Bruder Brahim II - Michael Ibrahim - E-Book

Bruder Brahim II E-Book

Michael Ibrahim

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Beschreibung

"Spiritualität bedeutet, erhobenen Hauptes auch durch die Hölle gehen zu können!" Als mir das Kriegstagebuch meines Opas in die Hand fiel und mir die Wirren der letzten Kriegstage noch einmal drastisch vor Augen führte, kam mir dieser Satz meines Meisters wieder in den Sinn. Der zweite Band der Bruder-Brahim-Reihe erzählt zunächst von Konflikten, die nicht nur in der äußeren Welt, sondern auch in uns selbst wüten. Er benennt häufige Ursachen und gibt eigene Erfahrungen sowie die Lehren einiger spirituellen Meister weiter, wie man den Weg zum inneren Frieden finden kann. Als spirituell geprägter und weltoffener Muslim beleuchte ich Licht und Schatten der menschlichen Wege, gebe Beispiele, wie man Wege der Erkenntnis beschreitet, spreche über Missstände in der westlichen Welt und plädiere abschließend auch für einen universelleren und zeitgemäßeren Islam, dessen Spiritualität viel zu einem globalen Frieden beitragen könnte.

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Seitenzahl: 229

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Meinem Opa Franz

Erstellt mit LATEX auf Ubuntu-Linux

Inhalt und Umschlag: Michael Ibrahim

Lektorat: A. Scherbel und Chr. Müller

Verlag und Druck: tredition GmbH

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

https://tredition.de

1. Auflage 2020

© 2020 Michael Ibrahim

ISBN-Nummern für dieses Buch:

978-3-347-12752-4 (Paperback)

978-3-347-12753-1 (Hardcover)

978-3-347-12754-8 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die erwähnten historischen Gegebenheiten wurden sorgfältig recherchiert. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit und Ausgewogenheit der geschichtlichen Darstellung erhoben. Vielmehr soll ein Interesse an den komplizierten Verflechtungen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft geweckt werden.

Altersempfehlung: ab 16 Jahren

Bruder Brahim

Wege des Friedens

Eine Erzählung zum Nachdenkenfür Jugendliche und Erwachsene

vollendet im Jahr der Pandemie 2020

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Krieg und Vernichtung

1.1 Wann wird der Wahnsinn enden?

1.2 Feuerbälle über Japan

1.3 Das Kämpfen geht weiter

1.4 Der Kalte Krieg

1.5 Religiöse Kriege

1.6 Die Kriege der Gegenwart

2 Der Krieg in uns selbst

2.1 Alles beginnt so friedlich

2.2 Die Vertreibung aus dem Paradies

2.3 Frustration und Gewalt

2.4 Revierkämpfe

2.5 Sexualisierte Gewalt

2.6 Zwänge

2.7 Unerwartete Momente

2.8 Loslassen

3 Der Friede in uns

3.1 Das Raubtier Mensch

3.2 Was heißt Leben?

3.3 Der Weg ins Unbekannte

3.4 Der Weg der Verführer

3.5 Der Weg des Aikido

3.6 Der Weg des Yoga

3.7 Der Weg des Islams

3.8 Auf dem Weg zur Erleuchtung?

4 Globaler Frieden

4.1 Traditionelle Strukturen

4.2 Gesellschaften und Sekten

4.3 Gerechtere Staatsformen

4.4 Gerechtere Wirtschaftssysteme

4.5 Das Prinzip Nachhaltigkeit

4.6 Ein Ende der Propaganda

4.7 Zukunftsutopien

5 Stresstest Corona

5.1 Die erste Welle

5.2 Wir müssen alle zusammenhalten

5.3 Die Menschheit erwacht

5.4 Ein paar Monate Normalität

5.5 Die zweite Welle

5.6 Quo vadis, genus humanum?

Assalamu aleikum

Ich grüße erneut mit dem islamischen Friedensgruß, der mir nun schon sehr vertraut ist, und wünsche euch, meinen Lesern, viel Unterhaltung aber auch Denkanstöße. Besten Dank für eure Wertschätzungen zum ersten Buch! Es hat mich sehr gefreut, dass es viele so tief berührt hat. Interessant war für mich, dass jeder daran etwas anderes spannend fand. In Band I startete ich mit meiner persönlichen Lebensgeschichte, aber schon mit den universellen Fragen: „Wer bin ich? Wodurch definiere ich mich? Wie bin ich aufgewachsen? Welche Erfahrungen habe ich gemacht? Wie sehe ich die Welt? Bin ich ein anderer, wenn ich in einer fremden Umgebung lebe oder gar meine Religion wechsle?“

