Brüder machen manchmal Kummer - Lise Gast - E-Book

Brüder machen manchmal Kummer E-Book

Lise Gast

0,0

Beschreibung

Der Sommer steht vor der Tür und Renis Familie ist endlich wieder vereint. Gemeinsam verbringen Vater, Mutter, Reni und ihre beiden Brüder den Sommer im Ferienheim, umgeben von Pferden, Kindern und allerlei Spaß. Schöner könnte es kaum sein, denkt sich Reni, doch bald stellt sich heraus, dass nicht alles perfekt ist und der große Bruder Christian ihr mehr Kummer zubereitet, als sie es sich eingestehen will.-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 164

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



List Gast

Brüder machen manchmal Kummer

Saga

Brüder machen manchmal Kummer

© 1965 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711508398

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

I.

„Reni!“

Das war Mutters Stimme. Reni, die gerade quer über den Spielplatz zwischen den beiden Heimhäusern rannte, bremste so plötzlich, daß sie um ein Haar hingeschlittert wäre. Sie hatte zu Christian gewollt, der ihr von drüben winkte. Er sah ihr Rutschen und machte unwillkürlich die Balancebewegung auch, mit der sie sich fing; das wirkte so komisch, daß Reni laut lachen mußte. Und durch dieses Lachen vergaß sie den Ärger, den sie erst gespürt hatte: Mutter rief, wer weiß, was man jetzt wieder unbedingt ‚mußte‘.

Mutter gehörte zum großen Glück nicht zu der Sorte Eltern, die andauernd etwas wollen. ‚Reni, tu dies oder laß das‘, ‚Reni, lauf und hol mir —‘ nein, so war Mutter nicht. Deshalb hatte Reni sich fest vorgenommen, wenn sie schon rief, immer sofort und ohne mauliges Gesicht zu erscheinen.

Mutters Einstellung kam sicher auch davon, daß sie nicht nur für die eigene Familie, sondern für das ganze geliebte Heim am Berge verantwortlich war. So wie die Heimkinder ihre freien Stunden hatten, obwohl auch sie sonst nicht ohne kleine Pflichten waren, respektierte Mutter auch Renis und Christians Freizeit. Jetzt aber hatte sie gerufen, und Reni versuchte in Eile, sich darauf einzustellen, daß dieser erste Ferientag nun keiner werden würde. Dann also begannen erst morgen die großen Ferien. Es kommt nur auf den Standpunkt an, von dem aus man das Leben anguckt, hatte Vater ihr gesagt. Schön, sie wollte es versuchen.

„Ja, Mutter, ich komm schon!“

Reni lief, nicht ganz so schnell wie vorhin, in entgegengesetzter Richtung; immerhin so, daß niemand behaupten konnte, sie trödelte. Und siehe da, sie wurde überraschend belohnt. Mutter hatte überhaupt nicht die Absicht, sie zu irgendeiner zeitraubenden Beschäftigung herzurufen, — Brüderchenhüten, beim Kirschenaussteinen helfen oder Postwegbringen, sondern zu einer Überraschung, die Renis Herz hüpfen ließ.

„Nur einen Augenblick, Reni“, sagte Mutter, „mal sehen, ob dir meine Reithose paßt. Möchtest du sie haben?“

„Die helle?“ fragte Reni atemlos. Mutter besaß eine wunderbare, beigefarbene Jodpurhose, eine von dem Schnitt, den man sowohl zu Stiefeln als auch zu Halbschuhen tragen kann, und die außerdem einen Lederbesatz hatte, einen richtigen, zünftig mürbe gerittenen. Reni hatte sie von jeher um diese Hose heimlich beneidet. Wahrhaftig, Mutter trug sie in der Hand.

„Du bist in letzter Zeit so gewachsen. Eigentlich gehört sich das gar nicht, dreizehn Jahre bist du und fängst an, einem über den Kopf zu schießen.“ Mutter lachte und hielt ihr die Hose mit dem Bund um den Gürtel. Reni sah an sich hinunter.

„Darf ich mal reinschlüpfen?“ fragte sie eifrig. Mutter nickte.

Die Hose paßte. Sie saß wie angegossen, und Reni ließ die Tür von Mutters Stube offen stehen, während sie in den Flur rannte, um sich im großen Spiegel bewundern zu können. Mutter blickte ihrer jungen Tochter nach.

