21,99 €
Die USA am Abgrund? Zumindest laut Scott Galloway. In "Bye-bye, USA?" betrachtet der Kult-Professor Vergangenheit und Gegenwart, um aufzuzeigen, was in Amerika schiefläuft und wie es dazu gekommen ist. Anhand von 100 Diagrammen erläutert er, wie diverse Krisen, die eskalierende Macht der Technologie und die Auswirkungen der Pandemie den heutigen perfekten Sturm erzeugten. "Bye-bye, USA?" versucht, dem Ganzen einen Sinn zu geben. Es bietet Galloways einzigartige Sichtweise darauf, wohin das Land steuert, und berührt dabei so unterschiedliche Themen wie Fake News, Mindestlohn und den amerikanischen Traum.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
SCOTT GALLOWAY
NEW YORK TIMES-BESTSELLERAUTOR
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Adrift: America in 100 Charts
ISBN 978-0-593-54240-8
Copyright der Originalausgabe 2022:
Copyright © 2022 by Scott Galloway
All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.
This edition published by arrangement with Portfolio, an imprint of Penguin
Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC
Copyright der deutschen Ausgabe 2023:
© Börsenmedien AG, Kulmbach
Übersetzung: Rotkel e. K., Berlin
Gestaltung Cover: Maja Hempfling
Gestaltung: Luba Lukova
Satz und Herstellung: Timo Boethelt
Lektorat: Christoph Landgraf
Druck: Florjančič Tisk d.o.o., Slowenien
ISBN 978-3-86470-903-6
eISBN 978-3-86470-904-3
Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
Postfach 1449 • 95305 Kulmbach
Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444
E-Mail: [email protected]
www.plassen.de
www.facebook.com/plassenverlag
www.instagram.com/plassen_buchverlage
Für meinen Cousin Andrew Levene,der im Alter von 52 Jahren an denKomplikationen einer Corona-Infektion starb.
VORWORT: Ballast
1 – Aufstieg der Shareholder-Klasse
Der Trickle-Down-Steuerplan
Wechselnde Gefühle
Schrumpfende Infrastruktur
Kürzungen im Gesundheitswesen
Die Arbeiterschaft verliert ihre Stimme
Der LBO-Boom
Die Produktivität steigt, die Löhne stagnieren
Einkommensungleichheit
Eine überforderte Steuerbehörde
Die Offshoring-Explosion
Beteiligung am Aktienmarkt
2 – Die Welt, die wir geschaffen haben
Produktivitätsrevolution
Milliarden von Menschen arbeiten sich aus der Armut heraus
Gesundheit ist Reichtum
Eine neue Weltordnung
Freizügigkeit
Die roten Blutkörperchen der Konsumwirtschaft
Das digitale Zeitalter
Beschleunigung des technologischen Fortschritts
Hilfe für die Menschheit
3 – Vergötterung von Innovatoren
Abkehr von den Gemeinschaftsorganisationen
Wasserqualität im reichsten Land der Welt
Hochschulbildung ist zur Zugangsvoraussetzung für die Mittelschicht geworden
Die groteske Vergötterung der Innovatoren … durch Innovatoren
Power Games
Die Konzentration des Reichtums
Es war noch nie so einfach, ein Billionen-Dollar-Unternehmen zu sein
Der Ecstasy-Dealer des Kapitalismus ist der Kommunikationsverantwortliche eines Unternehmens
Perspektive
4 – Hungerspiele
Die große Kluft
Es ist reich an der Spitze
Von der Schieflage zur Dystopie
Invasive Arten
Der Mindestlohn liegt Jahrzehnte zurück
Was sind unsere Prioritäten?
