Bruder Oleg und das verlorene Schaf - Gudrun Krohne - E-Book

Bruder Oleg und das verlorene Schaf E-Book

Gudrun Krohne

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Beschreibung

Dämonen, Hexenwerk und die Wilde Jagd Jahreswechsel 1394 / 1395 Auf Geheiß ihres Abtes verbringen Bruder Oleg und drei seiner Brüder den Winter in der Schafhürde bei Schartau. Weit entfernt von ihrem Heimatkloster sind die Mönche auf sich allein gestellt. Im nahen Dorf leben die Bauern in beständiger Angst vor der Wilden Jagd und deren Geisterzug. In den Raunächten des Vorjahres richtete das wilde Dämonenheer großen Schaden an. Mit Bangen sehen die Bauersleute dem kommenden Jahreswechsel entgegen. Auch die Mönche bleiben nicht von Angriffen auf ihr Hab und Gut und Leib und Leben verschont. Gemeinsam versuchen sie zu ergründen, wem Bruder Olegs Nachforschungen ein Dorn im Auge sind.

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Personen

In der Schafhürde

Bruder Oleg – kann seinen Hang zu Nachforschungen auch in der vermeintlichen Verbannung nicht bezähmen, was ihn unausweichlich in erneute Schwierigkeiten bringt

Bruder Petrus – kommt mit seiner Verbannung weit besser zurecht, wenn er sich auch um die geringe Anzahl Mäuler grämt, die er als Koch nur noch zu stopfen hat

Bruder Melchior – lässt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen

Novize Gunther – der in der freien Natur aufblüht und zu einer selbstbewussten Haltung findet

Animo – die Ponystute und eine ganze Herde von kleinen, namenlosen Schafen

Die Burgleute

Ritter Notger von Alvensleben – finsterer Rittersmann auf der Nigreber Burg, der seinen Ingrimm nach und nach verliert und seinen Freunden ein treuer Verbündeter ist

Andreas von der Heide – Notgers Knappe, hat noch einiges an Weitsicht zu lernen

Bero, Hatto, Gallus – Dienstmannen bei Notger

Ida von Waldeser – Herrin auf der Waldeser Burg bei Schartau, trägt ihren Makel mit Würde

Ritter Randolph von den Linden – Burghauptmann auf der Waldeser Burg mit hochfliegenden Plänen

Jeppe, Cone, Hans – Spießgesellen von Randolph

Matilda – Köchin auf der Waldeser Burg

Christian von Waldeser – verbannt von seinem Vater, in einer Sturmnacht im Ostmeer über Bord gegangen

Otto von Waldeser – vom Schlag niedergestreckt, als er vom Tod seines Sohnes erfährt

Die Gaukler

Vincent Ohnegleichen – Prinzipal der Gaukler

Bertram – der Jongleur

Ratzfatz – der Messerwerfer

Musikus – der Fiedler

Die Dorfleute

Kuno Ährenreich – Dorfschulte, weiß, wen er um Hilfe bitten muss

Jan – Ährenreichs Ältester, hält seinen Bruder für einen Tagedieb

Kaspar – Ährenreichs Jüngster mit offenem Geist, nimmt sein Glück selbst in die Hand

Martha – Magd im Hause Ährenreich, wärmt dem Dorfschulten nicht nur die Suppe

oll Brigitta – altes Kräuterweib, von der Oleg noch einiges lernen kann,

Hedwig und Marie – zwei uralte Schwestern, die beim Weihnachtsessen der Mönche so einiges zu erzählen haben

Jakob und Martin – Gerbersöhne, schließen mit Gunther eine Freundschaft zum gegenseitigen Nutzen

Pater Sebastian – Dorfpfarrer in Schartau

………………………………………………………...

Ach ja ... und Bruder Hubertus – Schreiber des Priors in Magdeborch, versucht in dieser Funktion wieder einmal, Oleg das Leben schwer zu machen ... und wieder einmal vergeblich

Inhaltsverzeichnis

Personen

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Bisherige Veröffentlichungen

Glossar

Bruder Oleg

und

das verlorene Schaf

Sankt Wolfgangstag im Jahre des Herrn 1394

1. Kapitel

Der Barfüßermönch am Ende des kleinen Trupps verhielt den Schritt und schüttelte zwei, drei Steinchen aus seinen aufgeweichten Sandalen. Bruder Oleg wünschte sich nicht zum ersten Mal auf diesem schlammigen Weg, er könne eines der drei Paar fester Lederstiefel anziehen. Bruder Benno, der Vorsteher der Kleiderkammer des Klosters, hatte den reisenden Mönchen diese mit einigen Ermahnungen zum pfleglichen Umgang mit auf die Reise gegeben. Doch lagen die Stiefel gut verschnürt ganz unten auf dem Eselskarren und würden erst bei Frost und Schneefall zum Einsatz kommen.

Seine Reisekameraden waren mit dem Wagen schon ein Stück weitergezogen, bevor Bruder Oleg sich ihnen eiligen Schrittes wieder anschloss. Und da er mehr als eine Handbreit kleiner war als das normale Mittelmaß, brauchte er drei Schritte, wo die anderen nur zwei machten.

Wenn man einmal vom Novizen Gunther absah, dann war Bruder Oleg der Jüngste der drei Barfüßermönche, die gemächlich, aber beharrlich ihrem Ziel, der Schafhürde bei Schartau, zustrebten. Er hatte die Mitte Dreißig schon erreicht, aber so genau wusste er das nicht. Als wohl fünfjähriger Bub war er von seinen Eltern fortgejagt worden, da es ihnen vor seinen verschiedenfarbigen Augen grauste. Einige Jahre hatte er daraufhin sein Leben als Betteljunge in einer Bande jugendlicher Beutelschneider gefristet. Dann war er auf die Beginen getroffen und hatte einer von ihnen in großer Not beigestanden. Im Verlaufe dieser heldenhaften Tat wurde ihm von einem grausamen Menschen sein braunes Auge ausgestochen. Das gütige Schicksal führte den nun einäugigen Jungen ins Kloster der Barfüßer, wo er Pflege und später Aufnahme fand.

Oleg hob den Blick, den er trübsinnig auf seine Fußspitzen geheftet hatte, und musterte die Rücken seiner Reisegefährten. Er hatte sich ganz bewusst dafür entschieden, den Schluss ihres Reisezuges zu bilden. So konnte er einerseits ungestört seinen nicht eben erfreulichen Gedanken nachhängen und andererseits das Geschehen vor sich im Auge behalten. Nicht, dass es da viel aufzupassen gab, aber der Guardian der Barfüßer, Vater Odo, hatte ihm die Oberaufsicht übertragen. Das Vertrauen des Abtes in seine Fähigkeit, die anderen zu leiten und zu lenken, konnte Oleg nicht darüber hinwegtrösten, dass er sich auf dem Weg in die Verbannung befand.

Er presste die Lippen aufeinander und sehnte sich schon jetzt mit ganzem Herzen zurück ins Barfüßerkloster zu Magdeborch, zu seinen Aufgaben im Klostergarten und seinen Arbeiten in der Kräuterwerkstatt. Noch vor wenigen Wochen hatte er sich ausgemalt, wie er den Winter über gemeinsam mit seinem guten Freund Bruder Kamillus in der Werkstatt wirken würde. Wie sie mit einem dampfenden Becher Kräuteraufguss an der warmen Kohlenpfanne sitzen und Arzeneien und Tinkturen zusammen mischen würden. Vielen kranken Menschen standen sie alljährlich in den kalten Monaten mit ihren Kräutermischungen, Salben und Pastillen bei.

Und nun würde er stattdessen bis zum nächsten Frühjahr Schafe hüten, deren Mist zusammenkehren und wer weiß noch was alles für Arbeiten verrichten. Er hatte von der Schafhaltung nicht mehr Ahnung als vom Steuern einer Hansekogge.

Und das alles nur, weil er seine Spürnase in einen Mordfall gesteckt hatte. Das er damit einen Unschuldigen vor Marter und Tod bewahrt und den wahren Malefikanten überführt hatte, schien ohne Belang zu sein.

Oleg seufzte vernehmlich über so viel Ungerechtigkeit, schalt sich aber sogleich einen Narren. Der Gottvater würde schon wissen, warum er seinen demütigen Knecht Oleg in diese Einöde führte.

Das Seufzen war nicht unbemerkt geblieben. Zwar erbarmte sich nicht der Allmächtige mit dem hadernden Mönch und sandte ihm auch nicht einen neuen Auftrag, der ihn umgehend zurück ins Kloster führte, aber Gunther wandte sich um, sah das bekümmerte Gesicht seines Mentors und gesellte sich an dessen Seite.

„Habt Ihr Beschwerden, Bruder Oleg?“, fragte der etwa fünfzehnjährige, etwas pummelige Junge besorgt und ließ seinen Blick scheu über das Lederband gleiten, dass die leere Augenhöhle des Mönchs verbarg.

„Es ist alles gut“, beschwichtigte ihn Oleg und versuchte, eine gleichmütige Miene aufzusetzen. Er würde den Jungen nicht mit seinen trüben Gedanken belasten. Der hatte in den vergangenen Monaten schon genug auszustehen gehabt. Von etlichen anderen Novizen beständig wegen seiner Lippenspalte gehänselt, hatte er endlich einen geschützten Ort bei Oleg und Kamillus in den Gärten gefunden und sich auch recht anstellig bei allen Arbeiten gezeigt. Und dann fand er an eben diesem Zufluchtsort den grausam zugerichteten Körper eines Toten, was ihn in tiefe Verwirrung des Geistes stürzte und einen Abscheu gegen seine geliebten Gärten zur Folge hatte.

