte sein eigenes silbernes Eichenblatt gegen das goldene des Ruhestands eingetauscht. Er war dem Hauptquartier des Bundes auf Schloss Araluen zugeteilt worden, wo er im Archiv arbeitete und die Geschichte des Bundes festhielt.

Will schmunzelte. Er mochte Bartell, einen sehr belesenen Mann, auch wenn ihre erste Begegnung für Will gar nicht so angenehm gewesen war. Bartell war Fachmann darin, die Aufgaben für die Lehrlinge zu entwickeln, bei denen sie sich beweisen mussten. Inzwischen hatte Will jedoch die schwierigen Fragen und Probleme zu schätzen gelernt, die Bartell sich für ihn ausgedacht hatte. Sie alle hatten ihm geholfen, sich auf das schwierige Leben eines Waldläufers vorzubereiten.

Und diese Art zu leben war die andere große Entschädigung für den einsamen Alltag eines Waldläufers. Es lag eine tiefe Befriedigung und ein großer Reiz darin, Teil einer Gruppe von Auserwählten zu sein, die über den Ablauf und die politischen Geheimnisse des Königreichs Bescheid wussten. Lehrlinge wurden wegen ihrer körperlichen Fähigkeiten ausgewählt – ihrer Beweglichkeit, Schnelligkeit von Hand und Auge –, aber noch mehr wegen ihrer natürlichen Neugierde. Ein Waldläufer stellte Fragen und wollte immer genau wissen, was um ihn herum vorging. Schon als Junge hatten Will diese nie zu stillende Neugierde und eine gewisse Altklugheit, die damit einherging, immer wieder Ärger eingebracht.

Er ritt in das kleine Dorf und wurde von immer mehr Leuten begutachtet. Die meisten schauten ihm jedoch nicht in die Augen, und die wenigen, die es taten, senkten den Blick, wenn er ihnen zunickte – sehr freundlich zunickte, wie er fand. Sie grüßten mit einer unbeholfenen Handbewegung an die Stirn und traten zur Seite, um ihn passieren zu lassen – obwohl genug Platz auf der breiten Dorfstraße war. Als er sich neugierig umsah, entdeckte er die Schilder der Handwerker, die jedes Dorf brauchte: Schmied, Tischler, Schuster.

Am Ende der Straße befand sich ein größeres Gebäude. Es war das einzige zweistöckige Haus und hatte eine breite Veranda am Eingang. Über der Tür baumelte ein Schild in Form eines Kruges. Da befand sich also das Gasthaus. Es sah sauber und ordentlich aus, die Fensterläden der Räume im Obergeschoss waren frisch gestrichen und die Lehmmauern ordentlich gekalkt. Während Will das Gebäude betrachtete, wurde eines der oberen Fenster geöffnet und ein Mädchen schaute heraus. Es war etwa neunzehn oder zwanzig, mit dunklen, lockigen Haaren und großen grünen Augen, und es war außerordentlich hübsch. Obendrein war es von den Dorfbewohnern die Einzige, die seinen Blick erwiderte. Um genau zu sein, lächelte sie ihn sogar an, und dabei verwandelte sie sich von einem hübschen in ein wunderschönes Mädchen.

Zuvor war Will betroffen gewesen, weil die Einheimischen sich scheuten, seinem Blick zu begegnen, doch jetzt fühlte er sich unsicher angesichts dieses unverhüllten Interesses. Also, du bist der neue Waldläufer, schien sie zu denken. Du siehst furchtbar jung für diese Aufgabe aus, oder?

Als er unter dem Fenster vorbeiritt, wurde ihm plötzlich bewusst, dass er den Mund aufgesperrt hatte, als er den Kopf in den Nacken legte, um das Mädchen zu betrachten. Beschämt über dieses kindische Verhalten schloss er ihn sofort und nickte dem Mädchen ernst und möglichst würdevoll zu. Ihr Lächeln wurde noch breiter, und nun war er es, der die Augen abwendete.