Finanzialisierung und Vermögensinflation
Die Vermögenspreisinflation ist da
Angriff auf Amerikas Wohlstand
Ein weiteres Corona-Verbrechen
Das US-Gesundheitssystem ist peinlich ineffizient
Erwachen aus dem amerikanischen Traum
5 – Die Aufmerksamkeitsökonomie
Wir sind alle süchtig nach unseren Handys
Digitale Werbetafeln
Niedergang der Nachrichten
Getriggert
Lügner, Lügner
„Politische“ Zensur
Fake News
Die Medien schüren Fehlannahmen zur Kriminalität
Beziehungsstatus
6 – House of Cards
Die Heiratsraten sind auf einem Rekordtief
Frauen schätzen das Verdienstpotenzial des männlichen Partners
Anteil der Männer an den College-Einschreibungen auf Rekordtief
Online-Dating-Apps sind ungleicher als fast überall sonst auf der Welt
Politische Gräben werden zu sozialen Gräben
Nesthocker
Das Bevölkerungswachstum verlangsamt sich auf das Niveau der Großen Depression
Gleich geschaffen
Massenmord ist ein eindeutig männliches Verbrechen
Langfristige Erosion des Vertrauens in die Bundesregierung
Altes Geld, alte Probleme
Diejenigen, die die Zukunft finanzieren, stehen für die Vergangenheit
7 – Bedrohungen
Die Vereinigten Staaten verteidigen den Titel
Die Dominanz des US-Dollars
China hat die USA als beliebtesten Handelspartner abgelöst
Die USA bekommen weniger für ihren Militärdollar
Militärausgaben sind nicht immer gleichbedeutend mit Effektivität
Chinesische Führungsrolle bei Militärdrohnen
Geht unser Budget mit unseren Bedrohungen konform?
Erosion der wichtigsten Marke der Welt
Die USA sind nicht mehr das Labor der Welt
Die Seidenstraße der sauberen Energie verläuft durch China
Die Kinderstube der größten Raubtiere des Kapitalismus
8 – Die gute Seite der Instabilität
Krisen lösen Wachstum aus
Erwartungen zurücksetzen
Aufstrebende Start-ups
Immigranten sind die geborenen Unternehmer
Auf der Flucht
Eine sichere Bank
9 – Mögliche Zukunftsszenarien
Mit Druck zum Wohlstand
Bargeldschwemme
Investitionen in das soziale Netz
Vom Sicherheitsnetz erstickt
Metadystopie
Schnelle Zukunft
Es ist einsam ohne Freunde
10 – Was wir tun müssen
Vereinfachung des Steuerrechts
Umbau des Regulierungssystems
Die Algebra der Abschreckung wiederherstellen
Reform von Abschnitt
Weg vom Land der Eingekerkerten und hin zum Land der Freien
Eine einmalige Vermögenssteuer einführen
Imagewandel für Kernenergie
Unterstützung von Kindern und Familiengründung
Reform der Hochschulbildung
Neue Wege für die Mobilität nach oben erschließen
Investitionen in den Dienst für das Land
Schlusswort
Danksagungen
Endnoten
Das Leben wird nicht davon bestimmt, was einem passiert, sondern davon, wie man auf das reagiert, was einem passiert. Nationen gedeihen oder gehen unter, je nachdem, wie sie auf Krisen reagieren.
Die USA sind eine ziellos auf dem Ozean dahintreibende Nation. Uns fehlt es weder an Wind noch an Segeln, wir haben keinen Mangel an Kapitänen oder Ausrüstung, und doch dümpelt unser mächtiges Schiff auf einem Meer von Parteilichkeit, Korruption und Egoismus. Unser Diskurs ist ungehobelt, junge Menschen sind nicht in der Lage, Beziehungen einzugehen, und unsere klügsten Köpfe streben nach individuellem Ruhm auf Kosten des Gemeinwesens. Unsere Institutionen zerfallen, und das Bindegewebe der Gesellschaft zerfasert fast unrettbar. Am Horizont: Dunkelheit und Unwetter. Im Westen erhebt sich China. Im Osten verblasst Europa.
Was braucht es, um dieses Schiff zu wenden und einen Kurs Richtung Frieden und Wohlstand einzuschlagen? Okay, genug mit den Segelmetaphern. Ich kann ein Großsegel nicht von einer Fock unterscheiden, aber ich weiß, wie man eine Karte liest. Die visuelle Darstellung von Daten hat etwas Kraftvolles an sich; sie spricht unsere instinktive Fähigkeit an, nach Augenmaß zu urteilen, im Gegensatz zum intellektuellen Akt des Lesens von Wörtern und Daten. Seit Jahren spreche ich in meinen Podcasts, im Beruf und an der NYU, wo ich lehre, mit Menschen über den Zustand Amerikas und darüber, wohin unsere Reise geht. Ich stelle immer wieder fest, dass Daten diese Gespräche transparent machen und mir helfen, die Dinge klarer zu sehen. Als ich also beschloss, meine Ansichten zu der wesentlichen Frage des stagnierenden Fortschritts in Amerika zusammenzutragen, lag es nahe, dies mithilfe von Grafiken zu tun und diese in den Mittelpunkt zu stellen.