Wahrhaftig, das Mädchen war so groß wie die Mutter! Eine eigentlich ganz unerklärliche Rührung bewegte Mutters Herz: Nun war Reni schon fast erwachsen, und sie hatte so wenig von ihr gehabt. Erst hatte sie das Kind ins Heim geben müssen, weil sie selbst verwitwet und berufstätig war, und als sie Reni endlich zu sich nehmen konnte, hatte das Kind sich heiß und wild zurückgesehnt in ihr geliebtes Heim am Berge. Erst seit anderthalb Jahren lebten beide zusammen als richtige Familie. Mutter hatte Renis Onkel Doktor geheiratet, der Christian, seinen Sohn aus erster Ehe, mitbrachte, und lange Zeit war Reni viel mehr Onkel Doktors Kind und Christians Schwester als ihre, Mutters, Tochter gewesen. Jetzt aber hatte die Liebe zu den Pferden sie beide doch sehr innig verbunden.

„Darf ich sie wirklich tragen?“ fragte Reni, als sie in der Hose wieder kam. Mutter lachte.

„Nicht nur tragen, behalten. Ganz. Ich reite doch nicht mehr“, sagte sie freundlich. Reni bewunderte sie. Diesen Satz ohne Tränen herauszubringen, wenn man so gern geritten war wie Mutter, dazu gehörte ein tapferes Herz. Sie nahm Mutter ganz schnell um den Hals und drückte sie an sich.

„Danke“, sagte sie leise und ein wenig verlegen, „danke, Mutter. Wunderbar! Jetzt bin ich richtig eingekleidet.“ Sie wollte noch etwas hinzusetzen, bremste aber ab, so, wie sie vorhin ihr Rennen abgestoppt hatte. Vielleicht war jetzt noch nicht der richtige Moment, mit dem herauszurücken, was ja wiederum ein Wunsch war, ein wilder, heißer Herzenswunsch. Renis Wünsche waren immer so, das lag in ihrer Natur, und Mutter sah es mit Sorge. Auch jetzt blickte sie nachdenklich auf die Tochter. Dann sagte sie:

„Ich schenke sie dir nicht ohne Absicht, Reni. Verraten darf ich nichts, ich tu es auch nicht, aber ich glaube, du wirst sie in nächster Zeit gebrauchen können.“

„Weil?“ Reni bekam ganz runde Augen vor Spannung. „Weil — ach, sag doch, Mutter!“

„Es ist eine Überraschung, die Vater sich ausgedacht hat“, sagte Mutter nach sekundenlangem Zögern, „wiedermal hat er — ach Reni, wißt ihr eigentlich, was ihr für einen Vater habt, Christian und du?“

„Und Brüderchen, nicht zu vergessen“, fiel Reni stürmisch ein, „wir drei haben einen ganz, ganz lieben Vater, aber auch eine ganz tolle Mutter“, fügte sie schnell hinzu. Mutter durfte nicht zurückstehen, auch nicht im Spaß. „Eine Mutter, die ihre schönste Hose verschenkt — danke danke danke!“

Weg war Reni. Mutter sah ihr nach. Aber sie kannte nun ihre Tochter schon ein wenig: Immer wurde Reni schrecklich verlegen, wenn sie sich freute. Und gefreut hatte sie sich bestimmt!

Reni war die Treppe hinuntergefegt und sauste über den Hof, dorthin, wo Christian noch stand.

„Wie findest du mich?“ fragte sie, nach Luft schnappend. „Mutters beste Hose. Große Klasse, was?“

„Ja, wunderbar, Reni.“

Christian musterte sie von oben bis unten. Reni war in diesem Frühjahr tatsächlich in die Höhe geschossen, dabei dünn geworden, fast mager. Die Haut spannte über den Backenknochen, und das helle Haar, jetzt im Sommer ziemlich kurz geschnitten, unterstrich noch mehr das Jungenhafte, das Reni oft hatte, im Gegensatz zu Erika, ihrer Freundin. Erika sah immer wie ein Mädel aus, auch in Reithosen, und sie war und blieb ein ganzes Mädel, während Reni von jeher lieber ein Junge gewesen wäre.