Gunther empfand es keinesfalls als Verbannung, dass der Abt ihn nun für ein halbes Jahr fortschickte. Ganz im Gegenteil. Er war froh Abstand gewinnen zu können und hoffte im Stillen, dass er im Frühjahr gesund und munter ins Kloster zurückkehren und wieder freudig seine Tätigkeiten im Klostergarten aufnehmen konnte.

Da der Novize an seiner Seite blieb, fügte Oleg noch hinzu: „Mir sind nur einige Steinchen zwischen die Zehen geraten, die sich einfach nicht herausschütteln lassen wollten.“

„Ja, das kann schon lästig sein“, stimmte Gunther zu und bemühte sich ebenfalls um einen besonnenen Gesichtsausdruck, ganz so, wie es einem zukünftigen Mönch anstand. Das hielt er knapp drei Atemzüge durch und fragte dann lebhaft: „Ist es nicht aufregend eine solche Reise zu unternehmen, zu einem Ort, den man noch nie zuvor gesehen hat?“ Und bevor Oleg darauf antworten konnte, fuhr der Junge schon fort: „Ja, ich weiß, Ihr habt schon weit längere und sicher auch gefahrvollere Reisen unternommen. Doch seit ich mit neun Jahren ins Kloster kam, habe ich die Stadtmauern von Magdeborch nie verlassen.“

„Nun, dann hast du ja jetzt ausreichend Gelegenheit, dir die Welt ein wenig zu besehen“, gab Oleg zurück und musste unwillkürlich daran denken, wie er selbst als Novize eine wochenlange und zeitweise recht bedrohliche Reise mit seinem väterlichen Freund Pater Kilian und seinen guten Freunden Hildegard und Witho unternommen hatte.

Noch ehe er diesem Gedanken allzu lange nachhängen konnte, stockte der Eselskarren und die zwei anderen Mönche, Bruder Petrus und Bruder Melchior, wandten sich zu Oleg und Gunther um.

„Es ist Zeit für eine Rast“, bestimmte Melchior. Er blickte himmelwärts, als wolle er am Stand der Sonne die Tageszeit ablesen. Doch dort zogen nur gemächlich dicke, dunkelgraue Wolken ihres Weges. Seit dem Aufbruch der Mönche drohten sie mit Regen. Zwar hatte es hin und wieder ein wenig getröpfelt, doch von anhaltenden Regenfluten waren sie bisher verschont geblieben. Die Wolken hatten sich wohl vorerst in der vergangenen Nacht gründlich leergeregnet.

Oleg kam kurz in den Sinn, dass doch eigentlich er über den Zeitpunkt einer Rast entscheiden müsste. Doch Bruder Melchior war ihr Führer nach Schartau und würde schon wissen, wie der Weg einzuteilen war. So nickte er nur wortlos.

„Wir haben schon gut die Hälfte unseres Weges zur Fähre bei Hohenwarthe geschafft“, verkündete Melchior, als Oleg und Gunther herangekommen waren. „Wir sollten am Nachmittag übersetzen und dann ist es noch ungefähr eine gute Stunde bis zu unserem Nachtquartier. Morgen können wir dann am zeitigen Vormittag in Schartau ankommen.“

Inzwischen hatte Bruder Petrus für jeden einen Kanten Brot und eine handtellergroße, dünne Scheibe Speck aus den Vorräten vom Karren hervorgezogen. Petrus war Koch im Kloster gewesen. Im Gegensatz zu Oleg hatte er sich wirklich einige teilweise schwerwiegende Verfehlungen bei den jüngsten Ereignissen vorzuwerfen. Und so empfand Petrus seine halbjährige Verbannung als Gnade, hatten ihn doch schwere Ängste geplagt, der Guardian könne ihn aus dem Orden ausstoßen oder auf eine jahrelange Pilgerreise schicken.

Vor Petrus hatte Oleg einen gehörigen Respekt. Der große, bärbeißige Koch hatte ihm schon als Knaben mit seinem großen Rührlöffel auf vorwitzige Langfinger geklopft oder ihm mit seinen massigen Pranken das Ohr langgezogen. Doch Oleg wusste auch, dass der Bruder unter einer rauen Schale sorgsam sein mitfühlendes, weiches Herz verbarg. Und ein begnadeter Koch war er allemal. Das würde den Winter in diesem Schafstall erträglicher machen. Dahingegen würden die im Kloster zurückgebliebenen Brüder ihren Koch nicht nur über die Fastenzeit, in der er auch noch aus den einfachsten Zutaten schmackhafte Mahlzeiten zuzubereiten wusste, vermissen. Und die Weihnachtszeit würden die Mönche ohne Petrus wohl als harte Prüfung erleben.

Ja, die Brüder im Kloster. Während Oleg an Brot und Speck nagte, dachte er an den Abschied zurück. Während der morgendlichen Konventsmesse hatten die Mönche für ihre Brüder, die sich gleich nach dem Frühmahl auf die Reise begeben würden, gebetet und gesungen.

Der Karren war schon am Vorabend beladen worden und so hätten sie nur noch den Esel vorspannen müssen, um zeitig aufzubrechen. Doch es gab noch eine kleine Verzögerung. Abt Odo hatte Oleg in sein Sprechzimmer rufen lassen. Schon hatte Oleg mit neuerlichen Ermahnungen gerechnet, dass er sich aus allem heraushalten solle, was die Schafhaltung nicht unmittelbar betraf. Er hatte sich innerlich gewappnet, alles demütig über sich ergehen zu lassen. Und dann wurde er doch überrascht, so dass er nur verwirrt mit seinem blauen Auge blinzeln konnte. Der Abt reichte ihm ein versiegeltes Pergament und trug ihm auf, dieses in der zweiten Woche nach seiner Ankunft in der Schafhürde zu öffnen. Erst solle er sich mit allen Arbeiten, welche die Schafhaltung mit sich brachte, vertraut machen.

Oleg kaute den letzten Happen Brot hinunter und spülte mit Dünnbier nach, das Petrus ihm mit dem gemeinsamen Becher reichte. Währenddessen tastete er nach dem Schreiben in seinem Beutel. Es war wasserdicht in Wachstuch eingeschlagen und auch wenn ihn die Neugier schon gewaltig zwackte, würde er doch bis zur zweiten Woche warten, aber auch keinen Tag länger. Bei der Übergabe am Morgen hatte er das Siegel des Guardians erkannt und Oleg fragte sich beständig, was der Vater Abt ihm wohl mitzuteilen hatte, das er ihm nicht selbst vor dem Aufbruch hatte sagen können.

Hatte Oleg schon nicht die Entscheidung zur Rast getroffen, so wollte er wenigstens den Zeitpunkt des Aufbruchs bestimmen.

„Wir gehen weiter“, verkündete er und gesellte sich dann zu Bruder Melchior, der den Esel am Halfter führte.

Bruder Melchior war schon im Frühsommer zu der Schafhürde geschickt worden. Die zwei Brüder, die jahrelang die Tiere versorgt hatten, hatten um Hilfe gebeten, da sie inzwischen so betagt waren, dass sie den vielfältigen Aufgaben nicht mehr gerecht werden konnten. So war Melchior mit einem weiteren Laienbruder und Bruder Hubertus, dem Schreiber des Priors, dorthin aufgebrochen. Als Oleg an Hubertus dachte, hätte er am liebsten mit den Zähnen geknirscht. Dessen Spott und Häme konnte er schon fast körperlich spüren. Derselbe einäugige Mönch würde Hubertus ablösen, dem er es zu verdankte hatte, die vergangenen Monate in Enthaltsamkeit und Abgeschiedenheit verbracht zu haben. Zuvor hatte er ein privilegiertes Leben als Schreiber des Priors geführt.

Wieder hatten sich die Wolken entschlossen ein wenig ihrer Last gen Erde abzuladen. Der feuchte, erhöhte Dammweg, der durch die sumpfigen Auen der Elbe führte, konnte die zusätzliche Nässe nicht mehr aufnehmen und die ausgefahrenen Karrenspuren füllten sich zusehends mit Regenwasser. Oleg zog sich die Kapuze über den Kopf. Ein Gespräch mit Bruder Melchior war nun nicht mehr möglich, denn jeder versuchte, den Pfützen halbwegs auszuweichen.

Bruder Melchior war ohnehin von der schweigsamen Art. Der große, kräftige Mönch, der wohl schon die Mitte der Vierzig erreicht hatte, schritt fest aus. Ihm schienen die Wetterunbilden nichts anhaben zu können. Die Gestalt zeugte von körperlicher Arbeit und seine Haut war von einer Bräune, die auch im Winter nicht verblasste. Geschmeidige, schwarze Haare lagen in feinen Locken um seine Tonsur und seine Augen waren fast von der gleichen Farbe. Irgendjemand hatte Oleg einmal erzählt, Melchiors Großvater sei ein Ritter aus Neapel gewesen, den es infolge eines Kriegszuges in deutsche Lande verschlagen hatte.

Der leise rinnende Regen ging in feines Nieseln über, der innerhalb der nächsten zwei Stunden beharrlich versuchte, die festen Kutten der Mönche zu durchdringen. Die nackten Füße in dem leichten Schuhwerk waren mit Schlamm überkrustet und auf den ersten Blick konnte man nicht mehr erkennen, wo der Fuß aufhörte und die Riemen der Sandale begannen.

So erreichten sie am frühen Nachmittag die Fähre bei Hohenwarthe. Dort wartete bereits ein hoch beladener Kaufmannswagen, der sie kurz nach ihrer Rast um die Mittagszeit überholt hatte.