Was die Daten mir sagen, ist nicht kompliziert: Amerika ist ein unvollendetes Land, aber es hat die größten Fortschritte bei der Verwirklichung seiner Ideale gemacht, es ist sich selbst am ähnlichsten geworden, als es in eine starke Mittelschicht investiert hat. So, das ist meine große Wirtschaftstheorie. Was macht mich da so sicher? Die Daten. Und die Geschichte, die diese Daten erzählen.
Diese Geschichte beginnt vor fast 80 Jahren. Im Sommer 1945 ging das zerstörerischste Ereignis in der langen Geschichte der Gewalt der Menschheit zu Ende. Nazi-Deutschland brach im April zusammen und im August, nachdem die USA zwei Atombomben abgeworfen hatten, kapitulierte das japanische Kaiserreich. Nationen, die durch den Krieg verwüstet worden waren, brauchten eine Generation für den Wiederaufbau. Die Vereinigten Staaten standen vor einem anderen Problem.
Obwohl auf amerikanischem Boden nur wenig gekämpft worden war, veränderte der Krieg die Wirtschaft der Vereinigten Staaten. Die Autoindustrie rüstete auf den Bau von Panzern und Flugzeugen um. Die Schifffahrt und der inländische Transport wurden zur Unterstützung der Rüstungsproduktion und des Transports ihrer Güter umgestaltet. Durch Rationierung wurde der Verbrauch von Waren wie Benzin und Seife eingeschränkt. Im Jahr 1945 wurden 40 Prozent des nationalen BIP für die Kriegsanstrengungen aufgewendet. (Heute geben wir 3,7 Prozent unseres BIP für das Militär aus.) Die USA, die sich vor dem Krieg in einer tiefen Depression befunden hatten, waren zu einer zweckgerichteten Wirtschaft wiederbelebt worden, Roosevelts „Arsenal of Democracy“ (Arsenal der Demokratie).
Mit dem Beginn des Friedens verschwand dieses Ziel. Die Wirtschaft verlor den Kunden, dem sie fast die Hälfte ihres Umsatzes verdankte. Panzerfabriken und Schiffsdepots wurden geschlossen; in den folgenden 24 Monaten setzte das US-Militär 10 Millionen Mitarbeiter frei. Zehn Millionen Menschen, meist junge Männer, brauchten Arbeit, Wohnungen, Autos und … Perspektiven.
Als die Konfettiparaden endeten, begannen die Löhne zu sinken und die Mieten zu steigen. In allen wichtigen Industriezweigen kam es zu Streiks und eine nationalistische Bewegung entstand aus der unterschwellig gärenden Überzeugung, dass auf Kosten der inländischen Bedürfnisse im Ausland zu viel investiert worden war. Die Planer befürchteten, die Wirtschaft könnte in die Vorkriegsdepression zurückfallen, oder noch Schlimmeres.
Aber das ist nicht passiert. Stattdessen verwandelte sich das Arsenal der Demokratie in den Motor des Kapitalismus. Die nächsten 30 Jahre brachten eine rekordverdächtig niedrige Arbeitslosigkeit, ein anhaltendes Wirtschaftswachstum und umfangreiche Investitionen in Infrastruktur sowie Forschung und Entwicklung.
Der Fortschritt der Menschheit war atemberaubend, und das nicht nur in den USA. Die Kindersterblichkeit und die Armut sanken weltweit und die Lebenserwartung und die Alphabetisierung stiegen sprunghaft an. Durch eine weltweite Anstrengung, die weitgehend von den USA finanziert und angeführt wurde, wurden die Pocken ausgerottet. Die Krankheit, an der 90 Prozent der amerikanischen Ureinwohner gestorben waren, war die erste, die durch planvolles menschliches Handeln ausgerottet wurde. Im Jahr 1969 legten drei mutige Astronauten 386.000 Kilometer zurück (Anmerkung: etwa 3.600-mal mehr als Blue Origins New Shepard), und ein Amerikaner setzte seinen Fuß auf den einzigen natürlichen Satelliten der Erde.
Wie kam es dazu? Es ist viel von der „Greatest Generation“ die Rede, den Männern und Frauen, deren Charakter durch die Kämpfe der 1930er- und 1940er-Jahre geprägt wurde und die für den Aufbau des Wirtschaftskolosses America, Inc. verantwortlich gemacht werden.
