Der andere Flügel des Adlers - Yoshin Franz Ritter - E-Book

Der andere Flügel des Adlers E-Book

Yoshin Franz Ritter

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Beschreibung

Unsere Welt hat eine 300jährige Erfolgsgeschichte hinter sich. Milliarden Menschen entkamen bitterster Not und leben heute in (wenn auch oft nur bescheidenen) Wohlstand. Doch der wirtschaftliche Erfolg unserer Welt hat uns vergessen lassen, dass wir nicht nur Wirtschaft sind. Es geht nur mehr darum, unsere Individualität im gesellschaftlichen Rahem zum "Erfolg" zu führen. Wir gleichen deshalb einem Adler, der sich völlig auf einen Flügel verlässt und deshalb ziellos im Kreis herumflattert. Wir haben aber auch einen zweiten Flügel, den der Innerlichkeit. Erst wenn wir auch ihn einsetzen, spüren wir die Mitte in uns. Und können uns zu neuen Höhen des Menschseins aufschwingen. Die meditative Übung Naikan/Innenschau lässt uns entdecken, dass wir mehr sind als Marionetten des wirtschaftlichen Erfolgs. Dass wir unsere Mitte finden, wenn wir unsere Ganzheit erfahren. Mit allem Licht und Schatten, wie C.G. Jung sagt. Und Schatten, das ist vor allem unser Umgang mit unserer Erde. Den wir dringend verändern müssen. Naikan ist eine in Japan von Ishin Yoshimoto entwickelte Methode der Selbstfindung und Selbstheilung. Naikan verbindet die Erkenntnis der westlichen Psychotherapie, dass unser jetziges Leben Ergebnis unserer Herkunft ist, mit der Transzendenzkraft der Meditation, in der wir zu uns selbst zurückfinden - jenseits der Rollen, die uns unser bisheriges Leben vorgeschrieben hat.

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Wir haben uns im Außen verloren.

Wir gleichen Menschen, die auf einer Gebirgswanderung einen falschen Weg eingeschlagen haben und nun ohne Karte und Ziel immer weiter gehen.

Unsere Hoffnung ist, dass wir zum Ausgangspunkt zurückfinden, indem wir in den Himmel und auf die Bergspitzen starren.

Doch der Ausgangspunkt, das sind wir selbst. Aber wo sind wir?

Für Mira

Dieses Buch verdankt sein Entstehen vielen Menschen, die darin vorab gelesen haben, es gedanklich unterstützten und Anmerkungen machten. Ihnen allen schulde ich großen Dank. Stellvertretend für viele nenne ich Akira Ishii, Lukas Pokorny, Christoph Neubauer, Sabine Kaspari, Elisabeth Gabauer und meine Söhne Johannes und Julian.

Sie ließen den Text mit ihren Anmerkungen, unterstützenden Beiträgen und Korrekturen reifen, auch wenn ich nicht alle ihre Beiträge berücksichtigten konnte.

Am meisten danke ich meiner Lebensfrau Margit, die geduldig Seite um Seite mehrmals las, wo nötig korrigierte und deren Einsichten wichtige Bausteine für den Text wurden.

Yoshin Franz Ritter

Der andere Flügel des Adlers

Selbstentfremdung und die Welt der Krisen

Eine Naikan-Betrachtung

Lektorat: Margit Lendawitsch

Foto Cover+Seite 405: Eberhard Grossgasteiger

Cover-Design: Julian Ritter

Textfotos: Internet, Johannes Ritter, Franz Ritter

Kalligraphien von Goun Ikegami

© 2022 Yoshin Franz Ritter

ISBN Softcover: 978-3-347-75241-2

ISBN E-Book: 978-3-347-75242-9

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors. [email protected]

www.naikan.com

Inhalt

Vorwort von Akira Ishii

Teil 1: Der offene Geist und seine Feinde

1.1 Lost In Space

1.2 Die fließende Welt

Die harmonische Welt

1.3 Das Offensichtliche

1.4 Trio infernale

1.5 Bedürfnis vs. Bedürftigkeit

1.6 Tanha

1.7 Hier und Jetzt

Teil 2: Naikan

2.1 Naikan Innenschau

2.1.1 Die Stufen der Entwicklung

2.2 Die Geschichte von Naikan

2.3 Die Praxis des Naikan

Die Kodo-Naikan-Methode

Teil 3: Wandlung

3.1 An der Schwelle

3.2 Die neue Innerlichkeit

4. Übungen

Quellenverzeichnis:

Naikan-Zentren und -Kontaktpersonen

Links rund um Naikan

Der Autor

Bücher von Yoshin Franz Ritter:

Ziel des Naikan

Vorwort von Akira Ishii

Ich traf Franz Ritter das erste Mal 1978 in Japan während einer Zen-Reise. Er leitete damals das Buddhistische Zentrum in Scheibbs, Niederösterreich. Nach einem langen Gespräch, in dem ich ihm von Naikan erzählte, zeigte er sich von der Methode tief beeindruckt und organisierte 1980 das erste Naikan-Seminar außerhalb von Japan.

Die Teilnehmer*innen des ersten Naikan außerhalb von Japan

Wir haben danach mehrere Male zusammen Naikan geleitet und Franz hat später Naikan auch in Italien und in der Schweiz eingeführt.

1986 begründete Franz das erste Naikan-Zentrum außerhalb von Japan und leitet seither immer weiter Naikan-Seminare innerhalb und außerhalb seines Zentrums. Dadurch wurden viele Leute mit Naikan bekannt und wurden so wie er durch Naikan auf eine neue Ebene des Lebens gehoben.

Einige Menschen, die bei Franz Naikan gemacht hatten, wurden selbst Naikan-Leiter*innen und eröffneten Naikan-Zentren. Im Moment gibt es 10 Naikan-Zentren im deutschsprachigen Raum.

Er und ich haben mit anderen Naikan-Freunden 1991 die INA, die International Naikan Association gegründet und den Internationalen Naikan-Kongress organisiert. Dieser fand bereits 12-mal in vielen Teilen der Welt statt. Zwei Mal organisierte er den Ablauf eines INA-Kongresses in Österreich. Außerdem ist er seit 2016 Präsident der Internationalen Naikan Gesellschaft.

Als Zusammenfassung und auch als Erfolg dieses Lebens hat er das vorliegende Buch geschrieben, das auf Basis seiner langen Erfahrung sehr klar und tief ist. Ich wünsche mir, dass durch dieses Buch die Leser*innen die Wichtigkeit und die Tiefe von Naikan erkennen und dadurch zu Naikan geführt werden, Naikan machen und ein neues, glückliches Leben für sich finden.

Akira Ishii, Tokyo

Teil 1: Der offene Geist und seine Feinde

Alle Autorität

die ich besitze

beruht einzig darauf

dass ich weiß

dass ich nicht weiß

Sokrates

 

Die Flügel des Adlers der linke Flügel der Freiheit der rechte Flügel der Verbundenheit

Der Adler lässt sich fallen fallen in den Wind und schwebt in seiner Mitte

Der Wind trägt ihn hoch hoch in die Weite des Himmels bis in die Unendlichkeit

Yoshin Franz Ritter

Als ich das Buch vor 3 Jahren zu schreiben begann, war die Welt in der gewohnten (Un-)Ordnung. Greta Thunberg schaute Donald Trump böse an (was dieser möglicherweise erst am Abend bemerkte, als sein Lieblings-TV-Sender die Szene zeigte), die Jungen gingen am Freitag „for future“ auf die Straße und die Erderwärmung schritt planmäßig fort (Vorsicht! Ironie der Sorte bitterer Honig!). Von China aus machte sich ein Virus auf die Suche nach neuen Einsatzmöglichkeiten auf der ganzen Welt. Und Weihnachten stand vor der Türe, was ich wieder einmal fast versäumte.

In dieser Zeit entdeckte ein Arzt in Wuhan eine seltsame Lungenentzündung bei Patienten und sprach darüber, wie es seine Pflicht als Mediziner ist. Es brachte ihm eine hochoffizielle Verwarnung seitens des Regimes ein und seine Entdeckung kostete ihn später selbst das Leben. Der ganz normale Wahnsinn halt oder auch die Art, wie wir Menschen unsere Welt gestalten.