Der Knecht hatte schon die zwei Pferde ausgeschirrt und war eben dabei, die Halteseile, mit denen die Ballen und Kisten auf dem Wagen festgezurrt waren, zu lösen. Der Handelsherr war sich nicht zu fein, selbst mit anzupacken, und so arbeiteten Herr und Knecht Hand in Hand.

Die Fähre legte eben vom gegenüberliegenden Ufer ab. Melchior erklärte seinen Brüdern, dass sie vor der Überfahrt ihren Karren abladen müssten und der Esel auszuspannen war.

Am diesseitigen Ufer angelangt, verließen etliche Reisende zu Fuß die Fähre. Ein Buckelkrämer stemmte sein schweres Tragegestell auf den Rücken. Ein altes Weiblein lockte mit leisen Worten ein nicht minder betagtes Eselchen, das mit hoch aufgetürmtem Bruchholz beladen war, über die Planke und zwei Dominikaner, deren ehemals schneeweiße Kutten ihren Tribut an Regen und Schlammpfützen hatten entrichten müssen, schritten hocherhobenen Hauptes an den vier Barfüßermönchen vorbei.

Und dann wurden noch ein zweiachsiger, breiter Wagen, zwei Maultiere und zahlreiche Kisten sowie fest verschnürte Ballen und vier versiegelte Fässer von Bord geschafft. Derweil die beiden Knechte mit dem Entladen und dem neuerlichen Beladen beschäftigt waren wechselten die Kaufherren einige Worte über das Woher und Wohin und die Beschaffenheit der Wege.

Der Fährer und sein Knecht sahen sich das eine Weile mit an und drängten dann die Kaufleute, ihren Dienstmännern gefälligst zur Hand zu gehen, sonst würden sie eigenhändig die verbliebene Ware von Bord schaffen. Dabei ließen sie keinen Zweifel daran, dass der eine oder andere Ballen seine Reise im Wasser der Elbe fortsetzen würde.

Die Händler zerkauten einige Flüche zwischen den Zähnen, griffen nun aber auch zu. So ging die Arbeit zügiger voran. Schließlich konnten Oleg und seine Gefährten ihre Bündel, den Karren und den Esel auf die schwankende Plattform schaffen. Gepäckstücke, Wagen und Zugtiere wurden nach den Anweisungen der Fährleute so verteilt, dass ein annäherndes Gleichgewicht erreicht wurde.

Gunther genoss die Überfahrt mit großen Augen und konnte sich gar nicht satt sehen an den Strudeln der Strömung. Jeden springenden Fisch begleitete er mit einem kleinen, freudigen Laut. Am meisten hatten es ihm aber die technischen Vorrichtungen der Fähre angetan. Respektvoll fragte er den Fährknecht nach der Wirkungsweise der Fähreinrichtung. Der Knecht zeigte sich aufgeschlossen gegenüber dem aufrichtigen Interesse des Jungen und erklärte ihm geduldig das Zusammenwirken von Seilen und Strömung.

Oleg nutzte die Ruhepause, Bruder Melchior nach ihrem Nachtquartier zu fragen.

Melchior dachte gründlich über die Antwort nach, wie es seine Art war, und antwortete dann: „Wir werden in der Nigreber Burg übernachten. Der Burgherr ist zwar ein grimmiger, wortkarger Mann, aber uns Mönchen gegenüber wohlgesonnen. Man wird uns dort gut verköstigen und wir werden ein trockenes und warmes Nachtlager finden.“

Bei der Erwähnung der Nigreber Burg musste Oleg sogleich an den jungen Ritter Notger von Alvensleben denken, der vor vielen Jahren mit seiner jungen Frau die Burg nach allerlei Querelen bezogen hatte. Zwar hatte Oleg mit dem Ritter, der inzwischen auch Anfang der Vierzig sein mochte, nicht allzu viel zu tun gehabt, doch war der dazumal ein guter Freund und Weggefährte von Olegs Magdeborcher Freunden Hildegard und Witho gewesen. Aus deren Erzählungen und den wenigen eigenen Begegnungen mit dem jungen von Alvensleben war Oleg der Ritter als tatkräftiger und unbeschwerter Mann im Gedächtnis geblieben. Und nun sollte dort ein grimmiger, wortkarger Herr gebieten? Das passte so gar nicht zu seinen Erinnerungen. Womöglich hatte ja in den Jahren, in denen er selbst fern von Magdeborch geweilt hatte, auf der Burg ein Herrschaftswechsel stattgefunden.

Oleg fragte nicht weiter nach. In ein, zwei Stunden würde er sich selbst ein Bild machen können.

Das Entladen nahm nur kurze Zeit in Anspruch. Unweit der Fähre stand eine solide Herberge, die von den Fährleuten betrieben wurde. Aus der Esse stieg Rauch auf. Der Duft eines fetten Kohleintopfes fand seinen Weg bis zu den Mönchen. Gunthers Magen knurrte vernehmlich. Mit einem bedauernden Blick zu dem Gasthaus stemmte auch er sich hinten gegen den Karren, um ihn von der Anlegestelle den tief ausgefahrenen, glitschigen Abhang zum Dammweg hinaufzuschieben.

Oleg und seine Reisekameraden folgten weiter dem Fahrweg, der nun auf der Ostseite der Elbe durch Auwälder und Wiesen führte. Dort, wo er sich gesenkt hatte, wurde das Fortkommen durch oberschenkeldicke Holzstämme erleichtert, die dicht an dicht zu einem holprigen Knüppeldamm zusammengefügt waren.

Es war inzwischen später Nachmittag und die Sonne neigte sich langsam dem Horizont zu. Zur Vesper würde es so gut wie dunkel sein und bis dahin sollten sie die kurze Wegstrecke zur Nigreber Burg geschafft haben.

Es gab keinen weiteren Aufenthalt und Oleg hätte sich und ihr Unternehmen eigentlich glücklich preisen sollen. Bisher waren sie ohne zeitraubende Verzögerungen vorangekommen.

Die Burg erreichten sie, als sich die Dunkelheit über das Land senkte. Auf dem Wehrgang rechts und links des Torhauses wurden gerade zwei Fackeln entzündet und die beiden Torhälften schwangen eben zu. Noch war Olegs Trupp gut einhundert Schritt entfernt. Ohne dass Oleg den Auftrag dazu erteilen musste, überholte Gunther in schnellem Lauf den Karren und rannte mit fliegenden Kuttensäumen schnurstracks auf das sich schließende Tor zu. Aus der Entfernung von gut zwei Dutzend Schritten wedelte er mit den Armen und rief lauthals, dass man doch noch warten solle, da sich Gäste der Burg näherten.

Ein grauhaariger Wachmann streckte den Kopf durch den verbliebenen Türspalt und musterte erstaunt den Kuttenträger, der völlig außer Atem die Hände auf die Oberschenkel stemmte und irgendetwas stammelte. Dann kam der Karren mit den drei Mönchen in Sicht und der Mann wurde wachsam. Zwar gab es seit Jahren keine kriegerischen Auseinandersetzungen in der Gegend, aber man konnte ja nie wissen, ob sich nicht irgendwelches Raubgesindel in die Burg einschleichen wollte.

Oleg trat vor. „Gott zum Gruße, guter Mann. Wir sind Minderbrüder von den Barfüßern zu Magdeborch und auf dem Weg zu unserer Außenstelle, der Schafhürde unweit des Dorfes Schartau. Ich bin Bruder Oleg und das sind Bruder Melchior, Bruder Petrus und der Novize Gunther. Wir bitten um Obdach für diese Nacht.“

Der Wachmann hörte sich alles geduldig an, ließ dabei aber seinen aufmerksamen Blick über die Umgebung schweifen, die nun in völliger Dunkelheit lag. Ein paar womöglich verkleidete Mönche würden ihn nicht einlullen, derweil sich weitere Galgenstricke in der Finsternis anschlichen.

Er drehte sich halb um und rief nach dem Wachführer, der nach wenigen Augenblicken heraustrat und den Trupp ebenso misstrauisch musterte, ihnen schließlich aber gestattete ihren Karren in den Zwinger zu lenken. Dort sollten sie warten, bis der Burgherr eine Entscheidung treffen würde.

Oleg bedankte sich aufrichtig, zweifelte er doch keinen Augenblick daran, dass sie willkommen sein würden. Bruder Melchior hatte schließlich gesagt, dass der Herr den Mönchen wohlgesonnen war.

Es dauerte dann auch nicht mehr lange, bis ein hoher, schlanker Mann über den Burghof herankam. Trotz des flackernden Lichts der in Hof und Zwinger brennenden Fackeln war ersichtlich, dass er sein linkes Bein nachzog und die Schulter auf derselben Seite etwas herabhing. Dem Wappenrock aus gutem Tuch nach zu schließen war es der Burgherr.

Die Musterung der Mönche fiel recht kurz aus. „Vom Barfüßerkloster in Magdeborch also und auf dem Weg nach Schartau. Seid willkommen, gute Brüder.“ Er drehte sich zu dem Wachführer um, der ihm gefolgt war, und bellte ihn an: „Warum steht der Karren der ehrwürdigen Brüder noch hier draußen im Regen? Ein Stallbursche soll sich umgehend darum kümmern.“ Und wieder zu den Mönchen: „Ihr seid reichlich nass geworden. Folgt mir. In der Halle könnt ihr euch am Feuer aufwärmen und auch eine Mahlzeit wird sich finden.“

Damit wandte er sich in der Gewissheit um, dass die Mönche sich ihm anschließen würden, um sobald als möglich ihre klammen Glieder dem wärmenden Feuer entgegenzustrecken.