Er hatte vorgehabt, an der nächsten Schenke anzuhalten und ein schnelles Mahl einzunehmen, doch die Anwesenheit dieses Mädchens ließ ihn seine Pläne ändern. Er hatte sich die Wegbeschreibung, die er bekommen hatte, genau angesehen. Sein neues Zuhause musste sich etwa eine halbe Meile außerhalb des Dorfes an der Straße zum Schloss befinden, im Schutz eines kleinen Wäldchens. Als er sich umschaute, konnte er zumindest das Wäldchen bereits sehen, daher drängte er Reißer zu einem Trab, sobald sie das Dorf hinter sich gelassen hatten. Er meinte, förmlich zu spüren, wie sich zwanzig oder dreißig Augenpaare neugierig in seinen Rücken bohrten. Ob die grünen Augen aus dem Obergeschoss des Gasthauses wohl auch dabei waren?

Jetzt sah er schon das Blockhaus vor sich. Es war aus Holzstämmen gebaut und große flache Flusssteine dienten als Dachabdeckung. An der Vorderseite befand sich eine schmale Veranda, dahinter ein kleiner Hof und ein Stall. Zu seinem Erstaunen sah er Rauch aus dem Schornstein steigen. Ein wenig steif nach dem langen Ritt schwang er sich aus dem Sattel. Reißer anzuleinen war nicht nötig, nur das Packpferd machte er an einem Verandapfosten fest. Schnell schaute er noch nach der Hündin und sah, dass sie schlief.

Hätte er noch irgendwelche Zweifel gehabt, dass dies sein Zuhause war, so wären sie ausgeräumt worden durch das Eichenblatt, das in den Balken über der Tür geschnitzt war.

Will stand einen Augenblick da und kraulte Reißer zwischen den Ohren. Das Pony stieß ihn sanft mit der Schnauze an.

»Tja, mein Junge, sieht so aus, als wären wir zu Hause«, sagte er zu ihm.

Will öffnete die Tür und betrat das Blockhaus. Es ähnelte der Hütte, die während der letzten Jahre sein Zuhause gewesen war. Der Raum, den er betrat, nahm etwa die Hälfte des Hauses ein und diente als Wohn- und Esszimmer. Zu seiner Linken vor einem Fenster stand ein Holztisch mit vier Stühlen. Zwei bequem aussehende hölzerne Lehnstühle und eine Sitzbank waren auf der anderen Seite um das fröhlich flackernde Kaminfeuer gruppiert. Will sah sich im Zimmer um und fragte sich, wer wohl das Feuer angezündet hatte, denn es war niemand zu sehen.

Die kleine Küche grenzte an den Essbereich an. Kupfertöpfe und Pfannen, offensichtlich frisch gesäubert und poliert, hingen an der Wand neben dem Kochherd. In einer kleinen Vase unter dem Fenster befand sich ein Strauß mit frischen Wildblumen – die letzten des Jahres, dachte Will. Die heimelige Atmosphäre erinnerte ihn wieder einmal an Walt und bei dem Gedanken verspürte er einen Kloß in seiner Kehle.

Wie gern hatte der nach außen so grimmig wirkende Walt Blumen in seiner Hütte gehabt.

Will machte sich daran, die beiden einfachen kleinen Schlafzimmer zu besichtigen, die an den Wohnraum grenzten. Nun hatte er alle Räume gesehen, in denen sich jemand aufhalten konnte – es sei denn, die Person, die das Feuer angezündet und die Blumen hingestellt hatte, versteckte sich im Stall, was Will bezweifelte.

Das Haus war erst kürzlich sauber gemacht worden. Bartell war jedoch schon über einen Monat fort. Will fuhr mit dem Finger über den Kaminsims: keine Spur von Staub. Die Steinfliesen vor dem Kamin waren ebenfalls frisch gewischt, nirgendwo lag alte Asche.

»Offensichtlich haben wir eine freundliche Seele in der Nähe«, sagte er nachdenklich. Ihm fiel ein, dass die Tiere geduldig draußen warteten, und er ging zur Tür. Ein Blick zur Sonne verriet ihm, dass er immer noch über eine Stunde Tageslicht hatte. Zeit, um auszupacken, bevor er sich auf der Burg vorstellte.