Es ging also um das Erlebte, um Selbstfindung und um die Sinnsuche im Leben. Die philosophischen Fragen waren eng an mein Leben angelehnt, aber viele von euch haben sich diese Fragen auch schon gestellt, denn sie schlummern in jedem von uns. Darüber hinaus habe ich von meinen Erfahrungen mit den östlichen Lehrmeistern und dem Islam berichtet. Mit diesen Lehren haben sich im Westen wohl eher wenige Menschen beschäftigt. Ich berichtete bereits von den drei großen Yogis, Yogananda [1], Sri Sri Ravi Shankar [2] und Sadhguru [3] sowie den Aikidomeistern, von denen ich lernen durfte und deren Arbeit ich in Kapitel 3 noch ausführlicher darstellen werde. Aber auch für tiefgehende spirituelle Einsichten gilt die alte Weisheit:

Vor der Erleuchtung:

Holz hacken und Wasser tragen.

Nach der Erleuchtung:

Holz hacken und Wasser tragen.

Aus dem ZEN-Buddhismus des 5. Jahrhunderts

In diesem zweiten Band geht es weniger um die Maxime Finde dich selbst! als vielmehr um Finde inneren Frieden! Das passt auch gut zu meiner persönlichen Geschichte, denn der Islam will ja seinem ursprünglichen Sinne nach eine Religion sein, die dem Herzen wahrhaftig den Frieden bringt. Der erste Band endete damit, wie man sich auf verschiedenen Wegen selbst finden kann, aber wie findet man nun seinen inneren Frieden? Ich persönlich finde ihn, wenn ich die Yoga- oder Bewegungstechniken meiner Meister praktiziere und in ihr tiefes Wissen eintauche, auf das ich auch in diesem Buch wieder an den passenden Stellen verweisen werde.

Wie auch im ersten Buch werde ich keine abgeschlossene Geschichte erzählen oder gar ein Kochrezept aus festen Dogmen liefern, wie man sein Leben zu gestalten hat. Ich werde auch in diesem Buch weiterhin die Haltung eines Suchenden annehmen, der seine Erfahrungen weitergibt, aber auch zum Reflektieren und Nachdenken anregen. Ohnehin dachte ich, dass mit dem ersten Buch schon alles gesagt sei, was ich meiner Familie, meinen Freunden, Schülern und den sonstigen interessierten Lesern so erzählen wollte. Aber Tag für Tag kamen wieder neue Gedanken, die ich für wert hielt, mir erneut die Nacht um die Ohren zu hauen und zu schreiben. Manchmal ist es die eigene Reflexion über aktuell Erlebtes, manchmal ein Gegenstand, dann meine innere Stimme, die mich immer wieder auf etwas hinweist.

Den endgültigen Startschuss zum zweiten Teil meines Buches erhielt ich, als mir die Kriegstagebücher meines Opas Franz in die Hand fielen. Die Erfahrungen der Kriegsepoche sind der heutigen Jugend in Deutschland nicht mehr zugänglich. Viele Schauplätze des Zweiten Weltkrieges habe ich im Laufe der Zeit besuchen können und mit Historikern gesprochen, um mein schlechtes Schulwissen aufzubessern. Den Rest musste ich aus allgemein zugänglichen Quellen ergänzen. Vielen Dank an dieser Stelle an meinen Kollegen Andreas, der mir viele geschichtliche Zusammenhänge neu bewusst und auch einige inhaltlichen Korrekturen gemacht hat. Mein Ziel ist, vor allem Jugendlichen die zahlreichen Kriege, Konflikte und menschlichen Abgründe erfahrbar zu machen, aber mit der spirituellen Botschaft, dass wir darüber hinauswachsen können. Im ersten Kapitel arbeite ich mich daher vom zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart vor, wobei die historischen Fakten verknüpft sind mit den persönlichen Erfahrungen meines Opas, die aus den handschriftlichen Aufzeichnungen und seinen persönlichen Erzählungen stammen, oder solchen, die ich selbst erlebt habe.