Die folgenden weltweiten Corona-Aktivitäten haben den Wertekanon der Gesellschaften durcheinandergewirbelt. Oder soll ich schreiben, vom Kopf auf die Füße gestellt? Plötzlich war nicht mehr das Wirtschaftswachstum das Leitmotiv der Staaten, sondern ihre ursächliche Aufgabe: Die Menschen und deren Leben zu erhalten und zu schützen. In Blitzesschnelle zeigte sich eine völlig veränderte Welt. Eine Welt, die bisher im Verborgenen wirkte, oft unbeachtet und unterbewertet: Die Welt der wirklichen Systemerhalter, der medizinischen Berufe, der stillen Dulder, der Frauen im Beruf, der Menschen „an der Front“. Das wurde während der Pandemie schmerzhaft sichtbar und darf uns trotzdem nicht die viel größere Tragödie aus den Augen verlieren lassen, auf die wir weiterhin ungebremst losmarschieren: Die ökologische Krise unserer gemeinsamen Welt, verursacht durch ein kurzsichtig handelndes Wirtschaftssystem.

Denn diejenigen, die bisher die Entwicklung der internationalen Gemeinschaft mittels Finanzkapital und Lobbying in ihrem Sinne lenkten, versuchen trotz der weltumspannenden Krise weiterhin den Globus mittels profitabler Investitionen zu ruinieren. In dem sie nichts unversucht lassen, ihre Sharing-Schäfchen ins Trockene zu bringen. Was ihnen auch sehr gut gelingt. Die 10 reichsten Männer der Erde verdoppelten laut der Entwicklungsorganisation Oxfam ihr Vermögen während der CoronaZeit.

Den Inhalt dieses Buches plane ich seit mehr als 40 Jahren. So lange ist es her, dass ich selbst in einer Übung saß, die mein Leben umkrempelte - Naikan. Am Ende meiner 7 Tage Naikan-Innenschau sah ich die Welt anders, konnte meine Mutter wieder so umarmen, wie es ihr als Mutter gebührt und hatte (für einige Wochen) alle Übertragungen und Projektionen in mir zum Schweigen gebracht. So sehr, dass damals mein Psychotherapie-Ausbilder, Mischka Solonevich, mich während eines Ausbildungswochenendes fragte: „Was ist los mit Dir? Ich kann mit Dir nicht mehr arbeiten!“. Mischka ist ein toller Kerl und er machte später selbst Naikan. Und seine Frage hat mir erst vor Augen geführt, wie tief die Verwandlung war, die in mir stattgefunden hat.

Natürlich wusste ich damals noch nicht, dass erst nach der Absolvierung des Retreats das wirkliche Naikan beginnt. Die Methode ist keine Zauberpille. Aber sie bringt unseren Geist auf einen neuen Level, den er sich im Alltag danach erarbeiten muss. Und erarbeiten heißt, in jedem Moment, in jeder Begegnung zu spüren, was die richtige Seite unseres Daseins ist und was alte Muster sind, die uns an einem wirklichkeitsorientierten Leben hindern.

Ich begann also im November 2019 damit, dieses Buch zu schreiben. Dann, mitten in den ersten Schreibprozess hinein, platzte die Virus-Nachricht von Covid-19. Und ich erkannte, dass mein Buchthema nicht nur die Selbstentwicklung als Antwort auf die Klimakatastrophe einbezieht, sondern auch das Corona-Virus und die Krise, die es in uns allen ausgelöst hat. Als ob das noch nicht genügte, rückte später der Krieg in der Ukraine die Gefahr einer weltweiten Bedrohung durch Atomwaffen ganz nah an uns heran. Plötzlich wird uns bewusst, was alles in der Welt im Argen liegt. Dass wir auf eine ganz normale Viren-Bedrohung, vor der seit Jahren gewarnt wird, nicht vorbereitet sind, wenn sie in Zeiten der Globalisierung plötzlich wie Covid-19 explodiert. Dass wir (persönliche und staatliche) Grenzen schließen, statt uns fremder Hilfe anzuvertrauen. Dass immer noch Nationalstaaten statt der Weltgemeinschaft das Sagen haben, obwohl sich die Bedrohung durch einem Virus nicht um Staatsgrenzen kümmert. Dass die Fixierung auf Ideologien und neurotische Haltungen jederzeit, wie der Sturm auf das Kapitol oder der Überfall auf die Ukraine die ganze Welt in eine tiefgehende Krise stürzen kann. Und über allem schwebt das Bewusstsein, dass wir durch unseren Umgang mit der Natur möglicherweise unseren eigenen Untergang heraufbeschwören.

Als Überthema steht in der Krise die Selbstentfremdung im Raum, die schon Karl Marx als Bedrohung unseres menschlichen Wesens benannt hat, und die durch die Digitalisierung und Roboterisierung rasend schnell vorangetrieben wird. Denn bei allem Getöse und Geplapper aus allen Medien lässt sie, die Selbstentfremdung, die uns seit langer Zeit begleitet, die menschliche Kommunikation (das Wort leitet sich von communico – gemeinsam machen - ab) immer mehr verarmen. Das sind menschgemachte Krisenfaktoren, die wir bisher einfach hingenommen haben. Bis sie begannen unser eigenes Leben zu bedrohen.

Wenn Menschen ihr Ding machen können, also ihr Essen produzieren (oder produzieren lassen und dafür etwas anderes, wie die eigene Arbeitsleistung, zum Tausch anbieten), wenn sie Zeit und Ort für Erholung und Spaß haben, ihre Kinder großziehen können und in Ruhe alt werden, wenn sie also ein gutes Leben führen, dann bewältigen sie gemeinsam die natürlichen Katastrophen wie Erdbeben, Hochwasser, Waldbrände und Vulkanausbrüche, indem sie einander helfen. Das ist selbstverständlich und steckt in jedem von uns. Wenn wir uns aber verloren haben, uns selbst entfremdet sind, dann gehen Krisen auch von uns selbst aus. Soziales Fehlverhalten, Machtstreben, Gewalt, Sucht, Habenwollen und Krieg verstärken die natürlichen Tragödien, die das Leben auf der Erde immer schon begleitet haben. Denn wenn wir uns verloren haben, dann haben wir auch die anderen verloren. Dann haben wir keinen Zugang zu uns selbst und damit auch keinen zu den anderen. Dann wird es schwer, Hilfe zu geben und Hilfe zu finden. Deswegen müssen wir uns erst selbst finden, um Hilfe von außen annehmen zu können. Und um anderen beizustehen.

Eine Naturkatastrophe ist noch keine Krise. Aber wir machen vielleicht eine daraus. Denn Krisen entstehen in uns selbst. Bei Krankheiten ist uns dieser Mechanismus meist klar. Rauchen bringt viele Menschen in gesundheitliche Bedrängnisse, wie etwa Atembeschwerden oder Lungenkrebs. Übermäßiger Stress schadet unserem Herz-, Kreislaufund Immunsystem. Falsche Ernährung schädigt unseren Körper, bis er sich mit einer Krankheit wie Diabetes oder Leistungseinschränkungen wehrt. In sozialen Angelegenheiten und noch mehr in der ökologischen Ganzheit unseres Lebens aber haben wir noch viel über diese Zusammenhänge zu lernen.

Unsere Welt ist per se eine unsichere Angelegenheit. In der wir Menschen immer wieder unseren Platz und uns selbst suchen. Und beides hoffentlich finden, bevor uns die Evolution aussortiert.

Danke, dass Du dabei bist.