Aber Größe liegt im Wirken anderer. Arbeiter traten Gewerkschaften bei, um höhere Löhne und sicherere Arbeitsbedingungen zu erzielen. Die Mitgliederzahlen von Organisationen wie den Pfadfinderinnen oder Kiwanis wuchsen. Das gesellschaftliche Bindegewebe wuchs und festigte sich. Mannschaftssportarten und kleine Ligen wurden zu festen Bestandteilen der Gemeinden und zu Multimillionen-Dollar-Unternehmen.
Diesem Wohlstand lag eine solide staatliche Unterstützung zugrunde. Der G.I. Bill finanzierte zwei Millionen Soldaten das College und weiteren Hunderttausenden Darlehen für Eigenheime und kleine Unternehmen. Trumans Wohnungsbaugesetzgebung erweiterte die Rolle der Regierung beim Bau von Wohnungen und der Finanzierung von Wohneigentum. Eisenhower startete ein 40-jähriges Projekt zum Bau eines nationalen Autobahnsystems, dessen Kosten sich auf über 500 Milliarden Dollar nach heutigem Wert belaufen. Die Einkommenssteuer war progressiv – der Spitzensteuersatz betrug 91 Prozent – und der Reichtum der Großverdiener wurde auf Sozialprogramme und Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Wissenschaft umverteilt.
Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren eine Ära großer Innovationen – der Computer, das Mobiltelefon und das Internet sind alles Produkte der Nachkriegszeit. Aber die größte Innovation der USA war keine Sache, sondern ein soziales und wirtschaftliches Konstrukt: die Mittelschicht.
Eine breite, integrative und wohlhabende Mittelschicht gab dem Kapitalismus etwas, das ihm lange gefehlt hatte: Ballast. Entschuldigen Sie die erneute nautische Metapher. Ballast ist ein schweres Material – unter der Oberfläche, unsichtbar –, das einem Boot Stabilität verleiht. Je unruhiger das Umfeld ist, desto wichtiger ist der Ballast. Das Fehlen dieser stabilisierenden Kraft erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schiff kentert, unabhängig vom Wert des über der Wasseroberfläche befindlichen Inhalts.
In den 1950er- und 1960er-Jahren gab es in den USA Ballast. Die Kombination aus Lohnwachstum, öffentlicher Bildung, wirtschaftlicher Mobilität und einem Überfluss an Industriegütern brachte Millionen von Haushalten eine nie da gewesene Lebensqualität. Der Begriff „Arbeiterklasse“ konnte nicht die Garage mit zwei Autos, den Sommerurlaub und den Sohn (und bald auch die Tochter) auf dem Weg zum College umfassen, die einen amerikanischen Mittelklasse-Lebensstil ausmachten. Es war ein weitreichendes Konzept: Der Arzt, der Anwalt und der Werbefachmann von der Madison Avenue lebten in größerem Luxus als ihre Landsleute aus der Fabrik, aber sie hatten mehr gemeinsam als je zuvor. Die Mittelschicht stand für die Auslöschung des Klassenbegriffs: Heute bezeichnen sich etwa 70 Prozent der Amerikaner als Mittelschicht.
In den USA gab es immer noch zu viele arme Menschen und ein paar Mega-Millionäre, aber Mitte des 20. Jahrhunderts bestimmte eine Gruppe über mehrere Jahrzehnte hinweg die kulturelle und wirtschaftliche Geschichte Amerikas, und das waren nicht die „Innovatoren“, die das BIP eines mittelamerikanischen Landes erwirtschafteten. Als Gruppe schätzte die Mittelschicht Stabilität, glaubte an den Fortschritt und erlebte aus erster Hand die Chancen, die eine breite Verteilung des Wohlstands bedeuteten. Der Kapitalismus, der für alle außer den Kapitalisten selbst eine wechselhafte Geschichte hatte, bewies, dass er, wenn er durch den Ballast einer breiten Mittelschicht stabilisiert wird, eine reiche und gesunde Gesellschaft schaffen kann.
Entgegen der landläufigen Meinung war die Mittelschicht der Nachkriegszeit nicht nur eine Domäne der weißen Männer. Zwischen 1950 und 1980 traten 27 Millionen amerikanische Frauen in das Erwerbsleben ein, wodurch sich ihre Erwerbsbeteiligung um 50 Prozent erhöhte. Im Jahr 1940 gehörten nur 22 Prozent der schwarzen Männer der Einkommensmittelschicht an, verglichen mit 38 Prozent der weißen Männer. Im Jahr 1970 verdienten 68 Prozent der schwarzen Männer ein Einkommen der Mittelklasse, verglichen mit 65 Prozent der weißen Männer. Amerika hatte die Ungerechtigkeiten aus seinen Gründungszeiten nicht überwunden, aber es hatte größere Fortschritte gemacht als in jeder anderen Epoche.