Im zweiten Kapitel beschäftige ich mich dann eingehend mit dem Ursprung von Konflikten, die ich im ersten Teil schon angesprochen habe. Diese sind tief in uns implementiert, in unserem Körper und in unserem Geist. Mit dem Wissen, das ich durch die Yogis erhalten habe, werde ich als Lehrer und Vater etwas über die Probleme in der Erziehung sprechen sowie Anregungen geben, wie man Verbesserungen erzielen und mit schwierigen Situationen umgehen könnte. Es ist aber kein Erziehungsratgeber, denn Erziehung ist auch für mich die größte Herausforderung meines Lebens! Vielmehr beleuchte ich die inneren Quellen von Konflikten und Möglichkeiten zur Transformation der Situation.

Im dritten Kapitel geht es um Werte und Paradigmen. Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Technik so weit entwickelt ist, dass sie nicht nur für viele Menschen, sondern auch für das Ökosystem Erde eine Bedrohung geworden ist. Aber trotz unserer Macht, die die Technik uns verleiht, benehmen wir uns noch wie unreife pubertierende Kinder, die sich in Konflikte verwickeln und den tieferen Sinn des Lebens überspielen wollen. Ich stelle die Frage, was das Lebendige auszeichnet, und zeige, dass wir die Freiheit haben, diese Werte zu leben, unseren eigenen Weg zu wählen und unsere Entwicklung selbst zu bestimmen. Es folgenden eigene Erfahrungen aus den geschilderten Wegen zur Transformation und Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit, aber auch mit Warnungen, nicht den Verführern zu folgen.

Im vierten Kapitel geht um die Strukturen, die aus solchen Werten entstehen sollten, in Bezug auf das Zusammenleben in der Familie, in Gesellschaften und Nationen. Es geht aber auch um die Wirtschaftssysteme und politischen Systeme, die wir zukünftig entwickeln sollten, so dass auch kommende Generationen noch existieren und ihr eigenes Glück finden können. Ich werde versuchen ein paar Utopien zu formulieren, die ich für realistisch halte. Im Bezug auf Gesellschaften werde ich als Warnung auch diejenigen nennen, die gescheitert sind oder von denen abzuraten ist.

Das fünfte Kapitel war zunächst nicht vorgesehen, ergab sich dann aber aufgrund der massiven Krise, die die Covid-19-Pandemie für uns alle bedeutete. Es enthält ganz persönliche Reflexionen zu dieser Krise, ein kleines Tagebuch sowie eine Reflexion, was Krisen in unserem Leben bewirken können, wenn wir innerlich zentriert und bereit sind. Im Bezug auf die globale Krise der Menschheit endet es mit der Frage, wohin die Menschheit sich entwickeln könnte. Viele der Fragen und Diskussionen stammen aus dem Unterricht in der Oberstufe und aus Gesprächen mit Freunden.

Auch dieser zweite Band ist zu großen Teilen autobiographisch und nimmt dadurch manchmal Bezug auf vergangene und aktuelle Ereignisse. Er ist aber thematisch weitgehend unabhängig vom ersten Band und auch verständlich, ohne ihn gelesen zu haben. Da es aber einige Verweise auf den ersten Band Wege zwischen Welten gibt, befindet sich dessen Inhaltsverzeichnis noch einmal im Anhang.

Wenn ihr mir Fragen, Kommentare oder Feedback senden wollt und mich persönlich nicht kennt, dann schreibt am besten eine E-Mail an: [email protected]

Und nun wünsche ich, dass dieses Buch helfen möge, etwas tiefer in das Mysterium des Lebens einzutauchen und trotz dem ganzen Corona-Wahnsinn dem inneren Frieden ein kleines Stückchen näher zu kommen.

 

Gestern war ich klugund wollte die Welt verändern,heute bin ich weiseund möchte mich selbst verändern.Rumi

1 Krieg und Vernichtung

1.1 Wann wird der Wahnsinn enden?

„Runter mit dir Franz, du hast gleich eine Kugel in der Rübe! Soldaten, still und Gewehre anlegen. Der Feind naht!“ Amerikanische M22-Panzer der 9. Panzerdivision rollen über die Landstraße auf den kleinen Ort Bundenbach zu, der idyllisch in der hügeligen Landschaft liegt. Die Bevölkerung war schon vor einigen Tagen in die nahegelegenen Schiefergruben geflohen und harrte dort nun aus, bis dieser letzte Kampf entschieden wäre. Zitternd liegen die wenigen Wehrmacht-Soldaten, denen die Verteidigung dieses Ortes befohlen wurde, hinter einem Misthaufen im Dreck und schauen sich an. An der Ratlosigkeit ihrer Gesichter ist abzulesen, dass es für diese Situation nun kein mehr Protokoll gibt.