PS.: Es ist nicht die Idee dieses Buches, eine Vision eines perfekten Lebens zu schaffen. Visionen entwickeln sich meist zu Ideologien. Und Ideologien spalten uns vom Erkennen des Hier&Jetzt ab. Es geht mir vielmehr darum, im gegenwärtigen Moment zu sein und darin dem Leben Gestalt zu geben. Das Wie und Was zeigt sich im Augenblick. Um darauf zu verweisen ging Sokrates auf den Markt, hat Laotse an der Grenzstation Halt gemacht, ist Bodhidharma aus dem Westen gekommen und warf Jesus die Tische der Geldwechsler im Tempel um. Damit wir endlich aufwachen und unsere Leben selbst in die Hand nehmen. Indem wir die Verbundenheit aller mit allem anerkennen und in gegenseitiger Achtung gestalten.

1.1 Lost In Space

Der Film „The Big Short“, der die Finanzkatastrophe von 2008 aufarbeitet, zeigt eine Handvoll Menschen, die erkennen, dass der amerikanische Häusermarkt, der zugleich die Grundlage des Vermögensaufbaus in den USA ist, auf ein Desaster zuläuft und alle Finanzinstitutionen dabei mitmachen. Die, die das erkennen, wetten sogleich gegen den Immobilienmarkt, um Gewinn daraus zu lukrieren. Als dann der große Crash kommt, stehen sie zwar auf der „richtigen“ Seite, aber zu welchem Preis? 6 Millionen Amerikaner*innen verloren ihre Häuser, 9 Millionen ihre Jobs, die Schockwellen der Finanzkatastrophe erreichten die ganze Welt. In dem genannten Film sehen die Gewinner genauso aus wie die Verlierer. Das ist auch in Wirklichkeit so. Wenn wir in einem System sind, dann bleiben wir im System und gewinnen und verlieren gemeinsam.

Und heute? Die Spekulation geht weiter. Immer noch sprechen Bankenchefs von Vermögensaufbau und einer finanziellen Sicherheit, die es nicht gibt. Und die Spekulation mit der Zukunft und den „volatilen“ Märkten geht - wenn auch etwas gedämpfter - weiter. Wie „volatil“ diese Finanzmärkte immer noch sind, zeigten die Dellen, die das Corona-Virus in die Börsenwerte schlug. Wir aber wetten nach wie vor, mit oder gegen das Klima, das Wirtschaftswachstum, die Demokratie. Was sollen wir auch groß tun?

Wenn wir uns alle aus diesem System verabschieden, kracht es zusammen. Das haben uns die Sowjetunion und ihre Vasallenstaaten 1989 gelehrt. Denn es gibt keine Stabilität in Systemen, die keine Mitte haben. Irgendwann ist die Schieflage so groß, dass der Crash unvermeidlich ist. 1989 das Sowjetsystem. 2008 der Kapitalismus in der Form, wie wir ihn leben (hat sich leider großteils „regeneriert“). 2010 folgte Griechenland, weil es seine überbordende (und bei der Euro-Einführung verschwiegene) Staatsverschuldung nicht mehr im Griff hatte. 2015 folgte dann die ungeheure Flüchtlingswelle, die der Syrien-Krieg und der IS-Terror ausgelöst haben. Und Covid-19 hat uns gezeigt, dass Unheil plötzlich und weltumfassend eintreten kann, wenn man nicht ausreichend dafür vorgesorgt hat. Alles das wird noch vom Ukraine-Krieg übertroffen, der eine derart schwachsinnige Begründung hat, dass man nicht glauben kann, dass ihr erwachsene Menschen folgen.

Wir haben noch keine Ahnung, wie wir die unfassbar hohen Verschuldungen und Folgekosten der Corona-Krise und des Kriegs in der Ukraine bewältigen werden. Und stehen zugleich weiterhin vor der größten Herausforderung, die man sich denken kann. Mit unserem für uns Menschen heilvollem Verhalten, das Angus Deaton in seinem Buch, „Der Große Ausbruch“1 beschreibt, haben wir zugleich in den letzten 300 Jahren unsere Umwelt schwer beschädigt. Allerortens entstehen Wetterphänomene, die Leben und Dasein bedrohen. „Schon jetzt belegen die Daten der Munich Re ganz klar, dass die Anzahl wetterbedingter Naturkatastrophen drastisch zugenommen und sich seit 1980 verdreifacht hat.“ sagt Peter Höppe, ehemaliger Leiter der Abteilung Georisiko-Forschung des Rückversicherers Munich Re. Daneben bringen uns die Kapriolen des Finanzsystems oft weiterhin um den Ertrag unserer wirtschaftlichen Aktivitäten. Und die weltweiten Kriegshandlungen bedrohen nach wie vor nicht nur Kriegsparteien, sondern vor allem unbeteiligte Zivilisten und Staaten. Das sind die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen.

„Wir haben es mit gewaltigen Umwälzungen zu tun, wie es sie seit langer Zeit in der Menschheitsgeschichte nicht mehr gegeben hat. Die verschiedenen Krisen überlagern und verstärken sich, das macht sie so gefährlich.“ sagt der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze.

Wenn wir Staats- und Lebenstheorien der Chinesen2 lesen - das I Ging (Yi Jing), Lao Tse, Mengzi, Kong Zi (Konfuzius), Zhuangzi und andere, Einsichten, die Jahrtausende nach ihrer Entstehung immer noch hochaktuell sind - dann finden wir eine andere Art der Philosophie des Wirkens einer menschlichen Gesellschaft.

„Wenn der Weise sein Werk getan hat, dann denkt das Volk, es hat alles selbst getan“ heißt es etwa im I Ging. Kong Zi gibt den Chinesen auch noch heute Handlungsanleitungen. Seine Bücher sprechen von einer Mitte, von Weisheit, von Innerlichkeit. Von einem behutsamen Leben, das sich tastend vorwärtsbewegt. Das reflektiert, wenn es einen Schritt setzt, welche Folgen dieser für die (Um-) Welt haben könnte. Wer bei diesem Schritt verliert und wer gewinnt. In diesem Denken und Vorausschauen steht nicht nur Mobilität im Vordergrund, sondern auch Stabilität. Und vereint beides in einer dynamischen Balance, die sich in der Vorwärtsbewegung einstellt und in jedem Moment neu erfahren werden muss. Das ist Mitte.

Wie finden wir unsere Mitte? Natürlich nicht im Außen. Dort finden wir alles, was uns immer weiter von ihr wegführt. Die Mitte ist in uns. Nur haben wir verlernt, sie wahrzunehmen. C.G. Jung sagte dazu: „Wer zugleich seinen Schatten und sein Licht wahrnimmt, sieht sich von zwei Seiten. Und damit kommt er in die Mitte.“

Dazu müssen wir nach innen schauen. Wir müssen aufhören, unser Heil nur in Außenaktionen zu suchen. Das nächste Schnäppchen oder das neue Auto löst bei den meisten von uns kein einziges unserer wirklichen Lebensprobleme. Es bewirkt eher das Gegenteil, wie der falsche Weg im Gebirge.

Wenn wir nach innen schauen, dann finden wir das jeweils für uns Richtige, indem wir unsere Befähigungen und unsere Mängel erkennen und sie berücksichtigen. Und wenn wir darüber hinaus im Gemeinschaftsgefühl verankert sind (davon später mehr), dann entfernen wir uns damit auch nicht sehr weit von unseren Mitmenschen. Denn wir denken wie sie. Wir leben wie sie. Wir fühlen wie sie. Natürlich denken, fühlen und leben wir nicht dasselbe. Darin sind wir, wie jeder von uns, einzigartig. Aber wir tun es auf dieselbe Weise. Das ist das Verbindende. Das macht auch Aktivitäten möglich, die unserer Umwelt dienen und helfen, die dort anstehenden Probleme zu lösen.

Derzeit hat das ganze System Schlagseite, und wir mit ihm. Es spielt sich alles im Außen ab. Wir können unsere Mitte gar nicht spüren, denn wir sind wie Adler, die glauben, dass sie nur einen Flügel haben. Bis vor kurzem haben wir diesen Flügel stolz angebetet, waren voller Kraft und Dynamik und flatterten doch immer mehr im Kreis herum. Dieser Flügel ist unsere Außenfixierung und unser Glauben an die Materie. Wir haben dabei vergessen, dass da noch ein zweiter Flügel ist, der Flügel des Geistes und der Versenkung nach innen. Deshalb ist es schwer, die Mitte zu spüren. Deshalb ist es schwer abzuheben. Deswegen ist es schwer, und wir wissen in Wirklichkeit nicht, was wir weiter tun sollen. Selbst wenn uns Covid-19 irgendwann wieder verlassen hat.