Die Hündin war jetzt wach und ihre Augen zeigten lebhaftes Interesse an der Welt um sie herum. Das war ein gutes Zeichen. Es ließ vermuten, dass sie einen starken Lebenswillen hatte, der ihr in ihrem geschwächten Zustand helfen würde. Will hob sie vorsichtig vom Packpferd und trug sie ins Haus.

Will kehrte zum Packpferd zurück und holte eine alte Pferdedecke hervor, um ein weicheres Bett für die Hündin herzurichten. Als er die Decke auslegte, stand die Hündin schmerzgepeinigt auf und hinkte die wenigen Schritte zur Decke, wo sie sich mit einem dankbaren Seufzer hinlegte und die Wärme des Kamins genoss. Will füllte eine Schüssel Wasser von der Pumpe, die es in der Küche gab – wie schön, dass er dazu nicht nach draußen gehen musste –, und stellte sie vor die Hündin. Sie wedelte leicht mit dem Schwanz und zeigte damit, wie sehr sie sich über seine Fürsorge freute.

Zufrieden ging Will nach draußen und führte das Packpferd in den Stall, wo er es abrieb und in eines der beiden Stallabteile stellte. Er bemerkte, dass der Trog im Stall mit frischem Heu gefüllt war und ein voller Wassereimer bereitstand. Er nahm einen Eimer, brachte ihn hinaus zu Reißer und ließ das Pony trinken. Reißer schüttelte dankbar die Mähne.

Zuletzt trug Will seine Habseligkeiten in die Hütte, legte seine Bettrolle in das größere der beiden Schlafzimmer und hängte seine wenigen Kleidungsstücke in einen Schrank, der durch einen Vorhang abgeteilt war.

Im Wohnzimmer befand sich eine Kommode, auf die er die Öltuchrolle legte, die seine Bücher enthielt. Später würde er sie einräumen. Neben der Tür entdeckte er Haken für seine Waffen und hängte den Bogen und den Köcher daran. Seinen Sachs und sein Wurfmesser in der Doppelscheide legte er nicht ab. Ein Waldläufer nahm die Messer nur ab, wenn er schlafen ging, und selbst dann behielt er sie in Reichweite.

Will blickte sich um. Er hatte nicht sehr viele Besitztümer mitgebracht, doch jetzt sah das Blockhaus zumindest bewohnt aus. Seine Gedanken wurden von Reißers Wiehern unterbrochen. Gleichzeitig hob die Hündin am Feuer den Kopf und blickte zur Tür. Will sprach ein paar beruhigende Worte. Reißers Wiehern war keine Warnung gewesen, sondern nur ein Hinweis, dass jemand kam. Ein paar Sekunden später hörte Will leichte Schritte auf der Veranda und eine Frau erschien in der offenen Tür. Sie zögerte, dann klopfte sie an den Türrahmen.

»Nur herein«, forderte Will sie auf.

Als sie ins Zimmer trat, lächelte sie vorsichtig, als wüsste sie nicht recht, ob sie willkommen sei.

Die Frau war um die vierzig, schätzte Will, und nach ihrem einfachen Wollkleid und der weißen Schürze zu urteilen, offensichtlich eine Frau aus dem Dorf. Sie war groß und hatte eine Figur mit mütterlichen Rundungen. Ihr dunkles, lockiges Haar war von kleinen grauen Strähnen durchzogen. Ihre ebenmäßigen Gesichtszüge zeigten ein freundliches Lächeln. Irgendetwas an ihr kam Will bekannt vor, aber er konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal gesehen zu haben.

»Kann ich helfen?«, fragte er.

Sie deutete einen Knicks an. »Mein Name ist Edwina, Sir. Ich bringe Euch das hier.«

»Das« war ein kleiner Topf, und als sie den Deckel wegnahm, erfüllte der wunderbare Duft eines herzhaften Eintopfs den Raum. Unwillkürlich lief Will das Wasser im Mund zusammen. Doch er rief sich Walts Warnung in Erinnerung und gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen und unbeteiligt dreinzuschauen.