Der Führer hatte immer wieder gebrüllt: „Ein deutscher Soldat ergibt sich nicht! Er opfert sich für sein Vaterland!“ Nach den vielen Monaten des Rückzugs und der Neuformation waren sie jedoch kampfmüde und nur noch leicht bewaffnet. Wie lächerlich Hitlers Kampfparole „Wir aber stellen den Menschen gegen das Material!“ angesichts der heranrollenden amerikanischen Kampfpanzer erschien! Die Soldaten im vorausfahrenden Spähpanzer würden sie schließlich jeden Moment entdecken. Nun stand ihnen der Tod wohl unmittelbar bevor.

„Für mich ist der Krieg vorbei, ich will nach Hause! Was machen wir nur in diesem Dreck? So eine Scheiße wünscht man nicht einmal seinem schlimmsten Feind! Ich hoffe, dass es so einen Krieg nie wieder geben wird! Mir reicht’s!“ Heinrich wirft seine Pistole in den Misthaufen und geht auf den offenstehenden Kuhstall zu. Der kommandierende Unteroffizier zieht die Pistole und, noch bevor Franz und seine Kameraden reagieren können, sackt Heinrich vor der Tür des Stalles leblos zusammen. „Will noch jemand desertieren oder dem Feind unsere Stellung verraten? - Nein? - Gut, dann werde ich mit euch zweien nun die Panzer direkt angreifen. Marsch!“

Die ersten beiden Kampfpanzer haben den Ort erreicht und werden von den Wehrmacht-Soldaten aus den ersten beiden Wohnhäusern mit Granaten beschossen. Blitzschnell drehen sie ihren Turm und schießen die Häuser in Schutt und Asche. Franz beobachtet, wie die Kameraden und der Unteroffizier aus dem brennenden Haus springen und zu Tode stürzen. Er harrt mit den Verbleibenden weiter im Misthaufen aus.

„Ich hatte schon bei meinem Einzug im September 1941 ein mieses Gefühl, dass dies alles einmal in einem großen Elend enden wird und dass der so hochgelobte Herr Führer sich doch als Spinner entpuppt!“, sagte eine mir wohlbekannte Stimme in einem ernüchternden Ton. „Kann man eine leuchtende Zukunft eines Volkes auf Ausbeutung und Vernichtung eines anderen aufbauen? Wie kann man Millionen von Menschen als unwertes Leben deklarieren, sie vernichten lassen und nur das eigene Volk und seine Verbündeten akzeptieren? Immerhin hat heute morgen Rüstungsminister Speer Hitler erläutert, dass der Krieg aus seiner Sicht nicht mehr zu gewinnen sei. Wäre Hitler hier auf dem Schlachtfeld und hätte er die Jagdbomberangriffe der letzten Tage gesehen, hätte er es wohl selbst mitbekommen. Aber jetzt heißt es: Die Geister die ich rief, werde ich nun nicht mehr los! - Diese Schmach und das Schlamassel, welche aus dieser verbrecherischen Führung resultieren, haben nun nicht nur wir Soldaten, sondern das ganze Volk auszubaden. Unsere Städte werden Tag und Nacht von alliierten Flugzeugen bombardiert, unsere Häuser von Panzergranaten durchlöchert und wenn Gott uns nun nicht beschützen wird, ist unser Leben auch gleich zu Ende! Hass erzeugt nur Hass und Vernichtung!“

„Halt’s Maul, Franz! Lass die großen Reden! Die Amis durchlöchern uns gleich, wenn wir nicht aufpassen. Siehst du da hinten den Schwarzen auf uns zukommen? Da, an der Hauswand entlang! Rutsch zur Seite, ich knall den jetzt ab!“

Mit einer harschen Bewegung stößt Franz seinem Kameraden Heinz sein Gewehr in die Rippen, als dieser zum Schuss anlegt. „Hör auf damit, Heinz, es ist vorbei! Kapierst du es nicht? Wir haben keine Chance mehr! Wir müssen uns ergeben.“

Mit einem Male war es unheimlich still, nur die Vibrationen und das Rattern der Ketten der Panzer waren zu vernehmen. Plötzlich ein lauter Ruf: „Hey, you guys! Come out!“

Heinz schossen die Trägen in die Augen, als er realisierte, dass Franz Recht hatte. Es gab nichts mehr zu verteidigen außer dem eigenen Leben. „Franz, bitte geh du als Erster! Ich hab doch ’ne Frau und zwei Kinder zu Hause. Was ist, wenn der Schwarze mich einfach über den Haufen schießt? Bitte!“