1.2 Die fließende Welt

Ein bekanntes Genre der japanischen Kunst wird von der Philosophie der fließenden Welt - Ukiyo-e - beherrscht, die es in einem Bild einzufangen gilt. Wertvolle Holzschnitte und Gemälde entstanden, um im Moment des Betrachtens das Fließen der Welt sichtbar zu machen. Die fließende Welt hat zwei Elemente - das Glück des Moments und die Kaimauer der Kontinuierlichkeit. Zwischen diesen beiden Elementen strömt der Fluss unseres Lebens dahin. Wir hoffen auf einen überraschenden Gewinn und träumen davon, ihn in eine von Nachhaltigkeit geprägte Existenz zu verwandeln. Der Gewinn am Roulette-Tisch soll ein Leben voll andauernder Glückseligkeit ermöglichen. Doch der Fluss des Lebens ist nicht nur ein ruhiges Dahinströmen, sondern auch voll mit Stromschnellen, Wasserwalzen und hemmenden Steinen. Selbst nach dem Gewinn sind wir nicht davor gefeit, Unglück zu erleben.

In den letzten 300 Jahre hat der große Ausbruch, den der schon genannte Nobelpreisträger Angus Deaton in seinem Buch beschreibt, uns Menschen aus Not, Verzweiflung, vielen Erkrankungen, und völliger Naturabhängigkeit herausgeführt. Wir (zumindest der größte Teil der Menschheit) sind aus höchster Bedrängnis, Sklaverei und Leibeigenschaft, Armut und Hilflosigkeit und nach einem gigantischen Kampf zwischen den alten Mächten und den heraufdämmernden Neugestaltungen aufgewacht in eine Welt, in der Freiheit, Chancengleichheit und Kooperation zu Leitideen wurden. Die letzten 75 Jahre waren, zumindest in der westlichen Welt, eine Zeit des ruhigen Aufbaus. Geld floss in Strömen, Ideen wurden verwirklicht, Wünsche erfüllt. Es war auch die Zeit der großen Aufbrüche. Menschen sind in das Weltall hinausgeflogen und haben die Erde von außen betrachtet. Wir haben unsere Straßen-, Energie- und Kommunikationsnetze über den ganzen Erdball geworfen und erreichen damit beinahe jeden Winkel unseres Planeten. Wir haben auch die großen Gespenster der Altersarmut und des Hungers in vielen Teilen der Welt weitgehend besiegt. Seuchen mit zig Millionen Opfern sind Geschichte. Bei der jetzt ausgebrochenen SARS-Cov-2-Pandemie können wir erkennen, wie rasch und umfassend die Weltgemeinschaft trotz allen systemischen und menschlichen Widerständen3 auf die Bedrohung reagiert hat. Die voraussichtlichen Opferzahlen werden (hoffentlich und wahrscheinlich) weit unter denen der großen Epidemien vergangener Jahrhunderte liegen.

Doch dieser Ausbruch hat seine Schattenseiten. Die Abhängigkeit von Natur und Klima lässt sich nicht einfach abschütteln. Die hemmungslose Ausbeutung von Abfallstoffen wie Öl, Gas und Moorland, die durch natürliche Prozesse von der Erdoberfläche verbannt wurden und von uns nun in den Himmel geblasen werden, die Abholzung der Wälder und die damit verbundene Zerstörung von autonomen Kreisläufen, die unser Klima steuern, der fahrlässige Eingriff in die Wasserreserven der Erde, die genetische Unterjochung der natürlichen Wachstumsprozesse von Pflanzen und vor allem die Entschlüsselung der Atom-Energie haben eine Situation geschaffen, in der wir wie der Zauberlehrling in Goethes Gedicht hilflos auf den Meister warten. Doch der Meister kommt nicht. Es gibt ihn nicht. Entweder meistern wir die Situation selbst oder wir gehen im selbstgeschaffenen Chaos unter.

Wie werden wir die Geister, die wir gerufen haben, wieder los? Wir müssen uns besinnen. Ein altmodisches Wort aus einer Zeit, als man sich noch Zeit zum Nachdenken nahm. Was sind die Phänomene, die wir losgetreten haben? Welche Technologien haben sich als hilfreich und welche als gefährlich erwiesen? Und vor allem: was sind die systemischen Grundmuster, die uns dahin geführt haben, wo wir heute sind? Die einstmals nützlich waren, ein ganzes Problemfeld (zB. Energieversorgung) zu lösen, sich aber nun in ihr Gegenteil verwandelt haben? Oder die maßlosen Missbräuche des Naturraums, die sich aus unserer krankhaften Hybris, die Welt vermeintlich zu beherrschen, ergeben haben? Besinnen heißt, diese Problemfelder mit allen Sinnen zu erfassen, nicht nur mit unserem Denkapparat.

Denn dann merken wir eines: Wir Menschen nehmen uns viel zu wichtig. Und übersehen dabei unsere Schattenseiten. Das zu-wichtig-nehmen stammt aus unserem blinden Lebenstrieb. Ebenso wie jedes andere Tier wollen wir vor allem überleben. Das treibt uns an, lässt uns Futter suchen und Feinde bekämpfen. Weil wir uns dabei geschickt angestellt haben, entwickelte sich unser Gehirn phänomenal, was uns zur vermutlich invasivsten Art dieses Planeten werden ließ. Wir haben alle Kontinente erobert. Wir beherrschen die Weltmeere. Wir träumen davon, andere Planeten zu kolonisieren. Nichts davon ist real. Wir leben in Wirklichkeit im Krieg mit der bewohnbaren Erde. Wir vergiften und plündern die Meere aus reiner Profitgier. Und der Traum vom Weltall würde so ungeheuer viel an Ressourcen verschlingen, dass wir eines Tages mit unseren kleinen Ausflügen zu Mond oder Mars zufrieden sein werden. In den nächsten Jahrzehnten wird außerdem der Kampf um unser Überleben auf der Erde so viel Geld und Energie binden, dass wir wahrscheinlich wenig für anderes übrighaben.

Wir haben unser hyperaktives Gehirn vor allem dafür entwickelt, Situationen im Voraus erkennen zu können. Wir hören das Pochen der Erde und wir wissen, dass der nahebei befindliche Berg ein feuerspeiender Vulkan ist. Also können wir Fluchtvorbereitungen treffen, falls er ausbricht. Wenn er nicht ausbricht, wissen wir wenigstens das nächste Mal, was zu tun ist. In Japan üben die Schulkinder jedes Jahr, was im Falle eines Erdbebens zu tun ist. Das ist vorausschauendes Verhalten. Wieso nutzen wir es in der aktuellen Situation nicht ausreichend?

Der norwegische Wissenschaftler Dag O. Hessen sagt in dem Buch „2052. Der neue Bericht an den Club of Rome“4:

„Wenn das Schicksal es gut mit mir meint, werde ich die Welt von 2052 noch als sehr alter Mann erleben.Doch es wird mir auf meine alten Tage keine Befriedigung verschaffen zu sehen, dass ich und zahlreiche weitere Wissenschaftler mit unseren Bedenken, die wir lange vor dem Jahr 2000 vorgebracht haben, Recht hatten. Ich bin Biologe, und der Weg, den die Menschheit in den vergangenen 25 Jahren trotz deutlichster Warnungen eingeschlagen hat, lässt mich an der Vernunft der Menschen zweifeln. Genauer gesagt wundere ich mich darüber, dass anscheinend unser selbstsüchtiges, kurzsichtiges Streben nach maximalem persönlichem Besitz in der Gegenwart gesiegt hat über die rationale oder moralische Vernunft, durch die diese Krise hätte vermieden werden können.“

Diese Worte haben mich sehr betroffen gemacht. Denn sie drücken genau aus, was wir alle (auch ich) lange Zeit betrieben haben und viele von uns immer noch betreiben. Immer noch ist unser persönliches Wohlergehen wichtiger als das Gemeinwohl, das unsere Kinder und Kindeskinder miteinschließt. Immer noch jagen wir lieber den Objekten unserer Gier hinterher als unsere Vernunft zu nutzen. Und selbst wenn sich ein größerer Teil der Menschheit dazu entschließt, nicht nur Angst vor dem Untergang, sondern auch aus Überzeugung den Willen zum Wandel zu haben (weil sie aus der CoronaKrise gelernt hat, dass weniger oft mehr ist), wird der Weg zurück kein Honiglecken.