Oleg hatte seinerseits den Burgherrn gründlich gemustert. Von der Gestalt und auch von der Stimme her könnte es Ritter Notger sein, dachte er, als er sich eiligen Schrittes anschloss. Das Gesicht war jedoch hinter einem dichten Bart verborgen und auch das unzureichende Licht im Hof machte es schwer, den jungen Mann von einst zu erkennen.

Im Halbdunkel der Halle saßen einige wachfreie Dienstleute bei Würfelspiel und Dünnbier. Mit gedämpften Stimmen begleiteten sie das Fallen der Würfel und hüteten sich davor, in lautstarkes Frohlocken oder unflätiges Fluchen über die erreichte Augenzahl auszubrechen.

Der Burgherr bestimmte, dass zwei Schragen mit einem darüberliegenden Brett für die Gäste nahe ans Feuer zu rücken waren, und schickte einen Jungen, in der Küche heißen Würzwein, kalten Braten und Brot zu bestellen. Ohne zu murren kamen seine Leute den Anweisungen eilig nach.

Nun, sollte der Herr auch grimmig und wortkarg sein, wie Bruder Melchior gesagt hatte, so herrscht doch Zucht und Ordnung, dachte Oleg und besah sich den schlanken Mann im Lichte des hell lodernden Feuers genauer. Der dichte, weizenblonde Bart und das Haupthaar waren von zahlreichen grauen Strähnen durchzogen. Auffällig waren die braunen Augen unter dem hellen Haarschopf, die ihrerseits die Gäste ein wenig müde, aber nicht gleichgültig betrachteten.

Eine junge Magd huschte herein, gönnte ihrem Herrn einen scheuen Blick und tischte dann Würzwein, Braten und Brot auf. Eine Schüssel mit dem aufgewärmten Rest eines deftigen Eintopfs aus Wurzelgemüse, in dem daumengroße, fette Fleischbrocken schwammen, stellte sie ebenfalls dazu. Die Mönche ließen es sich schmecken. Ihre feuchten Kutten begannen in der Nähe des Feuers zu dampfen und langsam schwand die klamme Kälte aus ihren Gliedern und machte einer wohligen Müdigkeit Platz.

Der Burgherr hatte sich mit seinem Becher zu ihnen gesetzt und beobachtete seine Gäste nun mit zusammengezogenen Brauen, so dass man fast meinen konnte, er berechnete schon, was ihm die fremden Leute wegfressen würden.

Oleg schickte einen schnellen Blick zur linken Hand des Ritters, die auf dem Tisch lag. Der kleine Finger fehlte. Jetzt war sich Oleg so gut wie sicher. Den linken, kleinen Finger hatte Notger von Alvensleben eingebüßt, als er vor vielen Jahren in die Suche nach dem Schatz der alten Tempelherren verwickelt war. So viel hatte Oleg damals aus Witho herausgequetscht.

„Ihr könnt in der Halle in den Binsen nahe dem Feuer schlafen“, sagte der Ritter und sein Antlitz behielt seinen düsteren Ausdruck bei. „Dann werdet ihr morgen euren Weg trocken fortsetzen können.“ Damit erhob er sich, um sich in sein Gemach zurückzuziehen.

Oleg, der daran zweifelte, dass sie den Burgherrn morgen früh noch einmal zu Gesicht bekommen würden, schließlich hatte er der Gastfreundschaft heute Abend schon Genüge getan, rief ihm leise fragend hinterher: „Ritter Notger?“

Der Schritt des anderen stockte, dann wandte er sich ruckartig um und war mit drei langen Schritten wieder am Tisch. Er beugte sich herunter und starrte dem einäugigen Mönch ins Gesicht.

„Kennen wir uns?“, knurrte er, verärgert darüber, aufgehalten worden zu sein.

Die Würfel der Dienstleute rollten unbeachtet über den Tisch. Aufmerksam verfolgten sie das Geschehen bei den Mönchen.

Oleg erhob sich langsam, reichte dem Ritter aber trotzdem nur knapp bis zur Schulter. Er schluckte einmal angestrengt.

„So seid Ihr es also wirklich.“ Ein vorsichtiges Lächeln zog Olegs Mundwinkel nach oben.

„Und Ihr seid wer?“

Noch einmal musste Oleg schlucken. Womöglich war es ein Fehler, den Ritter an alte Zeiten zu erinnern.

„Ich bin Bruder Oleg. Vielleicht entsinnt Ihr Euch des Betteljungen, der sein eines Auge verlor, als er der Jungfer Hildegard in der Not beistand.“

Der Ritter machte einen Schritt zurück und stieß einen Laut aus, der zwischen Schmerz und Überraschung lag. Dann trat er wieder vor.

„Oleg Buntauge“, stieß er betroffen hervor und packte den kleinen Mönch an der Schulter. „Träume ich oder stehst du wahrhaftig hier vor mir?“ Dann schüttelte er ungläubig den Kopf. „Gottes Wege sind wahrhaftig wundersam.“

„So sagt man.“ Oleg gestattete sich ein breites Grinsen.

Ritter Notger ließ den Blick zwischen Oleg und seinen Begleitern zwei-, dreimal hin und her gehen.

„Ich habe mit eurem Bruder einiges zu bereden. Ihr werdet eine Weile auf ihn verzichten müssen“, bestimmte er, ohne auch nur in Betracht zu ziehen, jemanden um seine Einwilligung zu bitten.

Hatte Oleg gedacht, sie würden in eine Kammer gehen, in der hoffentlich auch ein warmes Feuer brannte, so sah er sich getäuscht. Der Ritter führte ihn nur zehn, zwölf Schritte zur Seite, wo ebenfalls Tisch und Bänke standen.

Oleg rieb fröstelnd die noch immer ein wenig klammen Finger aneinander. Der Ritter sah es aus dem Augenwinkel und blaffte sogleich weitere Anweisungen: „Bero, eine große Kohlenpfanne für den Bruder. Hatto und Gallus, Würzwein und einen warmen Mantel."

Die Genannten spritzten augenblicklich los, um das Gewünschte herbeizuschaffen. Oleg fragte sich, ob ihre Eile der Angst vor Strafe geschuldet war, oder ob sie ihren Herrn verehrten und aus diesem Grund seinen Wünschen so umgehend Folge leisteten. Möglicherweise eine Mischung aus beidem.

Nach wenigen Augenblicken war Oleg mit Kohlenpfanne, warmem Wein und Mantel versorgt und harrte nun dessen, was der Ritter mit ihm zu besprechen gedachte. Der starrte jedoch auf seine gefalteten Hände und räusperte sich mehrmals. Ihm fehlten wohl noch die rechten Worte.

„Ich war lange nicht in Magdeborch“, begann er schließlich. „Wie ist es dir – verzeiht, guter Bruder – wie ist es Euch in der Zwischenzeit ergangen?“

„Auch ich weilte viele Jahre an einem anderen Ort. Vor fast fünfzehn Jahren schickte mich mein damaliger Guardian, Vater Raimundus, ins Kloster nach Nyen Brandenborch. Ich kehrte erst im Frühjahr nach Magdeborch zurück. Nun hat mich Abt Odo mit meinen Begleitern zu unserer Außenstelle, der Schafhürde bei Schartau, geschickt, dass wir dort über den Winter die Tiere versorgen.“

„Das wird sicher eine aufregende Zeit.“ Notger lachte trocken, ohne jede Spur von Fröhlichkeit und Oleg beschlich die Ahnung, dass der Ritter es genauso meinte, wie er es gesagt hatte. Zur Ahnung gesellte sich eine gewisse Unruhe, die ihn immer dann befiel, wenn abzusehen war, dass sich die Dinge anders entwickelten als erwartet.

Ohne weiter auf die Andeutung einzugehen, wechselte der Ritter das Thema: „Habt Ihr einmal Witho und Hildegard besucht?“ Und als Oleg lächelnd nickte: „Geht es ihnen gut?“

„Sie bewohnen noch immer das Haus zwischen der Kapelle im Grauen Hof und dem Beginenkonvent. Der Gewürzhandel gedeiht. Ihre vier Kinder sind von geradem Wuchs und beweglichem Witz. Hildegard ist etwas kratzbürstiger geworden. Witho lässt es gutmütig über sich ergehen und tut dann das, was er für richtig erachtet. Kurz, sie sind glücklich mit sich und ihrem Leben.“

„Glücklich – ja das waren wir, als wir dazumal auf der Quitzowburg gemeinsam vor die Kirchenpforten traten. Hildegard und Witho und Jonatha und ich.“ Die Finger verflochten sich enger ineinander und die Lippen wurden zu einem schmalen Strich, als wollte der Burgherr mit aller Macht ein gequältes Seufzen unterdrücken.

Oleg hatte schon zuvor nach der Burgherrin Jonatha von Quitzow fragen wollen. Doch das erübrigte sich nun. Offensichtlich gab es keine Burgherrin mehr. Und Kinder? Gab es Kinder?

Oleg nahm einen Schluck aus seinem Becher, an dem er sich die Hände wärmte, und überlegte in dieser kleinen Pause, wie er mehr aus dem von Leid geplagten Mann hervorbringen könnte. Vielleicht erleichterte es ihn, mit einem Fremden über seine Pein zu sprechen. „Wenn Ihr mit mir über das, was geschehen ist, reden möchtet, werde ich einfach nur zuhören. Ich bin ein Diener Gottes und werde mir weder ein Urteil erlauben, noch Euch ungefragt einen Rat erteilen.“

Es zuckte um die Mundwinkel des Ritters und ein winziger Funke seiner alten Lebenslust stahl sich in seine Augenwinkel. „Also, wenn Ihr nichts gelernt haben solltet bei den Mönchen, Bruder Oleg, die geschliffene Rede beherrscht Ihr ganz ordentlich.“

Als er nur einen sanften Blick darauf erhielt, seufzte Notger so verhalten, dass es keinesfalls bis zu seinen Dienstleuten dringen konnte, die sich jetzt wieder mit ihren Würfeln beschäftigten. Dann senkte er den Blick auf seine verknoteten Finger, löste diese voneinander und legte die Hände flach auf die Tischplatte.