Franz riss einen Teil seines ohnehin schon zerfetzten Unterhemdes ab, band es an die Spitze seines Gewehres und streckte es wedelnd in die Höhe. Wieder ertönte die laute Stimme des Schwarzen: „Hey, you! Come out and hands up!“

Franz ließ sein Gewehr, die Braut des Soldaten, in den Dreck gleiten und verließ zitternd und mit erhobenen Händen den Schützengraben, wohl wissend, dass sein Leben auch jetzt noch durch irgendeine Unachtsamkeit in Sekunden zu Ende sein könnte. Ein letztes Stoßgebet zum Herrgott und noch ein paar Schritte und er stand direkt vor dem Gewehrlauf des Schwarzen, der zu seiner Verwunderung ihn zwar mit fester Stimme herumkommandierte, aber ebenfalls zitterte.

Es dauerte eine Zeit lang, bis alle anderen aus den Gräben hervorkamen. Die Amerikaner sammelten die Soldaten an der Kirche. Der Pfarrer und ein alter Mann, der gut Englisch sprach und schon einmal nach Amerika gereist war, kamen hinzu. Sie verhandelten mit den Amerikanern. Dann wandten sie sich an die Wehrmachtssoldaten: „Es ist vorbei, Männer! Ihr seid jetzt Kriegsgefangene und werdet die Heimat fürs Erste nicht wieder sehen. Steigt auf die LKWs dort hinten! Sie nehmen euch mit und werden euch in Arbeitskommandos einteilen!“

Die gefangenen Soldaten wurden abgeführt und auf den LKW verladen. Dieser fuhr uns zu einem großen und mit Stacheldraht eingezäunten Feld, einem Lager für Kriegsgefangene. Schon wieder saßen sie da, im Schlamm, und vor lauter Hunger griffen sie durch den Zaun, rissen Gras aus und kauten auf den Grashalmen herum, bis ein Tag später endlich ein Truck mit Essen heranrollte. Es gab nur eine dünne Suppe, aber kein Geschirr. Franz fand eine rostige Dose zwischen ein paar Steinen, in die er sich die Suppe gießen ließ. Doch als er austrinken wollte, riss ihm ein anderer die Dose vom Mund…

Ich schreckte zusammen und sprang auf: „So ein Drecksack! Ich werde ihn umhauen!“ Doch dann merkte ich, dass dies wieder einer meiner lebhaften Träume war, denn mein Opa Franz war schon vor Jahren verstorben. „Hey, aber an all diese Geschichten erinnere ich mich noch ganz genau! Er hat mir sie oft erzählt. Immer wenn ich als Jugendlicher bei Oma und Opa war, saß Franz in seinem großen Ledersessel und erzählte mir Kriegserlebnisse. So waren sie bis heute präsent in mir.

Ich tat mich schwer, wieder ins Bett zu gehen, um zu schlafen. Ich suchte stattdessen nach den Tagebüchern und alten Feldpostbriefen, die ich vor Kurzem in Opas Haus gefunden hatte, als wir die Möbel ausräumten und es renovierten. Es war so seltsam für mich, dieses Haus auszuräumen, denn damit ging die Ara meiner Kindheit zu Ende - alle Erinnerungen an das letzte Jahrhundert wurden mit dem Abhängen der Bilder und dem Abziehen der alten Tapeten entfernt. Zurück blieben nur ein paar Fotoalben und zwei Tagebücher, die auf vergilbtem Papier mit der Hand verfasst waren, Gott sei Dank nicht in Sütterlin, sondern bereits in neuerer Schreibschrift.

Endlich fand ich sie in einem Regal in meinem Büro, mitten in einem Bücherstapel über Weltreligionen. Ich setzte mich ins Wohnzimmer und begann zu lesen, während es draußen gerade dämmerte. Die Katze, die ich durch meinen nächtlichen Schrei aufgeschreckt hatte, kam durch die Tür hineingeschlichen, legte sich auf meinen Schoß und schlief dort ein. Ich beruhigte mich und erinnerte mich an eine Situation, als Opa schon Wochen vor seiner Gefangennahme geflohen war. Nach ein paar Minuten Herumblättern fand ich sie. Er schreibt, wie er am 8. März 1945 von seiner Einheit desertierte, weil ihm alles sinnlos vorkam und er die Familie und seine Angebetete vermisste:

