Buddhas Geburt - Yoshin Franz Ritter - E-Book

Buddhas Geburt E-Book

Yoshin Franz Ritter

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Beschreibung

Analog zur Geschichte der Geburt des historischen Buddhas in die Familie eines regionalen Rajas in Nordindien kommt Sid in einer Mafia-Familie zur Welt. Seine Mutter stirbt bei seiner Geburt und sein Vater, der Pate des Clans, erzieht ihn zu seinem Nachfolger. Doch Sids Karma reift anders, und nach der Zerschlagung des Clans durch eine konkurrierende Mafia-Familie beginnt für ihn eine Reise, die in die höchsten spirituellen Welten führt. Sein Leibwächter Rino begleitet ihn und erlebt selbst eine Transformation in die inneren Welten der Spiritualität. Und da ist auch noch Maria, die Frau eines getöteten Mafia-Mitglieds, die es wagt, sich den Gesetzen des Clans zu widersetzen und dafür bitter bezahlt… Buddhas Geburt ist die spannendste Einführung in den Buddhismus, die je geschrieben wurde. Ausgehend von der Welt des Leidens, die auch in den Kreisen der scheinbar Mächtigen und Wohlhabenden wirksam ist, wird anhand des Schicksals der Romanfiguren Sid, Rino und Maria die jedem mögliche spirituelle Verwandlung von Menschen unabhängig von deren Ausgangslage gezeigt. Lehrtexte des vollendeten Bodhisattvas ergänzen die Handlung und verweisen auf die Grundlagen der buddhistischen Lehre. Ein Roman in der Tradition von Hermann Hesse‘s „Siddharta“, eigenständig und gegenwärtig in seiner Handlung.

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Geschichte

einer

spirituellen

Entwicklung

„Das Große Wirken, wo es in Erscheinung tritt, weiß nichts von Regeln und Geleisen.“

Zen Weisheit

Für Mira

Inhaltsverzeichnis

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 1

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 6

Kapitel 7

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 8

Kapitel 9

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 10

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 11

Kapitel 12

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 13

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 19

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 31

Kapitel 32

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 33

Kapitel 34

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 35

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 54

Kapitel 55

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 56

Kapitel 57

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 58

Kapitel 59

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 60

Kapitel 61

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 73

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 75

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 76

Kapitel 77

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 78

Kapitel 79

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 83

Kapitel 84

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 88

Kapitel 89

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 90

Kapitel 91

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 92

Kapitel 93

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 97

Der Bodhisattva sprach

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Der Bodhisattva sprach

Der Bodhisattva sprach:

Die Entwicklung eines Buddhas ist eine Kette von unendlich vielen Reinkarnationen. Beginnend von den kleinsten Existenzen in dieser oder anderen Welten reifen wir in das Buddha-Wesen mit jeder Wiedergeburt ein Stück weiter hinein. Es braucht die Erfahrungen des Leids, der Frustration, der Angst und des Erfolgs, um den Antrieb, der hinter all diesen Existenzen wirkend ist, zum Schweigen zu bringen. Der Antrieb ist unser blindes Wollen, die Sucht nach „ex sistere“, nach dem scheinbar einzigartigen Herausstehen als unübersehbares Wesen. Jeder Schmerz, jede Krankheit oder Verletzung, jeder Tod ist eine Kränkung dieses namenlosen, mächtigen Gerichtetseins. Doch jeder Sieg über Gegner, Natur, Gefahr, ist eine Selbstbestätigung, die uns dazu verführt, weiterzumachen als scheinbares Ich, als Selbst, als Illusion einer unsterblichen Seele oder eines göttlichen Wesens. Nichts davon gibt es, nichts hat wirklichen Bestand.

Wenn wir in unserem Reifungsprozess an jenem Punkt ankommen, an dem wir in unserem Inneren eine Form der Selbstreflexion entwickeln, dann beginnt die Geburt eines Buddhas. Das Buddha-Wesen ist uns eingeboren, nein, falsch, wir sind das Buddha-Wesen, das aus der Leere in die Fülle „geboren“ wird und haben nur vergessen, von welch hoher Geburt wir eigentlich sind. Jedes Leben ist ein Rückerinnern an diese ewige Quelle, die uns ohne Unterlass nährt, auch wenn wir nicht mehr ahnen, woher wir unsere Richtung und unsere Kraft als Menschen beziehen.

Im Zustand unseres blinden Wollens entwickeln wir Ignoranz, Egoismus, Selbstzentriertheit, Arroganz, Abgrenzung, Gewalt, Verachtung, Unverständnis und vieles mehr. Wir halten die ganze Welt für unsere Nahrung und machen sie zum Spielplatz unserer Einbildungen und Gefühle. Wir missbrauchen andere Wesen, Umstände und Leben für unsere vorübergehenden, illusionären Ziele wie Reichtum, Sicherheit, sexuelle Gier, Ruhm, Macht, Überlegenheit, Intelligenz oder die Schaffung von Abhängigkeiten. Jedes dieser Ziele saugt aber aus uns selbst unsere ursprüngliche Kraft und lässt uns kraftlos, krank und ausgebeutet zurück. Zuletzt erkranken und sterben wir an unseren eigenen Scheinwahrheiten über unseren Platz in dieser Welt.

Warum wir uns auf diesen Weg einer illusionären Existenz begeben, wird uns erst klar, wenn wir die volle Verbundenheit mit allem, was ist und die tiefe Erkenntnis unseres ursprünglich selbst-losen Wesens erfahren. Von diesem Moment an verliert alles vorher Angestrebte seine Bedeutung. Es können uns noch Gewohnheitsmuster dazu bringen, unheilsame, unbefriedigende und unerlöste Handlungen zu setzen. Doch ihr Erfolg wird nichts mehr stillen, ihre Erfüllung keine neuen Illusionen nähren, ihre Pflege weder Bedeutung haben noch unsere Verwirklichung speisen.

Die Zeit zwischen der ersten Entwicklung von authentischer Selbstreflexion und der Erkenntnis unseres wahren Wesens ist die qualvollste, die wir erleben können. Wir ahnen, dass wir mehr sind als unsere Illusionen uns glauben machen. Aber wir haben noch keine Gewissheit über unser wirkliches Wesen. Es ist ein Leben zwischen Vertrauen und Zweifel, zwischen Glauben und Ungewissheit.

Wir brauchen eigentlich nicht viel zu tun, um von unserem Buddha-Wesen erfüllt zu werden. Es ist ja immer schon da und braucht nur unsere Wahrnehmung, um zu wirken. Wir müssen dafür die Prozesse des blinden Wollens erkennen und unser Sein von ihnen entkoppeln. Wir sind nicht unsere Gier, unser Hass, unsere dröge Lebenssucht. Unser Bewusstsein ist völlig makellos und unbehindert. So wie der leere Himmel sich nicht verändert, ob nun Nacht oder Tag, Kälte oder Hitze, Regen oder Sturm in seinen Raum eintreten und wieder verschwinden, so ist unser ursprüngliches Wesen rein, klar und ungestört. Es ist leer von allen Bedeutungen, beurteilt nicht und freut sich weder an dem einen noch an dem anderen Spiel der Phänomene. Es lässt Gefühle und Gedanken aufsteigen und wieder verschwinden, ohne an ihnen zu haften oder sich gar mit ihnen zu identifizieren. Das Einzige, was diese Wahrnehmung belohnt, ist das feine Lächeln des tiefen Verstehens von Wiedergeburt und Wiedervergehen, von Entstehen und Entschwinden, von Da-Sein und Verwehen. Das Buddha-Wesen bildet die Radnabe, die in ihrem Innersten unbewegt diesem Treiben folgt, mit ihm verbunden und doch in einer völlig anderen Qualität existent.

1

Er kam in einer kleinen Stadt zur Welt. Es war eine Stadt, wie sie sonst nur im Geist eines Malers entstehen konnte, wenn er ruhig und mit sich selbst zufrieden war. Niedrige Hügel umrahmten eine dicke Kirche mit einem festen Turm, um den sich Straßen, Gassen und Plätze fädelten, gebildet von hingeduckten Häusern mit Erkern und Lauben, mit Holzladen vor den Fenstern und schweren braunen Dächern. Rund um die Stadt waren Gärten mit prallen Zitronen auf den Bäumen und Weinreben voll saftstrotzender Beeren. Durch das Tal schnitt sich ein Flüsschen namens Novalcone tief in den Fels und zog seine Mäander. Er teilte die Stadt in zwei Hälften, einen städtischen und einen, in dem sich der bäuerliche Charakter erhalten hatte. Zwei hochgespannte Brücken verbanden die Teile. Von ihnen konnte man in den tief unten fließenden Novalcone blicken, was die Menschen der Stadt immer wieder gerne taten. Er schäumte im Frühjahr, wenn lange Regen das Land durchtränkten und versiegte im heißen Sommer zu einem Rinnsal, das seine steinernen Innereien entblößte und die Kinder anregte, das wenige Wasser in kleine Kanäle umzuleiten und diese aufzustauen. Mit den umher liegenden Steinen wurden ganze Dörfer und Burgen gebaut, kleine metallene Autos fuhren auf Sandpisten. In dieser Traumwelt versanken die Kinder für Stunden, bis von oben, von einer der Brücken, eine Frauenstimme sie zum Abendessen rief.