Er hob den Blick. „Ja, wo soll ich anfangen. Die ersten Jahre nach unserer Eheschließung verliefen ausgenommen glücklich. Pünktlich nach neun Monaten brachte Jonatha unsere Tochter Helene zur Welt. Ich kam in der Zwischenzeit meinen Dienstpflichten bei meinem Lehnsherrn nach oder beschäftigte mich mit der Verwaltung von Burg und Dorf. Es waren ausgesprochen friedliche Zeiten. Leider dauern diese Zeiten immer weit weniger an als die unfriedlichen. Unser Sohn Alvo war erst wenige Wochen alt, als mich der Erzbischof mit meinen Mannen zu den Waffen rief. Es ging wieder einmal gegen die Brandenborcher. Frohen Mutes und siegessicher zogen wir ins Feld. Wir kämpften tapfer. Doch dann wurde mein treues Pferd von einem Pfeil durchbohrt und begrub mich unter sich. Knie und Schulter kamen dabei zu Schaden. Als kampfunfähig wurde ich nach Hause geschickt.“

Nun kam doch ein so gequälter Seufzer von ganz tief unten aus der Brust über die Lippen des Ritters, dass seine Leute kurz aufschauten, aber schnell wieder den Blick senkten, als hätten sie nichts bemerkt.

„Ich will nicht lange drum herumreden. Die Burg war durch Verrat kurzzeitig in die Hände marodierender Söldnertrupps gefallen. Zwar bei meinem Eintreffen schon zurückerobert, doch was diese Barbaren an Schaden angerichtet hatten, war nicht wiedergutzumachen. Meine Frau und meine zehnjährige Tochter von den Bestien geschändet, mein Sohn von der Brust seiner Mutter gerissen und aus dem Turmfenster geworfen. Das Elend war schier nicht auszuhalten. Doch es wurde schlimmer. Meine Tochter überlebte nur wenige Wochen und Jonatha ging wie ein Gespenst mit leerem Blick durch die Burg. Sie aß und trank nur mit viel Zureden, sprach mit ihren toten Kindern und wurde immer durchscheinender. Und dann fiel sie aus eben jenem Turmfenster, aus dem der Unhold unseren Sohn geschleudert hatte.“

„Sie fiel?“ Obwohl es Oleg nicht gewollt hatte, klang seine Stimme skeptisch.

„Sie fiel! So hat es der Burgkaplan in seinem Taufregister aufgeschrieben.“ Ungehalten richtete sich der Ritter aus seiner gebeugten Haltung auf und blitzte den kleinen Mönch an. Der nickte augenblicklich und nachdrücklich. Natürlich. Sollte auch nur der Hauch eines Zweifels daran bestehen, dass es kein Unfall gewesen war, sondern womöglich eine Selbsttötung, wäre der Burgherrin ein christliches Begräbnis versagt worden. In ungeweihter Erde hätte sie verscharrt werden müssen.

„Ich weiß gar nicht, warum ich Euch das alles erzähle“, knirschte Notger zwischen den Zähnen hervor. „Aus Eurem geruhsamen Klosterleben heraus werdet Ihr kaum Verständnis für die Anfechtungen und Bedrängnisse des weltlichen Lebens haben.“

Da hätte Oleg dem Ritter zwar einiges von seinen Anfechtungen und Bedrängnissen der letzten Monate erzählen können, aber das gehörte jetzt nicht hierher. Noch bevor er zu einer beschwichtigenden Antwort ansetzen konnte, wechselte der Burgherr erneut das Thema. „Sind Withos und Hildegards Kinder wohlauf? Wie viele, sagtet Ihr, haben sie jetzt?“

Nun, da konnte Oleg zumindest geradeheraus erzählen, obwohl es auch hier eine Angelegenheit gab, die ihn ganz persönlich betraf. Aber darüber würde er schweigen und sich nur hin und wieder ganz im Stillen einige Gedanken gönnen.

„Wie schon gesagt, sie haben vier Kinder. Den Ältesten haben sie an Kindesstatt angenommen.“ Oleg musste einmal kurz schlucken, weil seine Stimme beim letzten Satz ein wenig dünn geworden war.

Notger maß Oleg mit einem scharfen Blick und der konnte nicht verhindern, dass sich seine Wangen rosig überhauchten. Er hoffte, dass das Halbdunkel der Halle seine Verlegenheit ausreichend verbarg.

„Dann haben sie noch drei eigene Kinder“, fuhr Oleg schnell fort. „Von Birthe und Hartman wisst Ihr sicher. Der Jüngste, Lutz, ist acht Jahre alt und ein rechter Wildfang. Ich habe ihn einige Monate unterrichtet. Ein kleiner Raufbold, der mir kaum dazu geeignet scheint, Muskatnüsse und Zimtrollen zu zählen oder Rechnungsbücher mit akkuraten Zahlen zu füllen. Kein bösartiger Junge, nur ein wenig ungebärdig. Ein Ritter will er werden.“

Der Gastgeber machte eine unbestimmte Handbewegung. „Wer weiß. Die Zeiten ändern sich. Auch von Witho hätte zum Beginn unserer Bekanntschaft niemand geglaubt, dass er einmal ein angesehener Würzwarenhändler werden wird.“

„Wohl war.“

Notger angelte mit einem Lappen den Krug Würzwein vom Rand der Kohlenpfanne und schenkte seinem Gast heißen Wein nach. „Und von Euch hätte man schon gar nicht gedacht, dass Ihr einmal ein treuer Diener Gottes werdet. Ich weiß, dass ihr Barfüßer vom Franziskanischen Orden alle so etwas wie ein Handwerk erlernen müsst. Was ist Euer Arbeitsfeld unter Euren Brüdern? Oder seht Ihr in der Schafhaltung Eure Berufung?“

Oleg gestattete sich ein kurzes freudloses Auflachen, unterdrückte jedoch umgehend diese Gemütsregung. Er würde diesem, ihm so gut wie fremden Ritter keinesfalls von seiner Verbannung erzählen.

„Nun, die Schafhaltung entzog sich bisher meiner Aufmerksamkeit, doch dort, wohin Gott mich schickt, werde ich seinen Auftrag und den meines Guardians gewissenhaft und nach besten Kräften erfüllen. Im Übrigen bin ich erfahren im Kurieren diverser Krankheiten, kenne mich in der Wirkungsweise einer Vielzahl von Kräutern aus und weiß diese in allerhand Formen zuzubereiten.“

„Ein Kräutermönch also. Das ist gut. Es kann nicht schaden, einen kräuterkundigen Mann in der Nähe zu haben. Von Eurer Schafhürde bis hierher sind es nur knapp zwei Wegstunden.“

Oleg nickte eifrig. Er würde jede Gelegenheit ergreifen, seiner eigentlichen Berufung nachzugehen. Zwei Burgen mit zwei Dörfern beherbergten eine größere Anzahl Menschen. Sicherlich gab es da immer wieder den einen oder anderen Kranken, dem er mit seinen Kenntnissen beistehen könnte.

Also richtete er seinen schmächtigen Körper auf und sagte mit vollem Ernst: „Solltet Ihr oder einer Eurer Männer oder einer Eurer Dörfler meine Hilfe benötigen, zögert nicht, einen Boten zu schicken. Ich werde mich umgehend auf den Weg machen.“

Ritter Notger streckte seinem Gast die Hand hin. „Und solltet Ihr dort in Eurer Schafhürde in unerwartete Händel verstrickt werden, zögert nicht, mich um Hilfe zu bitten.“

Die Worte erschienen Oleg zwar etwas orakelhaft – in was für Händel sollten sie in dieser Einöde schon geraten – doch freudig schlug er in die ihm dargereichte Hand ein.

2. Kapitel

Die ersten Sonnenstrahlen fanden die Mönche schon auf dem letzten Abschnitt ihrer Reise zu ihrem neuen Wirkungskreis. Über Nacht hatte es aufgeklart. Zunächst war es noch ein wenig dunstig gewesen. Doch der leichte Nebel hatte schon bald dem Licht einer milchigen Sonne weichen müssen.

Wie Oleg es erwartet hatte, bekamen sie ihren Gastgeber am Morgen nicht mehr zu Gesicht. Aber er hatte in der Küche den Auftrag hinterlassen, die Mönche angemessen zu verköstigen. Und so wurde ihnen nicht nur ein gehaltvolles Frühstück vorgesetzt, sondern der Koch lud höchstpersönlich einen Beutel auf den Karren der Mönche, in dem sich eine drei Finger dicke Speckseite und zwei schon gerupfte und ausgenommene Hühner befanden.

Sie hatten kaum zweihundert Schritt zurückgelegt, als sich die Sonne auch durch die letzten Reste des Morgennebels kämpfte und den Mönchen Nacken und Gesicht wärmte. Ein wenig ungewöhnlich für den Beginn des Schlachtemonats, aber Oleg nahm es als gutes Omen, dass das Leben bei den Schafen nicht ganz so eintönig und grau in grau werden würde wie befürchtet. Und so langsam erfasste auch ihn eine gewisse Aufregung und Spannung, wie ihr neues Zuhause wohl beschaffen sein würde.