„Du, ich glaub, er erlaubt’s!“ stieß sie jetzt hervor. „Mutter sagte so was. Er hätte sich eine Überraschung ausgedacht. Und dabei schenkte sie mir die Hose. Geschenkt, nicht bloß geborgt, verstehst du?“

„Hm, das kann natürlich stimmen“, sagte Christian langsam. „Kann, Reni. Du bist ein ewiger Optimist. Immer denkst du, wenn Vater auch nur mit dem winzigsten Finger winkt ...“

„Ich weiß, ich weiß. Und du denkst immer, man muß von Anfang an immer das Schlimmste annehmen, um nicht enttäuscht zu werden“, antwortete Reni hitzig. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß es noch schön auf der Welt ist, wenn man immer und ewig das Schlimmste annimmt.“

Dies war ein Streitpunkt, der oft zwischen ihnen erörtert wurde.

„Unsinn, ich sage nicht —“

„Du sagst —“

„Du läßt mich ja gar nicht zu Worte kommen —“

Puh, der schönste Krach! Und das heute am ersten Tag der großen Ferien, an dem Reni auch noch ein wunderbares Geschenk bekommen hatte! Schämte sie sich nicht?

Doch. Sie schämte sich, und zwar doppelt und dreifach, als in diesem Augenblick jemand in den Spielhof des Heims einbog, ein Jemand, den sie beide gut kannten: Erika! Erika Niethammer! Sie kam zu den Ferien her, und die beiden hatten wahrhaftig vergessen, den Gast abzuholen.

Da stand Erika, mit Köfferchen und Tasche beladen, heiß und ein wenig vorwurfsvoll. Die letzten wütenden Worte zwischen Reni und Christian hatte sie gerade noch mitgekriegt.

„Euch kann man auch nicht alleine lassen“, sagte sie und pustete die Haare aus der Stirn, „uff, nichts als unter die Brause! Um was ging es denn wieder mal?“

„Ach, Christian ist —“

„Und Reni findet —“

Reni nahm Erika kurzerhand am Arm und zog sie im Geschwindschritt durch den Hof, dem Duschkeller zu.

„Das Gepäck bringt Christian. Ja? In mein Zimmer, gelt? Erika wohnt bei mir.“ Weg waren sie.

Christian sah verärgert auf die beiden Gepäckstücke herunter, zögerte und entschloß sich dann doch, sie den Mädchen nachzutragen. Was blieb auch übrig?

„... und wenn es Vater erlaubt, kann Mutter auch nichts dagegen haben“, beendete Reni gerade einen Satz von der Länge einer Riesenschlange. Christian kannte ihre Art, zu reden. Als er bei Renis Zimmer anlangte, zu dem die Mädel, Reni noch immer in der neuen Reithose, Erika im Bademantel, zurückkamen, blieb er stehen.

„Deine Mutter dagegen? Wer ist denn im Leben am meisten geritten?“ hörte er Erika lachend fragen.

„Ja aber — und sie hat selber gesagt, ich wäre so schrecklich gewachsen, und ich müßte eine neue Hose haben, und — Erika, sag doch selbst, das kann unmöglich was anderes bedeuten, als daß ich nun endlich in —“

„Du? Na was denn?“

„Kannst du das wirklich nicht erraten?“

„In den Reitverein darfst, in dem Christian ist?“

„Natürlich. Was denn sonst! Christian reitet doch dort schon ewig. Und ich —“

„Na?“

„Ich darf höchstens auf den Ponys reiten, und —“

„Höchstens?“

„Ach Erika, stell dich doch nicht an wie Fräulein Sonneson, wenn wir maulten, weil wir statt der ewigen Leberwurst auch mal Schinken aufs Zweite-Frühstücks-Brot haben wollten“, rief Reni übermütig. Erika lachte. Ach ja, Fräulein Sonneson, die Hauslehrerin! Sie hatte Erika und Reni ein halbes Jahr lang unterrichtet, als Reni bei Erikas Eltern wohnte, wo Renis Mutter damals angestellt war. Auch jene Zeit, so bitterlich voller Heimweh nach dem Onkel Doktor und dem geliebten Heim am Berge, lustige Stunden hatte sie ihnen trotzdem geschenkt.