Die Straßen der Stadt waren mit grauen Steinen gepflastert, die unruhige Linien zeichneten. Auf ihnen liefen Kinder und eilten Menschen, manche gingen auch langsam und bedächtig, besonders Pater Anselmo, der die Kirche hütete. Ihn grüßten die Menschen ehrfürchtig, die Frauen zurückhaltend, die Männer freundlich-jovial. Aber er war wie alle in der Stadt nur der Teil eines Spiels, das ein anderer Mann in der Hand hielt. Wenn dessen Leute durch die Stadt gingen, dann wurde auch das Verhalten der Männer respektvoll und unterwürfig und die Frauen drückten sich scheu in die Einfahrten und Türen. Dabei waren es keine bösen Leute, nie wurde es laut in der Stadt oder fielen verletzende Worte. Die Vasallen in den dunklen Anzügen sorgten für Frieden in der Stadt und wo sie auftauchten, da wurde es ruhig.

An diesem Tag war es besonders ruhig in der Stadt. Der Pate des Mafia-Clans, der Herr der Stadt, erwartete die Geburt seines Kindes. Alte Weiber umstanden das Bett, in dem seine junge, fast noch kindliche Frau erschöpft auf die Niederkunft wartete. Es war ein Zimmer mit schweren Teppichen und großen Fenstern, um kühle Luft hereinzulassen am Abend, wenn die heißen Tage des Sommers in den Feldern vor der Stadt versanken und die Dämmerung über die Hügel herankroch. Doch heute waren die Fenster fest verschlossen, obwohl es stickig schwül im Zimmer war. Die Holzladen ließen keinen Sonnenstrahl herein. Im Zimmer brannten Kerzen, was die Hitze noch verschlimmerte. Aber kein Schrei sollte hinaus dringen, kein böser Fluch von außen das kleine Kind, wenn es einmal da war, treffen. Kruzifixe waren aufgestellt, in jede Himmelsrichtung eines und davor brannte Weihrauch. Eine der alten Frauen wusch die werdende Mutter immer wieder mit kaltem Wasser ab. Schmal lag sie da in dem großen Bett, viel zu zart und viel zu jung für eine Geburt. Der große Bauch lag auf ihr wie eine hoch gebürdete Last. Sie wand sich unter den Schmerzen, denn die Geburt dauerte schon viel zu lange. Die Hebamme untersuchte den Bauch und berührte ihn mit ihren Händen. Aber die Berührungen schienen die Schmerzen der jungen Frau noch zu verstärken. Sie war wirklich noch sehr jung, noch gar nicht bereit dafür, ein Kind zu empfangen. Aber ihre frische und wild aufblühende Schönheit hatten den Herrn der Stadt, Don Gautelesi, erregt und so stellte er ihr nach und niemand wagte es, sich ihm in den Weg zu stellen. Und obwohl es zu früh war und ihr viel mehr Schmerz als Lust bereitete, mit ihm zusammen zu sein, und obwohl er ein furchterregend älterer Mann war, so war sie doch gerne bei ihm und liebte ihn auf ihre unschuldige Art. Und auch er war ihr zugetan und freute sich an ihr wie an einem schönen Spielzeug und auch tiefer. Er heiratete sie mit großem Pomp in der Kirche und Pater Anselmo traute sie im weißen Kleid, obwohl die Leibesfrucht in ihrem schmalen Körper schon unübersehbar war. Doch wer kann dem Herrn der Stadt einen Wunsch abschlagen?

Bis weit in den Nachmittag hinein dauerten die Qualen der jungen Frau und gingen weit über das, was sie ertragen konnte. Ihr Herz schlug immer schwächer und als die Presswehen einsetzten, saugten die Wellen ihr die Kraft ganz aus dem Körper. Als endlich das Kind zur Welt kam war dies das letzte, was sie für es tun konnte. Sie fiel in tiefe Ohnmacht und ihr Herz setzte aus. Entsetzt liefen einige der Weiber mit dem frisch abgenabelten Kind aus dem Zimmer, um es dem Hauch des Todes zu entziehen. Ihre Hand, die sie blind suchend in einer letzten Anstrengung zum Kind hin ausstreckte, fiel leer und kraftlos zurück und ihr Atem brach. Sid war geboren.

Der Bodhisattva sprach:

Wir treten ein in das Dasein in der Hoffnung, dass sich das Leben um unsere Person herum zentrieren wird. Und dann sind wir enttäuscht, weil sich nichts an den kosmischen Abläufen um uns kümmert. Die Sonnen ziehen ihre Bahnen weit draußen, ohne uns wahrzunehmen. Die Gezeiten des Meeres kommen und gehen ohne unser Zutun und ohne uns zu fragen. Unser Körper altert und schert sich nicht um unsere Wünsche nach ewiger Jugend und strahlendem Erfolg.

Wir nähern uns anderen Menschen in der Hoffnung, Frieden und einen Hafen für unsere Wünsche zu finden, doch weil der andere dasselbe von uns erwartet, scheitern die Schiffe unserer Sehnsucht schon lange, bevor sie ankommen. Was suchen wir denn? Was glauben wir denn? Ist das nicht alles nur ein eitles Scheingebilde von niemand Wirklichem, der trotzdem meint, ein Jemand, ja sogar die allein bestimmende Person in diesem Universum zu sein? Wir flicken uns jeden Morgen unseren Traum zurecht, umhüllt mit dem Mantel der Luftmalerei, ziehen einen weiteren Tag lang auf die Bühne unseres Wahns und spielen das Stück, dessen Hauptdarsteller und Publikum allein wir selbst sind. Niemand achtet auf uns. Niemand klatscht Beifall. Und wenn, dann nur, weil gerade diese Stelle in seinem eigenen Traum vorkommt. „Oh ja, Du bist gut! Und ich bin besser, denn ich habe es erkannt und besitze die Größe, es Dir mitzuteilen.“

Ein eitler Irrwisch, nie geboren und nie zu befrieden, ist dieses Gebilde, dieser Popanz. Wie ein Schattengeflecht jagt es durch den Sumpf des realen Lebens, mit aller Kraft darum bemüht, nicht unterzugehen und namenlos zu versinken. Aber genau das ist sein Schicksal, denn zuletzt verlässt es die Kraft und das Befürchtete tritt buchstäblich in der grauenhaften Stille und Bedeutungslosigkeit ein, vor der das Machwerk auf der Flucht ist, seit es unser Geist hervorgebracht hat. Was willst Du gewinnen? Was willst Du erben? Was willst Du mittragen auf dem ewigen Gang durch die Gestalten? Du bist nur der Schatten Deines Selbst. Aber dieser Schatten hat sich aufgemacht, ein Etwas zu werden. Er hat eine eitle Unwirklichkeit geboren und bemüht sich, sie mit Leben zu füllen. Wie kann das gehen? Er scheitert schon beim ersten Versuch, sich Leben einzuhauchen, weil in ihm nicht der Funken von eigenem Leben ist. Wenn Du nur aufhören würdest, diesem eitlen Geschwätz Deiner Illusionen zu folgen, dann könntest Du Deine wirkliche strahlende Gestalt annehmen und in ihr ruhen.

Warum bist Du nicht glücklich mit Deinem Los, der Abglanz des Glanzes, die Reflexion des Lichtes zu sein? Denkst Du wirklich, dass in Dir die Kraft ruht, das Leben neu zu erfinden? Nein, diese Kraft ruht in etwas, das größer ist als Du. Es ist unbegreiflich, unfassbar, ohne besondere Gestalt. Aber es hat Dich hervorgebracht, so wie es alles andere hervorbringt, ohne Mitleid und ohne Absicht. Und doch ist Güte in diesem Sosein, weil es Dir unendliche Freude schenkt, wenn Du Dich hingibst und in ihm ruhst. Wenn Du den unsinnigen Versuch, sich von ihm zu trennen, aufgibst und stattdessen heimkehrst in ein Sosein, das Du nie verlassen hast.