Obwohl, da gab er sich keiner Selbsttäuschung hin. Was konnte sie an ihrem Ziel schon erwarten? Ein zugiger Stall mit zwei Dutzend Schafen. Für ihre Bequemlichkeit gäbe es wohl zwei oder drei Verschläge, wo sie sich des Nachts ins Stroh wühlen konnten. Vielleicht noch eine Feuerstelle unter freiem Himmel und ein Bachlauf in der Nähe, um das Vieh zu tränken und sich selbst notdürftig zu reinigen.

Oleg hätte Bruder Melchior nur zu fragen brauchen, doch wollte er nicht allzu neugierig erscheinen und sich einen letzten Rest von Hoffnung bewahren.

Nach einer guten Stunde erreichten sie das Dorf. Die dazugehörige Burg war wenig imposant und thronte auf einer flachen Erhebung. Aber sie erfüllte wohl ihren Zweck, Dorf und Umland zu schützen. Oleg war sich sicher, dass die Burg von Ritter Notger um einiges wehrhafter war. Indes kam es im Verteidigungsfall nicht nur auf die Größe der Wehranlage an, sondern auch auf das Geschick und den Mut der Verteidiger.

Schon als sich der kleine Reisetrupp dem Dorf näherte, wurden sie von ein paar Kindern erspäht. Flink trugen sie die Kunde von der Ankunft der Mönche zu den Bewohnern. Die ließen stehen und liegen, womit sie gerade beschäftigt waren, und fanden sich in kleinen Gruppen entlang der Dorfstraße ein. Freudig sahen sie den Neuankömmlingen entgegen.

Der aufgeräumte erste Eindruck, den die Ansiedlung vermittelte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Dörfler eher ein armseliges Leben führten. Die Meisten der Kinder, die um den Eselskarren herumsprangen, waren hohläugig und ihre Kleidung bestand aus Lumpen, die die mageren Körper umschlotterte.

Dessen ungeachtet fanden sich auf dem Karren unvermutet verschiedene Gaben ein: eine Schale mit Eiern, ein frisches Brot, ein Tiegel mit Schmalz und die eine oder andere Rübe. Begleitet wurden sie von einem ehrerbietigen Neigen des Kopfes und einigen gemurmelten Worten, die sich anhörten wie „Endlich seid ihr da, ihr guten Brüder“ oder „Jetzt wird alles gut“ oder „Unsere Drangsal hat ein Ende“. Dabei musterten sie verhalten neugierig Bruder Petrus, als erhofften sie sich gerade von ihm, besagter Drangsal alsbald ein Ende zu setzen.

Oleg wurde es zunehmend unwohl. In was waren sie da hineingeraten? Fragend sah er zu Bruder Melchior, doch der lächelte nur still. Die Freundlichkeit der Dorfleute schien ihn nicht zu überraschen.

Kurz vor dem Anger in der Mitte des Dorfes kamen sie an einer Brandruine vorbei. Fast hatte Oleg den Eindruck, als würden alle Leute einen Bogen um den schwarzen Schandfleck machen und nur den einen oder anderen scheuen Blick dorthin werfen. Dieses Gebäude war nicht erst vor Kurzem ein Raub der Flammen geworden. Zum einen fehlte der typische Brandgeruch, der sich besonders in feuchter Witterung wochen-, manchmal gar monatelang hielt. Und zum anderen waren im Sommer zwischen den geschwärzten Balken des eingestürzten Daches hindurch etliche Kräuter und Gräser gewachsen.

Bevor Oleg diesbezüglich eine Frage stellen konnte, musste er seine Aufmerksamkeit auf die Überwindung eines Hindernisses lenken. Über einen vielleicht drei, vier Schritt breiten Bach, der den Anger teilte, führte ein breiter Holzsteg. Rumpelnd überquerte der Eselskarren mit seinem Gefolge den schmalen Wasserlauf.

Vor dem kleinen, mit Holzschindeln gedeckten Gotteshaus an der Ostseite des Dorfangers warteten zwei Männer auf die Klosterbrüder, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Der eine, klein, verhutzelt und in einer schon recht abgetragenen Kutte der Benediktiner, stellte sich mit dünner Stimme als Pater Sebastian vor, der für das Seelenheil der Dorfleute zuständig war. Seine knotigen Hände umfassten einen festen Stecken, der ihm den notwendigen Halt gab.

Der andere war ein Baum von einem Mann, zwar nur mittelgroß, doch breit und kräftig genug, dass er wohl selbst einen wütenden Stier zu Boden zu ringen vermochte. Dabei ging er sicher schon auf die Fünfzig zu. Seine mausgrauen Haare lichteten sich über der Stirn. Die graublauen Augen strahlten ein gesundes Selbstbewusstsein aus. Erst als er sich Oleg und seinen Gefährten vollends zuwandte, sahen sie, dass seine rechte Wange, die Schläfe und ein Teil des Ohres eine einzige, dick vernarbte Brandwunde waren.

Oleg konnte es sich nicht versagen, länger auf die wulstige Narbe zu starren. Wenn der Mann diese Verletzung überlebt hatte, dann musste ein wahrer Meister der Krankenfürsorge Hand angelegt haben. Diesen kundigen Mann wollte Oleg unbedingt kennenlernen. Aber nicht jetzt.

Kuno Ährenreich stellte sich als Dorfschulte vor, der die guten Brüder herzlich willkommen heißen wolle. Er bot an, ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Und sollten sie bei irgendwelchen Instandsetzungsarbeiten oder anderen Tätigkeiten Hilfe und Unterstützung benötigen, sollten sie sich getrost an ihn wenden. Mit den meisten Brüdern dort von der Schafhürde hätten sie in gutem Einvernehmen und gegenseitigem Beistand gelebt.

Und dann fügte er noch hinzu: „Euer Vater Abt hat euch sicher weise ausgewählt.“ Dabei ruhte sein wohlwollender Blick auf Bruder Petrus und er nickte zwei-, dreimal zufrieden.

Oleg konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Dörfler irgendetwas von ihnen erwarteten. Und in der Hauptsache erwarteten sie etwas von Bruder Petrus, der einfach nur ungewohnt freundlich lächelnd in die Runde blickte und augenscheinlich nicht mitbekam, dass etwas im Gange war. Kuno Ährenreich und Pater Sebastian hatten sich bei der Begrüßung hauptsächlich an Petrus gewandt, in dem sie anscheinend den Anführer des kleinen Trupps vermuteten. Das war Oleg ganz recht. So konnte er verhältnismäßig unbeachtet die Dorfbewohner betrachten. Aber so recht schlau wurde er nicht aus ihnen. Nun, es war ein erstes Kennenlernen und er würde ja noch Wochen und Monate haben, dieses sicher nur kleine Rätsel zu lösen.

Bei dem Gedanken an die Wochen und Monate, die sie hier verbringen würden, verdüsterte sich Olegs Gemüt augenblicklich. Nichtsdestotrotz fragte er freundlich: „Bruder Petrus, wollen wir dann weiterziehen?“ So hatte er zwar einerseits das Signal zum Aufbruch gegeben, andererseits aber noch nicht der Annahme des Dorfvolks, Petrus sei der Anführer, widersprochen.

Petrus nickte auch sogleich. Er war mit allem einverstanden, solange nicht jemand in seine Töpfe und Pfannen hineinpfuschen wollte oder sich an seinen Vorräten zu schaffen machte.

Kurz darauf verließen sie die Ansiedlung. Nur einige Kinder und Hunde begleiteten sie noch ein Stück des Wegs. Als die Schafhürde in Sicht kam, trollte sich die kleine Begleitmannschaft zurück ins Dorf.

Die Schafhürde war größer, als Oleg es erwartet hatte. Ein niedriges, mit Stroh gedecktes, fensterloses Haus zog sich über vielleicht zwanzig Schritt hin und war wohl an die zehn Schritt breit. An der Nordseite befand sich ein eingezäunter Pferch, in dem sich die Schafherde tummelte.

Als sie sich näherten, öffnete sich die Tür und ein mittelgroßer, hagerer Mönch mit einem Wasserschaff trat heraus. Er blieb einen Augenblick stehen, als er die Gruppe mit dem Karren sah, setzte dann das Schaff ab und lief eiligen Schrittes auf sie zu. Bruder Hubertus.

Was für eine unziemliche Eile, musste Oleg unwillkürlich denken. Mehr als einmal hatte Hubertus ihn miesepetrig getadelt, wenn er Oleg dabei erwischte, wie der über den Klosterhof hastete.

„Ihr habt euch reichlich Zeit gelassen mit der Ablö...“, setzte Hubertus vorwurfsvoll an, verstummte dann aber, als er den einäugigen Mönch erkannte. „Bruder Oleg, na das ist ja eine Überraschung“, setzte er seine Rede mit einem öligen Lächeln fort.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Bruder Hubertus.“ Das war eine dreiste Lüge, doch um nichts in der Welt würde sich Oleg anmerken lassen, wie ihn die Häme des anderen fuchste.

Hubertus ließ den Blick weiter über das Grüppchen schweifen. „Und Bruder Petrus.“ Nun schien er doch verwirrt. Konnte er sich zwar noch gut vorstellen, dass der einäugige, unverschämt neugierige und viel zu wenig demütige Bruder Oleg in diese abgelegene Ecke geschickt wurde, so fehlte ihm aber jedwede Fantasie, zu erahnen, was sich der Klosterkoch hatte zu Schulden kommen lassen. Egal, wichtig war nur, dass er selbst endlich diesen abgeschiedenen Ort verlassen konnte. Den Novizen streifte Hubertus nur mit einem gleichgültigen Blick und Bruder Melchior nickte er kurz zu.