„Weißt du noch, wie wir der Mamsell das Gespenst aufstellten?“

„Ja, und dann unterm Wehr? Als du das Schlüsselbein gebrochen hast?“

„Und wie das alte dicke Kutschpferd mitten im Bach stehen blieb, weil es da so schön kühl war, und zu Hause warteten sie mit dem Essen?“

Erika hatte sich trocken gerubbelt und war in den Luftanzug geschlüpft. Hier im Heim lief man so viel wie möglich in sparsamster Bekleidung herum, das war üblich. Auch Reni mußte sich von ihrer schönen Hose trennen.

„Aber paß auf, ich trag sie jetzt oft. Jede Woche! Und du kommst mit und guckst zu, wenn wir reiten, Christian und ich. Oder vielleicht bezahlen deine Eltern dir für die Ferien auch ein paar Reitstunden?“

„Ach, ich weiß nicht. Ich — —“ Erika schwieg. Sie schwieg ausnahmsweise einmal nicht deshalb, weil Reni ihr in die Rede gefallen war, wie sie es meistens tat — sie war allzu stürmisch, auch im Sprechen —, sondern weil sie sich selbst nicht recht darüber klar war, was sie sich wünschte.

„Meinst du, das wird zu teuer?“ fragte Reni, über die Pause in ihrer Redeschlacht beinah betroffen.

„Nein, oder doch, auch — aber — — —. Du, Reni, ich glaub, ich trau mich nicht auf richtige Pferde.“

„Du —?“ Reni blieb der Mund offen. Dann lachte sie. Sie lachte und riß die Freundin an der Hand mit sich, denn sie hatte unten im Hof ein Auto brummen hören.

„Vater kommt!“ schrie sie aufgeregt, „los, wir müssen unten sein, ehe er aussteigt.“ Und Erika mußte mit, ob sie wollte oder nicht.

Sie wollte. Auch sie liebte Renis Vater, den Onkel Doktor des Heims, zärtlich und innig, wie eigentlich alle Kinder diesen großen, dicken, beinah häßlichen, aber so unwahrscheinlich gütigen und klugen Mann liebten. ‚Wenn der Doktor hereinkommt, geht ein Fenster mit Sonne auf‘, hatte einmal eine Patientin gesagt. So ähnlich empfanden es alle, die das Glück hatten, mit ihm zusammenzuleben. Tante Mumme, seine Schwester, die früher das Heim leitete, hatte diesen Posten seinetwegen übernommen, Mutter tat ihm zu Liebe, was sie nur konnte. Auch Christian sprang und lief, wenn er ihm einen Gefallen tun sollte. Reni hatte lange unter einer verborgenen, aber nicht totzukriegenden Eifersucht gelitten, wenn sie das mit ansah. Eigentlich war Vater ja ihr Onkel Doktor, ihr, ihr Eigentum, und alle andern kamen an zweiter Stelle. Sie war sein Kind gewesen, so lange sie denken konnte. Tante Mumme hatte sie zwar gefüttert und gekleidet, aber auf des Doktors Knien hatte sie sprechen und lachen, singen und beten gelernt, sein Kind war sie. Er hatte ihr den Unterschied zwischen Gut und Böse, Heiß und Kalt beigebracht, die Namen der Vögel, die im Winter vor dem Fenster am Futterhäuschen pickten, er hatte ihr die Sternbilder gezeigt und ihr von den deutschen Kaisern und Königen, den Dichtern und Musikern erzählt. Das erste Buch, dessen Blätter sie umschlug, hatte er ihr geschenkt — auch das erste kleine Pferd, auf dem sie reiten und die allerersten Anfänge dieser Kunst erfassen durfte.

Nur „Vater — Vater — Vater —“ hatte es jahrelang in ihrem Herzen geklungen, bis schließlich eine dunkle und angstvolle Zeit ihr auch die Mutter nahe brachte. Noch immer aber saß ganz vorn, ein kleines Stückchen vor Mutter, eben Vater, dieser lustige, verständnisvolle, herzenswarme und unter all diesen Eigenschaften auch sehr ernste Vater, dieser liebste Mensch der Welt. Christian ging es genauso, sie wußte es. Auch Erika.