Lass werden, was ist. Lass sein, was nie anders sein wollte. Erkenne endlich Dein wahres Gesicht und folge ihm ohne Murren und ohne gleich wieder darauf eines Deiner Gespinste zu malen. Diese sind nur wie Morgentau in einem Spinnennetz, ein wenig glitzernd in der aufgehenden Sonne, aber doch nicht dafür bestimmt, dort zu ruhen und zu vollenden. Die Sonne trocknet den Tau. Und in der Erkenntnis, wer Du wirklich bist, trocknet der Schleim Deines prahlerischen Traumtanzes wie die Spur einer Schnecke im Sand. Nichts leuchtet aus Dir. Nichts bringst Du hervor. Es ist Dir nicht bestimmt, das Universum zu beherrschen, weil Du nur ein dunkles Aufzucken in einem Schattenreich bist. Und doch ist Deine wahre Natur das Licht, das den Bewohnern des Schattenreichs ihre Gestalt gibt. Wenn Du aufhörst, Dein Schattendasein zu bekämpfen und stattdessen Deine Lichtnatur begreifst, kehrst Du heim.

Mögen alle Wesen glücklich sein.

2

Don Enrico Gautelesi lief wie betäubt in einem der vielen Zimmer der Villa auf und ab. Man hatte ihm das Kind gezeigt und die furchtbare Nachricht gebracht. Man hatte ihm Eistee serviert und Früchte. Man hatte ihn allein gelassen. Er spürte, dass mit Marca das Kostbarste gegangen war, was er je in seinem Leben besessen hatte. Einen Menschen, der sich ihm ohne Angst näherte und völlig ohne Erwartungen hingab. Ihre Jugend und Schönheit hatten ihn berauscht und sein Leben auf eine völlig neue Art bereichert. Gegen ihren Tod war er machtlos und das war ein Gefühl, das er nicht kannte. Wenn einer seiner Männer starb, so gehörte das zu seinem Beruf. Die Männer waren dazu da, ihr Leben für die Familie aufs Spiel zu setzen. Sie wurden begraben und ihre Frauen und Kinder versorgt.

Aber Marcas Sterben war ein unzeitiger Tod. Einer, der nicht vorgesehen war. Leben zu schenken und dabei zu sterben war völlig absurd. Wut kroch in ihm hoch und er ballte seine Fäuste. Hilflos und schmerzhaft landeten sie auf der polierten Platte des großen Tisches, aber er fühlte den Schmerz und die Hilflosigkeit nicht. Die Wut bahnte sich ihren Weg durch seine Kehle und ein tiefer Schrei kam aus der Tiefe seines Herzen auf die Welt. Er begann zu weinen und zu schreien und drehte sich in einem konvulsiven Krampf. Er fiel auf seine Knie, seine Hände krampften sich ein, als ob sie würgen und umarmen zugleich wollten und doch von einer fremden Macht an beidem gehindert wurden. Sein Fall ging weiter und mit einem dumpfen Gepolter landete sein Körper wie ein Baum auf dem glatten Marmorboden, der sich ihm kühl entgegenstreckte. Die Kühle tat seinem Gesicht gut und nun flossen die Tränen ungehemmt. Er sah das Gesicht seiner kleinen Marca, seiner geliebten Marca und seine Hände suchten sie zärtlich und verloren. Er sprang auf, lief hinüber in das Zimmer und erschreckte mit seinem polternden Kommen die Frauen, die den toten Körper gerade wuschen. Mit einer Handbewegung scheuchte er sie aus dem Raum. Da lag sie, Marca, schmal, wie er sie immer geliebt hatte, still auf dem Bett, so wie er sie manchmal in heißen Nächten beobachtet hatte, wenn er nicht schlafen konnte und sie sich in der Hitze völlig entblößt hatte. Nur ihr Bauch war noch ein wenig aufgeschwollen, sonst hätte er wirklich glauben können, sie schliefe nur so wie immer.

Er nahm ihre kleine Hand, die sich kühl und feucht anfühlte und er roch den Geruch des Todesschweißes, denn sie hatten das Zimmer noch nicht gelüftet. Auch ein Geruch von gelöschten Kerzen, von Reinigungsmitteln und Blut schwebte noch im Raum. Ihre erste Begegnung stieg in seiner Erinnerung hoch, ihr scheues, aber angstloses, sogar neugieriges Lächeln, als er sie beim Vorüberfahren in einem Weingarten beim Winterschnitt sah. Er ließ den Wagen anhalten und stieg aus. Sie arbeitete singend mit weichen Bewegungen, die ihre aufkeimende Fraulichkeit ausdrückten und doch war auch ein wenig Ungeschicktheit darin, so als ob sie mit ihrem neuen Körper noch nicht zu Recht kam. Sie stand an der Schwelle zu einem neuen Leben, die Kindheit abstreifend wie eine Grille ihre alte Panzerung, und den neuen Wind genießend, der auf eine völlig neugeborene Haut trifft. Sie hatte kleine Brüste in ihrer Bluse, die sich hinter ihrer Jacke versteckten und zugleich darboten. Eine weiße, grobe Leinenbluse war das, eigentlich weit geschnitten, aber doch zeigten sie die Spitzen ihrer Brust, was ihn plötzlich wild erregte. Er, der jeden Tag genug Frauen haben konnte, unter seinen Hausangestellten und den Huren in der Stadt, von denen sie ihm jederzeit eine brachten, er erwachte in dieser Begierde zugleich zu einem neuen Gefühl seiner selbst. Plötzlich spürte er, dass er Jahre und Jahrzehnte in einem ganz anderen Leben gefangen war, einem Leben, in dem es um Besitzen und Beherrschen ging. Die meisten Frauen, die zu ihm kamen, hatten Angst vor ihm und gaben sich ihm auch nur aus Angst hin, froh, wenn die Sache vorüber war und sie wieder gehen konnten. Andere wollten die Begegnung nur zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzen und hofften auf große Geschenke oder darauf, eines Tages die Frau des Herrn der Stadt zu sein. Aber er nahm alle nur gleichmütig, erfreute sich an einigen, doch meist war es nur eine kurze Begegnung, die seinem Trieb diente. Keiner schenkte er danach Aufmerksamkeit. Jede war nur eine kurze, fremde Episode.

Bei Marca war dies anders. Er fühlte sich plötzlich wie ein kleiner, verliebter Junge, der die erste Liebe seines Lebens sah. Betroffen stand er am Rande des Weingartens und sah sie an. Sie bemerkte es und lächelte ihm zu. Mit beinahe gelähmten Beinen ging er auf sie zu und sprach sie an. Die anderen Arbeitenden im Weingarten sahen scheu weg. Er, der Herr der Stadt, der Herr über Gewalt und Tod, sprach mit einem kaum vierzehn Jahre alten Mädchen, einem wunderschönen, aber noch ganz neureifen Mädchen. Sie bekamen Angst, dass er sie nehmen und dann wegwerfen könnte, wie es öfter in seinen Kreisen geschah. Nicht, dass man solches schon von Don Gautelesi gehört hätte, nein, er galt als Ehrenmann. Und doch schwang diese Angst, diese ganz besondere Angst in den Gesichtern der Eltern von Marca und den Helfern im Weingarten und ließ sie auf die Szene starren, als ob das Unheil nun gleich, hier im Garten geschehen würde. Don Gautelesi erwachte kurz aus seiner Trance und sah, wie sie ihn anstarrten. „Was gafft ihr mich so an!“ blaffte er in den Morgen und alle blickten sofort weg. „Wie heißt Du?“ fragte er danach das Mädchen weich und warm und sie antwortete ihm mit ihrem Vor- und Familiennamen. Und dann hörte er sich selbst die unglaubliche Frage stellen, eine Frage, die wie aus einer anderen Welt schien, von jemand anderem gestellt, nicht ihm gehörend und doch wusste er, dass er die Folgen der Frage würde tragen müssen: „Willst Du meine Frau werden?“ Sie blickte ihn erstaunt, aber nicht verwirrt an. Eine lange, sehr lange Minute schwieg sie und betrachtete den Mann da vor ihr. Neugierig, abtastend, seine Seele, aber auch den Menschen suchend. „Gebt mir Zeit.“ sagte sie und er nickte, dreht sich um und stapfte aus dem Garten. Seine schönen, polierten Schuhe waren voll Erde, was ihm auffiel, als er wieder in den Wagen stieg. Er lächelte in den kurzen Ärger über die Verschmutzung hinein. Erde, dachte er, Erde. Wir stehen auf derselben Erde.