„Wie auch immer“, er rieb sich die Hände in der Vorfreude, bald wieder im Kloster zu sein und dort seine vorherige Position einnehmen zu können. „Ladet euren Wagen ab und schafft eure Bündel ins Haus. Es ist noch Vormittag. Wenn ich mit Bruder Markus und Bruder Eudo jetzt aufbreche, können wir heute noch das Fährhaus erreichen und morgen in Magdeborch sein.“

„Wozu diese unziemliche Eile?“, konnte es sich Oleg nicht verkneifen. „Willst du uns nicht mit den Gegebenheiten vertraut machen, uns in die Arbeiten einführen?“

„Vielleicht soll ich euch noch jedes Schaf einzeln vorstellen?“, spottete Hubertus. „Bruder Melchior war den ganzen Sommer über bei dem Viehzeug und kennt sich bestens aus. Er bleibt ja auch weiterhin hier – auf eigenen Wunsch.“ Hubertus schüttelte den Kopf. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es jemand auch nur in Erwägung zog, an diesem Ort freiwillig die nächsten Jahre zu verbringen. Dann wandte er sich um und eilte zurück zum Haus.

„Vielleicht sollte sich der Esel erst etwas ausruhen“, wagte Bruder Melchior ihm hinterher zu rufen.

„Nichts da, der kann sich im Fährhaus die ganze Nacht ausruhen.“

Kaum unter dem Türsturz angekommen, rief Hubertus auch schon ins dämmrige Innere: „Brüder, wir brechen auf. Trag die Bündel heraus.“

Augenscheinlich hatte sich Bruder Hubertus auch hier zum Bestimmer aufgeschwungen. Als dann die beiden älteren Brüder, die längst die Mitte Fünfzig überschritten hatten, heraustraten, wurde Oleg klar, dass diese beiden alten Männer der anmaßenden Art von Hubertus nichts entgegenzusetzen hatten. Und Bruder Melchior mit seinem ruhigen Wesen würde erst recht nicht gegen Hubertus aufbegehrt haben.

Sei’s wie es sei. Er würde es ganz anders machen, beschloss Oleg. Er würde seine Mitbrüder und selbst den Novizen in wichtige Entscheidungen mit einbeziehen.

Bruder Melchior, Bruder Petrus und Gunther hatten den Karren inzwischen entladen und ihre Vorräte und Bündel unter das weit überkragende Dach getragen. Oleg half den alten Brüdern deren Habseligkeiten auf den Karren zu hieven. Dabei entgingen ihm nicht die wehleidigen Blicke, die Bruder Eudo und Bruder Markus immer wieder zum Haus und zum Schafpferch warfen.

„Wie lange habt ihr hier gelebt?“, fragte Oleg Eudo.

Dem Alten zitterten die Lippen, als er leise antwortete: „Es werden wohl schon an die zwölf Jahre sein, die wir beide an diesem gottgesegneten Ort verbracht haben. Aber im Frühjahr sahen wir ein, dass wir ohne Hilfe nicht weiterkommen würden. Und der Kuno Ährenreich konnte auch nicht ständig jemanden entbehren, der uns zur Hand geht.“

Bruder Markus trat hinzu. „Und dann schickte uns Vater Abt Bruder Melchior.“ Markus lächelte und fügte hart hinzu: „Und den da.“ Dabei wies er mit dem Kopf auf Hubertus.

Unwillkürlich musste Oleg zustimmend grinsen und Eudo puffte ihm ebenfalls grinsend in die Seite. Dann fragte er plötzlich aufgeregt: „Sag einmal, Bruder Oleg, bist du etwa der einäugige Junge, der damals in unser Kloster kam?“

Oleg nickte lächelnd. „Ja, der bin ich.“

„Dein Name kam mir doch gleich so bekannt vor“, warf Markus ein. „Oleg ist ja nun kein Name, der gebräuchlich ist wie Hinz und Kunz.“

Ihr kleines Gespräch wurde durch Hubertus unterbrochen. „Es gibt noch mehr aufzuladen.“ Er winkte Melchior und Gunther zu sich. Dem Koch warf er nur einen scheuen Blick zu und der blickte grimmig zurück. Petrus würde sich nicht von diesem Wiesel herumkommandieren lassen.

Die beiden Gerufenen trugen zwei kleine Fässchen, die wohl je fünf Kannen fassten, heran und stellten sie sicher zwischen den Bündeln ab.

„Butter von der Schafsmilch“, erklärte Eudo stolz.

„Ihr macht hier Butter?“

„Na was dachtest du denn, Bruder Oleg, woher die gute Butter stammt, die im Kloster auf den Tisch kommt?“

Noch bevor Oleg antworten konnte, führte Bruder Markus zwei Schafe heran, die er an einem Strick hinter sich herzog.

Hubertus verdrehte die Augen. „Müssen wir dieses Viehzeug wirklich mitschleppen?“

Eudo zitterten schon wieder die Lippen. Markus sprang ihm bei: „Der Bock hat die zwei Schafe vorige Woche gedeckt. Da kann der Vater Abt zu Ostern Lammbraten auf den Tisch bekommen. Und danach können wir aus der Milch Butter machen.“

Hubertus schüttelte mit heruntergezogenen Mundwinkeln den Kopf: „Ich glaube kaum, dass im Kloster Platz für Schafe ist.“

Das glaubte Oleg auch nicht recht. Doch die alten Brüder, die wohl wenigstens zwei der geliebten Tiere mitnehmen wollten, um sich nicht ganz so verloren im Kloster zu fühlen, dauerten ihn. „Am besten, ihr fragt Bruder Kamillus, er ist für die Gärten zuständig“, wandte er sich an die beiden Alten. „Sicher findet er unter den Obstbäumen ein Plätzchen, wo ihr die Tiere halten könnt. Und Bruder Simon ist der Stallmeister. Im Winter kommen kaum Gäste ins Kloster. Da wird er bestimmt für zwei Schafe einen Verschlag übrig haben.“

Hubertus hatte offenen Mundes zugehört. „Bist du jetzt zum Prior aufgestiegen, dass du solche Entscheidungen treffen kannst?“, empörte er sich schließlich.

„Nein, bin ich nicht. Ich mache nur hilfreiche Vorschläge, anstatt an allem herumzumäkeln.“ Das letzte Wort war noch nicht ausgesprochen, da wusste Oleg bereits, dass er sich nicht dazu hätte hinreißen lassen sollen. Hubertus war über die Maßen hinaus nachtragend. Und irgendwann im nächsten Jahr würden sie im Kloster wieder aufeinandertreffen.

Fürs Erste klappte Hubertus aber nur den Mund zu, schnaufte entrüstet, ergriff den Esel am Halfter und wollte das Tier grob hinter sich herziehen. Das Grautier war solch rüde Behandlung nicht gewohnt und stemmte die Hufe in den Boden. Um ein Haar wäre Bruder Hubertus zu Boden gegangen.

Von den Zurückbleibenden, die viel zu sehr damit beschäftigt waren, ein aufkommendes Kichern zu unterdrücken, dachte niemand daran, ihm zu Hilfe zu kommen. Schließlich erbarmte sich Bruder Eudo, flüsterte dem Esel ein paar sanfte Worte ins Ohr, kraulte ihm die langen Ohren und das Tier folgte ihm lammfromm.

Hubertus drehte sich noch einmal um und rief den neuen Schafhirten zu: „Und noch viel Spaß mit dem abergläubischen Bauernpack und ihren Dämonen!“

Oleg kniff sein Auge kurz zu, schüttelte dann den Kopf und wandte sich an seine Kameraden. „Dann wollen wir unser neues Domizil einmal in Augenschein nehmen. Bruder Melchior, würdest du bitte vorangehen.“

Vom Himmel schien noch immer eine matte Sonne, und so ließen sie ihre Bündel und Packen erst einmal unter dem Dach liegen. Mit Regen war vorerst nicht zu rechnen.

Melchior trat vor ihnen durch die Tür und Oleg, Petrus und Gunther folgten. Das hereinfallende Licht tauchte alles in ein Halbdunkel, an das sich die Augen schnell gewöhnten. Links gab es eine brusthohe Wand aus einfachen Holzlatten, die etwa zwei Drittel des Hauses abtrennte. Sie standen jetzt in dem kleineren Teil, der offensichtlich Werkstatt, Dormitorium, Refektorium und Lavatorium in einem war. Aber immerhin gab es einen richtigen Wohnraum und nicht nur einen Verschlag zum Schlafen, wie Oleg befürchtet hatte.

Hatte er anfangs noch mit seinem Schicksal gehadert, wandelte sich dieses Gefühl abrupt, als er den ebenerdigen Raum betrat. Neugierde und Aufregung ob der neuen Lebensumstände und den damit einhergehenden ungewohnten Aufgaben gewannen die Oberhand. Oleg machte zwei Schritte in das Dämmerlicht hinein.

In der Mitte befand sich die Feuerstelle, über der an einer Kette von einem Dachbalken herab ein großer Topf hing. Das Feuer darunter glimmte und konnte jederzeit neu entfacht werden. Es war von einem Kreis vielleicht kopfgroßer, teilweise abgeflachter Feldsteine umgeben, die dicht an dicht lagen. Um diesen inneren Kreis befand sich ein zweiter aus faustgroßen Flusskieseln, die zu einem festen Pflaster in dem gestampften Lehmboden eingelassen waren. Vom äußeren Kreis waren alle Strohhalme herunter gefegt worden. Von dieser Kochstelle konnte nur durch außerordentlich grobe Fahrlässigkeit ein Feuer auf das Haus übergreifen.