„Vater, Erika ist da!“ schrie Reni ihm also entgegen, als er — sie hatte das Rennen gewonnen — sich ein wenig ächzend aus dem Auto quetschte. „Erika, und sie bleibt die ganzen Ferien, und Mutter hat mir ihre Reithose geschenkt, bloß so, ohne jeden Anlaß — sie paßt mir genau, denk, so groß bin ich schon!“ Reni mußte immer alles, was ihr Herz bewegte, vor Vater ausbreiten. „Ich hatte sie eben noch an, wenn ich gewußt hätte, daß du so schnell kommst, hätte ich sie anbehalten —“

„Donnerschlag, was du immer zu berichten hast“, lachte Vater, nahm ihren Hals schnell in die Armbeuge und drückte ihn ein wenig. „Und Erika ist da? Na so ein Glück. Komm her, zweite Tochter, und mach vor Vatern eine Reverenz!“

„Guten Tag, und viele viele Grüße von meinen Eltern“, sagte Erika und versank in einem tiefen Hofknicks, der bei ihrem kurzen Lufthöschen sehr komisch wirkte. Sie tat dabei, als hielte sie ein weites, faltenreiches Kleid an den Zipfeln rechts und links und setzte die Füße zierlich voreinander. Reni und Christian klatschten Beifall.

„Wunderbar, hast du im Winter Tanzstunde gehabt?“

„Nein, noch nicht. Ich hab dazu überhaupt keine Lust ohne euch! Tanzstunde ohne Freundin ist blöd“, sagte sie. Der Doktor lachte.

„Bleib doch bei uns, für immer! Wie wär’s? Da könnt ihr im Winter zusammen übers Parkett schweben, in diesem, oder im nächsten, wie ihr mögt.“

„Schön wär’s!“ seufzte Erika, „aber —“

„Aber, ach ja! Das Leben besteht aus Abern“, ahmte der Doktor ihre Sprechweise nach. „Kommt, meine Kinderlein, wollen sehen, was Mutter uns bescheret zum lecker bereiteten Mahl. Sag’s griechisch, Christian!“ fuhr er, übertrieben plötzlich, seinen Sohn an.

Christian grinste.

„Ich hab Ferien.“

„Na und?“

„In den Ferien kann ich nur deutsch.“

„Dann sag du es uns wenigstens französisch, Reni“, sagte der Doktor kläglich. „Laß mich nicht vergeblich leiern!“

„Venez souper à sans-souci!“ rief Reni, schnell gefaßt, und der Doktor vollendete aufatmend:

„J’ai grand appetit! Danke, Reni, du bist doch die Beste und läßt einen alten Mann nicht im Stich!“

Gemeinsam betraten sie das linke Haus des Heims, in dem die Privatzimmer der Familie lagen. Der nächste Schwarm Heimkinder war erst für übermorgen angesagt, man war ausnahmsweise unter sich.

Mutter hatte im Kaminzimmer gedeckt.

„Ihr Scheusäler, die arme Erika nicht abzuholen, noch dazu bei dieser Hitze! Wartet, das vergißt sie euch nicht!“ drohte Mutter den beiden andern. „Dafür darf sie auch heute neben Vater sitzen.“

„Heute? Von nun an bis in Ewigkeit“, bestimmte Vater und faltete genußreich seine Serviette auseinander. „Erika ist ab heute die Lieblingsfrau des Maharadschah, und ihr andern seid alle abgemeldet, Tante Mumme und Mutter und Reni erst recht!“

„Vielleicht will ich gar nicht?“ sagte Erika vergnügt, „vielleicht mag ich den Maharadschah gar nicht? Sondern einen andern Mann viel lieber?“

„Oho, etwa Christian?“ fragte Vater mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Aber wo!“ Erikas Gesicht sprühte vor lustiger Pfiffigkeit. ‚Das Mädel wird hübsch‘, dachte der Doktor lächelnd. „Sondern jemand anderes, den ihr alle anscheinend vergeßt. Meinen Patensohn, jawohl! Wo ist er? Wo ist Stefan, die Hauptperson?“

„Schläft“, sagte Mutter schnell, „aber nicht mehr lange. Dann kannst du ihn bewundern und mitnehmen auf die Wiese und alles, was du willst. Erst aber wollen wir in Ruhe essen und vorher beten. Wer ist dran?“

„Christian.“

„Schön.“

Das Amt des Tischgebets ging reihum, nicht nur unter den Kindern. Je eine Woche lang betete Mutter, dann Vater, dann Tante Mumme, Christian und Reni, jetzt natürlich auch Erika. Vater wußte viele schöne alte Gebete, und Mutter bemühte sich, auch welche zu finden. Es war aber durchaus erlaubt, wenn man nichts Neues wußte, die einfachsten Formeln zu sagen: „Segne, Vater, diese Speise“, oder „Komm, Herr Jesus.“ Trotzdem freute sich jeder, wenn einer wieder einmal ein besonders schönes Gebet brachte, das noch niemand kannte.