Daheim angekommen begann er Geschenke zu suchen. Eilig raffte er einiges zusammen und ließ es in ein kostbares Tuch binden. Er schickte Rino, seinen treuesten Vasallen, damit zu Marcas Haus. Ungeduldig wartete er die Rückkunft ab. Rino war bald wieder zurück. „Nun?“ fragte Don Gautelesi. „Sie bittet Dich, noch ein wenig zu warten.“ Der Don setzte sich dumpf krachend in einen Sessel und fühlte sich wie ein Narr. Frauen hatten zu gehorchen, davon war er überzeugt, aber da war plötzlich etwas anderes, da war ein Wesen, ihm ebenbürtig auf ihre Art, eine Königin, selbstbewusst und in sich ruhend. Und er respektierte dies und wollte es nicht brechen, weil er wusste, dass er damit etwas sehr Kostbares zerstören würde: Einen Menschen, der sich ihm freiwillig und ohne Angst schenken würde. Und doch war da auch Wut über ihre Art, ihn warten zu lassen und in ihm tobte ein Kampf zwischen diesen beiden Gefühlen. Seine Hände hielten die Armlehnen des Sessels umkrampft und es arbeitete hart in seinem Gesicht.

Rino stand da und wusste nicht, ob er bleiben oder gehen sollte. Sein Pflichtgefühl hielt ihn fest, aber sein Respekt vor der Person Gautelesi sagte ihm, dass dieser in seinem Zustand vielleicht lieber allein sein würde. Dieses Dilemma löste er, indem er kurz davoneilte, aus einem Schrank eine Karaffe vom schweren, süßen Wein nahm und ein Glas voll einschenkte. Das Glas brachte er dem Paten und hielt es ihm ungelenk hin. Dieser sah kurz auf und nahm es. „Bin ich ein Narr?“ fragte Don Gautelesi Rino. „Sie ist sehr schön.“ sagte dieser hölzern und drückte damit sein Verständnis für das Verhalten seines Chefs aus. Don Gautelesi nickte: „Ja, das ist sie.“

3

Zwei Tage lang ließ Marca ihn warten, dann schickte sie eine alte Frau mit der zustimmenden Botschaft. Ab nun war sie ganz Braut, ging kaum mehr aus dem Haus und dann nur mit einer nahen Verwandten als Begleitung. Sie ging sonntags zur Kirche und sah ihn im Vorübergehen scheu an. Sie ging aber auch jeden Morgen in die Kirche, wenn da kaum jemand war, beichtete ihre kleinen Sünden und schritt aufrecht und mit gesenktem Kopf wieder nach Hause. In den wenigen Tagen war sie wirklich zur Frau geworden. Alles an ihr hatte sich verändert. Die Stimme verlor das Mädchenhafte und wurde ein wenig dunkler. Ihre Augen verloren die kecke Neugier und wurden im Zaum gehalten. Ihre Schultern reckten sich und ließen ihre Brüste mehr zur Geltung kommen. Doch zugleich drückte ihr ganzer Körper eine Unnahbarkeit aus, die Entgegenkommende zwang, vom Steig herunter zu treten und ihr den Weg freizugeben.

Vor ihrer Entscheidung hatte sie ihr Zimmer nicht verlassen. Sie sprach mit niemandem und aß auch nichts. Nur die Katze saß auf ihrem Schoß und sie streichelte das Tier gedankenverloren. Ihre Eltern ließen sie in Ruhe, räumten das nicht Gegessene vom Tisch und stellten einen Krug frisches Wasser hin. Am Abend des zweiten Tages stand sie mit einem Ruck auf. Die Katze sprang unwirsch von ihrem Schoß auf den Boden, streckte sich aber dann wieder versöhnt, strich um ihre Beine und verschwand. Sie lief ins Haus gegenüber zu einer alten Frau, bei der sie oft als Kind eingetaucht war, wenn die Eltern draußen im Feld arbeiteten und sie allein war. Das Haus war ein wenig herabgekommen, aber dunkel und kühl im Sommer. Sie bekam Früchte, wenn sie da war, denn irgendwie schien in dem Haus nie etwas zu fehlen. Früher gab es auch eine alte Kiste mit Kinderspielzeug, die sie mit Herzenslust ausräumen und nutzen durfte. Doch diesmal hatte sie etwas Ernstes mit der alten Frau zu besprechen. „Mutter Anna“ fragte sie, „geht das gut?“ Und die alte Frau schwieg lange. „Er liebt Dich, er liebt Dich wirklich.“ antwortete sie endlich, „das ist eine gute Voraussetzung.“ Marca nickte. „Wir können nicht in die Zukunft sehen, ob das so bleibt.“ sagte die alte Frau weiter, „wir können nur darum beten.“

Die ganze Stadt war wie hypnotisiert von dem Geschehen. Alle tuschelten in dunklen Winkeln, in verschwiegenen Küchen und weit draußen in den Feldern, wo man jeden Näherkommenden schon von weitem sah. Marcas Eltern waren wie erschlagen von den Ereignissen, ihre Sorge um ihre Tochter überwog und sie suchten nicht einen Vorteil für sich aus der Situation zu ziehen. Sie waren einfache Leute, die ihre Felder und Weingärten bestellten. Marca war ihr einziges Kind, spät geboren wie ein herbstliches Sonnenlicht auf fast schon schlafenden Hainen. Beide waren alt geworden in ihrem täglichen Kampf um die wenigen Früchte ihrer Arbeit. Wie fast alle Bauern waren sie scheu gegenüber der Gewalt und der Ordnung, die Don Gautelesi repräsentierte. Doch wussten sie auch, was sie ihm verdankten, denn die Stadt war ordentlich und sauber und Don Gautelesi hielt seine Männer davon ab, die eigenen Bürger zu drangsalieren. Natürlich musste man ein wenig von seinen Erträgen an den Clan zahlen. Aber Don Gautelesi sorgte dafür, dass jeder immer noch genug hatte und nicht Not leiden musste. Ja, man konnte sogar in schweren Zeiten Don Gautelesi um Unterstützung bitten und er gewährte sie, ohne die Notlage auszunutzen. Er war die Ordnung, innerhalb derer sich das Leben der Menschen in Novalese entfalten konnte. Es schien, als ob es immer schon so gewesen war. Es schien, als ob es sich nie ändern würde. Aber jetzt, in diesem neuen Akt, dämmerte ein Geschehen herauf, dass auch die Stadt betreffen und ihre Welt verändern würde.

4

Als Kind lief Sid oft hinunter zum Fluss, in den Auwald. Er liebte die trockenen Bäume, die Sandbette in den Wiesen, die grauen Spuren des letzten Hochwassers an den Baumstämmen und den Sträuchern. Er atmete den Duft der Fäulnis ein, der schwirrend in der heißen Sommerluft hing und Bote einer vergangenen Zeit war. Hier klang alles zusammen, die pralle Fülle der Grasbüschel direkt neben einem Haufen trockenen Geästs, den das Wasser zusammengetragen und dann verlassen hatte. Der Auwald war wilder und ursprünglicher als die anderen Wälder ringsum auf den Hügeln. Niemand machte sich hier die Mühe, zu ordnen oder zu kultivieren. Zerbrochenes Holz lag zwischen frisch aufgeblühten Blumen, Scherben neben samtigen Moosteppichen, sandige Steine zusammen mit glitzernden Artefakten, geschliffen vom Wühlen des Wassers und der Kieselfelder.

Hier unten baute sich Sid im Uferabbruch Höhlen oder Dächer aus alten Brettern und Laub. Hier spielte er selbstvergessen uralte Mythen, von denen er nichts wusste und nur ihre magische Kraft spürte. Hier vergaß er die Zeit und oft musste die Haushälterin geschickt werden, um ihn zu rufen. Und jedes Mal war der Abschied von dieser Wunderwelt ein seltsam bedrückender, der nicht wirklich wehtat, aber doch zeigte, dass er ein Gefangener dieser Zauberwelt war.

Seine Spiele waren einfach, aber intensiv. Er war König und musste eine Prinzessin befreien. Ein böser Drache hatte sie gefangen. Der Drache wurde von einem umgestürzten Baum gespielt, dessen Äste hoch in die Luft ragten und dessen zerborstenes Wurzelwerk das furchtbare Maul und die Hörner des Untiers bildeten. Sogar ein eingewachsener Stein war da, der das grauenhaft funkelnde Auge des Drachen abgab. Der ausgeschwemmte Abbruch hinter dem Drachen war die Burg, in der die Prinzessin tief in einem Kerker gefangen war. Sid schlich sich lautlos durch Blattwerk und hohe Gräser dicht an den Drachen heran, sein Holzschwert in der einen Hand, in der anderen einen alten Deckel als Schild. Ein echter Kinderhelm schützte sein Gesicht vor den tödlichen Feuerstößen aus dem Maul des Drachen. Und im letzten Moment, noch ehe der Drache ihn entdecken konnte, stürmte Sid mit einem lauten Schrei nach vorne und grub sein Schwert tief in die Eingeweide des Drachen. Ein Schlag des Schwanzes warf ihn zur Seite, aber sofort sprang er wieder auf und griff erneut an. Er verlor sein Schwert und schwang sich auf den Rücken des zuckenden Tieres, um den mächtigen Hals zu umfassen und den Drachen zu erwürgen. Langsam wurden die Bewegungen des Tieres schwerer und tapsiger und zuletzt sank es zu Boden und Sid stieß ein Siegesgeheul aus. Dann machte er sich zur Prinzessin auf, die hinter einer kleinen Holztür in einem Erdloch hockte. Er öffnete die Türe und bat sie heraus. Sie war wunderschön. Langes, blondes Haar bedeckte ihre Schultern und floss an ihrem Rücken herab. Sie trug ein goldenes Samtkleid und dankte ihrem Retter, der diesen Dank abwehrte. Er war ein Held, ein echter Held, der sofort zum nächsten Abenteuer aufbrach und die Prinzessin gleich wieder vergaß. Dann sprang er auf Baumstrünken über Altarme des Flusses, versteckte sich in einer ausgehöhlten Weide oder kletterte auf einen der hohen Bäume, von dem aus man die Kirche des Nachbarortes und die Weinberge rundum sehen konnte. Er war immer allein bei seinen Spielen und es machte ihm nichts aus. Seine Welt war bevölkert mit allen möglichen Gestalten, mit Freunden und Feinden, mit schönen Mädchen und reichen Schätzen, die ihn aber nicht weiter interessierten. War der Kampf vorbei, lockte das nächste Spiel. Und dann das nächste und nächste, bis von Ferne die Stimme seiner Tante Silvana, der Schwester von Don Gautelesi, erscholl, um ihn nach Hause zu rufen.