Vom Staatstheoretiker Nicolo Machiavelli wird ein Zitat überliefert, das so lautet: „Ich kenne kein Problem, dessen Lösung nicht mindestens zwei weitere Probleme geschaffen hat.“ Ich habe es irgendwo gelesen und kann mich nicht für die Quelle verbürgen. Aber der Satz trifft den Nagel auf den Kopf. Jedes Problem schafft die Ausgangssituation für weitere Aufgaben. Genau da stehen wir jetzt und uns drängt die Zeit. Denn mit dem Klimawandel sind unendlich viele andere Problemstellungen verbunden. Das beschäftigt im Augenblick Milliarden von Menschen.

Diese Menschen haben aber inmitten ihrer Schar (und oft auch in sich selbst) Feinde, die eine ganz andere Agenda haben. Eine Agenda, die von krankhaften Störungen und Fehlhaltungen gesteuert wird. Und solange es Psychopathen wie Hitler, Stalin oder Putin möglich ist, ganze Staatsgebilde zu übernehmen, weil andere Menschen sie nicht durchschauen, sondern als Retter feiern (sogar heute noch!), so lange kämpfen wir mit nur eingeschränktem Erfolg. In den USA wurde 2021 ein möglicherweise geplanter Staatsstreich von Donald Trump noch ganz knapp verhindert. Die Regierungsform der Autokratie ist für viele politische Führer attraktiv und weltweit sind Diktaturen und „illiberale“ Demokratien immer noch weit verbreitet, was für unsere Weltordnung extrem gefährlich ist. Denn Autokraten sind immer Machtneurotiker, die, wie leider das Beispiel des Ukraine-Kriegs zeigt, auch vor grausamster Gewalt nicht zurückschrecken. Dahinter versteckt sich ein anderes Phänomen, das Dietrich Bonhoeffer, einer der Menschen, die 1944 ein Komplott gegen Hitler geschmiedet hatten, aus dem Gefängnis vor seiner Hinrichtung so beschrieb: „Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen“.

Als Psychotherapeut und Naikanleiter habe ich mich seit Jahrzehnten mit dieser Seite des Menschseins beschäftigt. Dadurch, dass wir uns von ärgster Armut und Verhängnis befreit haben, wurden auch Kräfte frei, die sich aus kranken Quellen speisen - auf beiden Seiten, der Macht und der „Ohnmächtigen“, die gerne ihre Selbstermächtigung zur Verfügung stellen. Dass Psychopathologien, Neurosen und Ego- und Ichzentriertheit in der Menschheitsgeschichte immer wieder Zugang zu höchsten Ämtern und beherrschenden Positionen gefunden haben, ist die dunkle Seite, der Schatten der Entwicklung, die uns als Menschen aus der Bedrängnis geführt hat.

Wenn wir eine nicht nur wirtschaftlich erfolgreiche, sondern auch gesunde Welt hervorbringen wollen, dann müssen wir uns dieser Seite verstärkt zuwenden. Und das bedeutet, dass wir unsere eigenen blinden Flecke erkennen müssen, unsere geistige Trägheit und Kurzsichtigkeit und unser Ausruhen auf Erfolgen von gestern.

Wie geht es weiter?

Wir stehen an einem Entscheidungspunkt. Nicht nur in Bezug auf die Klimakatastrophe, die uns bedroht. Sondern auch, wie wir Menschen gemeinsam in dieser Welt leben wollen. Gemeinsam meint, gemeinsam mit allem, was ist. Die Ökologie hat uns gelehrt, dass alles mit allem zusammenhängt. Und das bedeutet auch, dass alles von allem abhängt:

• Dass zum Beispiel ein scheinbar harmloser Eingriff in den Wasserhaushalt einer Region Dürre in einem anderen Teil verursachen kann. Wie etwa Tourismus in vielen Küstenregionen bedeutet, dass das Hinterland an Wasserknappheit leidet.

• Dass Düngemittel und die Ausbringung von Gülle aus Massentierhaltung unzählige Hausbrunnen vergiftet und damit den Bau teurer Wasserleitungen erfordert und die natürliche Selbstversorgung zerstört.

• Dass Sturmkatastrophen und die Erwärmung der Meere mit der ungebremsten Abgabe von Co2 und Methan in die Atmosphäre zusammenhängen und dass diese weltumspannenden Probleme nur global lösbar sind.

Und viele andere Probleme, wie die maßlose Nutzung von Kunststoffen oder die ungebremste Abholzung von Regenwäldern, die negative Folgen an unzähligen anderen Orten der Welt hervorbringen.

Wir begreifen schön langsam, dass wir uns auf diese Weise nicht weiter fortbewegen können. Die fließende Welt sucht sich entweder ein neues Bett oder wir lernen, ihre Gesetze zu respektieren. Und das heißt, dass wir uns von dem verabschieden müssen, was uns daran hindert, die uns umgebende Realität wahrzunehmen. Denn nur in uns selbst sind die Ursachen für die sonst unverständlichen Reaktionen der Ignoranz und der Blockierung von offensichtlich höchst notwendigen Maßnahmen zu finden.

Entscheidungspunkte sind Reifungspunkte. Wir können uns (und tun es bereits in großem Maße) von unserer materialistischen Sichtweise auf eine ganzheitliche Betrachtungsebene begeben. Es geht nicht um Entweder-Oder. Es geht um uns als ganze Menschen in einer ganzen Welt, die ununterbrochen in Neuerschaffung und Veränderung dahinfließt. Und darum, in diesem Fluss des Geschehens eine neue Art des Zusammenlebens zu entwickeln.

Es geht aber auch darum, dass wir lernen, das Geschenk der Evolution, unsere außergewöhnliche Intelligenz und unser Einfühlungsvermögen im Sinne eines gemeinsamen Miteinander zu nutzen. Dass wir nicht nur unsere ökologische Nische besser ausgestalten. Sondern auch erkennen, dass wir durch unsere aktuelle Situation vor einem gemeinsamen Entwicklungssprung stehen. Einem Sprung, mit dem wir vieles Überkommenes wie z.B. die blinde Konzentration auf das Eigenwohl in ein verantwortungsvolles Verstehen und Tun verwandeln. Und uns damit selbst auf eine neue Basis eines Weltverständnisses stellen, das die Grundlage unserer nächsten Aufgaben als Menschheit ist.

Das Paradox unserer Art des Lebens

Seit Jahren macht sich die Ökologiebewegung Gedanken, wie man Menschen dazu bringen kann, ihren Konsum einzuschränken und ökologisch zu denken und zu handeln. Dann kommt ein winziges Virus und zieht durch die Lande. Menschen erkranken. Das macht ihnen Angst. Menschen sterben. Das ist ein trauriges Ereignis. Und dadurch - wie ein Werk der berühmten List der Vernunft - haben Menschen auf der ganzen Erde ihr Verhalten schlagartig geändert. Ihren Konsum und ihre Mobilität reduziert. An andere gedacht. Ihr Verhalten der Situation angepasst und erneuert.