Christian hatte einen raschen Blick auf den verschwenderisch bunten Salat getan, der in einer breiten Schüssel mitten auf dem Tisch prangte, und fand, dazu passe der Vers:

„Erde, die es uns gebracht,

Sonne, die es reif gemacht —

Gott gab Sonne, Gott gab Erde,

Gottes nicht vergessen werde!“

Reni kannte den Vierzeiler noch nicht und fand ihn schön.

„Von dir?“ fragte sie halblaut. Sie wußte, daß Christian manchmal Verse schmiedete. Er schüttelte den Kopf. Vater brummte:

„Reni, ich seh in Abgründe deiner Bildung! Schon die alten Ägypter pflegten dies zu beten.“

„Die Babylonier“, verbesserte Christian milde, und wenn Mutter jetzt nicht energisch eingegriffen und bestimmt hätte, über Tischgebete dürften keine dummen Witze gemacht werden, so hätte man das Thema sicher totgehetzt, und weder der Salat noch die neuen, hellschaligen Pellkartoffeln wären voll gewürdigt worden.

„Es sind die ersten neuen Kartoffeln des Jahres, die wir bekommen“, sagte Tante Mumme und schälte mit flinken Fingern, „dabei darf man sich was wünschen.“

„Was denn?“ fragte Reni ein wenig hinterhältig. Die vergnügte Stimmung bei Tisch schien ihr geeignet für ihre Pläne.

„Hast du denn immer noch Wünsche?“ knurrte Vater und tat sehr beschäftigt mit seinem Teller. „Ich dachte dein Herz hätte nun alles, was es je begehrte: eine richtige Familie, zwei Brüder, einen großen und einen kleinen, Ponys — und noch dazu Erika hier. Mehr kann man sich doch wahrhaftig nicht ersehnen.“

„Du vergißt, daß ich heute sogar noch etwas Zusätzliches bekommen habe: die schönste Reithose der Welt“, lachte Reni.

„Na siehst du. Und?“

„Und? Reithosen wollen benutzt werden, reiten dürfen!“

„Das tust du doch jeden Tag, denke ich?“

Die andern aßen und stellten sich, als merkten sie gar nicht, was hier gespielt wurde. Sie wußten es aber alle. Die große Überraschung hing so offensichtlich in der Luft, daß man sie hätte greifen können. Erika brachte vor Spannung fast keinen Bissen mehr hinunter und trat Reni nachdrücklich auf den Fuß, daß die beinah: „Au, laß doch!“ gestöhnt hätte. Nur mit Mühe verbiß sie es.

„Na, dann kommt mal mit, ehe der kleine Schreihals aufwacht“, sagte Vater, als alle fertig waren.

Mutter ärgerte sich jedesmal, wenn Vater Brüderchen so nannte. Brüderchen war wirklich kein ewig schreiender Säugling, es lag oft stundenlang wach im Körbchen, spielte mit seinen Füßen und gurrte vor sich hin. Vater lachte und faßte Mutter unter.

„Du bist beinah wie Reni, die auch auf jeden Leim kriecht“, sagte er vergnügt. „Kommt, meine Trabanten, wir machen einen kleinen Nach-Tisch-Spaziergang.“

Reni wunderte sich. Um ihr zu sagen, daß sie von nun an im Reitverein mittun dürfe, brauchte man doch nicht spazieren zu gehen. Vater tat das sonst nie nach dem Essen, dazu war er viel zu müde, überbeansprucht wie Ärzte nun einmal sind. Er legte sich, wenn irgend möglich, nach Tisch kurz hin, und es war Renis Ehrenpflicht, ihn zur Couch zu begleiten und für alles zu sorgen, was er gern hatte: Vorhänge zuziehen, die Zeitung bereithalten, das Telefon umstöpseln. Heute aber wollte er spazieren gehen.