5

Am Grab seiner Mutter fühlte sich Sid meist verlegen und leer. Ja, dies war seine Mutter, aber er hatte nichts, woran er sich erinnerte, nichts, das ihn mit ihr verband. Er stand verloren neben seinem Vater, wenn der zu den Totenfeiertagen in die Familiengruft stieg, um die Blumen, die man ihm vorbereitet hatte, in eine Vase zu stellen, ein kurzes Gebet zu sprechen und dann wieder die kurze Treppe mit den schiefen steinernen Stufen hinauf zu steigen. Und doch war in diesem beinahe geschäftsmäßigen Ablauf ein Moment der Gebeugtheit, eine zerrissene sehnsuchtsvolle Umarmung, nicht erloschen, nicht lebendig, irgendwo im Zwischenraum von Leben und Tod verharrend, nicht sterben könnend und ohne Hoffnung auf lebendige Erfüllung. Sein Vater ging dann den schmalen Weg zum Friedhofstor mit noch härteren Schritten. Ohne sich umzublicken stieg er in den wartenden Wagen, wartete, bis sich Sid neben ihn gesetzt hatte und winkte dann nur kurz mit Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand. Rino stieg sanft aufs Gas und der Wagen setzte sich in Bewegung.

Manchmal stromerte Sid auch allein zum Grab seiner Mutter. Der Campo Santo lag nicht allzu weit ab von seinem Schulweg und es trieb ihn hinein in diesen Ort des friedvollen Schweigens und der Verzweiflung. Es war mehr eine Neugier, die ihn an diesen Tagen beseelte. Er wusste nicht genau, ob er sich wünschte, dass seine Mutter, von der alle so viel sprachen, aus der Gruft herauf steigen sollte, um sich ihm zu zeigen. Aber er stellte sich vor, wie sie unten hinter der schweren Türe in ihrem Sarg lag, den Deckel öffnete und heraufkam. Oder er dachte sich, dass sie im Himmel über ihm erscheinen sollte oder in einem anderen Zeichen, das ihre Anwesenheit bedeutete. Stattdessen sangen meistens die Vögel in den Bäumen ringsum und irgendwo machte sich ein alte Frau an einem Grabhügel zu schaffen. Manchmal war auch ein Grab frisch ausgehoben oder ein anderes gerade aufgeschüttet. Es schien, als ob der Ort der Toten in ununterbrochener Bewegung war, sehr langsam zwar und eingebettet in Stille und Vogelgesang, aber doch sich öffnend und schließend, die Toten verschlingend und dann wieder mundöffnend nach neuer Nahrung suchend.

Eines Tages saß Sid auf der sonnenwarmen Steinbank vor der Aufbahrungskapelle, die auf einem kleinen Hügel über dem Gräberfeld thronte. Er ließ seinen Blick über die Grabsteine schweifen und stellte sich vor, dass auch er hier ruhen würde, wenn er ein Leben im Ort abgelebt hatte. Er versuchte zu spüren, wie es wäre, da unten in der Familiengruft für immer in einem Sarg eingeschlossen zu liegen. Ob man da noch etwas hören könnte? Er fühlte förmlich, wie die Dunkelheit des Sarkophags ihn umschloss und einbettete, und er empfand das fast als friedlich und schön. Nein, es machte ihm keine Angst und er wusste jetzt, dass es seine Mutter gut hatte da unten und das tröstete ihn mit einem Mal und er bemerkte, dass er sie liebte. Liebte, obwohl er sie nie wirklich gekannt hatte. Und auf einmal war ihm, als ob sie sänge. Ein wunderbares altes Volkslied schwang rings um die Grabsteine. Er kauerte sich nieder, schloss die Augen und versank in der Melodie. Oh ja, dass musste sie sein, so musste seine Mutter gesungen haben, als sie damals seinem Vater begegnet ist. Und er sah ihre dunklen Augen vor sich und er sah ihre lebendige Schönheit, die er von Fotos kannte, aber nun war es eine lebendige Frau, und sie tanzte und sang. Sie tanzte und sang für ihn. Und plötzlich konnte er weinen und weinte lange und laut, aber nur für sich. Seine Mutter tanzte und sang und er weinte. Die Tränen wollten nicht enden und da begriff er, dass er sie zutiefst vermisste, so wie sein Vater sie immer noch vermisste und seine Hände suchten sie zu umarmen, aber ihr tanzender, wirbelnder Körper war nicht zu fassen. Er stand auf und lehnte sich vornüber an die dunkle Marmorwand der Kapelle, spürte die Kühle des Steins und nässte ihn mit seinen Tränen. Das Weinen kam nun von ganz tief innen, er konnte es nicht steuern und wollte es auch nicht, weil sich langsam ein süßes Gefühl in seiner Brust ausbreitete. Ein harter Knoten, der ihn schon sein Leben lang begleitete, löste sich langsam und sein Weinen wurde ein stockendes Schluchzen und letztendlich ganz leicht. Dann legte er sich auf der Bank nieder und schlief ein, bis ihn ein leichter Sommerregen weckte.

Der Bodhisattva sprach:

Wir errichten Gebäude aus Gedanken, die sich dann blitzschnell in unsere Gefängnisse verwandeln. Nicht das Denken ist das Problem, sondern dass wir den Inhalt unserer Gedanken schon für wahr halten, obwohl es nur Gedanken sind, innere Luftbilder, Träume, Fantasien, Hypothesen aller Art, Deutungen....

Aus diesen Produkten von zufälligen Denkprozessen entwickeln wir unsere Meinungen und auf der Basis unserer Meinungen gestalten wir das Leben, das wir leben. Meinungen verhärten zu Glaubenssätzen, Glaubenssätze verhärten zu fixen Ideen. Damit aber haben wir längst den Kontakt zu unserer Umwelt verloren und suchen in ihr nur mehr jene Zeichen, die unsere Weltsicht bestätigen.

Um unsere inneren Verhärtungen zu zügeln und später aufzubrechen, brauchen wir anfänglich äußere Methoden wie Meditation oder anderes, um die Gedankensperren zu durchbrechen. Ist das Denken in Fluss und sind wir nur mehr Zuschauer, dann gibt es nur diese beobachtende Haltung, die sich aber auch auf ganz anderes richten kann, etwa auf den Flug eines Vogels, das Aufblühen einer Blume, die Berührung eines Windhauchs, auf ein weinendes Kind.

Offenheit heißt, aus dem Gefängnis unserer Gedanken ausgestiegen zu sein, den Fluss des Denkens vom Ufer aus zu betrachten und zu sagen: "Es kann so sein, es muss aber nicht so sein. Vielleicht ist es auch ganz anders."

Wie viele Schmerzen könnten wir uns ersparen, wenn wir unser inneres Sein einfach offen und weich fließend halten würden. Das ist die ganze Erkenntnisarbeit. Mehr gibt es nicht zu tun. Doch jede Träne, die wir in unserem inneren Erkenntnisprozess vergießen, nährt ein zukünftiges befreites Lachen.

Mögen alle Wesen glücklich sein.

6

Als Kind wurde Sid magisch von Kirchen und Kapellen angezogen. Besonders angetan hatte es ihm eine Grotte, die nahe dem Fluss Novalcone gelegen war. In der Grotte hatten fromme Geister eine Marienstatue aufgestellt und einen Altar aus Plattensteinen errichtet. Hierher wurden jeden Tag, selbst im Winter, frische Blumen gebracht und Kerzen angezündet. Vor der Grotte standen Bänke aus rohem Holz zum Knien und Sitzen. Selten nur sah man einen der Gläubigen untertags beim Gebet, doch der Platz war immer sauber gefegt und ordentlich aufgeräumt.