In den 1970er-Jahren geriet die Erfolgsserie des Landes jedoch ins Stocken. Der Zugang zum Wohlstand der Mittelschicht wurde in der Nachkriegszeit erleichtert, aber zu ihrem oberen Ende und darüber hinaus blieb er unzureichend – gut dotierte Berufe wie Jurist, Mediziner und leitende Positionen in Unternehmen blieben überwiegend männlichen Weißen vorbehalten. Armut und begrenzte Möglichkeiten bestanden in den Gemeinden über Generationen hinweg fort. Als sich das Wirtschaftswachstum in den 1960er- und 1970er-Jahren verlangsamte, schwand die Geduld mit der Ungerechtigkeit, und die Fundamente des Nachkriegswohlstands begannen zu bröckeln. Der begrenzte Fortschritt der Bürgerrechtsbewegung machte deutlich, welche großen Hindernisse echten Vereinigten Staaten noch entgegenstanden.
Auch die Dynamik und Innovationskraft der unmittelbaren Nachkriegszeit verlor allmählich an Energie. Konglomerate wurden der letzte Schrei in den amerikanischen Unternehmen, ein fehlgeleiteter Versuch der Unternehmensleitungen, sich selbst und ihr Einkommen vor den Risiken und der Unbeständigkeit eines kapitalistischen (d. h. wettbewerbsorientierten) Marktes zu schützen. Die Auswirkungen der industriellen Expansion auf die Umwelt führten zu Orten wie Love Canal, einem Viertel in der Nähe der Niagarafälle, das durch Industrieabfälle so verseucht war, dass 1.000 Familien umgesiedelt werden mussten. Technisch überlegene japanische Autos auf amerikanischen Straßen zeigten, dass die Schlüsselindustrie des Landes vom Weg abgekommen war. Und die Nation, die die Welt für die Demokratie gerettet hatte, unterstützte Autokraten, um zu verhindern, dass der nächste Dominostein umfiel.
1980, wie auch 1945, lösten ängstliche Prognosen von einem nationalen Niedergang eine heftige Debatte über den künftigen Kurs des amerikanischen Experiments aus. Die Reaktion auf diese Zeit der nationalen Krise hat, ebenso wie die Reaktion auf die Herausforderungen der Nachkriegszeit, das Amerika geschaffen, das wir Amerikaner heute, vier Jahrzehnte später, geerbt haben.
In diesem Buch geht es um diese Reaktion, um das Amerika, das sie hervorgebracht hat, und darum, wie es weitergehen könnte.
Genau wie 1945 und 1980 sind wir wieder eine Nation am Scheideweg. Wir lassen langsam eine Pandemie hinter uns, die mehr als eine Million Amerikaner getötet hat, während sie sich zur Endemie entwickelt. Unsere außergewöhnlichen Technologien – Computer, die wir in der Tasche tragen, sofortige Kommunikation mit jedem Menschen auf der ganzen Welt – bringen außergewöhnliche externe Effekte mit sich, für die unsere Gesetze, unser Steuerrecht und unsere Kultur schlecht gerüstet zu sein scheinen.
Marginalisierte Stimmen und ein unflexibles weißes Patriarchat scheinen sich eher auf einen Krieg vorzubereiten, als eine gemeinsame Basis zu suchen. Wir haben einen enormen Wohlstand, aber wenig Fortschritt, da immer mehr Beute an weniger Parteien geht.
Diese 100 Schaubilder erzählen die Geschichte, wie Amerika zu diesem Punkt gekommen ist, und wohin es sich entwickeln könnte. Ich möchte klarstellen: Wir verwenden keine Grafiken, weil sie objektiv oder unfehlbar wären. Wir haben Daten und Darstellungen ausgewählt, die die Geschichte Amerikas erzählen, wie wir sie sehen. Aber Illustrationen und Grafiken haben eine Klarheit, die Prosa nicht bieten kann. Unser Ziel ist einfach: Wir wollen Bilder präsentieren, die den Nerv der Zeit treffen und zum Handeln anregen.
Als der Nachkriegsboom abzuflauen begann, machten sich die USA den Shareholder-Kapitalismus zu eigen und wandten sich von der Gemeinschaft und den Institutionen ab und dem erbarmungslosen Individualismus zu.