Ich desertierte kriegsmüde von meiner Einheit und schlug mich durch den Hunsrück bis nach Hause durch, voller Sehnsucht die Familie und meine geliebte Gretel wiederzusehen. Auf dem Weg durch die Wälder träumte ich davon, dass ich wie im Gleichnis des verlorenen Sohnes heimkehren und mein Vater mich nach all den Entbehrungen des Krieges freudig und erleichtert empfangen würde. Aber es kam ganz anders. Mein Vater war geschockt, dass ich desertiert war, denn er wusste, dass man dafür an die Wand gestellt und erschossen werden würde. Sofort als ich ihn grüßte, wies er mich zurecht und versteckte mich in der Scheune, denn überall wimmelte es von Spitzeln. Anstatt mit der Familie meine Rückkehr zu feiern, verbrachte ich also die Nacht bibbernd in der Scheune bei den Tieren. Am nächsten Morgen konnte ich meine Schwester und meine geliebte Gretel für ein paar kurze Momente sehen. Danach erhielt ich unser altes Fahrrad und musste versprechen, sofort wieder zu meiner Einheit zurückzukehren. Ich fand sie nicht mehr, denn die Soldaten waren schon weiter gezogen. Als ich mit dem Fahrrad so durch die Wälder fuhr, schmiedete ich den Plan, bis tief in den Hunsrück vorzudringen und mich bei der nächstbesten Einheit als ‚versprengt“ zu melden. Dann konnte ich nur noch hoffen, dass mein Plan nicht aufflog.

Nach einigen barschen Worten und der Androhung, dass ich auch nach einigen Tagen noch jederzeit eine Kugel in den Kopf bekäme, wenn ich noch einmal versuchen würde abzuhauen, schickte mich mein neuer Vorgesetzter in den Funkerwagen, wo ich auch zuvor gedient hatte. Ich hatte das Glück, dass ich während des ganzen Krieges keinen einzigen scharfen Schuss abfeuern musste. Ein paar Wochen hatte ich nun wieder Ruhe, doch dann wurde der Funkverkehr eines Tages plötzlich hektisch. Per verschlüsseltem Morsecode übermittelte man mir:

„Feindliche Truppen rücken in deutsches Gebiet ein! Der Rhein wurde bei Arnheim von alliierten Panzern überquert!“1

Diese Einträge kamen mir heute alle so unvorstellbar vor. In seinem Büchlein lag ein Zeitungsartikel mit der Überschrift „50-Jahre Kriegsende“. Jetzt nachdem wir seit mehr als einem halben Jahrhundert Frieden in Europa haben, kann ich mir kaum vorstellen, dass man erschossen wird, nur weil man erkannt hat, wie sinnlos es ist, sich gegenseitig niederzumetzeln.

Ich sollte jeden Tag eine Gedenkminute und einen Moment der Stille einlegen und dafür dankbar sein, dass ich alles das nur aus Träumen, Erzählungen und ein paar Bundeswehrmanövern2 kenne. Und wir, die wir uns erinnern, sollten diese schmerzhaften Erfahrungen unseren Kindern und Kindeskindern weitergeben, was ich mit der Zusammenfassung der Erlebnisse meines Opas Franz hier nun getan habe. Aber der Wahnsinn des Krieges ging und geht auch heute noch weiter. Obwohl ich mich als Jugendlicher nie für Geschichte interessiert habe, bin ich in meiner Tätigkeit als Physiklehrer immer wieder auf die dunklen Seite der Menschheit in der Nachkriegsgeschichte gestoßen, an die ich in diesem Kapitel vor allem die Jugendlichen unter meinen Lesern erinnern möchte.

1.2 Feuerbälle über Japan

Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit, zehn Schülerinnen und Schüler, die sich mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigt hatten, beim Japanaustausch zu begleiten, wo sie sich mit den Japanern austauschen sollten. Ziel war die Stadt Hiroshima, wo wir privat Unterkommen würden. Schon oft hatte ich im Physikunterricht in den zehnten Klassen ausführlich den Abwurf der Atombomben, am 6. August 1945 auf Hiroshima und drei Tage später auf Nakasaki, thematisiert. Außer Fragen zur Funktionsweise einer solch mächtigen Bombe stellten die Schüler sehr viele geschichtliche und ethische Fragen:

„Wieso hat Japan nicht aufgegeben, dann wäre doch der Krieg vorbei gewesen? War es wirklich notwendig, diese Bomben zu werfen? Wieso gerade auf diese beiden Städte? Haben sich die Amerikaner danach zu ihrer Schuld bekannt und wurden sie bestraft? Sind die Japaner heute noch sauer auf die Amerikaner? Wie sieht Hiroshima heute aus? Kann man da jetzt rumlaufen, wo da doch alles verstrahlt ist?“