Sid zweigte oft am Heimweg von der Schule von der über dem Fluss gelegenen Straße ab. Ein schmaler, oft rutschiger Pfad führte direkt zur Grotte. Trotz der darüber gelegenen Straße, auf der oft Fahrzeuge zu hören waren, wirkte der Platz heilig und still. Sid setzte sich auf eine der schmalen Holzbänke, legte die Schultasche neben sich ab und begab sich auf träumerische Reisen. Er sah das in der Schule über Jesus und die anderen Heiligen Gelernte vor sich, Christus in der Wüste, fastend, und Moses vom Berg Sinai herabsteigend, die Steintafeln mit Gottes Geboten vor seiner Brust. Sid verteidigte mit einer flammenden Rede Jesus vor seinen Verfolgern und sprach ihm Mut zu, als er am Kreuz hing. Der Mann aus Bethlehem war wie ein Bruder für ihn, kein Objekt einer abstrakten Verehrung, sondern ein konkreter Mensch mit Ängsten, mit Hoffnungen und auch mit einer besonderen Verbindung zu Gott.

Die große Marienstatue dagegen flößte ihm Respekt ein. Das war eine Göttin, eine, die über den Dingen thronte und ihnen ihren Segen gab. Er sah die Figur oft nur scheu an, mit kurz gehobenem Blick. Die Skulptur hielt ihre Hände seitlich vom Körper und seltsam steif in die Höhe, die Finger waren ineinander verschränkt. Sie schaute gegen den Himmel und in ihrem Blick lag eine unsagbare Trauer. Die ganze Figur war verdreht, ja sogar eingedreht wie eine Spirale. Auch die Knie, die man durch das faltenreiche Gewand mehr ahnen als sehen konnte, standen in einem bizarren Winkel zum Körper. Manchmal stellte sich Sid auf und versuchte diese Haltung nachzuahmen. Schon nach kurzer Zeit tat ihm der Rücken weh und die Oberschenkel brannten. Er musste wieder aufgeben. Doch dachte er, wenn man Gott schauen möchte, wie es der Pfarrer im Unterricht erzählt hatte, dann musste diese schraubende Haltung eingenommen werden. Also probierte er es wieder und wieder, und manchmal drehte er sich so ein, dass er hinfiel.

Was Sid an diesem Platz faszinierte, war die innere Ruhe, die er in ihm hervorrief. So klassifizierte er die Kirchen und Kapellen, die er im Laufe seiner Kindheit kennen lernte, nach diesem Gefühl in seiner Brust. Die Stadtkirche von Novalese weckte nur wenig Stille in ihm. Dahin kamen wohl zu viele unterschiedliche Menschen mit mannigfachen Bitten an Gott. An den Votivtafeln nahe des Seitenaltars konnte er ablesen, was die Menschen alles bewegte, eine Errettung aus den Wassern des Novalcone, die Heilung einer schweren Erkrankung, die gesunde Geburt eines Kindes, das Gedenken an einen zu früh verstorbenen Menschen. Viel später erst entdeckte er, dass hier niemand für das Geld dankte, das er bekam oder für gute Geschäfte, die abgeschlossen wurden, obwohl doch alle Welt, so schien es ihm, nur diesen Zielen nachjagte. In seiner Kindheit fiel ihm das Fehlen solcher Tafeln nicht auf.

Eine uralte kleine Kirche war es, die ihn oft anzog. Laut der Inschrift über dem Tor war sie schon tausend Jahre alt, sehr einfach, mit romanischen Linien und kleinen runden Fenstern mit bunten Scheiben. Drinnen fanden nur wenige Reihen mit Bänken und ein kleiner Altar Platz. Die Kirche stand etwas außerhalb der Stadt auf einem Hügel und war von einem kleinen Friedhof umgeben. Ringsum lagen Felder, die im Frühjahr, Sommer und Herbst bearbeitet wurden. Auf diesen Feldern sah Sid auch den ersten Traktor seines Lebens, der mit einem aufgespannten Pflug die Erde aufriss. Er setzte sich auf die Friedhofsmauer und beobachtete lange den Bauern, der schnurgerade Linien durch das Feld zog. Als der Bauer fertig war, fuhr er über den Feldweg wieder seinem Hof zu und plötzlich war die Luft zum Bersten still. Sid sah die Stille und es war, als ob eine riesengroße Hand sich nach ihm ausstreckte und sein Herz umfasste. Ganz sanft, ohne Druck, so, als wollte die Hand sein Herz nur prüfen. Eine stille Kraft ergoss sich in seinen Körper und machte ihn ganz froh. Für einige Momente schien es, als ob alles still stand und er herausgehoben war aus Raum und Zeit. Dann spürte Sid seinen Atem, hörte die Vögel, die ringsum in den Rainbepflanzungen zwitscherten und fühlte eine vollkommene Einheit mit ihnen. Er war in den Gesängen, in den Lauten, er war auch in den niedrigen Bäumen und im Buschwerk, er war das Feld, der Himmel, die Frühsommerwolken, der kühle Wind, der um ihn strich. Er lachte und streckte seine Hände aus. Er umfasste die ganze Schöpfung und fand sich in jedem Ding, in jeder Erscheinung. Der kleine Käfer da war er selbst, die Birke zwischen den Gräbern ebenso. Das ist es, dachte er und wusste gar nicht, woher dieser Satz in ihm kam. Das ist es, das bist Du. Tat twam asi. Tat twam asi. Es dröhnte in ihm immer lauter. Eine Sprache, die er nicht kannte, nicht kennen konnte. Tat twam asi. Ein ungeheures Glücksgefühl überschwemmte ihn nun und ließ ihn nach Luft schnappen. Er stand auf der Mauer und drehte sich, drehte sich ohne zu fallen, in der Einheit mit Himmel und Erde, mit allem was war, mit dem Kosmos da draußen, der ganz in ihm war, mehr noch, der er selbst war ohne jede Unterscheidung. Kein Quäntchen konnte nun zwischen ihm und Alles passen, so dicht erschien ihm die Gesamtheit. Wie ein ungeheurer Mahlstrom sah er das Kommen und Gehen der Erscheinungen und doch war da nur eine Natur, nur ein Sein. Das wusste er damals natürlich noch nicht zu benennen und es war auch gar keine Zeit, darüber zu sinnen. Es war, als ob er in Kaskaden von Licht stand und alles durchschaute bis in den tiefsten Grund.

Plötzlich wurde ihm ganz kalt und er sprang von der Mauer. Er lief um die kleine Kirche herum, um sich aufzuwärmen. Das Erleben zuckte noch in seinen Muskeln nach, doch er fühlte sich plötzlich ganz verlassen und verwirrt. Was war das gewesen? Er kannte damals die Antwort noch nicht. Aber er wusste, dass es wahr war, dass es kein Traum, keine Halluzination war. Langsam ging er den Feldweg von der Kirche weg in Richtung der Stadt.

7

Ein andermal entdeckte er in der seitlichen Mauer der kleinen Kirche am Hügel eine zierliche Pforte. Er zog an der Schnalle und mit einiger Mühe gelang es ihm, die eiserne Türe aufzuziehen. Sie musste schon lange nicht mehr geöffnet worden sein, denn ihre Unterseite schabte mit einem kreischenden Geräusch über die steinerne Schwelle. Dahinter gingen ein paar Stufen in die Tiefe. Sid wartete, bis sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Dann sah er es: Aufgeschichtete Knochen, Schädeln, Beine. Sorgfältig gestapelt wie das Unterzündholz im Schuppen. Nicht mehr nach Menschen zusammengefügt, sondern nach Arten. Da Oberschenkelknochen, dort Brustbein und Rippen, da Hüftknochen, Füße, Unterarme. Dazwischen ein Brett, das rundum im Raum lief und auf dem die Schädel platziert waren. Auf vielen standen Namen, andere waren verziert, wieder andere halb zerfallen. Leere Augenhöhlen gafften ihn an und Sid starrte zurück, von einem regungslosen Grauen ebenso ergriffen wie von einer unsagbaren Faszination. Er streckte die Hand nach einem Schädel aus. Der Kopf fühlte sich ganz glatt an, wie poliert. Er wirkte weich in der Hand, obwohl der harte Knochen nicht nachgab, wenn Sid auf ihn drückte.