Nach den Krisen und Erschütterungen der 1960er- und 1970er-Jahre entstand in Amerika eine neue Religion: der Shareholder-Value. Nach seinen Grundsätzen wurde die Tätigkeit eines Unternehmens an einem einzigen Maßstab gemessen: dem Preis seiner Aktien. Im weiteren Sinne könnte die gesamte Gesellschaft anhand der aggregierten Aktienkurse ihrer Unternehmen bewertet werden. Die Wall Street wurde zur Kirche Amerikas und der Dow Jones und der Nasdaq wurden zu ihrer Liturgie.
Es war eine angemessene Metrik für das digitale Zeitalter. So wie die CD die Schallplatte ersetzte, reduzierte der Shareholder-Value das Rauschen analoger Ideen wie Gemeinschaft und Gemeinwohl auf einen binären Aktienkurs, der nach oben oder unten geht. Rot oder grün, Bär oder Bulle.
Der Hohepriester des Shareholder-Value, Milton Friedman, erklärte, dass Führungskräfte, die Entscheidungen mit anderen Zielsetzungen als der Steigerung des Aktienkurses treffen, die Aktionäre bestehlen und „reinen und unverfälschten Sozialismus predigen“. Oder schlimmer noch, man könnte sie beschuldigen, Europäer zu sein.
Mein erster Job nach dem UCLA-Studium in den 1980er-Jahren war im Analystenprogramm bei der Investmentbank Morgan Stanley. Wie die meisten meiner Mitabsolventen hatte ich keine Ahnung, was Investmentbanking ist, sondern nur, dass wir am Steuer des kapitalistischen Bobs saßen und eine Menge Geld verdienen konnten. Die Rolle des Finanzwesens in der Gesellschaft (oder die Frage, ob man die Arbeit lohnend findet) wurde kaum berücksichtigt. Wir waren damit beauftragt, das ultimative Raubtier der kapitalistischen Spezies zu gebären, das börsennotierte Unternehmen. Was wir taten, diente einem hehren Zweck – wir verdienten Geld, indem wir anderen Leuten halfen, Geld zu beschaffen, damit sie Geld investieren konnten, um … Sie ahnen es … mehr Geld zu verdienen.
Mit der Wahl von Ronald Reagan im Jahr 1980 wurde dieses Ethos Regierungspolitik. In seiner Antrittsrede klärte er die Fronten: „In der gegenwärtigen Krise ist die Regierung1 nicht die Lösung für unser Problem, sondern die Regierung ist das Problem.“ In seiner Darstellung des amerikanischen Niedergangs hatten sich Arbeit und Regierung verbündet, um die Klasse der Aktionäre zu unterdrücken, was zu einer blutarmen Wirtschaft geführt hatte, die die Freiheit bedrohte, nach Erfolg zu streben. Reagan handelte schnell, um die Beschränkungen der amerikanischen Wirtschaftskraft durch die Regierung zu beseitigen: hohe Steuern für die produktivsten Bürger, Überregulierung der Wirtschaft und das Ungeheuer der Regierungsleistungsprogramme, die an den Wurzeln des Kapitalismus nagten. Reagan riss den „Liberalismus“ heraus und ersetzte ihn durch robusten Individualismus und das „Recht, heroische Träume zu träumen“.
Die Ergebnisse waren beeindruckend. Die Wirtschaft brummte und wuchs mit einer Ausnahme in jedem Jahr seiner Präsidentschaft, und die Inflation fiel von 14 Prozent2 auf 4 Prozent. In einer Ära des steigenden Shareholder-Value verdoppelte sich der Dow Jones Industrial Average,3 der seit Mitte der 1960er-Jahre auf Talfahrt gewesen war.
Natürlich hatte Reagan Rückenwind. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der Übergang Chinas zur Marktwirtschaft eröffneten riesige neue Märkte und Zugang zu billigen Arbeitskräften, die diese Märkte versorgten. Zusammen mit den technologischen Innovationen, die in den Forschungslabors entstanden waren, war dies das Gangsterkapital, das eine Reihe von Entwicklungssprüngen antrieb, von der industriellen Automatisierung bis zum Personal Computing, die sich in den Jahren nach Reagan noch beschleunigten. Wellen von technologischen Umwälzungen setzten einen gesellschaftlichen Wandel in Gang und befeuerten ein Wirtschaftswachstum von Billionen Dollar.