Einen Rauchabzug gab es nicht. Der Rauch würde sich seinen Weg durch das Strohdach suchen müssen. Nachdenklich blickte Oleg nach oben, wo sich ein dünner Rauchfaden verlor. Auf seiner Reise von Nyen Brandenborch nach Magdeborch hatte er einmal mit seinem Kameraden, dem taubstummen Illuminator und Kopisten Lambert, in einem Bauernhaus mit einer interessanten Vorrichtung übernachtet. Dort war eine Luke im Dach eingelassen, die mit einer eisernen Öse versehen war. Mit einer langen Stange, an deren Ende sich ein Haken befand, konnte man diese Luke aufdrücken. Gab es schlechtes Wetter, so hatte ihm der Bauer erklärt, war die Luke leicht zu schließen. Vielleicht ließ sich ja etwas Ähnliches hier einbauen. Sich darüber Gedanken zu machen, musste jedoch auf später verschoben werden.

Bruder Petrus umkreiste die Kochstelle und zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. „Es gibt nur diesen einen Topf“, knurrte er, blies in die Glut und fütterte die aufflackernden Flämmchen mit kleinen, trockenen Zweigen, die griffbereit neben dem Steinkreis lagen. Gleich links neben der Tür befand sich ein Vorrat an trockenen Holzscheiten. Unaufgefordert trug Gunther einen Armvoll zum Feuer.

An der rechten Außenwand reihten sich drei etwa sechs Fuß hohe, schmale Regale aneinander, auf denen ein paar irdene Schüsseln und Becher sowie einige verschlossene Krüge und allerlei andere Utensilien standen, deren Zweck im Dämmerlicht nicht auf den ersten Blick erkennbar war. Darunter lehnten drei Säcke an der Wand, die noch gut zur Hälfte gefüllt waren. Wahrscheinlich Mehl und Grütze und dergleichen.

Hinter der Feuerstelle standen ein Tisch und eine Bank aus sorgfältig geglätteten Holzbrettern. Links in der Ecke luden zwei breite, einfache Bettstellen, auf denen sorgfältig gefaltete Decken und einige Schaffelle lagen, zum Schlafen ein. Die eine Liege war wohl erst vor Kurzem gezimmert worden. Wahrscheinlich, als Bruder Hubertus und Bruder Melchior im Frühsommer eingetroffen waren. Neben den Schlafstellen reihte sich eine Anzahl hölzerner Haken an die hintere Wand.

Oleg drehte sich suchend um. Den kleinen Hausaltar fand er in der Ecke links von der Eingangstür. Dann musste dort wohl Osten sein. Eine unterarmdicke Kerze flackerte im Luftzug der offenen Tür.

Alles in allem ließ es sich hier aushalten.

„Hinter dem Haus geht ein kleiner Pfad zu einem Bach mit klarem Wasser. Dort kannst du das Schaff füllen, dass Bruder Hubertus bei seinem hastigen Aufbruch vor der Tür hat stehen lassen“, wies Melchior Gunther an und der machte sich auch gleich auf den Weg. Sein beweglicher Geist brannte geradezu darauf, die nähere Umgebung zu erkunden.

Bruder Melchior winkte Oleg und Petrus zu der Trennwand und öffnete eine schmale Lattentür. „In diesem Teil sind des Nachts oder bei strengem Frost und hohem Schnee die Tiere untergebracht“, erklärte er und trat in den Stall. Oleg und Petrus folgten.

Hier war in einer Höhe von etwa sechs Fuß ein Zwischenboden eingezogen. Bruder Petrus passte geradeso darunter, ohne sich den Kopf anzustoßen.

Melchior wies auf eine Leiter, die nach oben führte. „Dort lagert genügend Stroh und Heu, dass wir gut über den Winter kommen werden. Solange offenes Wetter herrscht, gehen zwei von uns mit der Herde über die Wiesen und Felder. Dort finden die Schafe noch ausreichend Futter. Es sind genügsame Kreaturen. Hier im Stall bringen die Schafe im Frühjahr auch die Lämmer zur Welt.“ Melchior druckste ein wenig herum. „Um ehrlich zu sein, weiß ich das auch nur, weil es mir Bruder Eudo und Bruder Markus so erzählt haben. Ich bin ja selbst erst im Sommer hierhergekommen und habe noch keinen Winter und kein Frühjahr bei den Tieren erlebt. Aber ich habe als junger Bursche ein Jahr bei einem Schäfer leben müssen. Einiges weiß ich noch.“ Bevor noch einer fragen konnte, warum er zu dem Schäfer gemusst hatte, fuhr Melchior eilig fort: „Darüber hinaus hat der Dorfvorsteher, Kuno Ährenreich, mir zugesichert, dass wir ihn jederzeit fragen können, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht. Und im Frühjahr zur Lammzeit und zur Schafschur schickt er jemanden, der uns hilft.“

Oleg trat weiter in den Stall hinein. An der rechten Wand waren hölzerne Futterraufen angebracht, die größtenteils leer waren. Links war über die ganze Länge der Wand ein vielleicht vier Fuß breiter, hüfthoher Verschlag abgetrennt, hinter dem etliche Gerätschaften und geflochtene Vorratskörbe über den oberen Rand lugten.

Der Boden war dünn mit Stroh bestreut. Am anderen Ende führte eine zweiteilige Tür in den Schafpferch. Der obere Teil stand weit offen und Oleg konnte das Blöken der Schafe hören. Neugierig öffnete er die untere Tür und trat hinaus. Kurz darauf stand er inmitten der Herde, die sich nicht weiter um ihn kümmerte, und grub seine Hände in die Vliese der Tiere. Oben waren sie drahtig und hart. Doch darunter fühlten seine Finger warme, weiche Unterwolle, die sich unerwartet fettig anfühlte. Er hatte zuvor noch nie die Wolle eines lebenden Tieres angefasst. Die Wolle, mit der er es bisher zu tun gehabt hatte, war bereits gewaschen, gekämmt und gesponnen gewesen.

Er ließ seinen Blick schweifen und schätzte an die dreißig Stück Vieh. Diese Herde war ein kleines Vermögen wert. Er würde alles in seiner Macht Stehende tun, dass dieses Vermögen während seiner Anwesenheit nicht geschmälert wurde. Und somit für das Wohlergehen der Tiere sorgen, die er seltsamerweise bereits ins Herz geschlossen hatte.

Der Pferch war umgeben von einem stabilen, brusthohen Scherenzaun aus unterarmdicken Birkenstämmchen. Ein knapp vier Schritt breites Stück war augenscheinlich neueren Datums. Die Rinde hatte sich noch nicht vollständig gelöst und hing in schmutzigen Fetzen herab, das Holz darunter war noch nicht altersdunkel.

„Ein Sturmschaden?“, fragte Oleg, ohne sich wirklich dafür zu interessieren. Rechter Hand war durch den Zaun hindurch ein Stück bebautes Land zu erkennen. Und das zog ihn viel mehr an, als dieses ausgebesserte Zaunstück.

„Ein Wolfsangriff.“

Die zwei Worte genügten, Oleg herumfahren und das Ackerstück erst einmal Ackerstück sein zu lassen. „Wie bitte? Ein Wolfsangriff?“

„Das haben mir die alten Brüder erzählt. Voriges Jahr zum Ende des Christmonats hin, da war das. Da sind die Bestien über die Herde gekommen. Das erste Mal, seit die beiden hier Dienst taten. In ihrer Blutgier hat die Höllenbrut den Zaun niedergerissen. Die Herde ist in heller Aufregung geflohen. Tags darauf haben Bruder Eudo und Bruder Markus sie mit Hilfe der Bauern wieder eingefangen. Vier Schafen hatten die Wölfe die Kehle zerrissen. Ein schlimmer Verlust.“

„Und treiben sich die Wölfe noch immer hier herum?“ Oleg war ein wenig flau im Magen geworden.

„Die kommen erst in Menschennähe, wenn es Stein und Bein friert und der Schnee so hoch liegt, dass sie keine andere Beute finden. Aber keine Angst, Bruder Oleg. Seitdem werden unsere Tiere in der Nacht in den Stall gebracht. Bis dahin waren sie im Pferch. Kein Wolf wird hier noch Beute machen.“

Oleg nickte halbwegs zufrieden. Mit Wölfen hatte er so gar keine Erfahrung. Halbwilde Hunde hatte es hin und wieder in Magdeborch gegeben. Doch um die kümmerten sich die Hundeschläger, sofern die Tiere keine Marke trugen. Wölfe stellte sich Oleg weitaus gefährlicher vor.

Bruder Melchior, der in Olegs Gesicht die Sorge lesen konnte, deutete auf das bebaute Land, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.

„Da, an der Südseite, haben Bruder Eudo und Bruder Markus einen Garten mit Gemüse und Kräutern angelegt.“

Dieser Garten weckte augenblicklich Olegs Interesse. Er schob sich durch die Leiber der Schafe und spähte wenige Augenblicke später über den Zaun. Mindestens zwei Dutzend Kohlköpfe warteten noch auf die Ernte. Auch ein großes Pastinakenbeet war zu erkennen. Dahinter zogen sich etliche Reihen mit abgeerntetem, gelbem Erbsenstroh hin und wenn Oleg den Hals ein wenig verrenkte, konnte er auch zwei, drei Reihen mit Lauch erkennen. Direkt an der schützenden Stallwand lagen ordentliche kleine Beete mit allerhand Kräutern. Dazwischen, mit dem Rücken an der Stallwand, lud eine kleine Bank zum Nachsinnen über Gottes Reichtum der Schöpfung ein. Oleg atmete tief aus. Dieser Ort gefiel ihm zunehmend.

Bruder Melchior schob ein Zaunfeld beiseite, damit sie hindurchtreten konnten, und hakte es dann wieder sorgfältig an den Zaunpfosten. Ansonsten würden die Tiere wohl den Garten plündern.