Der Junge hockte sich nieder und ließ einen Lichtstrahl auf den Kopf fallen. Da entdeckte er ein kleines Loch in der Seite und fragte sich, ob dieser Mensch wohl gewaltsam gestorben war. Das Loch sah aus, als ob eine Spitze durch das Schädeldach geschlagen worden war. Der Rand war zerfurcht, doch der übrige Kopf ohne weitere Beschädigungen. Das Gesicht blickte ihn ernst an, die Wülste ober den Augenlöchern wirkten stark und streng. Wer mochte das wohl sein? Was hat dieser Mensch erlebt? Hatte er ein glückliches Leben gelebt oder war er ein unglücklicher Mensch?

Sid schien, als ob er plötzlich mit dem Leben dieses Menschen in Verbindung trat. Er sah einen großen, ernsten Mann in dunkler Kleidung, gottesfürchtig und streng gegen sich selbst und seine Familie. Er sah ihn knien und beten, und er sah ihn verzweifelnd Gott fluchen, als er ein kleines Kind zu Grabe trug. Er sah ihn ganz allein, als die Pest seine ganze Familie ausgerottet hatte, und er sah ihn sinnend am Ufer des Flusses stehen, als auf der anderen Seite ein Heerlager errichtet wurde. Ein Schuss fiel und der Mann stürzte kopfüber zusammen. Einfach so, still und beinahe zufrieden, das dieses Leben im Leid vorüber war. Es war nichts Dramatisches in der Szene. Ein unspektakulärer Tod. In Kriegstagen starben tagtäglich Tausende, im Kampf, in brennenden Häusern und Kirchen, auf den Straßen, vor Entkräftung. Niemand nahm ihr Sterben besonders wahr. Es war alltäglich.

Sid zuckte zurück, denn der Bilderstrom war zu viel für sein Herz. Das ist das Leben? Das erwartete auch ihn? Rasch trug er den Schädel wieder zurück zu seinem Platz auf dem Brett und lief nach draußen. Mit voller Kraft drückte Sid die kreischende Türe zu und lehnte sich an das metallene Türblatt. Hier draußen war es ruhig und windstill. Die Wärme der Sonne tat ihm gut. Er war nicht aufgewühlt, sein Inneres fühlte sich ruhig an, doch zugleich spürte er auch eine gewisse Beklemmung. Die mächtigen Bilder flossen in ihm nach und zeigten eine andere Seite des Lebens, vor der er bisher bewahrt worden war.

Eine kühle, beinahe glasklare Bewusstheit erfasste ihn. Das war auch das Leben. Er setzte sich auf die kleine Bank unter dem Vorsprung, von der aus er das ganze Tal überblicken konnte. Die Welt erschien ihm nun ganz ruhig, weder freudlos noch anziehend. Er schaute einfach nur. Der Wald war ganz entselbstet. Die Wolken, das Blau des Himmels waren ohne inneres Sein. Die nahe Stadt war eine Ansammlung von kantigen Mustern, auch wenn da und dort aus den Rauchfängen dünne graue Fahnen in den Himmel aufstiegen. Auf der Straße bewegten sich Gebilde in Menschenform, in Form eines Gefährts, in der Form einer Kuh, eines Esels, eines Hundes. Sie waren ganz leer und ohne ein Selbst. Sie gingen wie selbstverständlich ihrem Tod entgegen, dachte er. Denn keiner entkommt seinem Tod. Ein intensives Weh zog ihm plötzlich das Herz zusammen. Die kühle Klarheit war verschwunden und stattdessen stieg eine namenlose Angst in ihm auf. Wozu sollte es dann gut sein, zu leben? fragt er sich. Doch die Frage schien ihm unsinnig. Keine Frage, keine Antwort, kein Weh, erkannte er plötzlich. Er konnte wieder in die Stille gehen und dann war alles entleert und so wie es eben war. Oder er konnte in sein Entsetzen gehen und in die sinnlose Frage und dann war da Schmerz und Sehnsucht und ein Halten wollen von etwas, das keinen Halt bietet.

Er streckte seinen Arm aus, so als ob er das Bild vor sich fassen wollte und sah nur seine leere Hand in den sommerblau gefärbten Himmel ragen. Er drehte diese leere Hand hin und her und war verwundert über die Bewegung, die sie ausführte. „Was bewegt diese Hand?“ fragte er. Die Hand drehte sich weiter und es gab keine Antwort. Aber etwas anderes stellte sich ein. „Das bist Du!“, sagte es wieder ganz leise in ihm. Es war wie eine Gewissheit, die keinen Beweis brauchte. Das bist Du. Er erinnerte sich auch der fremden, der heiligen Worte, die ihm schon einmal von irgendwo her eingeflossen waren: Tat twam asi.

Dieser Satz tröstete ihn, obwohl er eigentlich keine Erklärung, keine Hoffnung und kein Versprechen in sich barg. Das bist Du. Und wieder machte er sich auf den Heimweg, randvoll mit dem, was ihm dieser Nachmittag geschenkt hatte und was er erst viele Jahre später wieder entdecken würde, um es zu leben.

Der Bodhisattva sprach:

Lass Dich in Beziehungen nur von zwei Faktoren leiten. Von der Vergänglichkeit und von bedingungsloser Liebe. Vergänglichkeit bedeutet, dass ich mir selbst in den intimsten Augenblicken bewusst bin, dass sie vorüber gehen, dass ich sie nicht festhalten kann. So wie die ganze Beziehung. Eines Tages wird einer der beiden gehen und einer der beiden bleiben. Dann ist es vorbei. Ist das nicht ein wunderbarer Grund, jeden Moment intensiv und achtsam wahrzunehmen? Ist das nicht ein ebenso wunderbarer Grund dafür, aufzuhören, an den Anderen irgendwelche Erwartungen, Ansprüche oder Hoffnungen zu kitten? Liebe ist bedingungslos oder sie ist keine Liebe, sondern ein Geschäft. „Wenn Du so und so bist, dann….“, „Wenn Du das und das tust, dann….“ – wie oft sind wir in diese Falle getappt? Wie viele Beziehungen haben wir damit kaputt gemacht? Durch Selbstbetrachtung wissen wir, was das für eine Beziehung bedeutet, befrachtet, benutzt, missbraucht zu werden. Und es hat trotzdem Jahre und Jahrzehnte gebraucht, bis wir begriffen haben, was bedingungslos heißt. Bedingungslos heißt, in der Liebe zu bleiben, auch wenn der andere Dich „enttäuscht“. Wenn Du das nicht kannst, dann liebst Du nicht. Wenn Du das kannst, dann werden Deine Beziehungen zu Orten der Kraft und der Verwirklichung dessen, wofür wir eigentlich auf der Welt sind – einander in Liebe zu begegnen.

Mögen alle Wesen in diesem Zustand verweilen.

8

Als Sid 15 Jahre alt war, wurde er von seinem Vater in eines der Bordelle der Gesellschaft gebracht. Er fühlte sich unsicher in dieser neuen, anderen Welt. Große Diwane standen in einem mäßig beleuchteten Raum. Parfum-Düfte hingen schwer um die Gruppen von Frauen, die nur unvollständig bekleidet auf Bänken und Stühlen hockten. Männer der Mafia-Familie, die Sid schon vom Sehen kannte, standen in dunklen Anzügen an den Eingängen und nickten ihm freundlich grinsend zu. Sein Vater ließ beim Eintritt in den großen Raum seine Hand los. Sid stand unsicher neben einer großen Zimmerpalme und blickte nur scheu auf. Sein Blick streifte die Beine der Frauen, er wagte ihn nicht nach oben zu richten. Aber er fühlte, dass sich alle Blicke ihm zugewandt hatten. Das Tuscheln der Frauen war kurz nach dem Eintritt von Don Gautelesi erstorben und setzte erst wieder ein, als sich dieser der Bar zuwandte und ein Glas süßen Rotwein bestellte.

Mit dem Glas in der Hand wandte sich Don Gautelesi wieder dem Raum zu. An die Bar gelehnt blickte er eine Frau nach der anderen kurz an. Sie erstarrten unter seinem Blick und wieder war es totenstill im Raum. Die Nachmittagssonne stahl sich durch Schlitze zwischen den schweren Vorhängen hindurch und zeichnete helle Striche auf den dicken Teppichen. Sid hörte die große Pendeluhr ticken, dann schnarrte das Uhrwerk und löste fünf tiefe Schläge aus. Mit den Schlägen richtete sich Sid wieder auf, so als ob ihm die Uhr mit ihrem Läutwerk Kraft eingeflößt hätte. Auch er blickte sich um und sah jetzt den Frauen ins Gesicht. Sie waren geschminkt, manche hübsch, andere grell und aufreizend. Ihr Haar war meist nach oben gesteckt und mit einem Kamm nachlässig zusammengehalten. Sie wirkten, als ob sie gerade aus dem Bett aufgestanden wären und ihren Liebhaber erwarteten.