Das wichtigste politische Instrument der Reagan-Ära war die Steuersenkung. Als Reagan sein Amt antrat, lag der höchste Grenzsteuersatz bei 70 Prozent – so niedrig wie seit 1935 nicht mehr.4 Als er den Staffelstab an seinen Vizepräsidenten George H. W. Bush weitergab, lag er bei 28 Prozent.
Der Spitzengrenzsteuersatz ist nicht der entscheidende Faktor für die Höhe der gezahlten Steuern, und Ökonomen diskutieren über die genauen Auswirkungen der zahlreichen Änderungen bei den Steuerklassen und Abzügen während dieser Zeit. Aber das Ziel der Kürzungen wurde erreicht: die Senkung der Steuern, die von den reichsten Privatpersonen und den größten Unternehmen gezahlt werden. Theoretisch sollte das Geld, das nicht für Steuern ausgegeben wurde, in die Wirtschaft „reinvestiert“ werden, um das Wachstum anzukurbeln, was allen zugutekäme.
Wie gut sich diese Theorie in der Praxis bewährt hat, ist ebenfalls Gegenstand heftiger Debatten. Eins ist sicher: Die Reagan-Steuersenkungen sorgten für die größten Bundesdefizite seit dem Zweiten Weltkrieg. Als Reagan sein Amt antrat, hatte die Regierung Schulden in Höhe von 930 Milliarden Dollar.5 Als er ging, betrug der Schuldenstand 2,7 Billionen Dollar. Kein anderer Präsident hat in Friedenszeiten die Schulden verdreifacht. Noch schlimmer ist, dass Reagan einen sich abzeichnenden Mangel an langfristigem Denken in Amerika ausnutzte. Dick Cheney fasste es mit den Worten zusammen: „Reagan hat bewiesen, dass Defizite keine Rolle spielen.“ Das stimmte, aber irgendwann kommt das dicke Ende. Die Staatsverschuldung der USA geht inzwischen Richtung 30 Billionen Dollar, und das Verhältnis zwischen Schulden und BIP, das bei Reagans Amtsantritt 32 Prozent betrug, ist heute auf über 120 Prozent explodiert.
01
Höchste Grenzsteuersätze6
Quellen: Tax Foundation (Unternehmen), Tax Policy Center (Einzelpersonen).
Die politische Rhetorik ist ein guter Gradmesser für den ideologischen Status quo der Nation, und die Rhetorik veränderte sich während der Reagan-Revolution deutlich. Amerika hat einige der wichtigsten Gründe für den Staat aus den Augen verloren: die Rechte der Minderheit gegenüber der Mehrheit zu schützen; in Dinge zu investieren, für die der Markt nicht gern zahlt, wie Bildung, Infrastruktur und Grundlagenforschung; und ein Sicherheitsnetz für diejenigen zu schaffen, die im Kapitalismus auf der Strecke bleiben. Viele begannen, die Regierung als Bedrohung der Freiheit zu sehen und nicht als deren Beschützer.
Das war früher nicht so. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Investition in die Demokratie als patriotische Pflicht angesehen. Im Jahr 1953 sagte der Präsident von General Motors, Charlie Wilson, bekanntlich,7 dass, was gut für das Land sei, auch gut für General Motors sei, und umgekehrt. „Der Unterschied“, sagte er, „bestand nicht.“ Keine Steuern zu zahlen bedeutete, sich selbst zu schaden, denn die Regierung war ein Spiegelbild der Amerikaner selbst, eine repräsentative Demokratie.
02
Präsidenten über die Regierung8
„Die Regierung sind wir. Wir sind die Regierung, Sie und ich.“
Theodore Roosevelt, 1902
„Wir dürfen nicht vergessen, dass wir die Regierung sind, sie ist keine fremde Macht, die uns beherrscht.“
Franklin Roosevelt, 1938
„Die Bundesregierung ist das Volk, und der Haushalt spiegelt seine Bedürfnisse wider.“
John F. Kennedy, 1963
„Die schrecklichsten Worte in der englischen Sprache sind: ‚Ich bin von der Regierung und bin hier, um zu helfen.‘“
Ronald Reagan, 1986
„Die Ära der großen Regierung ist vorbei … unsere Bundesregierung ist heute so klein wie niemals in 30 Jahren und wird jeden Tag kleiner.“
Bill Clinton, 1996
Im Jahr 1966 investierten die USA 2,5 Prozent ihres potenziellen BIP in die Infrastruktur – Straßen, Brücken, Schulen, Krankenhäuser, Wasseraufbereitung, Kanalisation und mehr. In den folgenden 20 Jahren, vor allem während der Regierungen Nixon und Reagan, gingen die Infrastrukturinvestitionen drastisch zurück und erreichten 1983 einen Rekordtiefstand von 1,3 Prozent des BIP. Der Wert ist seitdem relativ konstant geblieben. Und das trifft es noch nicht einmal wirklich, denn die Preissteigerungen für Baumaterialien haben in den letzten Jahren die Inflation übertroffen.