»Ach ja?«, sagte er gleichmütig.

Edwina setzte den Topf auf den Tisch und griff in ihre Schürze, um einen Umschlag herauszuholen, den sie ihm reichte.

»Der Eintopf kann später noch aufgewärmt werden«, sagte sie. »Ich denke, Ihr werdet erst Baron Ergell sehen wollen, oder?«

»Schon möglich«, erwiderte Will und war verblüfft, dass diese Frau seine Pläne mit ihm bereden wollte. Zu seiner Überraschung war das Siegel auf dem Umschlag ein Eichenblatt, zusammen mit den geheimen Symbolen, die für die Zahl sechsundzwanzig standen – Bartells Nummer im Bund.

»Waldläufer Bartell gab ihn mir für denjenigen, der hier sein Nachfolger sein würde«, erklärte die Frau. »Ich habe immer sein Haus in Ordnung gehalten und für ihn gekocht.«

Will öffnete den Brief. Als Bartell ihn geschrieben hatte, wusste er noch nicht, wer ihn ersetzen würde, also war das Schreiben einfach mit »Waldläufer!« adressiert. Will überflog die Nachricht.

Edwina Temple ist eine durch und durch vertrauenswürdige und zuverlässige Frau, die während der letzten acht Jahre in meinen Diensten stand. Ich kann sie meinem Nachfolger sehr empfehlen. Sie ist verschwiegen, vernünftig und eine ausgezeichnete Köchin und Haushälterin. Sie und ihr Mann Clive führen das örtliche Gasthaus. Ihr würdet mir und Euch selbst einen Gefallen tun, indem Ihr sie in Euren Diensten behaltet.

Bartell, Waldläufer 26

Will blickte vom Brief auf und lächelte die Frau an. Die Aussicht, dass jemand für ihn kochte und sauber machte, gefiel ihm. Dann zögerte er. Da war immer noch die Frage der Bezahlung, und er hatte keine Ahnung, wie viel das sein würde.

»Nun, Edwina«, begann er, »Bartell lobt dich sehr.«

Die Frau deutete wieder einen Knicks an. »Wir sind recht gut miteinander ausgekommen. Waldläufer Bartell war ein freundlicher Herr. Ich habe acht Jahre für ihn gearbeitet, jawohl.«

»Ja … nun …«

Die Frau erriet aufgrund seiner Jugend, dass dies sein erster Posten war, und fügte vorsichtig hinzu: »Was die Bezahlung betrifft, da braucht Ihr Euch keine Gedanken zu machen. Ich werde vom Burgherrn bezahlt.«

Will runzelte die Stirn. Er war sich nicht sicher, ob er dem Burgherrn erlauben durfte, für seinen Unterhalt aufzukommen. Er erhielt seinen eigenen Lohn vom Bund der Waldläufer.

Edwina erriet den Grund für seine Unsicherheit und fuhr schnell fort: »Das ist ganz in Ordnung so. Waldläufer Bartell erzählte mir, dass der Baron sich seit jeher verpflichtet fühlt, Unterkunft und Verpflegung für seinen Waldläufer zur Verfügung zu stellen. Meine Dienste werden von dieser Vereinbarung abgedeckt.«

Der Baron eines Lehen konnte die Dienste des Waldläufers als eine Ausgabe dem König gegenüber geltend machen, sodass die Steuereinnahmen jedes Jahr um diesen Betrag gekürzt wurden. Das wusste Will und lächelte die Frau an, nachdem er nun zu einer Entscheidung gekommen war.