Ich versuchte einige der Fragen ad hoc zu beantworten:

„Also Leute! Nachdem Deutschland am 8. Mai 1945 kapituliert hatte, ging der Krieg für das verbündete Japan noch weiter. Die USA, mit denen Japan seit dem Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 im Krieg lag, forderten zusammen mit Großbritannien die bedingungslose Kapitulation. Dies war jedoch für das japanische Volk undenkbar, da dann sein Gottkaiser, der Tenno, womöglich in Kriegsgefangenschaft gegangen und entehrt worden wäre. Also erduldeten es weiterhin die Angriffe der Alliierten, die ihm mit Vernichtung drohten, sollten sie nicht kapitulieren. Die Atombombe war im sogenannten ManhattanProjekt an einem geheimen Ort namens Los Alamos, in der Wüste von Nevada, auf Befehl des Präsidenten Roosevelt unter großen Anstrengungen von amerikanischen Wissenschaftlern und Ingenieuren entwickelt worden und sollte ursprünglich gegen das Hitler-Regime eingesetzt werden. Wir können also in gewisser Weise Gott dankbar sein, dass sie nicht über Berlin, Hamburg, München oder Frankfurt gezündet wurde. Präsident Truman, der bis zum Amtsantritt nichts von dieser streng geheimen Waffe wusste, befahl am 25. Juli General Spaatz den Einsatz der Spezialwaffe, wobei er einen Angriff nach dem 3. August anordnete. Die Amerikaner hatten schon ca. 70.000 Soldaten im Pazifik-Krieg verloren und Truman befürchtete eine weitere Eskalation des Krieges, sollten sie auf weiteren Inseln landen müssen. Die amerikanischen Soldaten hatten selbst größten Respekt vor dieser Waffe, die zuvor nur genau einmal, nämlich beim Trinity-Test in Nevada, gezündet worden war. Ein christlicher Geistlicher sprach deshalb folgendes Gebet für die Besatzung des Bombers3:

Allmächtiger Vater, der Du die Gebete jener erhörst, die Dich lieben, wir bitten Dich, denen beizustehen, die sich in die Höhen Deines Himmels wagen und den Kampf bis zu unseren Feinden vortragen. […] Wir bitten Dich, daß das Ende dieses Krieges nun bald kommt und daß wir wieder einmal Frieden auf Erden haben. Mögen die Männer, die in dieser Nacht den Flug unternehmen, sicher in Deiner Hut sein, und mögen sie unversehrt zu uns zurückkehren. Wir werden im Vertrauen auf Dich weiter unseren Weg gehen; denn wir wissen, daß wir jetzt und für alle Ewigkeit unter Deinem Schutz stehen. Amen.

Die drei Bomber, die am 6. August 1945 Richtung Hiroshima flogen, wurden zwar von der japanischen Luftraumüberwachung entdeckt, aber der Alarm wurde aufgehoben, weil man sie nur für eine Aufklärungspatrouille hielt. Jene Uran-Bombe namens Little Boy, die Paul Tibbets in der Enola Gay ins Ziel flog, war erst während des Fluges in mehreren Montageschritten scharf gemacht worden. Tibbets warf um 8: 15 Uhr in etwa zehn Kilometern Höhe die Bombe direkt über Hiroshima ab und startete sofort das Wendemanöver, um dem Höllenfeuer und der Druckwelle zu entkommen. Er hatte genau eine Minute, dann explodierte Little Boy planmäßig in 600 Meter Höhe und radierte unter ihm Hiroshima von der Landkarte!“

Für einen Moment war es totenstill in der Klasse! Alle Jungs und Mädels schauten mich entsetzt an, teils mit Tränen in den Augen. Ich konnte ihre Gedanken lesen: „Wie können Menschen so etwas tun? Diese Tat hat so viele Zivilisten auf einen Schlag getötet, darunter auch Kinder wie wir.“

Nach etwa zehn Sekunden in Stille sagte ich: „Es geschah aus einer ganz anderen Denkweise heraus! Es war seit Jahren Krieg und täglich fielen tausende von Menschen. Ein Menschenleben schien nichts mehr wert zu sein, schon gar nicht das der Gegner. Durch die Kriegspropaganda nahm man den Soldaten der gegnerischen Seite gar nicht mehr als Menschen wahr, sondern als gefährliche Kampfmaschine. Die Militärs wussten, dass es nicht nur die in Hiroshima stationierten Soldaten das Leben kosten wird, sondern auch die Zivilbevölkerung jeglichen Alters. Ursprünglich wurde darüber diskutiert, ob man diese Bombe zur Abschreckung über unbewohntem Gebiet abwerfen solle, um Stärke zu demonstrieren, entschied man sich für eine Stadt, in der nur wenige amerikanische Gefangenen waren!