Was bedeutet das in der Praxis? Ganz einfach: schlechtere Bedingungen für arbeitende Amerikaner. Etwa eine von fünf Straßen9 in den USA ist in schlechtem Zustand. 45 Prozent der Amerikaner10 haben keinen Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln. Alle zwei Minuten kommt es zu einem Wasserleitungsbruch.11 Zahlreiche Mängel in der Kerninfrastruktur haben zu Krisen geführt, die früher unvorstellbar schienen: In Flint, Michigan, haben 12.000 Kinder12 bleiverseuchtes Wasser getrunken, was zu irreparablen Hirnschäden führte, die sich auf die schulischen Leistungen und den IQ auswirken und die Wahrscheinlichkeit von Alzheimer und der Legionärskrankheit erhöhen. In Miami stürzte eine zwölfstöckige Wohnanlage am Strand ein und tötete 98 Menschen.13
Gleichzeitig gibt China im Verhältnis zum BIP zehnmal mehr14 für die Infrastruktur aus als die USA. Das könnte erklären, warum es 4,5 Stunden15 dauert, mit dem Zug von Schanghai nach Peking (1.210 Kilometer) zu fahren, aber 7 Stunden, um16 von Boston aus Washington, D.C. (705 Kilometer) zu erreichen.
03
Anteil der Infrastrukturausgaben am potenziellen BIP17
Quellen: Economic Policy Institute, Bureau of Economic Analysis, Congressional Budget Office.
Anmerkung: Einbezogen sind öffentliche Investitionen in Krankenhäuser und Bildungseinrichtungen, Autobahnen, Kanalisation, Verkehrseinrichtungen sowie Naturschutz und Entwicklung.
Die Beschneidung der Sozialausgaben in den USA hatte viele Facetten. Arbeitslosen- und Sozialhilfeleistungen wurden gekürzt, die Ausgaben für die städtische Infrastruktur wurden reduziert und die föderalen Mittel und die Aufsicht über dieselben wurden zugunsten der kommunalen Kontrolle verringert. Eine Veränderung mit tiefgreifenden, langfristigen Auswirkungen auf amerikanische Gemeinden waren die Kürzungen im Bereich der mentalen Gesundheitsversorgung. In den 1960er- und 1970er-Jahren schränkte eine landesweite Bewegung zur „Deinstitutionalisierung“ psychisch Kranker das Angebot an psychiatrischer Versorgung drastisch ein. Für viele war dies ein Segen, aber Hunderttausende von Menschen mit schweren psychischen Problemen wurden sich selbst überlassen.
Die Auswirkungen dieses Wandels wurden allgemein registriert, aber die Nation verlor den Willen, die Schwachen zu schützen. 1963 brachte Präsident Kennedy18 Gesetze zur Einrichtung eines föderalen Systems für die Behandlung psychisch Kranker auf den Weg, doch nach seiner Ermordung war die Finanzierung nicht gesichert und das System kam nie recht in Gang. Präsident Carter versuchte, Kennedys Vision neuen Schwung zu geben, aber Reagan, der als Gouverneur von Kalifornien die Deinstitutionalisierung unterstützte, machte Carters Programm den Garaus.
Heute sind jede Nacht mehr als eine halbe Million Amerikaner19 obdachlos. 20 Prozent von ihnen leiden an einer schweren psychischen Erkrankung und 17 Prozent an chronischem Drogenmissbrauch. Studien haben einen direkten Zusammenhang zwischen dem Abbau von Betten in psychiatrischen Kliniken und der zunehmenden Obdachlosigkeit festgestellt. Psychisch kranke Menschen sind dreimal häufiger20 Opfer von Verbrechen; sie werden häufig zur Belastung für die Strafverfolgungsbehörden und das Gefängnissystem, wenn ihre Krankheit nicht behandelt wird. Dieses nationale Problem wurde den lokalen Regierungen überlassen.