Sid wusste, warum er da war. Er wusste auch, dass er nun das erste Mal in seinem Leben mit einer Frau zusammen sein würde. Sein Herz schlug bei diesem Gedanken heftig bis hinauf in den Hals. Sein Bauch summte und sein Genital fühlte sich wie gelähmt und kraftlos an. Er sah sich auch jede einzelne Frau an, aber sein Blick war nicht so fest wie der seines Vaters. Er blickte suchend, beinahe Hilfe suchend, und er suchte die Wärme in den Augen der jeweiligen Frau. Ein junges Mädchen fiel ihm auf, halb versteckt hinter einer Pflanze. Sie hielt die Augen gesenkt und blickte erst auf, nachdem er sie eine Weile betrachtet hatte. Sie war sehr zart und weniger nachlässig gekleidet. Ein dünnes, rotes Kleid fiel an ihr herab, die Schultern hatte sie hochgezogen und die Hände in ihrem Schoß ineinander verschlungen. Ihr Ausschnitt war nicht so tief wie der ihrer Kolleginnen. Er bedeckte beinahe züchtig ihren Brustkorb und ließ die beiden Brüste nur ahnen. Auch in ihrem Blick war ein Suchen, ein Hilfesuchen, eine Sehnsucht nach Wärme.

Sid fühlte den Blick seines Vaters auf sich gezogen. Er schaute ihn kurz an und in den Augen seines Vaters war etwas wie Verstehen. Dann wandte sich Don Gautelesi einer älteren Frau zu, die Sid erst jetzt bemerkte. Sie war grell geschminkt und als einzige Frau sorgfältig gekleidet. In ihrem schwarz gefärbten Haar schimmerte eine Perlenkette. Ihr dunkles Kleid war von einiger Qualität und legte sich weich um ihren fülligen Körper. Der Pate flüsterte ihr etwas zu, worauf sie in den Hände klatschte und alle Mädchen in ihre Zimmer schickte. Nur das junge Mädchen befahl sie mit einer herrischen Geste zu sich. Sie sprach leise, aber eindringlich auf sie ein und das Mädchen nickte stumm. Sid beobachtete die Szene. Der Raum kam ihm nun leer und verlassen vor. Die Männer hatten die Türen von außen geschlossen, nur sein Vater stand noch mit dem Rücken zur Bar und nippte an seinem Glas. Doch auch er drehte sich jetzt grußlos um und ging auf eine der Türen zu, die sich leise öffnete und wieder schloss.

Sid war allein mit den beiden Frauen im Raum. Die ältere kam auf ihn zu, nahm ihn bei der Hand und redete freundlich auf ihn ein. Sie nannte sich Donna Anna. Ihre Freundlichkeit war aufgesetzt, dahinter spürte Sid eine harten festen Geist, der ihm Angst machte. Dann sah er wieder auf das Mädchen, die ihn ein wenig ängstlich anblickte. Donna Anna zog ihn zur Treppe, führte ihn hinauf und redete weiter auf ihn ein. Er verstand kaum etwas. Sein Rücken war belebt von einer warmen Neugier, die sich von dem Mädchen angezogen fühlte, das hinter ihnen ging.

Oben angekommen schritten sie auf einem wulstigen Teppich, der alle Schritte dämpfte, einen lang gestreckten Flur entlang. Eine der Türen öffnete sich ein wenig und wurde hastig wieder geschlossen. Sie erreichten das Fenster am Ende des Ganges. Rechts davor befand sich eine hohe Doppeltüre. Die ältere Frau öffnete den einen Flügel und schob ihn in den Raum. Sid atmete tief durch und blieb erstarrt stehen. Das Mächtigste in diesem Zimmer war ein großes Bett mit einem Stoffhimmel aus grünem Satin. Es zog sofort seinen Blick auf sich. Durch das Fenster warf die Sonne ein warmes Rechteck auf die kostbare Tagesdecke, doch die Frau dämpfte sofort das Licht, indem sie die Vorhänge zuzog. Auf einem Waschtisch neben dem Bett stand ein Glaskrug mit duftendem Wasser. Intarsien zogen gleichmäßige Strukturen über den dunklen Holzboden, der leise unter den Schritten der Bordellchefin knarrte.

Das Haus war früher einmal das Landschloss eines Adeligen aus der Hauptstadt, der all sein Geld in den Spielzimmern der Gautelesi-Familie verloren hatte. Er erschoss sich in einem der vielen Zimmer dieses Hauses und Don Gautelesi ließ vor der Testamentseröffnung der Familie diskret die vielen Schuldscheine präsentieren, die der Adelige unterzeichnet hatte. Man kam überein, dass die Schulden mit der Abtretung des kleinen Schlosses getilgt waren und Don Gautelesi richtete darin ein Bordell für reichere Kundschaft ein, abgesondert und verschwiegen und bekannt für die Güte und das bezaubernde Benehmen der Damen. Abends untermalte ein Klavierspieler die Anbahnungsgespräche.

Öfter kam eine Gruppe von Jägern nach erfolgreichem Weidwerk ins Haus und ließ sich die besten Schaumwein-Jahrgänge servieren. Donna Anna, stets im dunklen Kleid und aufreizend lächelnd, unterhielt sich kultiviert mit diesen Gästen und organisierte dezent, dass sie in einem der Zimmer mit oder ohne Begleitung ihren Rausch ausschlafen konnten. Sie war eine umsichtige und umtriebige Bordellmutter, die sogar sich selbst noch an ausgesuchte Gäste mit speziellem Geschmack verkaufte. Die Herren an den Türen blieben dezent im Hintergrund und sorgten dafür, dass keine ungebetenen Gäste ins Haus kamen.

9

An diesem Nachmittag aber blieb das Haus geschlossen. Niemand sollte sehen, dass Don Gautelesis Sohn in die Geheimnisse der körperlichen Liebe eingeführt wurde. Donna Anna verließ leise das Zimmer und blickte sich noch einmal um. Das Mädchen saß mit zusammengepressten Beinen am Bettrand, während Sid unschlüssig das Muster des Vorhanges studierte. Dann schloss sich die Türe und es war wieder still. Hier stand keine Uhr, die die Aufmerksamkeit des Jungen hätte auf sich ziehen können. Er fühlte wieder dieses Kribbeln und Krabbeln im Rücken, drehte sich um und ging auf das Mädchen zu. Er küsste sie heftig auf den Mund, so heftig, dass es sie schmerzte. Sie schob ihn sachte zurück und hielt ihre Hände erhoben, als er sie losließ. „Bitte“ sagte sie „langsam.“ Er fragte sie: „Wie heißt du?“. Sie sah ihn an: „Miriam“. Er streichelte ihr ungeschickt über das Gesicht. Sie nahm seine Hand und zog ihn neben sich auf den Bettrand. Sid setzte sich und blickte sie an. Sie hielt noch immer seine Hand und spielte mit seinen Fingern. Sie schien nicht sehr viel älter als er. „Bist Du schon lange hier?“ fragte er. „Erst seit dem letzten Frühjahr, meine Eltern haben mich hierher verkauft“. „Verkauft?“ erwiderte Sid erstaunt. „Ja, mein Vater hatte Schulden bei Deinem Vater, weil er einen Kredit nicht zurückzahlen konnte. Und so haben mich meine Eltern verkauft.“

Sid reagierte erstaunt. Er wusste bis zu diesem Augenblick nicht, dass sein Vater auch Menschen kaufte. Er war in die Geschäfte seines Vaters immer nur eingeweiht worden, wenn er zufällig eine Unterhaltung mithörte oder eine Transaktion in seinem Beisein ablief. Sein Vater suchte ihn von den Aktivitäten des Clans fernzuhalten. Manchmal schien es, als ob er ihn nicht zu seinem Nachfolger machen wollte. Sid selbst hielt sich immer ein wenig versteckt, wenn es um Geschäfte ging. Er reagierte ein wenig ängstlich, als ob er die tödliche Gefahr spürte, die von diesen Aktivitäten ausging. Sie übten keinen Reiz auf ihn aus und sein Vater sah immer wieder die reine Gestalt seiner geliebten Marca in ihm und mochte diese nicht einer großen Gefährdung aussetzen.

„Bist Du gerne hier?“ forschte Sid weiter. „Das Leben hier ist angenehm“ sagte Miriam, „aber es ist nicht das, von dem ich geträumt habe.“ „Wovon hast du geträumt?“ “Ich wollte reisen“. Sid schwieg. Eine Welle von sexueller Gier trieb ihn plötzlich in das Schweigen. Er blickte sie an. Sie verstand. Beide griffen nach dem Körper des anderen. Sie küssten einander heftig und begannen tief zu atmen. Langsam zog er ihr Kleid hoch. Sie war darunter nackt. Sie öffnete seine Hose und zog seinen erregten Penis heraus. Langsam legte sie sich auf den Rücken und führt sein Glied ein.