Das war immer schon eine Stärke der Menschen. Jetzt hat sie sich massiv zurückgemeldet. Ob es so bleibt, ist die Frage. Ob das Alte zurückkommt, ebenso. Ob sich das Neue bewähren wird, auch. Wir werden sehen. Mehr noch, wir werden selbst ein Teil des Wandlungs- oder des Beharrungsprozesses und deren Folgen sein. Was wir dabei beachten müssen: Wenn wir in unserem Leben nicht die Prioritäten leben, die es von uns fordert, treten Krisen auf. Diese Prioritäten machen uns deutlich, was wirklich wichtig ist. Sie fordern Erneuerung, ob es uns passt oder nicht. Und sie treten so lange auf, bis wir eine Lösung finden.

Vier Lebensbereiche sind es, die in der heutigen gesellschaftlichen Situation nach neuen Lösungen suchen und immer wieder durch krisenhafte Erscheinungen unser Handeln fordern:

• Die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern (Energieverteilung, internationale Geld- und Warenströme, Produktion, Handel, Regionalität, Wettbewerb/Kooperation) auf der ganzen Welt

• die Erhaltung/Wiederherstellung der Gesundheit (weltweite Vernetzung der Versorgungssysteme, persönliche Lebensweisen, Qualität der Ernährung und des Lebensraumes, funktionsfähige Gesundheitssysteme)

• das Verhältnis nach Außen (Mobilität, Globalisierung, Austausch, Wissens- und Kommunikationssysteme, Zusammenarbeit, Migration)

• der Umgang mit der Umwelt (Ökologie, Atmosphäre, Klima, Boden, Wasser)

Egal, welches Lebensthema in eine Krise gerät, es sind immer alle Themen involviert. Und die Auswirkungen der Krise zeigen sich gesamtgesellschaftlich, in unserem Sozialleben. Krisen dienen dazu, uns das jeweilige Lebensthema ins Bewusstwerden zu rufen. Wir haben es vielleicht vergessen. Oder verdrängt. Oder etwas anderes als wichtiger eingestuft. Jetzt meldet es sich. Wie das Corona-Virus. Es zeigt uns nicht nur, dass wir uns gegenseitig schützen müssen (ökologisches/soziales Bewusstwerden). Es zeigt uns auch, dass wir die Gesundheitsvorsorge vernachlässigt haben (zB. zu wenig Intensivbetten in westlichen Gesundheitssystemen, zu wenig Impfstoffe in Entwicklungsländern). Es zeigt uns darüber hinaus, dass unser Verständnis, was wirklich systemrelevante Berufe sind, völlig falsch ist (was wir seit Jahrzehnten wissen, aber immer wieder ignorieren. Fondsmanager und abgehobene Machtzirkel sind es jedenfalls nicht). Und es zeigt sich in der Krise, dass unser persönlicher Lebensstil uns gar nicht so lebenswichtig ist, wie es uns oft erscheint. Dass wir vielleicht die falschen Prioritäten in unserem Leben setzen. Dass das Leben möglicherweise „andere Pläne“ mit uns hat.

Diese vier aktuellen Lebensthemen und deren Krisen sind eng miteinander verbunden. Sie sind ein Strang, der uns durch unser Leben begleitet. Gerät ein Thema in Bedrängnis, dann hat es Auswirkungen auf die anderen Bereiche. Das Corona-Virus (wie die jährliche Influenza, die Schweinegrippe zuvor und auch das SARS-Virus von 2003) konnte wahrscheinlich den Sprung in den menschlichen Organismus vollziehen, weil Wildtiere (= Wirtsorganismen) lebend auf einem Markt in Wuhan angeboten wurden. Sie werden angeboten, weil sie als Delikatesse von Menschen gesucht gelten (Versorgung/Lebensstil/Umgang mit der Umwelt).

Die erste Reaktion der chinesischen Führung war Verleugnen (der Arzt wurde bedroht), was eine Verzögerung in der Reaktion des Gesundheitssystems hervorrief. Von erkrankten Menschen gelang das Virus durch unsere weltweite Mobilität in andere Länder und auf alle Kontinente (Verhältnis nach Außen). Durch die Eindämmungsmaßnahmen geriet unsere Wirtschaft ihrerseits in Probleme (Versorgung mit lebenswichtigen Gütern).

In der Krise zeigt sich die wahre Verfasstheit einer Gemeinschaft:

• Die Umwelt wurde durch den Lockdown entlastet, die Menschen und die Umwelt erholten sich ein wenig

• Die Außenverbindungen wurden weitgehend gekappt, um keine Erkrankungen zu importieren

• Das Gesundheitssystem zeigte andererseits seine Grenzen auf

• Die wirklich systemrelevanten Themen wie medizinische Versorgung, familiäre Pflege und soziales Miteinander traten ins Rampenlicht

• Die politischen Versäumnisse der letzten Jahre wurden uns bewusst, ebenso die einseitige Fixierung unserer Wirtschaft auf die Shareholder-Priorität und scheinbar günstige Energiequellen

Die Verwobenheit der Welt

Das ist es, warum Machiavelli sagen konnte, dass er kein Problem kennt, dessen Lösung nicht mindestens zwei weitere Probleme hervorbringt. Alles ist mit allem verwoben. Die asiatische Philosophie nennt es Maya. Oder auch Karma, das nicht nur die persönliche Seite des Schicksals meint, sondern auch das Karma der Orte, der Gesellschaften, der Staaten.

Die Antwort der Politik auf Krisen war früher oft Gewalt. Die Französische Revolution ging im Blutrausch der Guillotinen unter. Terror und Ausrottung wurde als „legitimes“ Mittel einer angestrebten Veränderung angesehen. Und umgesetzt: In Lenins und Stalins Politik der Schauprozesse, Gulags und der Zwangsumsiedlung unliebsamer Völker wie den Kosaken, in Hitlers Raubkrieg für den „Lebensraum“ im Osten5, über die chinesische Kulturrevolution, dem Korea-, Vietnam-, Afghanistanund Irak-Krieg und dem blutigen Terror von Organisationen wie RAF, IRA, der Brigate Rosse, der roten Kmehr, Al Qaida, IS, Hamas, FARC, Taliban, Hisbollah, Boko Haram. Und den Angriffen der Rechtsradikalen auf Juden und Muslime in der heutigen Zeit. Leider sind die Beispiele so maßlos viele, dass ich sie nicht alle aufzählen will (schon aus psychohygienischen Gründen).

Immer wieder entgleitet den Menschen die Selbstkontrolle und die Kontrolle über eine gesellschaftliche Situation und mündet in ein zerstörerisches Blutvergießen. Dahinter stecken Machtneurosen bis hin zu echten Psychopathien der Herrschenden. Früher wurde solch krankheitswertiges Verhalten der Staatsführer einfach hingenommen. „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ konnte Carl von Clausewitz noch ohne Skrupel in seinem Buch „Vom Krieg“ schreiben. Solche Sätze, unreflektiert formuliert und aufgenommen, führten in die Kriegsgeilheit des ersten Weltkriegs und die Verwüstungen des folgenden zweiten. Denn Neurosen und Psychosen sind ansteckend, wenn sich Menschen nicht rechtzeitig dagegen immunisieren.

Diese Dynamik verstehen wir erst heute. Sie beginnt im Kleinen und setzt sich in immer größeren Wellen fort. Deshalb müssen wir heute auch mit der Veränderung der Welt in uns selbst beginnen. Mit der neuen Innerlichkeit. Mit einem neuen Verständnis politischer Prozesse. Mit einem neuen Verhalten im alltäglichen Leben. Entwürfe und Beispiele gibt es genug. Es geht jedoch vor allem darum, die Qualität unseres Tuns zu verändern. Der Realität der Verwobenheit anzupassen. Die Folgen unserer Vorhaben im Auge zu haben und nicht unsere Vorstellungen gewaltsam der Welt aufzuzwingen. Und die innere Ruhe, die wir in unserer Yogastunde oder in der Meditation gefunden haben, in unser äußeres Handeln zu integrieren. Damit die Innerlichkeit nicht ein Fluchtort wird, in den wir uns zurückziehen, wenn uns die Welt zu stressig wird. Sondern ein Teil unseres Lebensstils, der sich mit allem, was ist und was wir tun, verbindet. Und es dadurch verändert.