»Wenn das so ist, dann nehme ich deine Dienste gerne an, Edwina«, sagte er. »Ich vermute, du bist auch die Person, die hier freundlicherweise für mich aufgeräumt und Feuer gemacht hat?«

Sie nickte. »Wir haben Euch schon letzte Woche erwartet«, erklärte sie. »Ich bin jeden Tag vorbeigekommen, um alles in Ordnung zu halten – und wenn ein Feuer im Kamin brennt, dann wird um diese Jahreszeit nicht alles so feucht.«

Will nickte. »Ich bin dir sehr dankbar. Mein Name ist übrigens Will.«

»Willkommen in Seacliff, Waldläufer Will«, sagte sie und lächelte ihn an. »Meine Tochter Delia sah Euch durchs Dorf reiten. Sie sagte, Ihr habt sehr ernst und ganz nach einem Waldläufer ausgesehen.«

Jetzt wusste Will, warum ihm die Frau bekannt vorgekommen war. Sie hatte die gleichen grünen Augen wie ihre Tochter und das gleiche freundliche Lächeln. »Ich glaube, ich sah sie auch«, erwiderte er.

Nachdem nun die Frage der Weiterbeschäftigung geklärt war, sah Edwina sich voller Interesse im Raum um. Ihr Blick blieb an der Mandola hängen, die an der Anrichte lehnte.

»Ihr spielt also die Laute?«, stellte sie fest.

Will schüttelte den Kopf. »Eine Laute hat zehn Saiten«, erklärte er. »Das hier ist eine Mandola – eine Art große Mandoline mit acht Saiten, die paarweise angeordnet sind.«

Er sah den verständnislosen Blick, den die meisten Leute hatten, wenn er ihnen den Unterschied zwischen der Laute und der Mandola erklärte, und gab auf. »Ja, ich spiele ein bisschen«, sagte er einfach.

Die Hündin wählte diesen Moment, um einen tiefen Seufzer von sich zu geben.

Edwina bemerkte sie jetzt erst und machte einen Schritt auf sie zu. »Und Ihr habt auch einen Hund, wie ich sehe.«

»Es ist eine Hündin«, erklärte Will, »und sie ist verletzt. Ich fand sie am Straßenrand.«

Edwina beugte sich hinunter und legte vorsichtig die Hand auf den Kopf der Hündin, die daraufhin leicht den Schwanz bewegte.

»Treue Tiere, diese Hütehunde«, sagte sie.

Will nickte. »Manche sagen, sie seien die klügsten Hunde, die es gibt.« Dann fügte er noch hinzu: »Der Fährmann meinte, ein Mann namens Buttle hätte einen solchen Hund besessen. Hast du schon von ihm gehört?«

Bei der Erwähnung dieses Namens wurde das Gesicht der Frau ernst. »Das habe ich«, sagte sie. »Die meisten Leute in unserer Gegend haben das – und wünschten, es wäre nicht so. Er ist ein böser Mann, dieser John Buttle. Wenn das wirklich sein Hund ist, würde ich das Tier nicht so schnell wieder an ihn zurückgeben.«

Will lächelte sie an. »Das werde ich auch nicht. Aber ich bekomme langsam das Gefühl, ich sollte die Bekanntschaft dieses Mannes machen.«

Bevor Edwina sich beherrschen konnte, rutschte ihr schon eine Antwort heraus. »Ihr solltet Euch lieber von dem fernhalten, Sir.« Dann schlug sie erschrocken die Hand vor den Mund. Es war die Jugend ihres Gegenübers, die ihre mütterlichen Gefühle geweckt und zu dieser

cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage Deutsche Erstausgabe Mai 2009 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2006 John Flanagan

Die englische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Ranger’s Apprentice. The Sorcerer in the North« bei Random House Australia Pty Limited, Sydney, Australia. This edition is published by arrangement with Random House Australia. © 2009 der deutschsprachigen Ausgabe OMNIBUS, München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Übersetzung: Angelika Eisold Viebig Lektorat: Petra Koob-Pawis Vignetten: Mathematics Umschlagbild: John Blackford Reproduced by arrangement with Philomel Books, a division of Penguin Young Readers Group, a member of Penguin Group (USA) Inc. All rights reserved. Umschlaggestaltung: init.büro für gestaltung, Bielefeld MI · Herstellung: CZ Satz: Uhl + Massopust, Aalen

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