So kam es also für die Japaner zu der für sie undenkbaren Situation, dass der Tenno selbst die Kapitulation verkündete - der Mythos der Unbesiegbarkeit Japans war gebrochen! Dennoch verschonten die Amerikaner den Kaiser und verurteilten statt dessen nur seine Generäle. Es wurde niemals untersucht, ob der Abwurf der Atombombe als Kriegsverbrechen einzustufen ist. Zum einen wegen der ungeheuren wirtschaftlichen und militärischen Macht der USA und zum anderen aber hatten die USA ein Veto-Recht in der neu gegründeten UNO.“

So wurde aus der Physikstunde mehr eine Stunde mit politischen Themen, aber das war gut so, denn die Frage nach der Verantwortung von Naturwissenschaftlern und Technikern wird trotz ihrer essentiellen Bedeutung fast nie gestellt. Viele Menschen in unseren Tagen sprechen von den Verbrechen der militärisch-industriellen Machtelite, die sich aber nur ungenau definieren lässt. Letztendlich sind wir alle verantwortlich, die aktuelle Denkweise, das sog. Paradigma zu überprüfen und den Wahnsinn in unserer Zeit zu stoppen, vom Klimawandel bis zu autonomen Waffensystemen. Die Wirkungen unseres Handelns werden immer gewaltiger, so dass wir jetzt darüber nachdenken müssen, welche Auswirkungen unser Handeln für viele weitere Generationen hat. Hierzu empfehle ich besonders, die Ausführungen des jüdisch-deutschen Philosophen Hans Jonas zu lesen, der sich schon vor einigen Jahren darüber intensiv Gedanken gemacht hat [5].

„Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Hans Jonas

Endlich war es so weit! Es war Herbst geworden und die endlose Vorbereitung des Japanaustauschs neben den schon alleine anstrengenden Stunden in der Mittelstufe und Oberstufe lag hinter mir. Die Anspannung war riesig und alles war akribisch vorbereitet, inklusive der Geschenke für jeden der Gastgeber. Ich hatte das große Glück, durch das Aikido die japanische Kultur etwas zu kennen und zu wissen, dass den Japanern die Verpackung ebenso wichtig ist wie der Inhalt des Geschenks. So konnte ich zum nötigen Feinschliff beitragen und den ausgewählten Schülern beibringen, wie man in Japan Geschenke überreicht.

Der Flug ging über Nacht und im Sonnenaufgang erblickten wir beim Anflug bereits den Berg Fuji. Die fehlenden Stunden, die wir aufgrund unseres Fluges gegen Osten verloren hatte, steckten uns noch in den Knochen. Müde wechselten wir das Flugzeug und landeten nach einigen Stunden schließlich in Hiroshima, welches direkt am Meer liegt. Schon von oben sieht man die Stadt umrandet von Bergen mit ihren vielen Flussläufen und den Inseln Ninoshima, Miyajima und Etajima im Seto-Binnenmeer. Wüsste man nicht, dass sie einmal völlig zerstört gewesen war, würde man nichts Besonderes vermuten. Angekommen am Boden zeigt sie sich als weitläufig mit vielen Grünflächen und dem Friedenspark gleich in der Mitte.

Die Frage, wie man hier mit der Erinnerung an das schreckliche Ereignis des Krieges umgeht, wird uns schon gleich am ersten Tag und später erneut beim Besuch des Friedensparkmuseums beantwortet:

Die Zerstörung ist im Alltag jedes Einwohners und Besuchers präsent, in dem Gebäude, welches die Bombardierung überstand und mit seinem verrosteten und zerstörten Kuppeldach ein Mahnmal ist, in dem Feuer, das für die Ermordeten in der Im Hintergrund das einzig verbleibende Gebäude aus Kriegszeiten, ein großer See und unter dem Torbogen brennt ein ewiges Licht in Gedenken an die Opfer der ersten Atombombe in der Geschichte der Menschheit.

Das Friedensdenkmal am Ground Zero in Hiroshima/Japan