Die Verantwortung der Zuvielgesellschaft6

Meine ersten Berufserfahrungen sammelte ich als Verkäufer in einer Eisenwarenhandlung. 5 Jahre war ich in diesem Bereich tätig, doch bereits in den letzten beiden Jahren besuchte ich einen Hochschulkurs für Werbung und Verkauf. Mir war klar geworden, dass ich mehr wollte als hinter dem Verkaufspult zu stehen und Schrauben zu zählen. Also hieß mein nächstes Ziel Werbung. Das ist die Hochschule der menschlichen Gier. Ich lernte, wie leicht Menschen dazu zu verführen sind, Dinge zu kaufen, die ihnen im Moment ins Auge stechen und deren Wert im Alltag oft zweifelhaft ist. Aber darauf beruht unsere ganze Wirtschaft. Wir kaufen, kaufen, kaufen. Und füllen unsere Schränke und Kellerabteile mit Dingen, die wir rasch vergessen und die uns irgendwann wieder in die Hände fallen. Ich war also einer dieser Verführer und selbst ein durch das in der Werbung leicht verdiente Geld Verführter.

Zu meiner Entlastung kann ich anführen, dass ich in dieser Zeit mich intensiv mit spirituellen Lehren beschäftigt habe, Meditation lernte und intensiv ausübte, mit Freunden das Buddhistische Zentrum in Scheibbs aufbaute, mich in Psychotherapie und Gruppenpädagogik ausbildete und 15 x nach Japan fuhr, um meine große Lebensaufgabe, Naikan, voranzubringen. Das Geld dafür brachte die Tätigkeit in der Werbung und später als Managementtrainer ein. Jedoch irgendwann wurden mir die Widersprüche in meinem Leben dann doch zu viel und ich stieg (fast gezwungenermaßen, denn das Leben klopfte an und beharrte auf seinen Prioritäten) aus diesem Teil meiner Tuns aus.

Die Ökologie kam auch in dieser Zeit in mein Leben, erst auf leisen Sohlen und dann mit einem großen Bang. Selbst an den stressigsten Tagen musste ich schon in meinen zwanziger Jahren für 1, 2 Stunden irgendwo hinaus „in die Natur“. Wiese und Wald spüren. Den Himmel betrachten. Das Einssein genießen. Mit Dreißig zog ich ganz aufs Land und bin seither begeisterter Landbewohner. Grün gehört in mein Leben, ein Garten vor dem Haus zu meiner Lebensqualität. Mir ist klar, dass ich damit zu den privilegierten Menschen gehöre, die sich so etwas leisten können. Leisten heißt hier nicht unbedingt großen finanziellen Aufwand. Es hieß früher mehr Einsatz, um die Verbindungen zu meinen Partnern in der Stadt aufrecht zu halten und früher aufzustehen, um den Zug zu erreichen, der mich nach Wien zum Hauptbahnhof bringt. Eine Leistung, die ich gerne erbrachte.

Zwischen zwanzig und dreißig erlebte ich auch die beginnenden großen Auseinandersetzungen um ökologische Themen interessiert, aber mit Abstand. Bis dann eines Tages in der Werbeagentur, für die ich damals arbeitete, eine Anfrage bezüglich einer außergewöhnlichen Werbekampagne einlangte. Die Anfrage kam von der Betreibergesellschaft des damals noch im Bau befindlichen Atomkraftwerks in Zwentendorf in Niederösterreich. Eine Volksabstimmung über die Inbetriebnahme des Meilers stand vor der Türe und die Regierung wollte mit einer Werbekampagne Stimmung für ihr Projekt machen. Meine Aufgabe in der Agentur war, die Unterlagen zu prüfen und eine Kommunikationsstrategie zu entwickeln.

Beim Durchlesen der Schriften stieß ich auf immer mehr Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten. Ich war entsetzt, dass ein so großes Projekt, das das Leben vieler Millionen von Menschen betrifft (nicht nur im Sinne von Förderung, sondern auch von Bedrohung), mit völlig ungelösten, riesigen Fragen gespickt ist. Allen voran mit der Frage, wie der künftige Atommüll sicher entsorgt wird - eine Frage, die bis heute nicht gelöst ist.

Viele Jahrtausende sollten zukünftig lebende Menschen auf die radioaktiven Abfälle achten, die wir hinterlassen? Wie kann eine Gesellschaft so eine Hypothek an nachfolgenden Generationen weitergeben? Aufgrund der langen Halbwertszeiten vieler radioaktiver Substanzen fordert zum Beispiel die deutsche Gesetzgebung eine sichere Lagerung über 1 Million Jahre (Quelle: Wikipedia). 1,000.000 Jahre! Das sind mehr als 30.000 Generationen von Menschen, die bedroht sind. Und auf unseren Atomdreck aufpassen müssen/sollen. Wer kann das gewährleisten?

Die Agentur hat sich an der Präsentation nicht beteiligt, die Abstimmung ging für die Atomwirtschaft verloren (natürlich nicht, weil wir uns nicht beteiligt hatten ). Diese Auseinandersetzung ließ mich zwar kritisch werden, aber weckte mich noch nicht ganz auf. Ich ging nicht zur Abstimmung. Österreich aber hat sich mehrheitlich zum Umweltschutz bekannt und keine Atomkraft mehr eingesetzt. Was aber in einem Land wie Österreich, in dessen Nähe dutzende Atomkraftwerke gebaut wurden, wenig bedeutet.

Wie unsere Wirtschaft tickt

Die derzeitige westliche Gesellschaft (im Sinne von westlicher Kultur) handelt nach dem Muster der Atomwirtschaft. Ausbeutung sofort, Nebenkosten an die Gesellschaft, Hinterlassenschaft an zukünftige Zeiten. Es ist ein Verwertungskapitalismus, der ungeheure Schäden auf der Welt zurücklässt. Schäden hauptsächlich für uns persönlich und für die uns umgebenden Lebensräume. Wir werden den Schaden haben, denn die Natur selbst holt sich, wie Anna Lowenhaupt-Tsing in ihrem Buch: „Der Pilz am Ende der Welt“7 so treffend und betroffen machend zeigt, jedes, auch noch so verwüstetes Stück Land zurück und belebt es wieder. Unterbewusst wissen wir natürlich, dass das für uns und unsere Partner-Organismen nicht gut gehen kann. Aber lassen wir dieses Wissen in unser Bewusstsein?

Die größten Zuwächse im Neuwagenverkauf in den letzten Jahren gab es im Bereich der SUVs (Sport Utility Vehicle). Selbst während der CoronaZeiten! SUVs sind sehr praktische Autos für alle Lebenslagen. Der Besitzer, die Besitzerin kann damit auch schwierigere Fahrsituationen wie Schnee oder überflutete Straßen meistern und vieles an Sportgeräten und Reiseutensilien einpacken. Doch wie oft werden diese Funktionen benutzt? Und ist das wirklich der Grund, sich ein Auto zu kaufen, das in der mittleren bis oberen Preisklasse zu finden ist und im Alltag im Verkehrsstau steht wie alle anderen Autos auch, dabei aber viel mehr die Umwelt belastet? Mein Verdacht ist, dass die Anschaffung eines solchen Autos möglicherweise ein Zeichen dafür sein kann, dass sich der Käufer bereits unterbewusst mit der Tatsache der Klimakatastrophe abgefunden hat8. Und hofft, mit dieser Art Auto ihr zu entkommen. Vielleicht sind wir alle „Prepper“ und rechnen bereits fix mit der Apokalypse.

Wenn wir zB. einen Bericht9 lesen, der vor 15 Jahren veröffentlicht wurde, dann erkennen wir, dass das Klimaproblem bisher nur weiter vor uns hergeschoben wurde. Es ist nichts Entscheidendes passiert. Eher das Gegenteil, die Emissionswerte gehen weiter in die Höhe. Zu warten, dass die Politik das Problem für uns löst, ist also nur eine Illusion. Greta Thunberg nennt die Ergebnisse der bisherigen Klimakonferenzen „Bla, bla, bla“. Es ist eine Haltung aus Zeiten, wo starke Führer in Mode waren, wenn wir uns darauf verlassen, dass Politik unsere Probleme löst. Die aktuelle Politik ist aber ein Spiegel unserer Gesellschaft. Solange wir uns nicht eindeutig und klar zur Lösung der Klimaproblematiken bekennen, wird sich nichts ändern. Die Aufgabe der Politik ist, die Lösungen dafür zu managen. Entstehen müssen sie in den Köpfen (und Herzen) der betroffenen Menschen.

Denn aus dem Zuviel unserer Gesellschaft entsteht uns eine besondere Verantwortung. Die können wir ignorieren oder wahrnehmen. Die westliche Gesellschaft zieht seit Jahrhunderten Ressourcen und Menschenkraft aus den sogenannten Entwicklungsländern ab. Erst in den letzten Jahrzehnten teilen wir unseren Reichtum mit den Menschen in anderen Erdteilen (zumindest ein bisschen). Ich will die Entwicklung des Wohlstands auf der Erde nicht kleinreden. Da ist viel Gutes geschehen, das auch in die Länder der sogenannten 3. und 4. Welt ausstrahlt. Dennoch können wir noch lange nicht von einem Gleichgewicht reden. Und wenn wir von Gleichgewicht reden, bedeutet das, dass wir auch von der Reduktion unseres Zuviels reden müssen. Die Erde kann sich mehrere Gesellschaften auf unserem westlich-wirtschaftlichen Niveau nicht leisten.

Doch wo liegt die Lösung in der Verteilungsfrage? In einem nächsten Krieg? Das verschiebt die Angelegenheit nur wieder in eine Zukunft, die wir vielleicht gar nicht mehr haben. Denn Krieg bedeutet immer eine Win-Lose-Situation (außer im Falle eines Erschöpfungszustands, in dem beide Seiten nicht mehr kämpfen können. Dann reden wir von einer Lose-Lose-Situation). Loser werden aber immer versuchen, ihrem Loser-Dasein (siehe aktuell Palästina) zu entkommen. Damit ist der Keim für den nächsten Konflikt schon gelegt. Das ist die Lehre des zwanzigsten Jahrhunderts.

Wo liegt also die Lösung? In uns. Es geht nicht um eine Lösung. Die gibt es nicht. Es geht um ein Bewusstwerden, dass Lösung möglich macht. Es geht darum, dass wir bereit sind, Lösung zu ermöglichen. Das bedeutet, dass wir alles, was wir leben, besitzen und gelernt haben, immer wieder in Frage stellen. Unseren Geist offen halten für das Notwendige, das Neue. Besonders in Zeiten wie den aktuellen, in der wir noch keine Ahnung haben, was wir mit der Überforderung der natürlichen Ressourcen durch unsere Aktivitäten alles ausgelöst haben. Ein paar Folgen kennen wir schon: Wochenlange Feuersbrünste in Kalifornien und Australien, riesige Gletscherbrüche und Murenabgänge in den Gebirgen, Dürre- und Sturmkatastrophen rund um die Erde, Eisschmelze von den Polen bis zu den Hochgebirgen der Welt, Hotspots in den Meeren und Jahrhundert-Überschwemmungen im Jahrestakt sind vielleicht nur die Ouvertüre zu einem ganz großen Drama. Wem gehören dann die überschwemmten Felder? Wer zieht dann in das zerstörte Haus ein? Wo finden wir unser weggespültes Auto?

Die Covid 19-Krise zeigte uns, was wir alles nicht unbedingt brauchen. Dass wir überleben können in unseren eigenen vier Wänden und mit ein paar erholsamen Spaziergängen. Dass die Überfülle unserer Vorräte sich ziemlich leicht reduzieren lässt, wenn wir ein wenig achtsamer beim Einkauf sind (zur Erinnerung: In der Europäischen Union und den USA werden jedes Jahr pro Person 95 bis 115kg Kilogramm Lebensmittel weggeworfen. Dazu kommen noch die weggeworfenen Lebensmittel aus dem Handel10.). Die Dinge gehören nicht wirklich uns Menschen. Wir leihen sie uns von der Erde. Und werfen vieles davon halb oder nicht genutzt als Müll wieder zurück.

Wir sind viel zu verstrickt mit unseren Besitztümern. Wir denken tatsächlich, das sind wir. Unser Haus, unser Auto, unser Bankkonto. Ein Mensch in unseren Breitegraden hat ungefähr 30.000 Gegenstände rund um sich, fand eine Schweizer Untersuchung vor Jahren heraus. Andere Untersuchungen sprechen von 10.000 Dingen. Vor kurzem habe ich alle meine verstreut gelagerten T Shirts zusammengetragen. Meine Frau meinte, dass sie mir gut passen und ich öfter diese praktischen Kleidungsstücke anziehen sollte. Ich fand insgesamt 12 Stück, vom ganz billigen T-Shirt aus einem Schnellkauf, über solche, die mein Sohn bedruckt hat, bis zum teuren Markentextil. Auf jeden Fall viel zu viele. Sie wegzugeben verschiebt nur das Problem. Sie aufzuheben ist mühsam und braucht Platz. Was also tun in diesem Dilemma?

Die Lösung wäre vor Jahren gewesen, nicht so viele anzuschaffen. Ich weiß, viele Menschen sind in diesem Punkt klüger als ich (meine Frau besonders). Trotzdem gehe ich davon aus, dass jeder von uns solche blinden Flecken hat. Und die Summe unserer blinden Flecken ist die negative Seite der Welt, wie wir sie heute vorfinden. Deshalb ist Bewusstwerden die Lösung unseres Problems. Wenn wir durch Bewusstheit, Meditation und Naikan als Geistesschulung mehr und mehr unserer blinden Flecken ablegen, entsteht eine neue Welt. Eine, in der mehr Gerechtigkeit und Gleichgewicht herrscht. Natürlich werden wir die gerechte, ideale Welt nie erleben. Darum geht es auch gar nicht. Denn wenn wir uns selbst immer wieder auf die Schliche kommen, dann werden wir daran innerlich wachsen und ein weiseres Leben führen, d.h. dieses unser Dasein besser nutzen.

„Naikan leben heißt, das tägliche Leben sorgfältig leben“ sagte Ishin Yoshimoto, der Begründer von Naikan, dazu. Sorgfältig leben. Das heißt, nicht unüberlegt T-Shirts kaufen, nur weil sie so günstig sind oder ins Auge stechen. Nicht auf die gewohnte Lösung beharren, wenn sich herausstellt, dass die Kosten für andere Menschen oder für die Erde zu groß sind. Mit Lebensmitteln sorgsam umgehen, damit wir sie nicht eines Tages verfault in unserem Kühlschrank finden.

Unsere Welt besteht aus realisierten Gedanken11. Ändern wir diese, dann ändert sich der Zustand der Welt. Wie wir das schaffen? Indem wir uns dieser Gedanken bewusst sind und uns für das Bessere entscheiden. Das Bessere ist immer, andere nicht zu schädigen.

Das Klimaproblem

97% der Wissenschaftler der Erde sind überzeugt, dass wir nur mehr wenig Zeit haben, um einen tiefgreifenden Wandel unserer bedrohlichen Klima-Situation herbeizuführen. Viele sprechen von 2030 als dem entscheidenden Zeitpunkt, nach dem einige Veränderungen, die wir jetzt schon spüren, unumkehrbar werden. Eine Handvoll Jahre, die es zu nutzen gilt. Die täglichen Veränderungen entnimmst Du am besten Deiner Leibzeitung oder Deiner Lieblings-Nachrichtensendung. Aber nimm sie bitte ernst. Sie betreffen Dich. Wir handeln nämlich im Augenblick wie der Verurteilte in Kafkas Prozess12. Er hat keine Ahnung, wofür er verurteilt wurde, aber am Ende wird er hingerichtet. Und ergibt sich erstaunlich ruhig seinem Schicksal.

Wollen wir das wirklich? Das, für das man uns (vor allem die Bewohner der westlichen